Ec.H
Deutsche
Wirtschaftsgeschichte
1815-1914
Von
.A^-^
A. Sartorius von Waltershausen
Zweite, ergänzte Auflage
43547G
Jena
Verlag von Gustav Fischer
1923
Alle Rechte vorbehalten
<sy
„Alle Systeme, durch die die Parteien sich getrennt und gebunden fühlen,
kommen für mich an zweiter Linie, in erster Linie kommt für mich die Nation,
ihre Stellung nach außen, ihre Selbständigkeit, unsere Organisation in der Weise,
daß wir als große Nation in der Welt frei atmen können."
Fürst von Bismarck 1881.
Digitized by the Internet Archive
in 2010 witii funding from
University of Ottawa
littp://www.archive.org/details/deutschewirtschaOOsart
Inhalts- Verzeichnis.
Seite
Die wissenschaftliche Aufgabe i
Erster Abschnitt.
Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben nach den
Befreiungskriegen.
I. Politische Zustände. Enttäuschung des Liberalismus nach der nationalen
Befreiung. — Der Deutsche Bund. — Keine einheitliche deutsche Volks-
wirtschaft. — Aufgaben der Einzelstaaten. — Partikularismus und grolS-
staatliches Ideal 4
II. Die Landwirtschaft. Agrarstaat und Eigenwirtschaft. — Stadt und Land. —
Betriebssysteme. — Veraltete Technik in der Landwirtschaft. — Umformung
der sozialrechtlichen Verfassung. — Verteilung des ländlichen Eigentums ... 6
III. Handwerk, Hausindustrie, Fabrik. Vergrößerung einzelner Wirtschafts-
gebiete. — Preußen nach 1806. — Heimische Rohstoffe. — Standort der Ge-
werbe. — Handwerk als Grundlage der gewerblichen Produktion. — Haus-
industrie in der Stadt und auf dem Lande. — Entstehung der Fabriken. —
Staatliche Aufsicht und Konzession. — Gewerbefreiheit. — Liberale National-
ökonemie 14
IV. Transportverkehr und Handel. Reisen und Personenverkehr am Anfang
des 19. Jahrhunderts. — Landstraßen. — Gütertransport. — Binnenwasserstraßen. —
Stapelrechte. — Briefpost. — Großhandel. — Flößerei. — Handel mit dem Aus-
land. — Messen. — Wechsel und Effekten. Kleinhandel. — Geld- und Münz-
wesen 22
Literatur zum ersten Abschnitt 3°
Zweiter Abschnitt.
Die Zeit von I815 — 1833.
I. Allgemeines. Langsame wirtschaftliche Erholung nach den Kriegen. — Die
Epigonen. — Die Romantik. — A. Müller. — Preußens Zweiteilung ... 31
II. Übervölkerung und Auswanderung. Volkszahl. — Hungersnot 1816/17. —
Auswanderung nach Nordamerika und Rußland. — Stand der Lebenserhaltung 34
III. Die Agrarkrise. Ursachen und Ausdehnung der Agrarkrise der zwanziger
Jahre. — Staatliches Eingreifen und Rückwirkung auf die Städte. — Vergleich
mit der Krise seit den siebziger Jahren 38
IV. Deutschland und das Ausland. Der Deutsche Bund. — Die Kontinental-
sperre Napoleons und ihre Folgen. — Überlegenheit der englischen Industrie. —
Überflutung mit englischen Waren. — Das preußische Zollgesetz von 1818. —
Ergebuisse der preußischen Zollpolitik 41
"yj Inhalts- Verzeichnis.
Seite
V. Staatsschulden und Bankiergewerbe. Kriegsverschuldung. — Neue An-
leihen. — Die Privatbankiers. — Frankfurt als Börsenplatz. — Das Haus
Rothschild. — Agiotage 54
VI. Die Gründung des Deutschen Zollvereins. Der Zollverein als Vorstufe
der deutschen Einheit. — Finanzlage der Einzelstaaten und Notwendigkeit der
Zolleinnahme. — Nachteile des bestehenden kiemstaatlichen Zollwesens. —
Wirtschaftliche Aussichten des vergrößerten Wirtschaftsgebietes. — Fr. List und
K. F. Nebenius. — Zollanschlüsse. — Preußisch-hessischer Vertrag. — Organi-
sation des Vereins. — Um den Verein verdiente Männer 58
Literatur zum zweiten Abschnitt 7°
Dritter Abschnitt.
Die Zeit von 1833 — 1848.
I. Einführung. Beginnender volkswirtschaftlicher Aufschwung. — Die Juli-
revolution. — Hegeische Staats- und Geschichtsphilosophie. — Der Zinsfuß und
seine Wandelungen. — Beginn technischer Neuerungen in der Industrie. —
W. Siemens 72
II. Die Fortbildung des Zollvereins. Die Industrie. Der Steuerverein. —
Das Königreich Hannover. — Braunschweig. — Luxemburg. — Handelsverträge
mit Holland, England, Belgien. — Erste Krise des Zollvereins. — Halb- und
Ganzfabrikate. — Freihandel und Schutzzoll. — Eisenzollfrage. — Garnzölle. —
Deutsche Theoretiker. — ,,Das nationale System der politischen Ökonomie." —
Fortschritte im Zollverein. — Das rückständige Leinewandgevverbe. — Baumwoll-
industrie. — Seide. — Wolle. — - Leder. — Papier. — Tabak. — Spielwaren. —
Bergbau. — Eisen und Stahl. — Friedrich und Alfred Krupp 77
III. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt. Staatliche und kommunale
Chausseen. — Gebühren. — Opposition gegen Eisenbahnen. — Eisenbahnen
und deutsche Einheit. — Planlosigkeit des ersten Bahnbaues. — Langsame
Besserung. — Zunehmender deutscher Export. — Industrien, die sich an den
Bahnbau anlehnen. — Berlins Gewerbegeschichte. — Privalbahnen und Staats-
bahnen. — Binnenschiffahrt. — Schiffahrtsakten. — Konkurrenz zwischen Schiff
und Bahn. — Seeschiffe auf der Ostsee. — Bremen und Hamburg. — England
und die Hansestädte. — Handel und Auswanderung. — Rechtsform der See-
rhederei. — Ausfuhrhandel und Auslandsdeutsche 94
IV. Die Fortschritte der Landwirtschaft. A. Thaer. — J. H. v. Thünen. —
Abänderung der Dreifelderwirtschaft. — Übersicht über deutsche Länder und
Provinzen. — Die Zuckerrübe. — Agrar-soziale Zustände. — Gutsbesitzer. —
Bauern. — Flureinteilung. — Zusammenlegung der Grundstücke. — Teilung der
Gemeinheiten. — Ländliche Lohnarbeiter 116
Literatur zum dritten Abschnitt 132
Vierter Abschnitt.
Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
I. Vorbemerkung. Erster Schritt zum Industriestaat. — Englands Überlegenheit. —
Reichtumszunahme und künstlerische Kultur 135
II. Die Revolution von 1848/49, Handwerker und Lohnarbeiter. Bürger-
lich-demokratische Bewegung. — Teuerung von 1848. — Agrar- und Steuer-
Inhalts- Verzeichnis. VII
Seite
politische Folgen der Revolution. — Die Handwerker seit 1815. — Handwerker-
parlament. — Karl Mario. — Gesellenbewegung. — Umgestaltung der preu-
ßischen Gewerbeordnung. — Ungünstige Lage des Handwerks. — Erstes Ent-
stehen der industriellen Lohnarbeiterkiasse. — Französischer Sozialismus und
W. Weitling. — Arbeiterkongreß Borns in Berlin. — Kommunistenverband. —
K. Marx. — Fr. Engels. — Kölner Arbeiterbewegung 139
III. DieKrise des deutschen Zollvereins und der deutsch-österreichische
Handelsvertrag von 1851. Deutsch-österreichischer Zollvereinsgedanke. —
Aufnahme des Steuervereins in den Zollverein. — Februarvertrag 1851. — Un-
günstige Ergebnisse desselben. — Wirtschaftliche Möglichkeit der Zollunion um 1850 152
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Güter-
erzeugung. Goldgewinnung in Kalifornien und Australien. — Rückwirkung auf
Europa. — Steigende Preise landwirtschaftlicher Produkte. — Getreideausfuhr. —
J. Liebig. — Rodbertus Jagetzow. — Immobiliarkredit. — Hypotheken-Aktien-
Banken. — • Steinkohlen. — Erze. — Roheisen. — Halb- und Ganzfabrikate aus
Stahl und Eisen. — Textilindustrien. — Andere Industrien. — Pariser Welt-
ausstellung 1867. — Weiterentwicklung Berlins 156
V. Das Geld- und Bankwesen. Dresdener Beschlüsse von 1838. — Landes-
währungen. — Münzvertrag von 1857. — Diskont- und Lombardgeschäft. —
Papiergeld. — Geschichte der Notenbanken. — Die preußische Bank. — Noten-
liberalismus 180
VI. Die Wirtschaftskrise von 1857. Beginn des volkswirtschaftlichen Auf-
schwunges. — Kapitalismus. — Aktiengesellschaften. — Effektenbanken. — Der
Telegraph. — Börsengeschäfte. — Konjunkturumschlag von 1857. — Spätere
Krisen in Deutschland. — Technische Neuerungen in der Industrie. — Erfolg-
reiche Erfinder 187
VII. Arbeiterfrage und Sozialdemokratie. Unsichere und schlechte Lage der
Lohnarbeiter. — Neues Unternehmertum in der Großindustrie. — F. Lassalle. —
Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein. — Gewerkschaften. — Das „Kapital" von
Marx. — Das Gothaer Programm 198
VIII. Die Freihandelsära des Zollvereins. Statistik des Zollvereins. — Eng-
lischer Freihandel. — Stellung der Parteien nnd Eiwerbsgruppen zur Handels-
politik. — Volkswirtschaftliche Kongresse. — Schulze-Delitzsch und die freien
Genossenschaften. — Cobdenvertrag. — Preußisch-französischer Handelsvertrag. -■
Bismarck Ministerpräsident. — Auswanderung von 1830 — 1870 208
IX. Der Norddeutsche Bund. Kompetenz des Bundes in wirtschaftlichen
Dingen. — Umgestaltung des Zollvereins. — Liberale Handelspolitik und Steiier-
bewilligung. — Handelsverträge, Generalisierung des Tarifs. — Freizügigkeit, —
Notgewerbegesetz. — Gewerbeordnung von 1867. — Streiks. — Allgemeines
Stimmrecht. — Verschiedene Wirtschaftsgesetze. — Maß- und Gewichtsordnung. —
Postwesen und Einheitstarif. — Rückblick 223
Literatur zum vierten Abschnitt 234
Fünfter Abschnitt.
Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — i8go.
I. Vorbemerkung. Einfluß der Reichsgründung auf das Wirtschaftsleben. —
Preußen als politischer Schwerpunkt. — Kulturelle Zustände nach 187 1 . . . 237
IL Der Frankfurter Friede. Lothringen und seine Eingliederung in
das deutsche Wirtschaftsleben. § 11 des Frankfurter Friedens. —
VIII Inhalts- Verzeichnis.
Seite
Bevölkerungsbewegung in Elsaß- Lothringen. — Baumwollindustrie des Ober-
elsaß. — Lothringische Eisenindustrie. — Kleinere Industrien. — Land-
wirtschaft. — Weinbau. — Wald. — Verkehrswesen. — Straßburg. — Ver-
fehlte staatsrechtliche Stellung des Reichslandes 243
III. Die Reichsgesetze über das Geld- und Bankwesen. Vorbereitung der
Goldwährung. — Reichsgesetze von 187 1 und 1873 und ihre Durchführung. —
Vielartigkeit der Notenbanken. — Reichsbankgesetzgebung und ihre Resultate. —
Urheberrecht 261
IV. Hochkonjunktur, Gründungsschwindel und Wirtschaftskrise
1871 — 73. Konjunkturbewegung der sechziger Jahre. — Gotthardlinie. — Suez-
kanal. — Französische Kriegsentschädigung mit 5 Milliarden. — Aktienrecht. —
Internationaler Aufschwung. — Gründungsmanie. — Strousbergbahnen, — General-
enterprise. — Neue Banken. — Gründungen und Börsenschwindel. — Die Krise
von 1873. — Depression. — Deutsche Ware auf der Weltausstellung zu Phila-
delphia. — Tiefpunkt des Niederganges. — Antisemitische Bewegimg. —
Dachauerbanken. — Wirtschaftliches über Berlin nach 1870 271
V. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen. Staats- und Privatbahnen. —
Tarifchaos. — Das Reichseisenbahnamt. — Bismarcks Reichseisenbahngedanke. —
Ablehnung desselben- — Verstaatlichung der preußischen Privatbahnen. — Ver-
einheitlichung des deutschen Verkehrswesens unter dem Staatsbahnsystem . . . 294
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck. Ausbau
des Reichs im Innern. — Passiver Freihandel in Deutschland. — Beseitigung
der Eisenzölle. — Rücktritt Delbrücks. — Massenpetition zur Aufrechterhaltung
der Eisenzölle. — Interpellation E. Richters wegen russischer Goldzölle. —
Abwehrmaßregel gegen französische Exportprämien, — Antrag Varnbüler. —
Bismarcks Pläne von 1878. — Finanzreform. — Gesamtauffassung des Reichs-
kanzlers. — Vergleich mit H. Ch. Careys System. — Zolltarif von 1879. —
Nationale Handelspolitik. — Zentralverband deutscher Industrieller. — Tech-
nische Umgestaltung der Eisenindustrie. — Internationale Getreidekonkurrenz. —
Steuer- und Wirtschaftsreformer. — Ergebnisse und Weiterbildung der Zoll-
reform. — Handelspolitischer Streit mit Rußland. — Einschluß von Hamburg
und Bremen in die deutsche Zollininie 303
VIT. Die Reichssozialpolitik. Hetz- und Wühlarbeit der Sozialdemokratie. —
Das Sozialistengesetz und seine Wirkungen. — Gewerkschaften. — Geheim-
organisation und Presse der Sozialdemokratie. — Mißlungenes staatliches Vor-
gehen. — Die historische Schule der Nationalökonomie. — Verein für Sozial-
politik. — Sozialpolitik der Parteien und der Kirche. — Bismarcks Eingreifen
mittels der Gesetzgebung. — Kassenzwang und Zwangskassen. — Kranken-
kassen. - - Unfallversicherung. — Alters- und Invalidenversicherung. — Reichs-
versicherungsordnung. — Ergebnisse des Versicherungszwanges 327
VIII. Die deutsche Kolonialpolik. Übervölkerung und Auswanderung. —
Koloniale Vorkämpfer. — Bismarcks Mäßigung. — Geschichte der Erwerb-
ungen. — Südwestafrika. — Ostafrika. — Kamerun. — Togo. — Neu-Guinea. —
Kiautschou. — Verwaltung der Kolonien. — Arbeiterfrage. — Wert der
Kolonien für Deutschland 35^
Literatur zum fünften Abschnitt 373
Inhnlts- Verzeichnis. IX.
Seite
Sechster Abschnitt.
Die Zeit von 1890 — 1914.
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. Bürgerliches Gesetzbuch. —
Entlassung des Fürsten von Bismarck. — Auswärtige und inneie Politik. —
Anschwellen des Erwerbswillens und Zunahme des Reichtums. — Die geistige
Kultur, Schule, Universitäten. — Die Kunst. — Die Naturwissenschaft. —
Die Nationalökonomie. — Änderung der Lebenshaltung. — Demokratisierung
der Bedürfnisse. — Wohlleben und Luxus. — Neue Technik. — Eroberung
der Luft. — Die Reichshauptstadt 378
IL Der neue Kurs. Kaiser Wilhelm II. und die Ai beiterfrage. — Interrationaler
Arbeiterschutz. — Aufhebung des Sozialistengesetzes. — Erfurter Programm. —
Umschlag der äußeren Handelspolitik. — Die neuen Handelsverträge mit Tarif-
bindung 402
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Welt-
wirtschaft. Allgemeine Konjunktur des Wirtschaftslebens von 1892 — 1914. —
Die deutsche Landwirtschaft unter den Caprivlschen Verträgen. — Bund der
Landwirte. — Neuer Zolltarif von 1902. — Neue Handelsverträge. — Meist-
begünsligungsverträge. — Deutschland im Verkehr mit Österreich-Ungarn. —
Belgien. — Den Niederlanden. — Italien. — Der Schweiz. — Frankreich. —
Großbritannien mit seinen Kolonien. — Den Vereinigten Staaten von Amerika. —
Südamerika. — Nordischen Staaten. — Nahem und fernem Orient. — Kapital-
anlage im Ausland. — Auswanderung. — Auslandsdeutsche. — Einwanderung. —
Weltwirtschaf tspolitk. — Imperialismus 411
IV. Die Landwirtschaft. Technische Fortschritte. — Intensivere Betriebs-
führung. — Spiritusbrennerei. — Zuckerrübenbau. — Viehhaltung. — Genossen-
schaftswesen. — Landwirtschaftlicher Unterricht. — Landwirtschaftliche Ver-
eine. — Eigentumsverteilung. — Landfideikommisse. — Anerbenrecht. —
Stammgüter. — Pachtsystem. — Die Arbeiterfrage auf dem Lande. — Innere
Kolonisation. — Polenfrage 449
V. Die Industrie. Industrie- und Agrarstaat. — Hauptzentren der Industrie. —
Halb- und Fertigindustrie. — Industrielle Gruppen. — Hausindustrie. — Hand-
werk. — Mittelstandsbewegung. — Zwangsinnungen. — Befähigungsnachweis. —
Großbetrieb. — Frauenarbeit. — Produktionsfortschritte. — Kombinierte
Werke. — Krupp-Essen. — Kartelle und Syndikate. — Gegen die Arbeiter
gerichtete Untemehmerverbände, — Arbeitsnachweis. — Industriearbeiterschaft, —
Abgekürzte Arbeitszeit. — Lohnerhöhungen. — Gewerkschaften. — Sparkassen. —
Soziale und individuelle Auslese. — Demokratie 486
VI. Handel, Bankwesen, Transport. Berufszählung. — Großhandel. — Waren-,
Kauf- und Versandhäuser. — Konsumvereine. — Handlungsgehilfen. — Ein-
und Ausfuhrhandel. — Agenten, Kommissionäre. — Produktenbörse. — Effekten-
börse. — Reichsbörsengesetz. — Emissionsgeschäft. — Terminhandel. — Deutsche
Kreditbanken. — Depotgesetz. — Liquidität, Zwischenbilanzen. — Bankkonzen-
tration. — Privatbankier. — Banken und Industrie. — Hypothekenbanken. —
Banken und Auslandsgeschäft. — Banken und Börsengeschäft. — Technische Fort-
schritte im Eisenbahnwesen. — Kleinbahnen. — Kraftfahrzeuge. — Künstliche
Wasserstraßen. — Binnenschiffahrt. — Deutsches Wasserstraßennetz. — Staats-
verwaltung. — Seeschiffahrtsstatistik. — Ostseeschiffahrt. — Neuzeitliche Technik. —
Passagierdampfer. — Die Rhederei als Privatbetrieb. — Gefahr der Entnationali-
sierung. — Deutsche Schiffsbaupolitik. — Fortschritte des Postverkehrs. — Post-
scheck. — Seekabel und drahtlose Telegraphie. — Geschichte der Preise. — Preis-
steigerung seit 1895 und deren sozialwirtschaftliche und weltwirtschaftliche Ursachen 532
X Inhalts-Verzeichnis.
Seite
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rück-
blicke. Bevölkerungszunahme. — Statistik der Eheschließungen und Geburten. —
Die Motive der abnehmenden Geburtenziffer. — Rückgang der Sterblichkeit. —
Bevölkerungspolitik. — Großstädte. — Städtische Konzentration. — Typus des
Großstädters. — Gemeindeausgaben und einnahmen. — Städtischer Boden-
schutz. — Wohnungsnot. — Stadtausbau. — Cilybildung. — Bodenreformer. —
Unverdienter Wertzuwachs. — Reichsfinanzen. — Steuerknauserei. — Finanz
reformen. — Zunehmende Schuld des Reiches. — Kritik der Ausgabewirtschaft. —
Matrikularbeiträge und Überweisungen. — Hochkonjunktur und Krisen. — Be-
wegung des Zinsfußes. — Schätzungen des Volksvermögens und Volksein-
kommens. — Theorie der Einkommensverteilung. — Verteilung der industriellen
und agraren Macht. — Wirtschaftsorganische Entwicklung und ihre Hemmun-
gen. — Tradition der produktiven Kräfte 593
Literatur zum sechsten Abschnitt ' . . . 632
Die wissenschaftliche Aufgabe.
Die hundertjährige Ausbildung des wirtschaftlichen Lebens seit
1815 auf dem Gebiete des 1871 gegründeten deutschen Reichs zu
einer in sich arbeitsteilig gegliederten, verkehrsmäßig verbundenen,
staatlich geschlossenen und politisch geführten Einheit zu schildern,
ist die Aufgabe der nachfolgenden Darstellung. Die Ergebnisse dieser
Vorgänge sind in der steigenden Leistungsfähigkeit der Gütererzeugung
und der reichlicheren und vielseitigeren Bedürfnisbefriedigung die
größten. Aber es mußte mit ihnen manches in Kauf genommen
werden: die Störung des kunstvoll aufgebauten Werkes durch Ereig-
nisse vom Ausland her oder durch die innere nicht wirtschaftliche
Politik, während ehedem die selbständigen örtlichen oder individuellen 1
eigenwirtschaftenden Kräfte solche Anstöße parierten oder nur be-
schränkt sich fortzupflanzen gestatteten; das Aufsaugen der vielen
kleinen beruflichen Mittelpunkte durch immer wenigere große mit weit-
greifender Speiche; die andauernde Umschichtung des Reichtums der
Einzelnen, der Berufsgruppen, der Landesteile; die Zusammenballung
wirtschaftlich sozialer Klassen zu Gegensätzen durch das ganze Volk;
die Abhängigkeit der Einzelpersonen bei Erzeugung und Verbrauch
als winziger Teile des Gesamtbetriebes von diesem Ganzen und die
Abhängigkeit dieses Ganzen von der ausländischen Zufuhr.
Die Vorgänge sollen im Fluß der Geschichte verdeutlicht
werden. Sie erschöpfen sich daher nicht in einer Aneinanderreihung
von abstrakten Zustandsbildern. Sie verlangen eine Mitteilung von
Neu- und Umformungen, über deren bewegende Kraft Rechenschaft
zu geben ist, von erfolgreicher und erfolgloser Wirtschaftspolitik, von
sozialen und nationalen Taten, die auch wirtschaftlichen Ausgang gehabt
haben, von Persönlichkeiten, mögen sie für die öffentlich rechtliche
Ordnung und die privatwirtschaftliche Technik oder für die national-
ökonomische Wissenschaft Fruchtbares gebracht haben.
Die Anschauung, die sich die neuzeitliche Volkswirtschaft derart
denkt, daß die Erfindungen der Gütererzeugung und des Verkehrs, die
von dem Erwerbstrieb der Einzelnen ergriffen werden, alles, ins-
besondere die Änderung der Betriebsweisen, der gesellschaftlichen
Schichtung, der wirtschaftspolitischen Verwaltung erklären, wird somit,
ohne im einzelnen unterschätzt zu werden, als einseitig abgelehnt.
Unserer Anschauung nach sind Staat und Nation die wichtigsten
A. Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 1
Die Wissenschaftliche Aufgabe.
Faktoren in der Geschichte, wenn man diese als ein Ganzes eines
Landes nimmt. Diesem Vorrang kann sich die Wirtschaftsgeschichte
niemals entziehen, da Sicherheit, Stetigkeit und Ordnung die unbedingten
Voraussetzungen jeder Produktion und jedes Verkehrs sind. Die Grund-
lagen des deutschen Staatswesens waren in den größeren Einzelstaaten
des i8. Jahrhunderts schon geschaffen worden, ehe man von der
Dampfmaschine und der Nutzbarmachung der Elektrizität etwas wußte,
und hatten sich als selbständige Kräfte ihren Weg vorgeschrieben, den
die Überlieferung als gangbaren anerkannte. Der Staat Friedrich
Wilhelms I. und Friedrichs des Großen war, wie der in Bayern und
Sachsen und, selbst diesem Beispiele nachgehend, in einigen kleineren
Ländern, mit der Wirtschaft aller Untertanen eng verwachsen, und das
berufsmäßig ausgebildete Beamtentum und das verläßliche, diszipli-
nierende Offizierkorps stammt aus dieser Zeit. Das Vertrauen des
Volkes zu dem Person und Eigentum schützenden Staat, zur Führung
von oben, die Pflichterfüllung der Regierungen gegen die Gesamtheit
durchziehen die Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts und heben
das Bild der deutschen von der englischen oder französischen Volks-
wirtschaft in mancher Hinsicht ab. Doch liegt es auch in dem anthropo-
logisch Vorhandenen und dem geschichtlichen Kulturergebnis, daß die
Nation anders fühlte, dachte und wollte als ihre Nachbarn. Wenn
daraus der Drang erwuchs, sich zu einem Ganzen zusammenzuschließen,
gegenüber anderen Völkern unabhängig zu sein, auf der Erde mit-
sprechen zu können, so mußte dies auch in der Gestaltung der Volks-
wirtschaft und deren Auftreten in der Weltwirtschaft sichtbar werden.
Der Wille, als Staat und Nation zu leben, hat ebenso die Technik und
die Ökonomik in seinen Dienst gestellt, wie beide in ihren Erfolgen
das Bewußtsein der politischen Leistungskraft gehoben haben.
Die Einteilung der zu schildernden wirtschaftsgeschichtlichen
Wandlungen und Ereignisse in Zeitabschnitte ist durch das eigentüm-
liche Zusammentreffen politischer und wirtschaftlicher Tatsachen fest
gegeben. Die beiden für die nationale Einheit entscheidenden, die
Gründung des Zollvereins 1833 und die des Deutschen Reiches 187 1,
gliedern den ganzen Stoff in drei Perioden. Zwei Jahre nach der Zoil-
einigung wird die erste Eisenbahn gebaut, mit deren Nachfolgern der
alte örtliche Handel und Wandel in die Fern Wirtschaft übergeführt
wird. Zwei Jahre hatte das Reich bestanden, als die größte Wirt-
schaftskrise des Jahrhunderts einsetzte, die den 20jährigen, voraus-
gehenden, raschen Aufschwung von einer ebensolangen Stockung oder
jedenfalls viel langsameren Fortbewegung abtrennte. An die politischen
Jahre von 1848 und 1849 schlössen sich die erste große Hochkonjunktur
und die Überspekulation an, die Deutschland erlebt hat, und die
Epoche vom Anfang der neunziger Jahre bis zum Ausbruch des Welt-
Literatur. 7
krieges 19 14, die die glänzendste ökonomische Kraftentfaltung gebracht
hat, fällt mit der Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. zusammen, die
von anderen politischen Ideen beherrscht wird als das Bismarcksche
Zeitalter. So erscheint auch in jeder Unterabteilung das Zwillings-
paar von Wirtschaft und Politik.
Wenn Geschichte schreiben heißt, das gegenseitige Sicherfassen
aller offensichtlichen Tatsachen und der im Stillen wirkenden Kräfte
zu einem Ganzen nach eigener Persönlichkeit verstehen zu wollen, so
ist für die nachfolgende Ausführung die Richtschnur gegeben. Mehr
als Umrisse in einem Bande, der nicht mehr als ein bisher fehlendes,
über die Veränderungen des deutschen Wirtschaftslebens in dem an-
gegebenen Sinne orientierendes Lesebuch für Studierende und andere
an der Nationalökonomie Interessierte sein will, geboten zu haben, wird
niemand verlangen wollen, der je einen Einblick in das gewaltige
Material getan hat, dem der Forscher des ig. Jahrhunderts gegenüber-
steht. Wird hier und da unternommen, der Skizze einen Anflug von
Kolorit zu verleihen, das aus Betrachtungen, Beispielen, Einzelausführungen
gewonnen wird, so können diese Ausführungen keinen anderen Inhalt
haben, als die wissenschaftlichen Erfahrungen, besonderen Studien und
politischen Überzeugungen, die der Verfasser nach seiner 40jährigen
Forschungs- und Lehrtätigkeit sein eigen nannte.
Es gibt verschiedene im Literaturanhang genannte Werke über
das deutsche Wirtschaftsleben der verflossenen hundert Jahre. Sie sind
als abstrakte „Entwicklungen" wirtschaftlicher Zustände ausgeführt.
Sozialökonomischen Umwandlungen und Differenzierungen ist auch in
diesem Buch ein erheblicher Platz eingeräumt, aber sie sind im Gegen-
satz zu anderen Darstellungen im Verlauf der konkreten Geschichte
behandelt worden, zu deren Wesen es gehört, daß die Voraussetzungen
der Entwicklungen auch politisch und anderweitig bedingt aufgefaßt
werden. Wie sehr das hundertjährige Ergebnis des deutschen wirt-
schaftlichen Strebens durch den Weltkrieg durchbrochen worden ist,
kann hier nicht erörtert werden, aber diese Tatsache gerade zeigt, mit
welcher Vorsicht soziologische, von historischen Ereignissen absehende
Reihen des ökonomischen Werdens aufgenommen werden müssen.
Aus dem vorhandenen Schatz der reichen Quellen und der um-
fangreichen Literatur wird nur das Wichtigste am Schlüsse der Ab-
schnitte angegeben, aus dem vornehmlich geschöpft wurde. Es soll
zum Nachweis für das Gesagte dienen und schließt sich in seiner Auf-
zählung dem Textverlauf an. Manches Urteil innerhalb der Dar-
stellung ist der Niederschlag von Erwägungen, zu denen der Verfasser,
der einen erheblichen Teil dessen, was er bringt, freudig miterlebt
oder auch miterlitten hat, schon vor Jahren, und daher nicht immer
für ihn selbst nachweisbar, irgendwie angeregt wurde.
A I. Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
L Abschnitt.
Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben
nach den Befreiungskriegen.
I. Politische Zustände. Nach drückender Fremdherrschaft
und langen Kriegsnöten hatten sich die deutschen Volksstämme unter
Preußens Vorangehen und Leitung die nationale Befreiung erkämpft.
Für die kommende Friedenszeit erhofften sie jetzt ein materielles und
geistiges Erblühen. Überall verlangten die führenden Köpfe der ge-
bildeten bürgerlichen Klasse die Erbschaft des vergangenen Jahr-
hunderts, den theoretisch aufgebauten Liberalismus in ihrem ganzen
Umfange praktisch anzutreten, indem sie überzeugt waren, daß die
politische und wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen die sicherste Bürg-
schaft für das Wohl des Ganzen sein werde. Gleichzeitig im Gefühle
der gemeinsam erfochtenen Siege erhoben im Norden und Süden des
Vaterlandes einsichtsvolle und begeisterte Männer ihre Stimme, daß
damit Ernst gemacht werde, ein starkes, entwicklungsfähiges Reich
zu schaffen, in das die nationale Zusammengehörigkeit, die nur als
ein wenig geordnetes, wenn auch wertvolles Nebeneinander von Kultur-
kräften bestand, umzuschmieden sei.
Große Enttäuschungen und tiefe Niedergeschlagenheit traten je-
doch bald an die Stelle froher Erwartungen. Die Gründung des nach
außen schwachen, im Innern lahmen deutschen Bundes war sowohl
das Ergebnis des partikularistischen Eigenwillens seiner 3 g souveränen
Regierungen, als auch der wohlüberlegten Politik Englands, Frank-
reichs, Rußlands, welche Staaten die Entstehung einer starken Macht
im Herzen Europas zu verhindern wußten und das neugebildete Ver-
tragsgefüge dazu benutzten, Preußen und Österreich in einen fortge-
setzten Hader um die Vormachtstellung zu verwickeln.
Somit waren den einzelnen Bundesgliedern die inneren politisch
wirtschaftlichen und die sozialen Reformen überlassen worden, die von
ihnen in sehr verschiedener Weise in Angriff genommen wurden.
Die wieder in den Besitz ihrer Länder gelangten Monarchien, in
Hannover, Kurhessen, Braunschweig, wollten am liebsten die Neue-
rungen des letzten Jahrzehnts aus dem Gedächtnis ihrer Untertanen
weggewischt wissen, während die Südstaaten die von Frankreich
übernommenen oder aufgedrängten Einrichtungen preiszugeben keine
Veranlassung sahen. Preußen war aus einem östlichen und einem
westlichen Teile zusammengesetzt, in denen sich die rechthchen und
tatsächlichen Grundlagen der Wirtschaft, der Gesellschaft und der
Finanzen stark voneinander unterschieden, und mußte zunächst ganz
darin aufgehen, diese Schwierigkeiten zu heben. Österreich blieb ab-
seits von den wirtschaftlichen Aufgaben der übrigen Bundesstaaten
I. Politische Zustände.
und kannte nur das eine Ziel, seine Sonderwünsche in Abschließung
und Zoll gegen das Ausland zu befriedigen.
Im Jahre 1815 gab es auf dem Gebiete des heutigen Reiches
eine einheitliche, auch nur locker gefügte Volkswirtschaft keineswegs:
keine gemeinsame Zollinie, kein zusammenhängendes Straßennetz, kein
deutsches Geld, keine gemeinsamen Steuern und öffentlichen Ausgaben
für das Ganze, kein übereinstimmendes privates und soziales Recht,
keine durchgreifende arbeitsteilige Produktionsgliederung nach örtlich
natürlichen oder geschichtlich gegebenen Vorbedingungen. Nur
kulturell im unpolitischen und nichtwirtschaftlichen Sinne war auf
Grund der Stammesverwandtschaft und des gemeinsam Erlebten im
Bewußtsein der Gebildeten eine Einheit geblieben, bestimmt des näheren
durch die gleiche Sprache und Literatur, durch dieselbe Wertung der
im Kampf gegen Frankreich neu belebten Geschichte, durch mancherlei
ethische und rechtliche Ideale, Anschauungen, Sitten und Gebräuche.
Diese geistige und gefühlsmäßige Verbindung darf jedoch für
die Wirtschaftsgeschichte der folgenden Jahrzehnte nicht unterschätzt
werden. Es entstand immer wieder aus diesem Empfinden heraus eine
Sehnsucht nach einem zusammengehörenden Ganzen, dessen Endziel
die staatliche Einheit war.
Der deutsche Trieb nach politischer Absonderung, der seit Jahr-
hunderten das alte Reich zersetzt hatte, feierte in dem allein völker-
rechtlich gefügten Deutschen Bund einen neuen Triumph. Die Ab-
grenzung der Staaten fiel nur in beschränkter Weise mit den Stammes-
niederlassungen zusammen. In der Hauptsache beruhte sie auf ge-
schichtlichen Ereignissen. Es unterscheiden sich die Ostpreußen und
Pommern von den Westfalen und Rheinländern ebenso, wie in Bayern
die Franken, Schwaben und Altbayern, oder in Hannover die Nieder-
sachsen und Friesen. Dynastie und Staatsverwaltung faßten zu ihren
Zwecken die Bevölkerung zusammen, die in diesem Partikularismus
eine Befriedigung ihres Heimatgefühles zu finden glaubte. Die wirt-
schaftliche Verkehrsgestaltung über die Schlagbäume hinaus mußte
darunter schwer leiden.
Unter den Staatsmännern und Ministern der Einzelstaaten waren
wohl manche, die auch politisch nationale Pläne im stillen Busen pflegten,
aber bei ihrer praktischen Betätigung wollten die meisten keine anderen
Aufgaben anerkennen, als dem Aufbau ihres Landes nach allen Rich-
tungen hin zu dienen. In demselben Maße, als ihnen dies glückte,
mußte das Bestreben lebhafter werden, mit den Nachbarn, bei denen
sich ähnliche wirtschaftliche und soziale Bedürfnisse geltend machten,
in nähere vertragsmäßige Verbindung zu treten, zumal die Landesteile
oft geradezu ineinander verwoben oder voneinander umschlossen waren,
so daß Menschen gleichen Typus, gleicher Sitte, gleichen Dialektes
5 I. Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
und gleicher wirtschaftlicher Lebensart verschiedenen Landesherren
zu gehorchen hatten. Die deutsche Stammesmannigfaltigkeit mit ihrem
Reichtum an eigentümlicher Begabung konnte durch den Austausch
von guten Köpfen und unter gegenseitiger Anregung nicht recht
nutzbar gemacht werden. Der kleinstaatliche Wille, der sich darin
äußerte, Fremde fernzuhalten und Land, Erwerbsgelegenheit und Staats-
krippe den Einheimischen zu lassen, führte in seiner eigensinnigen
Selbstüberschätzung der Staatseinrichtungen und der Befähigung ihrer
persönlichen Träger ebenso zu einem politischen Hemmnis großzügiger
Vereinigung, wie zur Festhaltung von Arbeitskräften und Kapitalien,
die für einen weiteren Wirkungskreis geschaffen waren. Die freie
Bewegung aller Deutschen untereinander, die später zu einer Haupt-
quelle schöpferischer Ausgestaltung geworden ist, konnte daher da-
mals nur höchst unvollkommen einsetzen.
So sehen wir zwei Richtungen während des 19. Jahrhunderts in
stetem Kampfe miteinander liegen, von denen die eine in wirtschaft-
lichen und politischen Notwendigkeiten der Annäherung und des Aus-
gleiches, die andere in der angeborenen Zähigkeit egoistischen Sonder-
lebens und in der Macht überkommener Gewohnheiten wurzelte. Die
Ordnung des deutschen Wirtschaftslebens erfolgte, soweit das Gebiet
mehrerer Staaten in Frage stand, bis 1867 zögernd, schrittweise durch
völkerrechtlichen Vertrag, dann durch Gesetz. Der deutsche Zollverein
war der wichtigste der Verträge, auch deshalb, weil einige andere
Angelegenheiten durch seine Vermittelung vereinheitlicht wurden.
Neben ihm standen die Postverträge, Anschlußverträge für die Land-
straßen, für die Schiffahrt auf Strömen, Seen und Meer, die Eisen-
bahn- und Telegraphenabkommen, die Einführung der allgemeinen
deutschen Wechselordnung und des deutschen Handelsgesetzbuches.
Diese und andere Vereinbarungen haben segensreich gewirkt, wenn
sie auch unzureichend waren, und es wäre undankbar in späterer Zeit,
in der wir uns des sprungweise fortschreitenden Reichsrechtes als etwas
Selbstverständliches erfreuten, die ungeheuren, patriotisch erduldeten
Mühsale zu vergessen, die dem Zustandekommen jener Verträge voraus-
gehen mußten.
IL Die Landwirtschaft. Deutschland war während der Na-
poleonischen Kjriege ganz überwiegend Agrarland. Seine Bevölkerung,
die 18 16 auf dem späteren Reichsumfange mit 24,81 Millionen berechnet
wurde, lebte zu mehr als ^4 ^^f dem Lande. Von den Städten hatten
die kleinen zudem ein großdörfliches Gepräge. Weimar ist nach Her-
ders Ausspruch ein unseliges Mittelding zwischen Hofstadt und Dorf.
Viele Bewohner hatten Gärten vor den Toren, und manche übten im
Hauptberuf als Ackerbürger die Landwirtschaft aus. Als in der
französischen Zeit Hunderte der kleinsten Territorien des alten Reiches
II. Die Landwirtschaft.
zertrümmert wurden, bildeten die neuen Machthaber viele Duodez-
städtchen, an denen das Reich einen Überfluß besaß, und die oft
genug keine 500 Einwohner hatten, wieder rechtlich in Dörfer um,
die alsbald eine ganz ländliche Physiognomie annahmen. Großstädte
waren selten. Berlin hatte 18 16 noch nicht 200000 Einwohner, Ham-
burg mit Vororten die Hälfte, Breslau und München 60000, Nürn-
berg (1812) 26000, Augsburg (18 12) 29000, Frankfurts Landgebiet
von 4Y3 Geviertmeilen um 1831 erst 52000, die sich auf eine Stadt,
einen Marktflecken und 6^/2 Dörfer verteilten.
Die agrarstaatlichen Verhältnisse haben sich im Verlaufe der
folgenden Jahrzehnte gründlich verändert. 1804 wurden von den
Preußen 80°/^ der Bewohner der Landwirtschaft im weiteren Sinne,
d. h. die Gärtnerei, die Fischerei und das Forstwesen einbegriffen,
zugerechnet, 1849 nur noch 64, 1867 48. In den übrigen, größeren
Staaten ist der Vorgang ein ähnlicher gewesen.
Auf dem Lande war die Eigenwirtschaft, in der die Ver-
sorgung der Familie mit Einschluß der Dienstboten und zum Teil
auch der Arbeiter mit selbstgefertigten Verbrauchsgegenständen ganz
überwiegend vorgenommen wird, weit mehr als heute üblich. Die
Bauern waren auch Bäcker, Metzger, Maurer, Zimmerleute, Spinner,
Weber, Besenbinder, Bürstenmacher, Mattenflechter, Holz- und Knochen-
schnitzler. Ihre Bedürfnisse, die sie nicht selbst befriedigen konnten,
deckten sie aus der nahen Stadt, sei es bei den Handwerkern, sei
es bei den Kaufleuten, die Kolonialwaren, feinere Kleidungsstücke,
Schmuck, Eisen- und Stahlwerkzeuge, Töpfergut und Glas auf Lager
hatten. Vielfach wurden Schuhmacher, Schneider, Sattler ins Haus
des Eigenwirtschaftlers genommen, dort beköstigt und gelohnt, um die
vorhandenen selbstproduzierten Rohstoffe zu verarbeiten, was man auf
die Stör gehen nannte. Das Salz wurde aus den staatlichen Magazinen
bezogen. Den Überschuß der landwirtschaftlichen und daheim vielfach
verarbeiteten Erzeugnisse über den eigenen Bedarf führten sie dem
Wochenmarkt oder unmittelbar den einzelnen städtischen Verbrauchern,
größere Mengen wie Mehl und Öl, die auf ländlichen Wind- und
Wassermühlen oder Ölmühlen hergestellt waren, den Kaufleuten zu.
Auf den Gutshöfen oder Herrensitzen war die Lebenshaltung eine
höhere, die Eigenwirtschaft noch eine vielseitigere, auch unter Aus-
nutzung der Arbeitsteilung, die dem Gesinde zugewiesen war. Oft
wurde die Hauswirtschaft durch festangestellte Gutshandwerker, wie
Schmiede, Sattler, Stellmacher, Maurer ergänzt. Die selbständigen
Landhand werk er waren zugleich Acker- und Gartenbauer im kleinen.
Die wenigen freien Arbeiter wurden überwiegend in Naturalien ab-
gelöhnt. Geld sah man im Verkehr nicht häufig. Die Produktenpreise
waren niedrig.
8 I. Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
Die ausgedehnte Eigenwirtschaft ist während des ig. Jahrhunderts,
besonders in dessen zweiter Hälfte rasch zurückgegangen, am schnellsten
in den Städten, wo sie am Beginn desselben auch noch bedeutend
war. Ein anschauliches Bild der städtisch-ländlichen Hauswirtschaft
ist in „Hermann und Dorothea" das Gasthaus zum „Goldenen Löwen",
das mit seinen doppelten Höfen, den Scheunen, Ställen und dem Obst-
garten bis an die Mauern des Städtchens reichte, jenseits deren sich
die wogenden Kornfelder, die Wiese und der umzäunte Weinberg mit
Gutedel und Muskateller anschlössen. Ländlich Gewerb war mit
Bürgergewerb gepaart. Es werden die Fremden beherbergt und aus
eigener Wirtschaft beköstigt, die Pferde dem Postwagen gestellt. Die
Wohnstube ziert Spinnrad und Spinnrocken, die Truhen sind gefüllt
mit selbstgefertigten Linnen und Kleidervorrat für Jahre.
Selbst in den mittleren Städten fehlte der landwirtschaftliche
Anhang dem Hausbesitz nicht. Das Hörn des Hirten rief die Stadt-
kühe zur Herde zusammen, die auf der städtischen Gemeinweide des
Tags über graste. In Berlin sogar hatten die Häuser in den Hauptstraßen
nach hinten große Gärten mit Obst- und Gemüsebau. Vom Hand-
werker bis zu den Exzellenzen hielt man sich Rindvieh und Schweine,
und auf dem Markt „Im Rondel", dem heutigen Belle-Alliance-Platz,
wurden Wrukenblätter und anderes Futter für die „Viehmästers" feil-
gehalten. Die Spargelpflanzungen in den Vorstädten waren berühmt.
Die Familien, die Sonntags aufs Land hinausspazierten, kehrten bei
dem Bauer ein, bei dem sie auf dem Markte einzukaufen pflegten.
Denn das Landgastliaus war nur Trinkstube und Kegelbahn. Stadt
und Land boten zwar Gegensätze, waren aber durch persönliche Be-
ziehungen weit mehr als später verbunden.
Die berufliche Aussonderung oder die Auflösung der Eigenwirt-
schaft setzt sich mit verbesserten Werkzeugen, Arbeitsmethoden
Maschinen, mit der wachsenden Vielseitigkeit der Bedürfnisse, der
Schaffung größerer Betriebe durch. Sie leistet Billigeres, oft Hand-
licheres, Hübscheres, wenn auch nicht immer so Dauerhaftes. Jede Ver-
besserung der Verfrachtungsmittel befestigt sie. Die alten gewerb-
lichen Hausarbeiten werden verlernt, und je mehr das Geldwesen
eindringt, um so weniger Neigung ist vorhanden, sie etwa in Zeiten
schlechten Erwerbs, die sie nahe legen, wieder aufzunehmen. Im
schwer zugänglichen Gebirge später als in der Ebene, in dem weit
abgelegenen Dorfe und in der Kleinstadt langsamer als in der Groß-
stadt, nicht so schnell im Osten als im Westen des Vaterlandes voll-
zieht sich der Übergang von der Eigen- zur Verkehrsproduktion.
Der technische Betrieb der Landwirtschaft war rückständig.
Vorherrschend war auf großen und mittleren Gütern die seit unvor-
denklicher Zeit geübte Dreifelderwirtschaft, bei der in drei Schlägen
II. Die Landwirtschaft.
der Flur, Winterung, Sommerung und Brache aufeinanderfolgten.
Doch waren keineswegs überall zwei Drittel angebaut, oft scheint es
nur die Hälfte gewesen zu sein, indem die vom Hofe weit entfernten
oder die wenig fruchtbaren Felder nur von Zeit zu Zeit einmal
Roggen nach längerer Ruhe trugen. Bei dem Mangel an Vieh und
einer geregelten dauernden Stallfütterung — in der wärmeren Jahreszeit war
das Vieh auf der Acker- oder der Gemeindeweide, in der kalten wurde
es vor allem mit Stroh mangelhaft ernährt, durchgehungert, sagte
man — war in vielen dieser Betriebe die Düngererzeugung so rück-
ständig, daß bei schlechten Ernten nichts Erhebliches über die doppelte
Einsaat gewonnen wurde. Nach I. G. Koppe bot die Dreifelderwirt-
schaft in vielen Teilen Deutschlands ein wahres Jammerbild dar. Un-
gefähre Berechnungen aus pommerschen und ostpreußischen Wirt-
schaftsbüchern jener Tage belehren uns, daß die durchschnittlichen
Roherträge an Getreide sich auf ein Viertel bis ein Drittel der heutigen
beliefen. Mit 6 — 7 Doppelzentnern Weizen, Roggen, Gerste auf einen
Hektar konnte man sehr zufrieden sein. Als Durchschnitt von 1 6 Jahren
nach 1816 erzielten in der Mark Brandenburg beim Roggen nur die
tüchtigsten Landwirte das 5,2 te Korn, nachdem die Betriebsweise schon
verbessert worden war.
Indessen gab es auch Ausnahmen von dieser primitiven Wirt-
schaftsweise. Friedrich der Große hatte auf einer Reihe von Domänen
an die Stelle der Brache schon Futterkräuter und eine Vierfelder-
wirtschaft anbefohlen, den Privaten dringend geraten, die englische
Betriebsart nachzuahmen und staatliche Unterstützung den Willfährigen
zugesagt. In der Goldenen Aue, bei Magdeburg, in Teilen Schlesiens
war um 1820 die unbebaute Fläche schon ziemlich eingeschränkt.
Kartoffeln, Kohl, Hülsenfrüchte, Futterkräuter bedeckten manchen
Acker. Das galt als ein Fortschritt gegen den Anfang des Jahrhunderts,
als man in Deutschland die Verdrängung der Brache auf nur 2 — 3%
des ihr unterworfenen Drittels veranschlagte, obwohl sich der Kleebau,
der durch den Österreicher Schubart bekannt geworden war, prak-
tisch bewährt hatte.
In der Mark Brandenburg bestand zwischen 1800 und 1820 auf
manchen großen Gütern das Bestreben, mit der Dreifelderwirtschaft
endgültig zu brechen. Die Bevölkerung war gestiegen, und die An-
sprüche der Residenzstadt forderten zu einer Mästung des Rindviehes,
zum Verkauf der Kälber, zur Erzeugung von Milch, Butter und Käse
auf. Die Stallfütterung wurde häufiger, und die Holländerei, d. h. die
Milchwirtschaft, die durch holländische herbeigerufene Kolonisten ein-
geführt worden war, schloß sich öfters an. Auch das merkantilistische
Wollausfuhrverbot, das die Schafzucht unrentabel gemacht hatte, hatte
das Aufziehen von Kühen und Ochsen und damit den planmäßigen
lO !• Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
Futteranbau gefördert. In Sachsen hingegen, wo die Wollausfuhr
frei war, blieb die Dreifelderwirtschaft unangetastet, da sie den exten-
siven Weidebetrieb, bei dem die Gutsherren die Schaftrift auch auf
dem Bauernlande ausnutzen, gestattete. Hier, wie in Anhalt, im
Magdeburgischen und Halberstädtischen war die Rindviehzucht vor-
wiegend in den Händen der Bauern, deren Betrieb für das Halten
von Schafen zu klein war.
In der Nähe norddeutscher Städte, oder auch in einzelnen Gegen-
den, wo Wiesen und Weiden im Überfluß waren, es aber an Grund-
stücken zur Beackerung fehlte, kannte man eine ziemlich intensive,
wenn auch willkürliche Zweifelderwirtschaft, im ersten Jahre, in dem
gedüngt und der Boden mit dem Spaten umgegraben wurde, den Anbau
von Kartoffeln, Rüben, Tabak, Kohl, Hirse und Lein, im zweiten
Winter- oder Sommerroggen, Gerste, Hafer. In der Nähe von Dres-
den fand Koppe „gemeine Leute" in der Weise wirtschaften: im
ersten Jahre Kartoffeln und Kohl, im zweiten und dritten Gerste mit
Klee, im vierten Roggen und Wicken, im fünften Hafer; im Alten-
burgischen Fr. Schmalz eine ziemlich freie Behandlung des Brache-
jahres, je nach Bodenbeschaffenheit und Absatzmöglichkeit, mit Klee
und Hülsenfrüchten; im Moselgebiet I. N. Schwerz die Tatsache eines
Fruchtwechsels, welcher dem berühmten Norfolker ähnlich war, aber
bei sehr mangelhafter Bearbeitung des Bodens sich nicht bewährte
und als ein uralter gemeindeüblicher Schlendrian von ihm bezeichnet
wurde; in Ostfriesland und Jever Fr. Arens eine sich besser be-
währende Einteilung von 4 — 8 Schlägen mit dem Wechsel des Ge-
treides und der Blattfrucht in dem Anbau von Bohnen.
Es gab im nördlichen Deutschland außer der Dreifelderwirtschaft
noch andere extensive Wirtschaftssysteme, so in der Emsgegend die
Brandkolonien, in denen nach Abbrennen der Moorfläche 3 — 8 Jahre
Buchweizen gesät wurde, worauf sich der Boden 10 — 20 Jahre aus-
ruhen mußte. Verbreitet war im Holsteinischen die Koppelwirtschaft,
die mit 10 — 14 Koppeln seit alter Zeit bestand, im Mecklenburgischen
eine ähnliche, die den Körnerbau und die Schafhaltung mehr berück-
sichtigte, im Märkischen eine neunschlägige, die neueren Ursprungs
war. Diese Systeme der Feldgraswirtschaft, bei denen die ewige Weide
beseitigt ist, die Felder zur Hälfte oder mehr der Umtriebsjahre der
Grasung unterworfen sind, ermöglichten eine andauernde und gleich-
mäßige Rindviehzucht, für deren Produkte Absatz gesucht werden
mußte, durchbrachen die Eigenproduktion also stärker als die alte
Körnerwirtschaft. Sie bewährten sich, ebenso wie auch heutzutage, in
ihrer rationell durchgebildeten Form dort am besten, wo ein feuchtes,
insbesondere ein Seeklima den Graswuchs begünstigte, oder auch dort,
wo, wie im Gebirge, auf eine regelmäßige Bewässerung der Wiesen
II. Die Landwirtschaft. j j
ZU rechnen war und der Getreidebau, wie auf den Hofgütern des
badischen Schwarz waldes, hinter der Viehhaltung zurücktrat.
Sie kommen daher auch in Süddeutschland vor. In Bayern war
der Getreidebau im ganzen noch mehr zurück als in Preußen, so daß
das Land noch gelegentlich einführen mußte, und im Anschluß an die
Dreifelderwirtschaft, die man gar nicht selten noch 50 Jahre später
antraf, war auch die Viehzucht von schlechter Beschaffenheit. Der
Hopfenbau stand jedoch auf höherer Stufe, und im Main- und Rhein-
kreise war der Kleinbetrieb des Weines, des Tabaks, der Ölgewächse,
des Flachses und des Hanfes in gutem Stande. Ähnlich in den tief
gelegenen Teilen von Baden und Württemberg. In der Pfalz hatte
Möllinger schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Esparsette
eingeführt und damit die Reform der Landwirtschaft angebahnt. Von
der badischen nördlichen Pfalzgrafschaft berichten L W. Schmidt
und Peter Wund um 1800, „daß die Viehzucht zu dem Ackerbau
in gutem Verhältnisse stehe und den nötigen Dung zu der Anpflanzung
des Weines sowohl als der Getreidearten darreiche". Die allgemeinen
Weiden seien aufgehoben und die Stallfütterung größtenteils vorhanden.
Ahnliche Zustände bestanden in der badischen Markgrafschaft, deren
Vielseitigkeit in dem Anbau von Obst, Wein, Tabak, Kartoffeln, in
der Wiesenkultur und in dem Kleebau hervorgehoben wurde.
Der spätere Wohlstand in der Rheinebene, begünstigt durch
Klima, Bodenreichtum und wertvolle Weidestücke, geht auf diese Tat-
sache der schon um 1815 fortgeschrittenen Landwirtschaft zurück. Be-
fördert wurde er, besonders in dem wohlgepflegten badischen Land,
durch eine Staatsregierung, die die Eigenarten des bäuerlichen Mittel-
standes nicht antastete und alle zu schnellen Bewegungen in der
Politik und Wirtschaft hintanhielt, allerdings sich auch infolge der
hergebrachten Behaglichkeit des Lebens gefallen lassen mußte, daß
manche späteren Fortschritte der Technik und Verwaltung erst von
außen her übernommen wurden.
Zusammenfassend ist zu sagen, daß im ersten Viertel des Jahr-
hunderts die deutsche Landwirtschaft noch überwiegend an einer ver-
alteten Technik hing und als verbesserte sich nur ausnahmsweise über
größere Flächen erstreckte, wobei sie durchweg roh empirisch verfuhr
Jedoch reichte in der Regel das Erzeugnis an Lebensmitteln aus, um
die deutsche Bevölkerung zu ernähren, zumal der Anspruch an Fleisch
bezüglich Menge und Beschaffenheit nicht groß war. In den Ostsee-
gebieten hatte man einen Überschuß zur Ausfuhr, die sich nach Eng-
land, Holland und den nordischen Reichen bewegte.
Die sozialrechtliche Verfassung auf dem Lande war, als der
Frieden wieder hergestellt worden war, in einer Umformung begriffen.
Die gesellschaftliche Gliederung des absoluten Staates, in der jedem
12 I. Abschnitt. Einleitung : Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
Stand nach Geburt, Beruf und Erwerb sein Platz angewiesen war,
der adlige und bäuerliche Besitz streng voneinander getrennt waren
und beide als solche erhalten bleiben sollten, war mit dem liberalen
Rechtsstaat, der sich seit 1789 in Westeuropa durchsetzte, wenigstens
im Grundsatz aufgehoben worden. Die Rückständigkeit der Land-
wirtschaft wurde zum großen Teil den rechtlichen Fesseln und den
Lasten zugeschrieben, die den Betrieb überall lähmten. Freies Eigen-
tum und Bewegungsfreiheit des Individuums sollten den Erwerbssinn
der Bauern und Gutsbesitzer beleben und den Anbau heben.
In den preußischen Gebieten östlich der Elbe war im 18. Jahr-
hundert die Lage der Domanialbauern schon verbessert worden. Die
Privatbauern genossen in Brandenburg, Schlesien, Pommern den
Bauernschutz, demgemäß es dem Gutsherrn verboten war, Bauernland
einzuziehen, aber die Erbuntertänigkeit, die Frohnden, unter denen
die Rittergüter bewirtschaftet wurden, und das schlechte, zweifelhafte
Besitzrecht bestanden überall so lange fort, bis die Änderung der
sozialen und teilweise der politischen Grundlagen des Königreichs
nach seinem Niederbruch von 1806 dringend geboten war. 1807 wurde
unter Steins Ministerium zuerst die Erbuntertänigkeit, der gemäß
die Untertanen das Gut ohne Erlaubnis nicht verlassen sollen, der
Heiratsgenehmigung bedürfen und ihre Kinder zu Zwangsgesinde-
diensten vorzustellen haben, sobald sie erwachsen sind, beseitigt, dann
folgte die sogenannte Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen
Verhältnisse 181 1, die sich an den Namen Hardenberg anknüpfte.
Die Ausführung der letzteren wurde zwar anbefohlen, durch die
kommenden Kriegsjahre aber zunächst verhindert, erst nach 18 16, unter
einer, die Bauern ungünstiger treffenden Auslegung des Ediktes von
18 II in Angriff genommen. Die spannfähigen, katastrierten Bauern
vertauschten ihr hergebrachtes, mehr oder minder schlechtes Besitz-
recht mit dem vollen Eigentum und sollten von Frohnden und Natural-
abgaben befreit werden. Dafür gingen sie der Unterstützung in Not-
fällen von Seiten des Gutsherren und etwaiger Rechte am Gutswalde
verlustig und hatten von ihrem Lande '/g bei erblichem, Y2 ^^i nicht-
erblichem Besitz dem Gutsherren abzutreten. Der alte Bauernschutz
fiel mit der allgemeinen Veräußerungsfreiheit des Bodens. Für Bauern
mit gutem Besitzrecht, Eigentümer, Erbzinsleute, Erbpächter erfolgte
1820 eine Ablösungsordnung, d. h. die Leistungen und Abgaben
wurden in eine Geldrente verwandelt, die mit einem 25 fachen Kapital-
betrag sofort getilgt werden konnte. In vollem Maße waren auch
hierfür nur die spannfähigen Bauern berechtigt, so daß die Inhaber
kleiner Wirtschaften, Kossäten, Häusler oder wie sie sonst hießen, die
alten Lasten noch weiter zu tragen hatten, falls eine vertragsmäßige
Aufhebung nicht erzielt worden war.
II. Die Landwirtschaft. i ->
Auch in den übrigen deutschen Gebieten wurden die alten
ständischen Rechte und Pflichten, die sich in sehr verschiedenen Ein-
zelformen darstellten, wenigstens im Grundsatz überall, in den beiden
ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts beseitigt, wenn sich auch die volle
Durchführung über die dann folgenden hinschleppte. Das Untertänig-
keitsverhältnis fiel in Bayern 1808, in Nassau 18 12, in Württemberg
181 7, in Hessen-Darmstadt und Baden 1820, in Kurhessen 182 1. In
Süd- und Westdeutschland, wo schon in der Rheinbund- bzw. fran-
zösischen Zeit der Anfang gemacht worden war, war, abgesehen von
dort, wo, wie im Schwarzwald, im Allgäu, in Altbayern, auch größere
einheitliche Herrengüter, wie im Osten Preußens bestanden, das bereits
meist vorhandene Landeigentum der überwiegenden Kleinbetriebe mit
ziemHch intensiver Wirtschaft nur von den Grund-, Gerichts- und
leibherrschaftlichen Abgaben, von Weide- und Jagdrechten des ehemals
bevorrechtigten Standes und von Frohnderesten zu befreien, was teils
durch Aufhebung ohne Entschädigung, wo das französische Recht
eingriff, teils gegen Rentenentschädigung unter dem Plan der Ablösung
zu geschehen hatte. Das Verschwinden der zahlreichen kleinen Terri-
torien mit der Auflösung des alten Reiches war hier für den Klein-
bauern besonders segensreich gewesen, da die neuen großen Staaten
darin wetteiferten, den alten Steuerdruck und die feudalen Lasten zu
beseitigen, um ihren Untertanen den guten Willen zur Neuordnung
zu zeigen.
In Nordwestdeutschland, in Hannover und Westfalen, wo eben-
falls der herrschaftliche Großbetrieb nicht ausgedehnt war, verschwanden
mit der neuen Zeit das Meierrecht und die Eigengehörigkeit als grund-
herrliche Einrichtung, und die Grundlasten, Zinsen, Zehnten wurden
mittelst Geldrente oder Kapitalzahlung von den bäuerlichen, meist
mittelgroßen Gütern abgelöst.
Die Verteilung des landwirtschaftlichen Eigentums nach Größen-
klassen während des 19. Jahrhunderts geht auf diejenige in der Haupt-
sache zurück, wie sie schon vor 1820 aus der Vergangenheit, nun
allerdings unter neuem Rechte, bestand. Wo damals der Großgrund-
besitz, wie in Preußen östlich der Elbe und in Mecklenburg, überwog,
herrschte er auch nach 100 Jahren noch vor, während in Hannover,
Schleswig-Holstein, Westfalen, Altbayern der größere Bauernbesitz, im
Westen und Südwesten, am Rhein, am Main, am Neckar der Klein-
besitz typisch geblieben ist.
Die Bedeutung der sozialen Reform für die Landwirtschaft und
die agraren Klassen werden wir weiter unten zu verfolgen haben.
Für die neue Rechtsordnung, die öffentHche Landwirtschaftspflege und
das landwirtschafthche Unterrichtswesen traten die Einzelstaaten des
deutschen Bundes als allein zuständig ein. Das reichte auch zunächst
I^ I. Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
aus, da ein Agrarland, wie es damals Deutschland war, der Getreide-
und Fleischzölle nicht, oder nur ausnahmsweise bedurfte. Trotzdem
zeigte sich bald, daß der politische Partikularismus auch für die Land-
wirtschaft ein Übel war. Die Ausfuhr ihrer Produkte wurde von den
großen europäischen Nachbarn allein nach ihrem Ermessen zugelassen
oder gehemmt, und die Staaten in Deutschland hatten, weil sie ent-
weder zu klein waren, oder noch in veralteten Zoll- und Steuer-
einrichtungen stecken geblieben waren keine handelspolitischen Mittel,
dieser Übermacht zu begegnen. Untereinander schnitten sie sich die
Lebensmittelzufuhr ab, wie es ihnen gerade paßte, so daß der entferntere
Absatz unter Benutzung der Flüsse oder der neuen Landstraßen zum
Schaden der Überschuß wirtschaften und der Verbraucher unmöglich wurde.
IIL Handwerk, Hausindustrie, Fabrik. Mit der Auf-
lösung des alten Reiches und der Bildung des Rheinbundes war im
Südwesten und Süden Deutschlands die schlimmste Kleinstaaterei mit
ihrer Verkehrshemmung von Ort zu Ort beseitigt worden, als einige
Hundert Territorien von Hessen, Baden, Württemberg und Bayern
aufgesogen wurden. Ihre Binnenzölle beseitigten die neuen Staaten
zwischen 1807 und 181 2, und teils hierdurch, teils unter dem Schutze
der gegen England gerichteten Kontinentalsperre entsproß eine be-
scheidene Blüte gewerbhchen Lebens.
In Preußen hingegen, das durch die Niederlage von 1806 und
die daraus hervorgehenden Kriegskontributionen und durch die feind-
liche Besetzung völlig erschöpft war, konnte man vor der Friedenszeit
nicht daran denken, das Finanz- und Binnenzollwesen zu ordnen, ob-
wohl man die hergebrachten Verkehrsbeschränkungen als durchaus
nicht mit der begonnenen liberalen Sozialgesetzgebung, der allgemein
gestatteten Freizügigkeit und der neuen Gewerbefreiheit in Überein-
stimmung erachtete.
Preußen ist selbst in der Zeit seines kleinsten Bestandes mit
nichten ein rechthch einheitliches Wirtschaftsgebiet. Der Binnenhandel
ist dadurch unterbunden, daß man die Provinzen als abgesonderte
Landesteile mit eigenen Ein- und Ausfuhrverboten verwaltet, und
innerhalb derselben haben einzelne Abschnitte, wie sie geschichtlich
geworden waren, oft noch eigene Akzisetarife, deren man in der ganzen
Monarchie 47 zählt. Stadt und Land sind rechtlich getrennt. Alle
Kaufleute wohnen in der ersteren, wohin sie alle Waren, die sie aus-
wärts einkaufen, kommen lassen müssen. Die Lagerung findet zunächst
in den städtischen Packhöfen statt, um dort für Rechnung der Staats-
kasse verakzist zu werden. Alsdann wird der Absatz an die städtischen
und ländlichen Verbraucher gestattet. Zu dieser somit jeden Landes-
bewohner treffenden Abgabe kommt noch hinzu, daß alles, was vom
Lande an Lebensmitteln in die Stadt eingeht, ebenfalls zugunsten des
III. Handwerk, Hausindustrie, Fabrik. j c
Staates verzollt wird, wofür zum Ausgleich die Bauern eine Grund-
steuer, Kontribution genannt, zu entrichten haben.
Wie nachteilig die Absonderung der alten Landesteile von-
einander auf das ganze Königreich zurückwirkte, erläutert in einer
Memoire von 1 8 1 1 der im Freiheitskrieg viel genannte General
F. W. von Bülow: „Der Staat war von jeher in seinen einzelnen
Teilen durch Herkommen, Verfassung und innere Einrichtung getrennt,
so daß eine jede Provinz nur ihr eigenes Interesse beobachtete und
zum Zweck hatte; das allgemeine Staatsinteresse aber war nur wenigen
aufgeklärten, patriotisch denkenden Köpfen anschaulich; da nun keine
Einheit im Staate existierte, so konnte auch kein eigentlicher National-
geist hervorgebracht werden. Zu den Zeiten Friedrich des Großen
existierte etwas, was einen solchen Nationalgeist ähnlich sah; allein
es war nur ein während der Kriege durch die Großtaten dieses großen
Mannes hervorgebrachtes militärisches Ehrgefühl, welches bei der da-
maligen Generation sehr lebhaft und kräftig wirkte, welches aber bei
den kommenden Generationen schwinden mußte, da es nicht mehr
gleichmäßig genährt und unterhalten werden konnte". Das letztere
Problem behandelt Willibald Alexis in seinem geistreichen Roman
„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht": „Daß der große Mann die Seele
des Staates gewesen und nun eine neue Seele in den verlassenen
Körper fahren müsse, daran dachten die Bürger nach seinem Tode
nicht. Sie dachten vielmehr nur, jetzt hören die Kaffeeriecher auf,
und vielleicht auch die Tabaksregie".
Man kennt damals ebenso wie heute Handwerk, Hausindustrie
und Fabrik, die man auch Manufaktur heißt, als drei Betriebsformen
nebeneinander. Aber während die letztere heute die wichtigste ist,
steht sie damals an dritter Stelle. Von den Roh- und Hilfsstoffen
wird fast alles in Deutschland erzeugt. Eine wichtige Ausnahme
machen der indische Rohrzucker, der amerikanische Tabak, der
russische Hanf, die Baumwolle. Bayern stellt das nötige Malz und
den Hopfen für sein Bier selbst her. Überall gibt es Wälder, die
Holz für den Hausbau, die Tischlereien und die die Meilerkohle liefern.
In Preußen werden 1819 g 000 000 Schafe ermittelt, darunter 839548
Merinos, 2900000 halbveredelte Tiere. Die Provinz Sachsen' ist noch
für die Schafzucht wertvoll, hinter Pommern, Schlesien und Branden-
burg stehen Posen, West- und Ostpreußen zurück. Der Flachsbau
gedeiht am besten in Schlesien, Ravensberg, der Kurmark, bei Halber-
stadt, der Hanfbau ist demgegenüber gering. Der meiste Tabak, nur
gewöhnlicher Qualität, wächst in Süddeutschland, der beste preußische
in der Uckermark. Krapp kommt vorzugsweise aus Schlesien, Waid
aus der Provinz Sachsen. Die Eisen- und Stahlgebiete sind Rhein-
land, Westfalen und Oberschlesien.
l5 !• Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
Der Standort des stoffverarbeitenden Gewerbes war zunächst der,
daß alle gTößeren Städte ein vielseitiges Handwerk besaßen. Einige
von ihnen hatten es zur Ausfuhr-Spezialität ausgebildet, wie Nürnberg,
dessen Bleistifte, Dosen, Ahlen, Kaffeemühlen, Leuchter und andere
Hausgeräte aus Messing, Kunstgegenstände aus Elfenbein und Holz,
und hundert Arten von Kinderspielzeugen nach Nord- und Südeuropa
und über See gegangen waren; oder wie Augsburg, mit seinen feinen
Waren aus Gold, Silber, Kupfer und kleinen Musikinstrumenten; oder
wie die rheinischen Städte mit ihren weltberühmten Waren, Aachen-
Burtscheid mit den Nadeln, Stolberg mit Messingwaren, Solingen mit
Klingen und Scheren, Remscheid mit Stahlwerkzeugen. Alle diese
Gewerbe waren örtlich an ihre alteingesessene, höchst ausgebildete,
nicht bewegliche Arbeiterschaft gebunden, die sich selbst oder auch
durch Kaufleute die Rohmaterialien, oft aus größerer Entfernung, be-
schaffen mußte, wodurch dann hausindustrielle Zustände vorbereitet
wurden.
Hausindustrie und Fabriken waren über das ganze deutsche
Gebiet zerstreut, je nachdem sich die Rohstoffe aus Holz, Erde, Metall
und Faserstoff vorfanden, doch hatte sich schon hier und da eine Zu-
sammenballung in einzelnen Landesteilen vollzogen, wie die Spinnerei
und Weberei im Königreich Sachsen und in Schlesien, Die Ver-
hüttung der Erze war den Erzgruben nahe, konnte aber nur dort
erfolgreich sein, wo sie aus nahen Wäldern die Holzkohle beziehen
konnte. Sie wurde daher an vielen Orten im kleinen betrieben und
war in ihrer Ausstattung auch von der vorhandenen Wasserkraft, die
die Blasebälge der Öfen und die Wasserhebung in den Gruben zu
besorgen hatte, abhängig. Diese Naturkraft wies auch den Eisen-
hämmern, den Getreide- und Sägemühlen, auch weiterhin den mechanisch
betriebenen Textilfabriken den Platz an, von denen die ersteren den
Hüttenwerken möghchst nahe gehalten wurden. Der Schiffsbau wurde
in den größeren Städten an den Flüssen und nahe dem Meere, die
Holzindustrie in besonders waldreichen Gegenden der süddeutschen
Gebirge zusammengefaßt, die Eisengießerei, bei Aachen und an der
Saar, baute sich auf dort vorhandener Steinkohle auf. Aber auch
politische Zustände waren nicht selten für den gewerblichen Standort
entscheidend gewesen. In vielen kleinen Residenzen waren Porzellan-
und Glasmanufakturen gegründet worden, die hier ihren Hauptabsatz
erwarteten. Die Abschließung der Territorien durch Einfuhrverbote
wirkte überwiegend negativ, so daß die Entfaltung zu größerer Unter-
nehmung gehindert, oft nur der schwächliche Betrieb künstlich erhalten
wurde. Endlich konnte auch die Willkür der absoluten Staatsregierung
bestimmend gewesen sein. Die Zuckerraffinerien, die ehemals in den
den Rohzucker einführenden Seestädten am besten gediehen waren,
III. Handwerk, Hausindustrie, Fabrik. I y
verteilte Friedrich der Große über das Staatsgebiet. Mehrfach war
auch die Ansiedelung von Ausländern die Veranlassung zur Ein-
führung und Festlegung von Gewerben geworden. Die preußischen
Könige haben durch Pfälzer und Württemberger, die sächsischen Landes-
herren durch Leute aus der Schweiz, die von Hessen- Homburg und
Hessen-Kasse], die pfälzer Rhein grafen und die badischen Markgrafen
durch Niederländer, französische Hugenotten und später durch Refugies
die Gewerbetätigkeit ihrer Länder gehoben. Zuletzt, während der
Napoleonischen Zeit, hatte die Kontinentalsperre die Entstehung einiger
Werke begünstigt, wobei teils die natürlichen Standorte bevorzugt
wurden, teils die neuen Landesgrenzen und die damit gegebenen Ab-
satzmöglichkeiten bestimmend gewesen waren.
Die Technik der verarbeitenden Gewerbe gestaltete sich langsam
um, war im Handwerk fast beständig zu nennen. In den städtischen
Manufakturen hatte die Arbeitsteilung Fortschritte gemacht, so daß
man darin ihre Überlegenheit zu sehen gewohnt war. Verglichen mit
den Zuständen weniger Jahrzehnte später und mit dem damaligen Eng-
land steht die gewerbliche Arbeit auf niedriger Stufe. In der Textil-
industrie leisten Handspinner und Handweber so gut wie alles, dem
Handwerk ist die Werkzeugmaschine unbekannt. Der Bergbau ist
noch auf den Stollenbetrieb eingestellt, der wenig tiefe Schächte als
Anhang kennt. Die Wasserhebungsapparate werden außer durch die
Kraft der Gebirgsbäche durch den Pferdegöpel bewegt. Die Verhüt-
tung des Eisens geschieht mit der Holzkohle, die Stahlgewinnung in
der alten Form des Herdfrischens. Die Verarbeitung des Rohmetalls
vollzog sich zuerst im Hammerwerk.
Das Handwerk war die Grundlage der gewerblichen Produktion,
wenn es auch in seiner technisch-wirtschaftlichen Ordnung rückständig,
in seiner sozialen gelockert war. Aus ihm waren die meisten Manu-
fakturarbeiter und viele Hausindustrielle hervorgegangen. Es wurde
rechtlicher Vorschrift gemäß in den Städten ausgeübt, war seit Jahr-
hunderten in Zünften oder Innungen gegliedert, die sich streng nach
der Beschäftigungsart voneinander abschlössen. Es war Kleinbetrieb.
Durch mancherlei Vorschriften, wie Verbot der Kompagniegeschäfte,
Festsetzung einer geringen Lehrlingszahl, Beschränkung der Arbeits-
mittel, der Arbeitszeit der Gesellen, des Einkaufs von Rohstoffen, so-
gar gelegentlich der herzustellenden Waren, war dafür gesorgt, daß
es diese seine Eigenschaft nicht verlor. Auf dem Lande gab es, wie
Schmiede, Sattler, Müller, nur einzelne Handwerker, die dem Landwirt
unentbehrHch waren, und die die Erlaubnis zur dortigen Arbeit von
der Staatsregierung erhalten hatten. Es war sonst das flache Land
ganz auf die Handwerksware derjenigen Stadt angewiesen, die es um-
gab, wofür es seinerseits diese mit Getreide, Fleisch, Milch usw., mit Ver-
A. Sartorius v. Wal t ersh aus e n , Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 2
l8 !• Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
arbeitungsstoffen, Häuten, Wolle, Holz versah. Ein sehr erheblicher
Teil der Güterzirkulation vollzog sich daher auf dem Gebiete von nur
wenigen Geviertmeilen. Diese Wirtschaftsweise war weder einer Über-
produktion, noch einem schwierigen Aufsuchen des Verkaufs ausgesetzt.
Die Bauersfrauen brachten Lebensmittel auf die Wochenmärkte und
die Handwerker arbeiteten für Kunden auf Bestellung, und, soweit sie
ihre Ware auf den Jahrmärkten ausstellten, war ihnen der Bedarf des
geringen Umfangs wegen wohl übersehbar. Allgemeine große wirt-
schaftliche Störungen, die sich über das ganze Land hinzogen, konnten
wohl durch Kriege, Mißernten oder Seuchen hervorgebracht werden,
nicht aber durch die planlose Anlage übergroßer Kapitahen, die nicht
vorhanden waren, und selbst bei ihrem Angebot keine Gelegenheit ge-
habt haben würden, sich zu betätigen.
Die Hausindustrie wurde teils in den Städten, teils auf dem
Lande, im mittleren und südlichen Deutschland oder in Schlesien und
Sachsen, vorzugsweise im Gebirge, wie von Webern, Spinnern, Spitzen-
klöpplern, Nagel-, Löffel-, Messerschmieden, Holzschnitzern, Strohflech-
tern, Uhrmachern, Scherenschleifern, Töpfern u. a. m. ausgeübt. Der
Verleger, der die weder im Handwerk noch in der Landwirtschaft
voll beschäftigte Bevölkerung mit Rohstoffen, Halbfabrikaten, Arbeits-
mitteln und Geld versah, die Arbeitsprodukte abnahm, sie auch fabrik-
mäßig vorarbeiten ließ, wie im Seidenge webe, oder nacharbeiten durch
Färben, Walken und Appretur, sie oft weithin auf Jahrmärkte und
Messen brachte und selbst im Auslande vertrieb, hatte als Kaufmann
seinen Sitz in der Stadt, wo die Zunftmeister, die bisweilen selbst an
ihn lieferten, ihn zu dulden hatten, wie er auch auf Grund der Kon-
zession die Kleinbauern oder Häusler auf dem Lande beschäftigte. Je
nach der Konjunktur des Warenmarktes waren die Arbeiter von ihm
in größerer oder geringerer Abhängigkeit, die durch Geldverschul-
dung noch gesteigert werden konnte. In „Wilhelm Meisters Wander-
jahren" wird eine in voller Harmonie der Unternehmer, Zwischenmän-
ner und Arbeiterfamilien gut gedeihende Industrie von Spinnern und
Webern auf das genaueste geschildert. Nur die Bedrohung durch die
Maschine wirft ihre Schatten auf das freundliche Gebilde voraus. In der
Kriegsperiode und unter der Kontinentalsperre, die den Verkehr viel-
fach unterbrachen, wurden viele Hausindustrien schwer betroffen, so
daß sie sich zum Beginn der weiterhin zu erzählenden Zeitverhältnisse
in einer wenig beneidenswerten Lage befanden. Es zeigte sich, daß
die Absatzfrage für sie die wichtigste geworden war, die immer
schärfer hervortrat, je mehr andere Länder zum Wettbewerb übergingen,
und je mehr die politischen Umwälzungen die Zollinien verschoben.
Die Fabriken waren teils von Kaufleuten, die ihre Hausindustri-
ellen zu Lohnarbeitern gemacht hatten, teils von unternehmenden Hand-
ni. Handwerk, Hausindustrie, Fabrik. ig
werkern, teils vom Staate begründet worden. Sie waren vorzugsweise
ein städtisches Gewerbe, das vom Merkantilismus durch Prämien,
Monopole, Geldzuschüsse, durch Einfuhrverbote konkurrierender Fa-
brikate, durch Ausfuhrverbote der erforderlichen Rohstoffe geschützt
worden war, jedenfalls wenn ihre Inhaber den Nachweis erbrachten,
daß sie viele Arbeiter beschäftigten, Geld in das Land ziehen oder
durch Lohnzahlung das Geld im Lande erhalten wollten. In Preußen
hatte Friedrich der Große besonders die Seiden-, WoU-, Hut-, Leinen-,
Glas- und Porzellanmanufaktur, die Berg- und Hüttenbetriebe gepflegt.
Sie waren rasch vorangekommen, ohne die sichere Grundlage zu
gewinnen, die sie sich in weiterer Konkurrenz erkämpft haben dürfen.
Ein nicht städtisches größeres Gewerbe waren die Metallhütten.
Die Eisenerzeugung war ihres Holzkohlenverbrauches wegen ganz von
dem Waldbestand abhängig, über den die Grund- und Territorial-
herren die Verfügung hatten. In Schlesien besaßen die Magnaten die
Erz- und Kohlenlager, die sie in eigener Regie ausbeuteten. Im Westen
übten die größeren Landesherren, oft im Anschluß an ihre Domänen,
den Berg- und Hüttenbetrieb aus, teils hatten sie und andere berech-
tigte Grundherren ihr Bergregal privaten Unternehmern überlassen,
die von ihnen das nötige Holz bezogen. Die rheinischen Unternehmer
waren um 1800 schon meist zu voller Selbständigkeit gelangt, und
wir treffen hier schon manche der später bekannten Firmen an. Mit
der verfeinerten Eisenverarbeitung hatten sie nichts zu tun; Eisengießerei
war mit ihren Öfen gelegentlich verbunden. Während der Franzosen-
zeit wurden die Reste der Feudalherrschaft auf dem linken Rhein-
ufer beseitigt. Die Hütten wurden freies Eigentum, die alten Ab-
gaben, die Holzschutzgesetze und Holzlieferungsverträge verschwanden.
Der Holzhandel wurde dem freien Kauf unterstellt. Am rechten Rhein-
ufer blieben in Hessen und Nassau einige der ehemaligen Rechtsverhält-
nisse fortbestehen. In Preußen galt die Gewerbefreiheit, unter der viele
kleine Hüttenbetriebe zugrunde gingen. Am besten hielten sich die
alten Werke in Schlesien, an der Saar und der Mosel.
Handwerk, Hausindustrie und Fabrik hatten, so einfach sie sich
begrifflich voneinander abtrennten, in der Praxis diese strenge Schei-
dung nicht. Das erstere bedurfte der Kaufleute zum Fernabsatz und
geriet so in die Zustände der zweiten hinein; diese hatte die Technik
der dritten nötig, um das Gewerbe zu vervollständigen, und die Fabriken
waren oft so klein, daß sie die regelmäßige Kundenversorgung zur
Hauptsache machten.
Die gesamte gewerbliche Produktion war der staatlichen Auf-
sicht bis zum Anbruch der neuen Zeit unterworfen gewesen. Die
Selbstverwaltung der Zünfte war, als sie zu Mißbräuchen geführt hatte,
beschränkt worden, ihr Statut wurde geprüft, die Gerichtsbarkeit ihnen
20 !• Abschnilt. Einleitung: Übersicht über das deutsche "Wirtschaftsleben usw.
in der Hauptsache genommen. Die Beamten griffen in das Verhältnis
von Meistern und Gesellen ein, beanstandeten das Meisterstück, durch
dessen Anfertigung der Geselle, nachdem er, aus der Lehrlingsschaft
entlassen, mehrere Jahre, um seine Arbeiten vielseitig zu erlernen, von
Stadt zu Stadt gewandert war, seine Befähigung zum selbständigen
Betrieb nachweisen mußte. Die Güte und Preiswürdigkeit der Hand-
werksware sind unter polizeilicher Aufsicht.
Auch für die Hausindustrie bestanden staatliche Ordnungen, die
für das technische und wirtschaftliche Ineinandergreifen so vieler zer-
streuter Kräfte und für die gute Beschaffenheit der Waren zu sorgen
und die Heimarbeiter vor Übervorteilungen zu behüten hatten. Für
das schlesische Leinengewerbe war z. B. 1788 eine eingehende Gesetz-
gebung erlassen worden, die den Flachshändlern, Spinnern, Garnsamm-
lern, Blattbindern, Leinwand- und Schleierwebern, Schaumeistern,
Stemplern, Leinwandsammlern und Kaufleuten vorschrieb, was sie zu
tun und zu lassen hatten. Schauämter und Oberschauämter, Kon-
zessionen und Kriminalstrafen, Revisionen und Denunziationen sollten
untereinander wetteifern, um die Staatsregierung, die Verbraucher und
alle am Gewerbe Beteiligten zufrieden zu stellen.
Im preußischen Bergbau auf dem rechten Rheinufer unterwarf
das allgemeine preußische Landrecht die Privatwirtschaft der Direktion
der Staatsbehörden. Der Staat erteilte die Erlaubnis zum Betrieb
allein und überwachte ihn vom ersten Tage seiner Anlage an, griff
nicht nur in die technische Produktion und in das Arbeitsverhältnis
zu den Knappen und deren Kassen ein, sondern regelte auch Preise,
Ausbeute, Zubuße und selbst den Absatz. Damit die Produktenpreise
nicht gedrückt würden und der Staat seine Einnahmen aus den Berg-
werken nicht verlöre, konnte die Erlaubnis des Betriebes entzogen werden,
bis das Angebot mit der Nachfrage wieder ausgeglichen war. Diese
kunstvolle Regelung des Marktes ist, nachdem sie in der Mitte des
Jahrhunderts von der liberalen Wirtschaftspolitik fortgefegt worden
war, am Ende desselben, wenn auch unter anderen Motiven, von dem
Verein der privaten Bergwerksbesitzer dann wieder aufgenommen
worden.
Die staatliche Aufsicht und Unterstützung, so segensreich sie
zeitweise gewirkt hatten, waren im Anfang des neuen Jahrhunderts
zu einer schematischen Reglementierung entartet, weil die individuellen
Fortschritte in der Vielartigkeit der Produktion und des Verkehrs
unübersehbar geworden waren. Die Zünfte mit ihren Monopolen
hatten sich überlebt, waren erstarrt, nachdem sie Jahrhunderte die
Meister sichergestellt und eine soziale aufsteigende Klassenbewegung
gewährt hatten; ihre Abgrenzung führte jetzt zu unaufhörlichen Rechts-
und Kompetenzstreitigkeiten, seitdem die Arbeit sich mehr spezialisierte.
III. Handwerk, Hausindustrie, Fabrik. 2 I
Sie hemmten sich gegenseitig und bekämpften gemeinsam die Fabriken
und Hausindustrien, die ihnen oft überlegen waren. Die strenge so-
ziale Gliederung war durchbrochen, das Wandern der Gesellen über-
flüssig geworden, die Ausbildung der Lehrlinge war unvollkommen,
und die Ausschließung der fremden Konkurrenz hatte den Meistern
ein übertriebenes Sicherheitsgefühl anerzogen, so daß sie ihre Pflichten
vergaßen, die sie der Stadt und dem Gewerbe schuldeten.
Kein Wunder, daß die Lehre von der wirtschaftlichen Freiheit,
die die französischen Physiokraten und der Schotte Adam Smith
mit der menschlichen Gleichheit des Erwerbstriebes, der besten wirt-
schaftlichen Einsicht jedes Einzelnen, der Übereinstimmung des Einzel-
interesses mit dem der Gesamtheit begründeten, in Deutschland rasch
Zustimmung für die stoffverarbeitenden Gewerbe fand.
Die Ideen des Smith sehen Buches „Über den Reichtum der
Nationen" wurden in Übersetzungen von Schiller und Garve und
in Auszügen, Verarbeitungen unter Kritik einzelner Punkte und An-
passung an die deutschen Verhältnisse — zu nennen sind die Werke
von Ch. J. Kraus, H. L. v. Jacob, J. F. E. Lotz, G. Sartorius
welch letzterer zu den ersten gehörte, die durch ihre Vorlesungen
und Praktika der Nationalökonomie auf deutschen Universitäten das
Bürgerrecht verschafften — rasch verbreitet und genossen bald eines
größeren Ansehens hinsichtlich der Gewerbepolitik als in England,
das die Zünfte nicht mehr kannte.
Was die neue Lehre in der Praxis verlangte, war überwiegend
negativ, die Beseitigung aller gewerblichen öffentlich-rechtlichen Fesseln.
Zu den großen Reformen in Preußen gehörte auch die Einführung
der Ge Werbefreiheit (1808 — 181 1), die wie in Frankreich den selb-
ständigen Gewerbebetrieb unbescholtener Personen lediglich von der
Lösung eines Gewerbescheines und der Zahlung der Gewerbesteuer
abhängig machte, den Prüfungsnachweis nur von wenigen Gewerben,
bei deren „ungeschicktem Betrieb gemeine Gefahr obwaltet", ver-
langte und die Zünfte als freie Verbände fortbestehen ließ. Der recht-
liche Unterschied von Stadt und Land wurde für das Gewerbe beseitigt,
die Monopole der Zwangs- und Bannrechte fielen gleichzeitig, Das
Gesetz galt zwar nur für das kleine Preußen damaligen Bestandes.
Zu derselben Zeit wurden jedoch ähnliche Maßregeln westlich der Elbe
verwirklicht, soweit die französische Herrschaft selbst mittelbar reichte.
Für Bergbau, Hütten und Fabriken war linksrheinisch das Konzessions-
system Rechtens geworden, das größere Kapitalzusammenfassungen
gestattete, wenn es sonst auch lästig empfunden wurde. Was im
Westen 1815 preußisch wurde, behielt das französische Gewerberecht
bei, während die Gebiete des Königreichs Westfalen, Hannover, Olden-
burg, Kurhessen und auch Bremen die Innungen, zwar mit einigen
22 I- Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
Abweichungen gegen früher, wieder aufleben heßen. In den von
Preußen neu erworbenen sächsischen Landesteilen ließ man sie als
rechtliche Anomalie fortbestehen. Obwohl im östlichen Bayern nach
dem Edikt von 1818 — die Pfalz behielt das französische Recht —
das staatliche Konzessionssystem für jedes verarbeitende Gewerbe bei-
behalten wurde, so hatte doch die Zunftverfassung auch hier einen
starken Stoß erhalten und wurde von der Regierung nirgends ernstlich
geschützt. Um 1820 konnte ein wandernder Geselle, nur mit dem
Zeugnis seiner Ortsbehörde versehen, in ganz Deutschland Arbeit
suchen, ohne daß sich jemand um seine zünftige oder unzünftige Eigen-
schaft bekümmerte.
Vom Standpunkt der Ausbildung Deutschlands zu einer einheit-
lichen Volkswirtschaft war die Einführung der Gewerbefreiheit eine
geschichtliche Notwendigkeit. Nur unter ihr konnten die örtlich
zwischen Stadt und Land abgeschiedene Wirtschaftsweise und die
Eigenproduktion beseitigt werden. War die Hinfälligkeit des alten
Systems schon in der Zeit nach dem Tode Friedrichs des Großen
erkannt worden, als Straßen und Posten den Fernverkehr zu beleben
begannen, und die Fabriken und Hausindustrien Verbesserungen vor-
nahmen, so mußte dies nach 18 15 um so mehr empfunden werden, als
alle größeren deutschen Staaten auf Transport- und Nachrichten-
erleichterung drangen, und das Maschinenwesen und der Dampfmotor
vom Ausland hineinzukommen sich anschickten. Die freie Konkurrenz
wurde als das geeignetste Mittel erkannt der persönhchen Tüchtigkeit
alle Neuerungen zugänglich zu machen und durch die Vermittelung
der Auslese eine soziale Schichtung zu ermöglichen, die den Ansprüchen
der modernen Technik am sichersten entsprach. Rauh und hart mußte
sie zwar in das Dasein derer eingreifen, die nicht folgen konnten.
Aber die Periode des Überganges, das Chaos von alt und neu konnte
den wirtschaftlichen Individualismus nicht entbehren, auch um neue Mög-
lichkeiten des Zusammenschlusses auszuprobieren. Alle Bestrebungen
nach 1815, dem alten Zunftwesen wieder Leben einzuhauchen, mußten
erfolglos bleiben, weil sie der wirtschaftlichen Umwälzung der Zeit
nicht angepaßt waren. Erst an der Grenze des nationalen Wirtschafts-
gebietes war dem freien Wettbewerb ein Halt zuzurufen, weil das in
einem Lande sich vollziehende Produzieren Selbstzweck seiner Ent-
wicklung ist, solange eine zwischenstaatliche, rechtlich geordnete
Staatengemeinschaft nicht besteht.
IV. Transportverkehr und Handel. Sich die Personen-
beförderung am Anfang des 19. Jahrhunderts vorzustellen, ist für jeden,
der mit der schönen Literatur jener Zeit nur einigermaßen vertraut
ist, nicht schwer. Goethe ist viel gereist und hat Aufzeichnungen
auch über seine äußeren Reiseerlebnisse hinterlassen. Aus Jean
IV. Transportverkehr und Handel. 2 '^
Paul erfahren wir, eine wie umständliche Sache es für Dr. Katzen-
berger war, einige Meilen vorwärts zu kommen, um seine Badereise
auszuführen, der Dichter spottet aber auch über die Besorgnisse des
vermutlichen katechetischen Professors Attila Schmelzle, der bei seiner
Ferienreise nach Flätz Schienen gegen Arm- und Beinbruch für das
gefürchtete Wagenumstürzen mitzunehmen nicht vergessen hatte.
W. V. Kügelgen erzählte in den , .Jugenderinnerungen eines alten
Mannes" seine Winterreise nach Thüringen von 1814, auf der der
Wagen, nachdem er auf der Straße lange wie ein Trunkenbold von
einer Seite zur andern getaumelt war, in einem Schneeloch wie ange
nietet stecken blieb, bis ein Detachement russischer Soldaten die un-
glücklichen Insassen erlöste.
Neben dem Reiseroman sind die Reisebeschreibungen der Rhein-,
Schweiz- oder Italienfahrten häufig, aus denen sich die Entfernungen
zusammenrechnen lassen, die man täglich zurücklegen konnte.
Uns kommen die Zustände unbehaglich vor, unter denen eine
Tagesfahrt von 6 Meilen als eine durchschnittliche Leistung der Post-
kutsche galt, aber man kannte es damals nicht anders und war zu-
frieden, wenn man sich einen guten Platz gesichert hatte, die Pferde
trabten und die Wirte einen nicht zu arg prellten, gegen deren Ver-
fahren uns Knigges Buch „Umgang mit Menschen" Maßregeln er-
halten hat. Wer es sich gönnen konnte, einen eigenen Reisewagen
zu halten, und keine Ausgaben für Relais zu scheuen hatte, kam bei
gutem Wetter auch damals schon rasch vorwärts. Der eigene Wagen
gehörte zu den Bedürfnissen der wohlhabenden Klasse. Daß auch
dieser auf der schlechten Straße einmal zusammenbrach und dann eine
Hauptreparatur nötig hatte, ist ein mehrfach gebrauchter Ausgangs-
punkt von Novellen, die an den unfreiwilligen Aufenthalt anknüpfen.
Eduard Genast gibt in seinen „Erinnerungen eines alten Schau-
spielers" eine anschauliche Beschreibung der Fürstlich Thurn und
Taxisschen Postkarosse von 1816: „Auf zwei mit Kuhhaaren ge-
polsterten, mit Leder überzogenen Bänken, die in Riemen hingen,
konnten sechs Personen bequem Platz nehmen, wenn nämlich ihr Hüften-
umfang das Maß von je 15 Zoll nicht überstieg. Der Wagen war
langgestreckt, damit im Hintergrunde desselben das Gepäck aufge-
nommen werden konnte; wenn umgeworfen wurde, lief man weniger
Gefahr, den Hals zu brechen, als von Kisten und Kasten totgeschlagen
zu werden". Dieser Luxus, setzt er hmzu, galt nur für die Haupt-
straße, auf den Nebenlinien waren die Fuhrwerke weniger glanzvoll.
Sie bestanden aus Leiterwagen, auf denen zwei Bretter mit Ketten
befestigt waren, und obdachlos fuhren die armen Passagiere dahin.
Genasts Reise von Weimar nach Stuttgart ging sehr langsam. In
5 Stunden erreichte die Karosse Erfurt, wohin er in 4 Stunden zu
24 I- Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
Fuß gelangen konnte. Man wußte mit immer neuen, frischen Pferden
auch anders voranzukommen, Napoleon fuhr 1806 in zweimal 24
Stunden in seinem Schlafwagen von München über Straßburg nach
Paris, wozu 19 14 der beste D-Zug noch 15 Stunden gebrauchte.
Ein sicheres und schnelleres Reisen begann mit der Anlage von
Straßen auf Steinunterbau. Zur Zeit der Befreiungskriege war sie
noch selten. Die erste vollkommene östlich der Elbe war 1791/93 von
Berlin nach Potsdam gebaut worden. In Süddeutschland hatte man
schon in den fünfziger und sechsziger Jahren einige verbesserte Straßen
angelegt. Die Chausseen waren anfangs schmal und steil, nur mit
den allernötigsten Brücken versehen und mit zu großen Steinen be-
schottert. Vor allem waren sie ein Fortschritt für den Güterverkehr.
Auf größere Entfernungen konnten vor ihrem Entstehen Massengüter
wie Holz, Eisen, Getreide der Kosten wegen mittels Achse nicht ver-
frachtet werden. Man berechnete es als ein ungemeines Ersparnis,
daß auf den Chausseen 5 Pferde dasselbe ziehen konnten, wie 15 auf
den alten Landwegen und 25 über weichen Lehmboden. Benachbarte
Städte konnten daher, je nach der örtlichen Ernte, ganz verschiedene
Marktpreise haben. Im Hungerjahr 1805 kostete der Scheffel Weizen
in Breslau 8 Tlr. 13 Sgr., in Löwenberg 13 Tlr., Roggen in Breslau
7 Tlr. 8 Sgr., in Haynau 10 Tlr.
Die Unmöglichkeit einer großen Zufuhr an Nahrungsmitteln —
nur das magere Vieh brachte sich selbst vorwärts, worauf 1826
Thünen in seinem „Isolierten Staat" den Wirtschaftsbetrieb einer weit
von dem Markt entfernten Zone begründet hatte — verhinderte das
Anwachsen der Städte, falls nicht, wie von Köln, Mainz, Hamburg,
Berlin aus die Wasserstraße des Flusses oder des Meeres ausgenutzt
werden konnte, worauf schon A. Smith aufmerksam gemacht hatte,
als er die Grenzen der gewerblichen Arbeitsteilung in der Stadt unter-
suchte.
Wenn wir die relativ niedrige Stufe der Gütererzeugung des
damaligen Deutschland mit der überlegenen Kraft Englands und auch
Frankreichs vergleichen, so werden wir die schlechten Transportmittel
mit dafür verantwortlich machen dürfen. Letzteres war reich an natür-
lichen Wasserstraßen, die durch Kanäle verbunden waren, und des
ersteren Küsten- und Flußschiffahrt so entwickelt, daß die vielen
Hafenstädte an den tiefen Seeeinbuchtungen leicht miteinander in Ver-
bindung traten. Den deutschen Binnenstädten war es nur mit wert-
vollen Fabrikaten möglich, das Meer zu erreichen und an dem Welt-
handel teilzunehmen. Im östlichen Deutschland hatten der Große Kur-
fürst und Friedrich der Große den Binnenwasserstraßen ihre
Fürsorge zugewandt, während im Westen und Südwesten die Klein-
staaterei weder Mittel noch Übereinstimmung zu so großen Unter-
IV. Transportverkehr und Handel. 2 S
nehmungen besessen hatte. Der Verkehr auf den schiffbaren Strömen
wurde durch mancherlei Zölle und Abgaben erschwert. Die Straße
des Rheins, der Elbe, der Weser, der Donau, des Mains waren durch
Zollstätten dicht besetzt. Vor der französischen Eroberung des linken
Ufers gab es auf dem Rhein nicht weniger als 30 Orte für die Zoll-
erhebung, von Bingen bis Koblenz auf einer Strecke von 5 Meilen 9.
Öfters lagen die Zollhäuser, je nachdem die Landesgrenzen wechselten,
ziemlich nahe beieinander, aber auf dem entgegengesetzten Ufer, so
daß die Schiffer genötigt waren, hin und her zu kreuzen. Zwischen
Hannovrisch-Münden und Bremen haben 21 Abgabestätten gelegen.
Zu diesen Plackereien kamen noch die Stapelrechte, die ursprünglich
im berechtigten Interesse der mittelalterlichen städtischen Entwicklung
und der Sicherheit des Handels entstanden waren, die Auslage der
Waren für einige Zeit verlangten, damit die Käufer sich nach ihrer
Wahl versorgen konnten. Sie hatten sich längst überlebt. Die zum
Durchgang bestimmten Güter mußten umgeladen werden und wurden
von anderen Schiffern weiterbefördert. Die Schiffergilden hatten das
Verfrachtungsmonopol, das räumlich beschränkt war. Der Wiener
durfte auf der Donau nur bis Regensburg, der Regensburger bis Ulm
fahren, Köln, Mainz, Worms und Speyer übten das Stapelrecht auf dem
Rhein aus, Trier auf der Mosel, Alagdeburg auf der Elbe. Die Be-
seitigung brachte für den Rhein die Wiener Kongreßakte, für die Elbe
das preußische Zollgesetz von 18 18. Passau gab erst 1842 das Um-
laderecht gegen Entschädigung auf.
Daß bei den unvollkommenen Transporteinrichtungen die Brief-
post nur langsam arbeiten konnte, versteht sich von selbst. Post-
büros hatten nur die Städte, aus denen die Landbewohner ihre Sen-
dungen abholen mußten. Die größeren Staaten hatten ihrer Ordnung
doch schon viel Umsicht zugewandt und die verwickelten Territorial-
verhältnisse, soweit es ging, berücksichtigt. In der Periode von 1804/15,
in der die überkommene Staatsabgrenzung über den Haufen geworfen
worden war, wurde der alte Zusammenhang zerrissen und rücksichts-
los die Briefbeförderung in den politischen und militärischen Dienst
des Eroberers gestellt. Es war daher eine völlige Neuordnung nach
dem Friedensschluß nötig. Preußen hatte für den Rest seines Be-
sitzes bereits mit einer Regierungsinstruktion von 1808 vorgearbeitet,
und zwar in der Betonung des damals ganz neuen Gedankens, „daß
das Institut der Posten mehr einen staatswirtschaftlichen als einen
finanziellen Zweck habe, letzterer zwar nicht zu vernachlässigen, jedoch
im Kollisionsfalle dem ersteren untergeordnet sein müsse".
Der Großhandel konnte sich bei den bestehenden Transport-
einrichtungen auf den Bezug oder Verkauf von billigen Massenprodukten
nur einlassen, wenn ihm eine Wasserstraße zur Verfügung stand, wie
20 !• Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
z. B. Berlin von den nahen Provinzen mit Getreide versorgt wurde,
oder wie bei der Holzflößerei vom Schwarzwald nach Holland, die
noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutend war, bis sie der
Konkurrenz der norwegischen und amerikanischen Hölzer und der
billigen Eisenbahnfracht erlag. Nachdem die Tannenstämme und eichenen
Holzstücke durch die Wildflößer auf den Nebenflüssen, wie Neckar
und Kinzig, zum Rhein herabgeschwemmt waren, wurden sie hier
von den Langflößern, die wie jene in der Staatsverwaltung unterstellten
Gilden mit Rheinvogt, Rheingeschworenen, deren ältester der Rhein-
fähndrich hieß, zusammengefaßt waren, zu einem Langfloß verbunden.
Von einem 1802 von Mannheim abgehenden wird berichtet, daß es
732 Fuß lang, 84 Fuß breit und 7 Fuß tief gewesen sei. 450 Ruder-
knechte trieben es mit 52 Schlagrudern im Takte vorwärts, den die
Floßmeisterknechte nach dem Winke des auf dem 18 Fuß hohen
Steuerstuhl sitzenden Steuermannes mit einer Gerte vorschlugen. Man
verglich das Floß, auf dem außer den Vorgenannten noch 80 Anker-
knechte, der Floßherr, d. h. der Holzeigentümer mit seiner Familie,
Proviantmacher und Köche wohnten und speisten, mit einem kleinen
Staat, der sich nach zwölfwöchentlicher Fahrt in Holland, wo das zu
Schiffsplanken und Mastbäumen dienliche Holz versteigert wurde,
auflöste.
Viele Gegenstände, die heute, sei es von den Fabriken direkt
oder durch Großhändler an die Kleinhändler verschickt werden, wie
Schuhe, Leder- und Sattelzeug, Kleider, Hüte, kamen überhaupt kaum
in den Handel, da sie bei den Handwerkern bestellt wurden, auch
dann noch, als der Zunftzwang gefallen war. Der Kaufmann hatte
es im Binnenlande vor allem mit zwei Gruppen wertvoller Waren zu
tun, die der hohen Fracht gewachsen waren: erstens mit den aus-
ländischen, die das Inland nicht herstellte, Pelzwerk, Juchten, Tee aus
Rußland, Tabak und Zucker aus Nordamerika und Westindien, Wein
aus Frankreich, Portugal, Spanien, Gewürze aus dem fernen Orient,
Südfrüchte, Seide, Olivenöl aus Italien; zweitens mit den in den Haus-
industrien und Fabriken, seltener im Handwerk hergestellten wertvollen
Waren, die hauptsächlich aus Deutschland, im Westen aber auch aus
Frankreich und den Niederlanden, und seit dem letzten Viertel des
18. Jahrhunderts in steigender Weise auch aus England herstammten.
Der Ausfuhrhandel an der Ostsee erstreckte sich vor allem auf
Getreide, an zweiter Stelle auf Bauholz, Wolle und Leinwand von
Elbing, Königsberg, Stettin, Stralsund, Lübeck und Rostock aus, auch
von Danzig, das jedoch seit der Teilung Polens gelitten hatte, da die
preußische Zollpolitik die Durchfuhr aus Russisch-Polen erschwerte.
Hamburg und Bremen handelten mit allen europäischen Staaten, die
auf dem Meere erreichbar waren, ferner mit Nord- und Mittelamerika.
IV. Transportverkehr und Handel. 27
Während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges hatten sie als
Neutrale viel verdient und den Handel Hollands zum Teil an sich
gerissen, als auch dieses Land in den Krieg verwickelt wurde. Englands
Zwischenhandel zwischen seinen abtrünnigen Kolonien und dem euro-
päischen Festlande wurde durch direkten Verkehr der Hanseaten ab-
gelöst. Unter dieser günstigen Konjunktur entstanden im zollfreien
Hamburg mancherlei Industrien, die sich auf die Ausfuhr zur See
begründeten, aber auch der Zwischenhandel zwischen England und
Frankreich einerseits, Rußland und den nordischen Staaten andererseits,
brachte damals viel ein. Die Liste der Hamburger Ausfuhrgüter war
eine lange geworden, manches davon kam elbaufwärts aus dem inneren
Deutschland. Die Neutralität während der Revolutionskriege brachte
neue Vorteile, in 8 Jahren war die Zahl der jähriich einlaufenden
Schiffe um 450 gestiegen. Das Geschäft war teils auf eigenen Schiffen
betrieben worden, teils kamen wieder holländische und englische, bis
ihnen die Kontinentalsperre den Weg verlegte. Die süddeutschen
Handelsstädte, wie Nürnberg und Augsburg, suchten ihren Absatz
auch in der Schweiz, Österreich, Italien. Sie hatten damals viel von
ihrer ehemaligen Blüte eingebüßt. Der Wechselhandel, der bei der
Vielartigkeit des Geldwesens dringend geboten war, hatte seinen
Hauptsitz in Frankfurt a. M., an zweiter Stelle kam Augsburg.
Die Großkaufleute einer binnendeutschen Hauptstadt, die mit
vielerlei einheimischen Gewerbeerzeugnissen handelten, wandten sich
an andere der erzeugenden Städte, die ihrerseits den Herstellern Auf-
träge erteilten, einkauften, verpackten, verfrachteten und verkauften.
Etwaiges, vom Ursprungsort her nicht direkt von ihnen Verlangtes
nahmen sie auch in Kommission. Soweit sie inländische Rohstoffe
oder Kolonialwaren vertrieben, bezogen sie von Großaufkäufern in
ländlichen Bezirken, z. B. Wolle, Flachs, Raps, Häute, oder von Ham-
burger oder Bremer Importeuren westindischen Zucker, kubanischen
Kaffee, mexikanisches Farbholz, chinesischen Tee usw., alles in größeren
Mengen, die sie, nach Bezahlung, in ihren Räumen aufstauten, um
sie in Teilen an die Kleinhändler des Ortes oder der Provinz weiter-
zugeben, nachdem diese sich das Benötigte durch Augenschein aus-
gesucht hatten. Gustav Freytag gibt uns in „Soll und Haben"
eine eingehende Schilderung einer solchen Breslauer Großhandlung mit
ihren Packhöfen, gewölbten Kellern, Speichern, mit ihren Frachtwagen,
Krahnen, Ballen, Kisten, Fässern, Säcken, zwischen denen waren-
kundige Kommis, Buchhalter, Schreiber, Packer, Auf- und Ablader
unter Aufsicht des alles übersehenden und anordnenden Geschäfts-
herrn walten. Ist schon dieser kommerzielle Mikrokosmus durch seine
ineinandergreifende Technik ein Ganzes für sich, so wird dieser Zu-
stand durch die soziale Gliederung noch dadurch gefestigt, daß die
28 I- Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
unverheirateten Angestellten und Lehrlinge im Hause des Kaufmannes
wohnen und seiner Disziplin auch im privaten Leben unterstellt sind,
daß alles Personal nur selten die Stelle wechselt und von unterer zu
höherer Stufe bei guter Führung und Befähigung im Verlaufe der
Jahre aufsteigt.
Eine andere Form des Großhandels war die Messe, die sich durch
Ein- und Ausläuten noch die Erinnerung an die ehemaligen Kirchen-
feste und Wallfahrten bewahrt hatte. In Bayern wurde sie Dult
genannt. Großkaufleute, Fabrikanten, Verleger, brachten ihre Ware
in langen Wagenzügen herbei, aus vielen Gebieten Deutschlands und
aus dem Auslande, z. B. nach Frankfurt a. M. Wolle, Leder, Kolonial-
waren, Seiden-, Woll- und Baumwollfabrikate. Die Käufer waren
Groß- und Kleinhändler, nebenbei versorgten sich die Verbraucher
des Ortes. Der Handel in Leipzig begann mit dem effektiven Groß-
handel in Tuchen, Leder, Pelzwerk, am Schluß, in „der Bäckerwoche",
löste er sich in einen Jahr- und Trödelmarkt auf. Die Messen waren
einmal oder auch mehrere Male im Jahre und dauerten einige Wochen.
In der Vorwoche wurde ausgepackt, in der Meßwoche verkauft, in
der Zahlwoche bezahlt, und in ihr waren die Meßwechsel fällig. Leipzig,
damals schon durch seinen Buchhandel im Anschluß an die Univer-
sität berühmt, Frankfurt a, M. und a. O., Braunschweig waren die
wichtigsten Plätze, dann folgten Naumburg, Kassel, Breslau, Offenbach,
Danzig, Kiel und München.
Die Händler waren, um sie heranzuziehen, mit Privilegien aus-
gestattet, mit Zollkrediten, Meßkonti und Freiheiten. Der spätere Zoll-
verein erkannte die Rechte nur für die größeren Messen an, die sich
daher hielten, nachdem sie sich zeitgemäß umzubilden verstanden hatteen.
Jede Messe hatte ehemals ihre örtliche Bedeutung, z. B. Frankfurt a. M.
vermittelte den Austausch zwischen Nord- und Süddeutschland und
der Schweiz, Leipzig zwischen Rußland und Frankreich, zwischen
Sachsen und Preußen, Braunschweig zwischen Hannover und Thüringen.
Die beiden wichtigsten Orte für die Börse in Wechseln und
Effekten waren Frankfurt a. M. und Berlin. Das Geschäft in letzteren
war gering, eigentlich im ersten Entstehen. In Berlin wurden 1813
im ganzen 17 Wertpapiere gehandelt: Berliner Banko-Obligationen,
4°/oige Staatsanleihen, verschiedene Pfandbriefe der Landschaften und
holländische Staatsschuldverschreibungen. Die kleinen Verhältnisse
und der Kapitalmangel in der preußischen Notzeit werden dadurch ge-
kennzeichnet, daß die sogenannte Schickler'sche Staatsanleihe von 1808,
I Million Tlr., binnen 3 Jahren nicht untergebracht werden konnte.
In Frankfurt hatte sich im Anschluß an die Messe der Börsenverkehr
während des 18. Jahrhunderts vornehmlich in Wechseln und Valuten
bewegt. Das Haus Bethmann (1748) war das angesehenste Bankhaus
IV. Transportverkehr und Handel. 20
der Stadt und hatte das Anleihegeschäft mit eigenen, dann auch frem-
den, durch Partialobligationen herangezogenen Geldern zur Ausbildung
gebracht. Einzelne Anleihen wurden an der Börse in den neunziger
Jahren vermittelt. Um 1804 brachte der Kurszettel, der privater
Natur war, 26 Werte. Dieser bescheidene Effekten verkehr verblaßte
in der folgenden Kriegszeit, um dann 18 15 unter günstigen Ver-
hältnissen aufgenommen zu werden, so daß er alsbald eine internationale
Bedeutung gewann.
Der Kleinhandel mit Lebensmitteln vollzog sich auf den
städtischen Wochenmärkten, auf denen die Bauersfrauen dreimal die
Woche sie verhökerten, mit gewerblichen Waren auf den Jahrmärkten,
zu denen die Landbevölkerung viermal im Jahre zusammenströmte.
In den Zwischenmonaten mußte der Kramladen der nächsten Stadt
aushelfen, der nur in den größeren Orten ausnahmsweise durch einzelne
Läden mit Beschränkung auf wenige Warengruppen ersetzt worden
war, oder der Hausierer, der mit Tüchern, Knöpfen, Nadeln, Nähfaden
von Dorf zu Dorf wanderte und als lebende Chronik die neuesten Er-
eignisse der Residenz oder von Krieg und Frieden auf das abgelegene
Land verbreitete.
Wo Gewerbefreiheit bestand, konnte sich der Groß- und Klein-
handel im allgemeinen unabhängig vom Staat bewegen. Auch im
rechtsrheinischen Bayern wurde er der Konzession nicht unterworfen.
Keine geringe Schwierigkeit zur Abwickelung der Geschäfte
machte das Geld- und Münzwesen. Entsprechend der Vielheit
der deutschen Bundesstaaten, von denen jeder Münzhoheit und Regal
beanspruchte, stand das Geldwesen im Zeichen der Vielartigkeit. Der
Reisende, der in wenigen Tagen oder an einem mehrere Grenzen zu
überschreiten hatte, mußte ebenso oft mit Verlust seine Barschaft um-
wechseln, und der Kaufmann, der Zahlungen von Land zu Land zu
machen hatte, wurde durch die zahlreichen Kursschwankungen und
Münzveränderungen geplagt. Es bestand zwar durchweg, mit Aus-
nahme von Bremen, die Silberwährung als Grundlage des Zahlungs-
verkehrs, aber sie verteilte sich auf fünf verschiedene^Münzfüße, die nicht
immer unverrückbar festgehalten wurden. Am übelsten war der Zu-
stand bei der Ausprägung der Scheidemünzen, bei denen der Schlag-
schatz finanziell ausgenutzt wurde. Zwischen 1820 und 30 erhoben
Nassau, Coburg und Hildburghausen einen solchen zwischen 2 1 und
87°/q des auszumünzenden Feinsilbers, und man bezeichnete es mit
Recht als Falschmünzerei, wenn diese Länder die guten bayerischen
Dreier und Sechser aufsammelten, nach ihrem System umprägten und
dann die Nachbargebiete mit ihren schlechten Stücken überschwemmten.
Dazu kam, daß ausländische Sorten, wie Brabanter Gulden, öster-
reichische und französische Münzen, in Süd- und Mitteldeutschland
■2Q I. Abschnitt. Einleitung: Übersicht über das deutsche Wirtschaftsleben usw.
neben einheimischen umliefen, und daß die Goldmünzen zu den silbernen
kein festes Verhältnis besaßen. In Hamburg wurden 1807 an der
dortigen Börse gehandelt: Dukaten, Louis- und Friedrichsdor, Karohn,
Gold al mark o, schleswig-holsteinisches, preußisches, Hamburger Kurant,
Laubtaler, Albertstaler, sächsische Konventionsmünzen, Feinsilber, Piaster.
Der deutsche Bund kam zur Ordnung des Geld- und Münz-
wesens über einige Resolutionen nicht hinaus. In Norddeutschland
waren die Verhältnisse besser als im Süden, da Preußen die guten
Bestimmungen des Ediktes von 1864 aufrecht erhalten und in das
Gesetz von 1821 in der Hauptsache übernommen hatte. Hannover
und Braunschweig schlössen sich 1834 dem preußischen 14 Talerfuß an.
1837 vereinbarten Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt,
Nassau und Frankfurt einen Münz vertrag, nach dem sie aus der
Cölnischen Mark feinen Silbers das Kurantgeld von 24I/2 Gulden
ausbrachten, von denen jeder in 60 Kreuzer zerlegt wurde.
Literatur.
Die mit einem * bezeichneten Werke sind auch in den nachfolgenden Abschnitten
benutzt worden.
* W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, 1905.
* L. Pohle, Die Entwicklung des deutschen Wirtschaftslebens im 19. Jahrhundert, 1920.
* G. G. Neuhaus, Deutsche Wirtschaftsgeschichte vom 19. Jahrhundert, 1919.
* K. F. W. Dieterici, Der Volkswohlstand im preußischen Staate, 1846.
* H. V. Festenberg-Packisch, Geschichte des Zollvereins, 1846.
* G. von Gülich, Geschichtliche Darstellung des Handels, der Gewerbe und des
Ackerbaues, 1830.
Eduard zu Putlitz (1789 — 1881), Ein Stück Familiengeschichte, 1903.
J. G. Koppe, Revision der Ackerbausysteme, 1818,
Fr. Schmalz, Die altenburgische Landwirtschaft, 1820.
J. N. Schwerz, Beschreibung der Landwirtschaft Westfalens und der Rhein-
provinz, 1836.
J. W. Schmidt und Peter Wund, Geographisch-statistische Beschreibung vom
Kurfürstentum Baden, 1804.
J. D. Rumpf, Die preußische Monarchie, 1825.
J. Rudhart, Über den Zustand des Königreichs Bayern, 1827.
J. Seybold, Darstellung des Handwerks- und Gewerbewesens im Königreich
Bayern, 1825.
K. von Rohrscheid, Vom Zunftzwange zur Gewerbefreiheit, 1898.
* Eberhard Gothein, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes, 1892.
E. H, Meyer, Badisches Volksleben, 1900.
* Oskar Teubert, Die Binnenschiffahrt, 1912.
* H. Stephan, Geschichte der preußischen Post, 1859.
V. Zedlitz, Die Staatseinkünfte der preußischen Monarchie, 1828.
Falke, Geschichte des deutschen Handels, 1860.
* A. Soetbeer, Über Hamburgs Handel, 1840.
* S. Spangenthal, Geschichte der Berliner Börse, 1903.
* O. Stillich, Die Börse und ihre Geschäfte, 1909.
IL Abschnitt.
Die Zeit von 1815 — 1833.
I. Allgemeines. Die erste Periode deutscher Wirtschafts-
geschichte nach den Befreiungskriegen rechnen wir bis zur Begründung
des deutschen Zollvereins. Politische Störungen mit wirtschaftlichen
Folgen brachten nur die griechischen Unruhen und verstärkt die Juli-
revolution von 1830, im allgemeinen blieb das Vertrauen zum Frieden
gewahrt, das stets den Handel und die Güterherstellung begünstigt.
Allein die großen Hoffnungen, die man auf eine ruhige Zeit gesetzt
hatte, gingen doch nur in bescheidenem Maße in Erfüllung. Es waren
die Kapitalvernichtungen des letzten Jahrzehnts — am härtesten waren
Preußen und die Hansastädte getroffen worden — durch Kontributionen,
feindliche Ausraubungen, Kriegsanleihen, Produktions- und Verkehrs-
schädigungen so groß gewesen, daß ein Ersatz nicht so leicht zu
schaffen war, als man gedacht hatte. Ferner hörte die Nachfrage in
der Kriegsausrüstungsindustrie auf, ohne daß etwas anderes an die
Stelle trat, und für mancherlei Gewerbe fiel der Schutz der Kontinen-
talsperre gegen das Ausland fort. Dann kam 18 16 ein sehr schlechtes
Erntejahr mit einer Hungersnot, und am Anfang der 20er Jahre setzte
eine mehr als zehnjährige Agrarkrise mit ungemein sinkenden Preisen
der landwirtschaftlichen Erzeugnisse ein.
Die Periode nach dem Kriege sollte jedenfalls, so war die all-
gemeine Ansicht, eine solche der wirtschaftlichen Erholung werden,
und sie ist es auch gewesen, aber nur mit sehr langsamen Taktschlag.
Nach den großen psychischen Erregungen und Kraftäußerungen, wie
sie dem ganzen Volke der nationale Unabhängigkeitskrieg zugemutet
hatte, konnte eine Ermüdungsreaktion nicht ausbleiben, die sich in den
Staaten, deren Regierungen von liberaler Verfassung und sozialen Frei-
heitsrechten nichts wissen wollten, wie meist in Norddeutschland, mit
einem tiefen Gefühl der politischen Enttäuschung paarte. Die Lebens-
haltung des Volkes, besonders der besitzenden Klasse, ist stark herab-
gesetzt worden. In Preußen ist man um 1830 noch nicht auf den
Stand von 1805 zurückgekommen. Die Umgestaltung des Agrarrechtes
und die Gewerbefreiheit vermögen hier die erwarteten wohltätigen
Ergebnisse kaum zu zeigen. Der Staat ist nirgends untätig, die
Kriegswunden zu heilen, die Finanzen werden durch Anleihen und
■22 II. Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
Steuern in das Gleichgewicht gebracht. Preußen wendet sich an das
Ausland, um die Landeskapitalien den Gewerben nicht zu entziehen,
die Kleinstaaten gehen an den inneren Markt. Die Ersparnisse der
Nation bleiben gering, und das Schlimmste ist, daß sie von der Güter-
produktion und dem Handel nicht erfaßt werden, da beide nur wenig
Gewinn versprechen. Ein Teil der disponiblen Gelder fließt daher fest-
verzinslichen ausländischen Werten zu, in denen sich alsbald eine wilde
Spekulation entwickelt.
Das gesamte Wirtschaftsleben von 1815 — 1833 findet einen Aus-
druck in der Bewegung des Zinsfußes. Der Diskont ist großen
Schwankungen ausgesetzt, da die Nachfrage nach Kapital und das
Angebot jeder Stetigkeit ermangeln. Mit dem Frieden verliert der
Zins bei den Staatsanleihen die hohe Assekuranzprämie zwar, aber
bis in die Mitte der 20 er Jahre bleibt er noch hoch, weil sich die Rück-
zahlungen der Anleihen verzögern und die Papiergeldwirtschaft nur
langsam schwindet. Dann nimmt er eine weichende Richtung für
Hypotheken, Pfandbriefe und Staatspapiere an, und das ruhige öko-
nomische Dahinleben mit seinem niedrigen Geschäftsgewinn setzt in
der schwachen Nachfrage auf dem Leihkapitalmarkt dem Fallen keinen
Widerstand entgegen.
Ein Lichtpunkt des volkswirtschaftlichen Fortschrittes ist die
preußische Zollgesetzgebung von 1818. Ihre günstigen Wirkungen
treten nur nach und nach in der Monarchie hervor, die übrigen deut-
schen Staaten wurden im Gegensatz dazu zunächst nachteilig von ihr
betroffen, so daß die Bilanz für ganz Deutschland kein auffallendes
Plus aufweist. Die volle Rückständigkeit des durch die Kleinstaaterei
gehemmten Schaffens wird um so richtiger abgeschätzt, wenn man
ihr den raschen Aufschwung Frankreichs und Englands gegenüberstellt.
Den wirtschaftlichen Verhältnissen, die nicht vorankommen, aber
aus denen man doch gerne heraus will, standen, von einem ähnlichen
Empfinden bedrückt, die sozialen zur Seite. Man hat diese Miß-
stimmung als die der „Epigonen" bezeichnet, für die K. Immermann
in seinem gleichnamigen Roman einen dichterischen und wahrhaften
Ausdruck gefunden hat. In dem 1 8. Jahrhundert mit seiner Freiheits-
schwärmerei sah man jetzt nichts als eine Verirrung und konnte sich
doch nicht von ihm losmachen. Der Adel wollte sich mittelalterlich
restaurieren und verfiel damit der Lächerlichkeit, weil er die Geld-
wirtschaft und den neuzeitlichen Staat nicht zu entbehren vermochte.
Ein Anhang von Ideologen schwärmte für Burgen und Turniere.
Manche wollten bis zu Götz von Berlichingen zurück, andere bis
Friedrich Barbarossa oder gar bis zu Karl dem Großen. Der industri-
elle Kapitalismus glaubte, daß die Welt seinen Talern gehöre, versuchte
sich in Arbeitsteilung, Trucksystem und Lohnherabsetzung und war
I. Allgemeines. 23
zugleich darauf bedacht, den Betrieb patriarchalisch zu meistern. Die
demokratische Bewegung trug einen studentischen, unreifen Charakter,
und die Staatsmänner trieben partikularistische Politik, beschäftigten
sich nur in ihren Mußestunden mit schönen Theorien, wie sie ein
deutsches Reich herstellen könnten. Über allen schwebte in der
Philosophie, Dichtung und Staatslehre die Romantik, welche als
Erlösungsschwärmerei oder Betäubungsmittel die Geister verwirrte und
sie zum energischen Handeln unfähig machte. Es fehlte ihr nicht an
begabten Köpfen und am inneren Drang zum Wollen. Man verirrte
sich im Suchen nach Zielen in einem dunkelen Zukunftsnebel. „Man
hat" schreibt Immermann „unsere Tage mit denen der Völker-
wanderung verglichen. Das Reich zerfiel, und die Germanen traten
an dessen Stelle. Auch wir hatten so ein römisches Reich an der
Autokratie der Fürsten oder gewisser allgemeiner Begriffe. Beides
neigte sich seinem Untergange, und die Individualitäten in ihrer schranken-
losen Entbindung stehen als Germanen der Gegenwart da. Noch haben
sie nur zerstört, nicht das geringste Neue ist von ihnen bisher er-
funden und gebildet worden."
Auch die Nationalökonomie hat einen bedeutenden Romantiker
in dem Konvertiten Adam Müller (1779 — 1829) gehabt, der alle
Schwächen und Stärken dieser Schule besaß. In manchem sind seine
Vorstellungen der Zeit voraus, etwa wenn er die individuahstischen
und materialistischen Lehrmeinungen A. Smiths kritisiert, statt der
atomistisch aufgefaßten die organische Volkswirtschaft als Ziel begrüßt,
die Aufgaben des Staates, insbesondere des nationalen, betont, oder
den Zusammenhang von Produktion und Konsumtion untersucht. Seine
Gedankenbhtze beleuchten grell die Zustände der Gegenwart, allein
die Zusammenfassung des Ganzen zu etwas Einheitlichem ist ihm nicht
gelungen. Verzwickte Ansichten mit unklaren mystischen Zukunfts-
idealen zerstören dem Autor zahlreicher Werke (Elemente der Staats-
kunst 1809) die gesunden Wirklichkeitsvorstellungen, die er aus seiner
Lebenserfahrung mochte gewonnen haben. Er schwärmt für den
christlichen Staat des Mittelalters, den er ökonomisch-historisch nicht
versteht, während ihm die Gegenwart für etwas Neues nur die Vor-
stufe ist, auf der er die Macht des seit 1789 siegreichen Bürgertums
verkennt. Das adelige Familienfideikommiß, dessen konservative Ge-
schlossenheit er dem unsicheren beweglichen Vermögen gegenüber
lobt, ist ihm eine herrhche Verschmelzung von Person und Sache,
der feudalistische Ackerbau ein Paladium der Nationalexistenz. Dem
großen Völkerbund, den er Kirche nennt, ist eine überstaatliche Zu-
kunft vorbehalten. Das Geldwesen nennt er Sklaverei, gleichzeitig
ist ihm die staatliche Natur des Papiergeldes nicht fremd, wie er die
internationale des edelmetallischen durchschaut. Er moralisiert zu viel,
A-Sartorius v. Waltershausen. Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. ^
o . II. Abschnitt. Die Zeit von 1815— 1833.
erkennt aber die frei schaffende Persönlichkeit an, über die das sach-
liche Vermögen nicht Herr werden dürfe.
Preußen war in der Periode nach 18 15 noch 'vor die besondere
Aufgabe gestellt worden, die beiden Landesteile, den Osten, in den es
zudem das neue Sachsen einzugliedern hatte, und den Westen zu einer
staatlichen Einheit zu verschmelzen. Der Anschauung, daß man die
neu erworbenen Provinzen durch politische Verwaltung, Finanzen und
Kultureinrichtungen zu nationalisieren habe, stellten sich in der Praxis
unübersteigbare Hindernisse entgegen. Die Verhältnisse beider Teile
waren sehr ungleich, und das Vertrauen der Regierenden zu sich selbst
nicht stark genug, um den Gegensatz zu überwinden. Zunächst be-
reitete der Unterschied der Konfession eine tiefe Kluft, dann der des
agraren Ostens und des industriellen Westens. Die rein politischen
Überzeugungen und Wünsche waren auf ganz verschiedene Voraus-
setzungen eingestellt. Im Osten war das Ideal des friederizianischen
Staates nicht erloschen, das Volk nahm die führende Beamtenschaft,
mit der die oberen Klassen eng verbunden waren, als etwas Selbst-
verständliches. Alle lebten ihren häuslichen und Familienzwecken, auf
die das Leben auf dem Lande die meisten hinwies. Im Westen mit
seinen alten Reichsstädten, Bischofsitzen, einem begüterten Adel, der
aus früheren Dynasten hervorgegangen war, und mit seinen freien
wohlhabenden Bauern war wenig Neigung für eine politisch-militärische
Zentralisation, wie sie die HohenzoUern geschaffen hatten. Ein lokales
öffentliches Leben, in dem jeder Begüterte etwas zu sagen hatte, da ihm die
Überlieferung darauf hinwies, ließ eine weitgehende Autonomie er-
wünscht erscheinen. Ost und West haben sich lange Zeit nicht ver-
standen, erst nach der Mitte des Jahrhunderts konnte die Gesetzgebung
der direkten Steuern eine einheitliche werden, und das französische
Zivilrecht blieb noch 50 Jahre länger im Rheinlande in Kraft. Die
Hinneigung zur französischen Kultur wich nur schrittweise zurück.
1864 hielt es Bismarck politisch noch für wünschenswert, „daß den
westfälischen Bataillonen, die bis dahin keine Gelegenheit gehabt
hätten, unter preußischer Führung ihre Tapferkeit zu bewähren, der
Vortritt gelassen werde", und erst nach 1866, als alle Preußen ge-
meinsam auf dem Schlachtfelde von Königgrätz gefochten hatten, ist
die Verschmelzung zu einem Ganzen wenigstens in der Hauptsache
gelungen.
IL Übervölkerung und Auswanderung. Die Bevölkerung
auf dem späteren Reichsgebiet war zwischen 18 16 und 1830 von
24,833 auf 29,520 Millionen gestiegen. Dieser erhebliche Zuwachs
wurde in manchen Landesteilen unter dem wenig veränderten Wirt-
schaftszustande als Übervölkerung gedeutet, die die Regierung ein-
zudämmen die Pflicht habe. Die Malthussche Lehre wurde in die
II. Übervölkerung und Auswanderung. 7c
politische Praxis einbezogen, in süd- und mitteldeutschen Staaten griff
man zu dem Mittel der Ehebeschränkung. So wurde in Württemberg
bestimmt, daß jeder Gemeindebürger oder Beisitzer sich vor seiner
Verehelichung vor der Obrigkeit über einen genügenden Nahrungs-
stand auszuweisen habe, in Bayern, daß keinem Staatsbürger die Ver-
ehelichungserlaubnis erteilt werde, der nicht die gesetzlichen Bedingungen
der Ansässigmachung erfüllt habe, worunter ein gewisser Geld- oder
Grundbesitz oder die x\nstellung im Staats- oder Gemeindedienst ver-
standen wurde. In Baden, in Hessen, Kurhessen, Hannover, den thüringi-
schen Ländern waren ähnliche, oft noch strengere Maßregeln ergriffen
worden. In Preußen, mit seiner inneren rechtlichen Bewegungsfreiheit
von Menschen und Gütern, befolgte man diese Grundsätze nicht.
Der Glaube an die Übervölkerung war durch die starke Aus-
wanderung genährt worden, die bald nach dem Kriege begann. Im
i8. Jahrhundert waren schon viele Tausende Deutscher nach Nord-
amerika gezogen, über deren Schicksale uns Fr. Kapp in seinen
Büchern Auskunft gibt. Während des Unabhängigkeitskrieges hatte
diese Völkerwanderung aufgehört, und auch während der europäischen
Kriege bis 1815 war sie nur gering gewesen. 18 16/17 gingen nach
Kapp 20000 Deutsche nach den Vereinigten Staaten, im Anfang der
20 er Jahre läßt der Fortzug nach, nimmt aber in der Mitte wiederum
zu. Nach Hübners Jahrbüchern betrug er damals jährlich 1 1 000,
1830 15000, 1833 wieder 20000. Franz Löhers Berechnungen
bringen noch größere Zahlen.
Die unmittelbare Veranlassung zur Auswanderung war die
Hungersnot von 1 816/17 gewesen. Ein naßkalter Sommer mit an-
dauernden Gewittern und Hagelschlag hatte das Getreide nicht reifen
lassen, die Kartoffeln waren im Boden verfault, die Wein- und Obst-
ernten vernichtet, die Viehbestände durch schlechtes Futter der Seuche
verfallen. Aus den Vorjahren des Krieges waren keine Lebensmittel
übriggeblieben. 18 15 hatte schon eine schlechte Ernte gebracht. Das
wenige Getreide, das im Südwesten noch vorhanden gewesen war,
war zu hohen Preisen nach Frankreich verkauft worden. Einfuhr aus
dem sonstigen Auslande, das selbst wenig hatte, war so gut wie aus-
geschlossen. Die deutschen Staaten untereinander verhinderten durch
Ausfuhrverbote jeden Ausgleich. Im badischen Oberlande war man
gezwungen, Brot aus Baumrinde zu backen, in Schlesien, im Erzgebirge,
in der Eifel aßen die armen Leute Wiesen kräuter, die sie zu Mus
verkochten und mit Hafermehl verrührten. Die Winter hatten furcht-
bare Kälte gebracht. Die Arbeit stockte in den Städten, da das Land
nichts kaufen konnte. Die entlassenen Soldaten, die aus Frankreich
zurückkehrten, suchten vergebens Beschäftigung und vermehrten das
Arbeitsangebot.
3*
2 6 II' Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
Die badische Regierung suchte, als der Malter Kartoffeln 10 Gulden
und das sechspfündige Laib Brot 57 Kr. kostete, mit Geld Unterstützung
und Rumfordtschen Suppenanstalten zu helfen, und als das nichts
nützte, wurden alle Getreidevorräte unter öffentliche Aufsicht gestellt
und beschlagnahmt und erst im Herbst 1817 wieder freigegeben. Auch
in Bayern klagte man darüber, daß die geringen Getreidebestände
durch die Spekulation zurückgehalten würden, genau so wie es hundert
Jahre später wieder geschehen ist.
Während des Sommers 18 16 sah man zahlreiche Auswanderer
vom Oberrhein den Fluß hinab nach Holland fahren. Im folgenden
Frühjahr schwoll die Zahl zu einer bisher ungekannten Höhe an. Vom
I. — 15. Juni kamen 5517 Personen an Mainz vorüber. Auch auf der
Donau ging es lebhaft zu. Am 17. Juni wird von 5000 Württembergern
berichtet, die auf der Reise nach Rußland bei Neuburg übernachteten.
Die Wanderbewegung war ohne Plan und Leitung, nur auf Ge-
rüchte hin erfolgt, daß Segelschiffe nach Nordamerika führen, wo Land
billig oder umsonst zu haben sei. In den Hafenstädten, wie Amster-
dam, stauten sich die Leute auf, denen das Geld zur Überfahrt fehlte.
Schon auf der Hinreise dorthin, die viele zu Fuß antraten, und bei der
sie ihre Habe auf Karren vor sich herschoben, gingen Kinder, Greise
und Gebrechliche zugrunde. Die Sterblichkeit in den Seestädten und
auf den Schiffen war ungeheuer. Von Holland wurden die ganz
Mittellosen abgeschoben und mußten sich in die Heimat zurückbetteln.
Andere wurden an der Themsemündung ausgesetzt, wo man sie ihrem
Schicksal überließ. Von diesen wurde der Rest, der durchkam,
schließlich nach Kanada befördert, wo er das Überfahrtsgeld in jahre-
langer Halbsklaverei abzuverdienen hatte. Ihre Habe hatten die
meisten bei der monatelangen Reise in die neue Welt verloren. Wer
Geld gehabt hatte, mußte es betrügerischen Agenten überlassen.
Von Rußland aus waren Aufforderungen zur Auswanderung ver-
breitet worden. Polen und Südrußland waren die Gebiete, die auf-
gesucht werden sollten. Da die Regierung die Ansiedelung in die
Hand genommen hatte, fand wenigstens ein Teil der Ankömmlinge
schließlich eine notdürftige Unterkunft. Es wurde ganz willkürlich
über sie verfügt. Das versprochene Land erhielten keineswegs alle.
Wenn es dem Beamten paßte, wurden die Einwanderer in Polen den
neuerrichteten Fabriken zugewiesen. Einzelne kamen von dort zum
Rhein zurück, um zu erzählen, wie Hunderte zugrunde gegangen
waren. Speyerer Familien waren in der Krim nach unsagbaren Reise-
mühen angelangt, wo sie das verheißene Dorf beziehen sollten. Aber
es war nichts als ein Pfahl zu finden, den ihnen ein Kosak zeigte,
dort wo die Ansiedelung stattfinden dürfe. Das mußten sich die
Deutschen damals im Auslande bieten lassen. Erstaunlich ist hier
II. Übervölkerung und Auswanderung. ay
ihre Zähigkeit gewesen, sich aus diesem Nichts zum Wohlstand
hinaufzuarbeiten.
In den Kleinstaaten war man froh, die Menschen los zu sein.
Die Landwirtschaft wollte überall keinen rechten Aufschwung nehmen.
Nach Engel vermehrte sich in Preußen von 1816 — 2z die Menschen-
zahl um 130, der Rindviehbestand um 58, der Schweinebestand von
70 auf 1000. In Süddeutschland machte die Bodenzersplitterung rasche
Fortschritte, die bei der unveränderten Anbauweise das Ernährungs-
minimum der Familien herabsetzte. Die Städte konnten den Über-
schuß der Landbevölkerung nicht aufnehmen, da die Fabriken meist
ohne Leben waren, und das Handwerk sich in die Aufhebung seiner
alten Vorrechte nicht finden konnte. Manchen trieb auch die politische
Reaktion von dannen, da die versprochene Freiheit nicht kam. Daher
auch gelegentlich die Klage, daß nicht nur die Armen, sondern auch
besser Gestellte zum Wanderstab gegriffen hätten.
Damals machten die Menschen nur geringe Ansprüche an den
Verbrauch. Deutschland hatte sich von den schweren Verwüstungen
des 30jährigen Krieges um 1800 noch nicht erholt. Um 1820 schreibt
Zelter an Goethe, daß man noch die Wiederherstellungsarbeiten an
den Greifswalder Häusern zu erkennen vermöge, in die einst die
Kriegsfackel geschleudert worden sei.
Von dem ehemaligen Reichtum in der Renaissancezeit war nicht
einmal die Erinnerung geblieben. Nach dem siebenjährigen Kriege
war allerdings das friederizianische Preußen in der Friedenszeit durch
innere Kolonisation, Agrarkredit, Manufakturschutz, Reform der Steuern
und des Geldwesens wirtschaftlich erstarkt. Einen mittleren Wohl-
stand treffen wir auf den Gütern des Adels an, und auch in den bes-
seren bürgerlichen Kreisen hatte der Glanz des Rokkoko Einzug ge-
halten. I. H. Voß hat uns in seiner „Luise" ein anmutiges Bild eines
begüterten Pfarrhofes hinterlassen, wo auf dem zierlich gebauten
Tisch mit glänzend weißem Gedeck die silberne Kaffeekanne, die
Dresdener Porzellantassen und die Zuckerdose von violigem Glas
prangen, wo der goldrahmige Spiegel, der stattliche Ofen, das Klavier,
der Kupferstich einer Raffaelischen Madonna, die schön gebundene
Büchersammlung das Wohnzimmer schmücken, wo bei den Ausflügen
in Wald und Feld die mit köstlichem Gebäck, Obst und Käse wohl-
gefüllten Körbe die Familie begleiten.
Die Masse der Bevölkerung lebte höchst einfach. Nach der Be-
rechnung von Dieterici entfielen auf den Kopf in Preußen jährlich
am Anfang des 19. Jahrhunderts etwa 15 Quart Bier, 3 Quart Brannt-
wein, 3/^ Quart Wein, 1V2 Pfund Tabak, i — 1V2 Pfund Zucker, 2/3 Pfund
Kaffee, für Vio Tlr. Gewürze, Vio Pfund Reis, V2 — V4 Ellen Tuch,
4 Ellen Leinewand, ^4 Pfund Baumwollgarn, 1/4 Pfund Seidenware.
ß8 II' Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
Nun kamen die Napoleonischen Feldzüge, die die besitzenden Klassen
am meisten schädigten, da die kleinen Leute nur wenig oder nichts
zu verlieren hatten. Adel und Bürger mußten ihr Silberzeug und
ihren Schmuck hergeben, die Kaufleute ihre Waren, die Gutsherren
und Bauern ihre Pferde. Das Metallgeld wurde durch die Kontri-
butionen aufgesogen und ausgeführt. Daß das wirtschaftlich nieder-
getretene Preußen den Feldzug von 18 13 führen konnte, ist erstaunlich,
selbst wenn man die englischen Subsidien dabei in Anschlag bringt.
In schwerer Not war die moralische Tüchtigkeit ungebrochen gewesen.
Darauf setzte man auch nach dem Kriege die Hoffnung des wirtschaft-
lichen Erstarkens. Das war zwar kein Trugschluß, aber es bedurfte
einer längeren Zeit, als man damals glaubte, bis die Erholung bemerk-
bar wurde.
III. Die Agrarkrise. Der Markt für die Produkte der preußi-
schen Landwirtschaft war am Ende des alten und zu Beginn des neuen
Jahrhunderts nicht ungünstig gewesen. Die Güterpreise waren nicht
bloß hierdurch, sondern vor allem- durch den leicht erreichbaren und
nicht teueren Grundkredit, der zu Käufen anlockte, in die Höhe ge-
trieben worden. Betriebserweiterungen waren die Folge, die auch
trotz der beiden schlechten Erntejahre vor 1806 nicht aufhörten, da
sich die Ausfuhr bei den hohen Auslandspreisen des Getreides lohnte.
Die Bodenspekulation mußte nach der Schlacht von Jena im ganzen
Staat zusammenbrechen, und auch das landwirtschaftliche Gewerbe
wurde unmittelbar durch die militärischen Bedrückungen und Geld-
lasten des Krieges lahmgelegt. Die Kontinentalsperre schränkte die
Ausfuhr zudem stark ein, so daß die Inlandspreise des Getreides schnell
sanken.
Nach dem Frieden, den man bei der allgemeinen Erschöpfung
Europas als einen langdauernden ansprach, wurde die Erweiterung
der Anbaufläche von neuem lebhaft in Angriff genommen. Die Land-
wirtschaft im großen war jetzt auch Bürgerlichen zugänglich geworden,
die als Käufer auftraten und zeitgemäß wirtschaften wollten. Bauern-
land war billig zu erwerben, da der Bauernschutz fortgefallen war,
und nicht alle Bauern sich in die Bewirtschaftung auf freiem Eigentum
zu finden wußten. Die Änderung der gutsherrlichen Verhältnisse legte
den Grundbesitzern manche Aufgaben auf. Neue Gebäude waren bei
der vergrößerten Fläche nötig, mehr Zugvieh und sonstiges Inventar
anzuschaffen, Arbeiterwohnungen zu errichten. Ohne Kredit waren
Mehorationen nicht möglich. Das Privatleihkapital war selten, und die
Provinziallandschaften, die Kreditinstitute aus der alten Verwaltung
unter Benutzung der SoHdarhaft der Schuldner, konnten ihre Pfand-
briefe zu 5 % nicht mehr absetzen, so daß der hypothekarische Zins
stieg. Dennoch, obgleich dieses Hinaufgehen und ebenso die Steuerlast
III. Die Agrarkrise. •jg
eine Warnung hätte sein müssen, setzte bald nach dem Befreiungs-
kriege der Landgüterhandel wieder ein, und die Besitzer erhofften
unter der neuen sozialen Freiheit die Verluste der letzten Jahre wieder
einzubringen und die hohen Bestandauslagen gewinnbringend zu machen.
Viele Großgüterpreise in Mecklenburg, Holstein, Ober- und Niedersachsen
stiegen bis aufs doppelte, die Verpachtungen der preußischen Domänen
stellten der Staatskasse unerwartete Einnahmen in Aussicht. Der
Feldbau erweiterte sich auf denjenigen preußischen Ländereien, welche
bisher wegen ihrer Beschaffenheit als ewige Weide liegen gelassen
waren, den Lehden, die man 1810 in dem verkleinerten Staat auf ^40
der Gesamtfläche, auf beinahe soviel als die der Domänen, ohne Wald,
geschätzt hatte. Die Viehhaltung sollte mit kreditiertem Gelde ver-
bessert, der Klee- und Esparsettenbau häufiger, die Düngung regel-
mäßiger werden.
Die Kriegszeit und die Kontinentalsperre hatten England zur
Erweiterung des Getreidebaues erfolgreich angespornt. In Frankreich
war man mit der Vermehrung des freien bäuerlichen Kleinbetriebes
unter Beseitigung der Zehnten und des gemeinschaftlichen Weide-
rechtes zu einer intensiveren Bestellung fortgeschritten, die den inneren
Markt reichlicher versorgte. Auch Schweden, Spanien, Holland, Italien,
Sizilien hatten bei der Unterbindung des Seehandels in steigender
Weise den eigenen Bedarf gedeckt. Überall bemühte man sich, das
Gewordene zu behaupten und hatte wenig Neigung, die fremden Zu-
fuhren zuzulassen. England schloß sich mit hohen Zöllen gegen die
fremde Konkurrenz ab, um seinen unter großen Kosten ausgedehnten
Fruchtwechsel nicht preiszugeben, Frankreich und die Niederlande
folgten. Die Getreideausfuhr, die aus Danzig und Elbing 180 1/5 im
jährlichen Durchschnitt 76547 Last betragen hatte, war von 1821/25
auf Y? gefallen, und dabei waren die Getreidepreise sehr gesunken,
als in ganz Europa, besonders aber in Deutschland, eine vorzügliche
Ernte die andere abgelöst hatte. Die Preise gingen auf die Hälfte,
ja vielerorts auf 1/3 ^^s früheren Hochstandes zurück. 1824 brachte
die Tonne Weizen in Berlin 99,5 Mark, Roggen 40,1, Gerste 58,3.
Die Viehpreise schlössen sich an, wenn auch nicht ganz in dem Maße.
In Thaers Möglinschen Annalen der Landwirtschaft weisen Zu-
schriften auf Zuschriften nach, daß die laufenden Betriebskosten nicht
gedeckt werden können. Das gleiche wurde in der bayerischen
Kammer der Abgeordneten 1825 behauptet.
Überall in Deutschland hat die Agrarkrise gewütet und 10 Jahre
angedauert. Die nächste Folge war das Sinken der Güterpreise, und
da viele Güter hoch, oft zu hoch hypothekarisch belastet waren, fiel
bei den Zwangsversteigerungen ein Teil der Forderungen aus. Zwischen
1826 und 1829 wurden in Westpreußen 98 Güter verkauft, bei denen
AO II. Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
die Landschaft einen Verlust von 690000 Tlr. hatte. Nach einem
dem Abgeordnetenhause erstatteten Bericht des Abgeordneten von
Lavergne-Peguilhen von 1851 verloren im östlichen Preußen 80 "/o
der Rittergutsbesitzer während der Krise ihre Güter. Die soziale
Agrarreform verlangsamte sich. Denn, was hatte der Bauer von
seiner Freiheit, wenn er das Getreide nicht verkaufen konnte und in
die Hand des Wucherers geriet? Die antijüdische Bewegung in der Mitte
der zwanziger Jahre, bemerkt von Treitschke, entsprang auf dem
preußischen Provinziallandtage nicht einer unklaren christlichen Schwär-
merei, wie sie die Burschenschaft vertrat, sondern der wirtschaftlichen
Bedrängnis des Landvolkes, denn unsägliches Elend hatten die jüdischen
Wucherer und Güterschlächter während der Krise über Gutsherren
und Bauern gebracht.
Ebenso war das rechtsrheinische Bayern als vorwiegend acker-
bautreibendes Land von der Krise hart betroffen worden. Die Güter-
preise waren auf die Hälfte in wenigen Jahren gesunken, und von
Subhastationen wird andauernd berichtet, da die Landwirte ihre Schulden,
auch die Steuern, nicht bezahlen können und selbst zu hohen Zinsen
kein Geld zu leihen vermögen.
Der Staat suchte mit seinen Mitteln zu helfen, die ritterschaftliche
Privatbank in Stettin mit ihren Bankbillets. Die Landschaften gaben,
was sie konnten, waren aber genötigt, ihre Gütertaxen herabzusetzen,
um weiter bestehen zu können.
Die Krise ging vom Land auf die Städte über. Der Groß- und
Kleinhandel in Getreide war gelähmt. Bankerotte der Kaufleute,
Ausfall der Hypothekenzinsen und Kapitale städtischer Gläubiger,
Unsicherheit des Geschäftes wurden die allgemeine Klage. Wo der
Gutsbetrieb aussetzte oder die Steuerexekution die Bauern austrieb,
gab es Arbeitslose, die in den Städten als Bettler vagabundierten.
Die neuen Landbesitzer, die, um ihre Forderungen zu retten, die Güter
übernommen hatten, konnten den Arbeitslosen keine dauernde Be-
schäftigung geben, da sie bald wieder anderen Besitzern Platz machen
mußten.
In Gegenden, in denen die Bedingungen für Viehzucht und
Branntweinbrennerei günstig waren, suchte man sich durch Betriebs-
änderung zu helfen. Alsbald kam es auch hier zur Überproduktion,
die Wollpreise gingen seit 1825 herunter, und der Branntwein wurde
unverkäuflich.
Bedenkt man, daß Deutschland über keine Ausfuhrindustrie, See-
schiffahrt, auswärtige Kapitalanlage, keinen Zwischenhandel von Be-
deutung verfügte, so wird man verstehen, daß die Stockung zu einer
allgemeinen werden mußte, welche in ihrer Wirkung den späteren
Industriekrisen nicht viel nachgestanden haben dürfte. Allein die Tat-
IV. Deutschland und das Ausland.
41
Sache der Allgeraeinheit bedarf doch noch einer Erläuterung. Denn
es fehlten die Transportmittel, wie sie in späteren Jahrzehnten be-
standen, so daß der Güterumlauf verörtlicht war, mithin die Fort-
wirkung des Übels von Stadt zu Stadt nicht ganz verständlich wird.
Sicher ist, daß die Stockung des Körnerabsatzes in Ostdeutschland
mehr als im Westen empfunden wurde, am heftigsten in Mecklenburg
und den Seeprovinzen Preußens. Die Preise sanken aber überall und
zugleich war nirgends der Überreichtum der Ernten verkäuflich. Der
örtliche Markt war nicht in der Lage, das Angebot aufzunehmen.
Dafür waren drei allgemeine, unmittelbar wirkende Gründe vorhanden
erstens war der Preisfall so bedeutend, daß jetzt, trotz der schlechten
Verfrachtungsgelegenheit, die Versendung auf weitere Entfernungen als
sonst durchgeführt wurde, also die Märkte leichter überfüllt waren als
früher. Zweitens folgten mehrere sehr gute Ernten aufeinander, daß
die Bestände des Vorjahres in den Städten auf die neu hinzukommenden
drückten, und drittens war der Getreidebau in manchen Gegenden
rascher ausgedehnt worden als der Verbrauch gewachsen war.
Zu alledem kam noch ein weiterer Grund mittelbarer Art hinzu.
Man fragt sich, warum die Fülle an billigen Lebensmitteln und indu-
striellen Rohstoffen keinen Aufschwung der gewerblichen Tätigkeit im
Gefolge hatte, wodurch das zu große Angebot hätte zum Verschwinden
kommen müssen. Wenn 60 Jahre später Deutschland über ungemein
reiche Ernten zehn Jahre hintereinander verfügt hätte, so würde ein
gewaltiger Aufschwung der Volkswirtschaft unausbleiblich gewesen
sein. Damals lag das verarbeitende, selbständige Gewerbe darnieder,
ermangelte des Absatzes im In- und Auslande, litt unter der Konkur-
renz der englischen Ware. Es war ohne Kaufkraft und Initiative.
So kam es, daß man wegen des Mangels an Beschäftigung die Über-
bevölkerung beklagte, während die Bauern das Getreide auf dem Felde
verfaulen ließen, weil es sich nicht lohnte, es zu schneiden.
Eine Besserung trat nur ganz allmählich ein, als einerseits ge-
ringere Ernten kamen, andererseits in den dreißiger Jahren die gewerb-
liche Tätigkeit im Zollverein erblühte und einen steigenden Bedarf
nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen schuf.
Der landwirtschaftliche Geschäftsniedergang, der um die Mitte
der siebziger Jahre durch den ausländischen Wettbewerb hervorgerufen
wurde, war insofern weniger fühlbar, als er nicht so niedrige Preise als
von 1 821/31 brachte und auch nicht so plötzlich hereinbrach, hingegen
war er zeitlich nachhaltiger und traf die Landwirte deshalb durchweg
mehr, weil sie die alte Eigenwirtschaft zum guten Teil aufgegeben, also
verhältnismäßig mehr Ware auf den Markt zu bringen hatten.
IV. Deutschland und das Ausland, Als der deutsche Bund
geschaffen wurde, hatte es an Hoffnungen für eine gemeinsame
42 II. Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
Handelspolitik nicht gefehlt. Nach Artikel 19 der Bundesakte be-
hielten sich die vertragschließenden Mächte vor, bei der ersten Zu-
sammenkunft wegen ihres Handels und Verkehrs untereinander in
Beratung zu treten. Aber es ist zu nichts gekommen, und nicht ein-
mal über den infolge der Mißernte von 1816 von Württemberg ge-
stellten und von Preußen befürworteten Antrag, den Handel mit den
notwendigen Lebensmitteln im Bundesgebiet frei zu geben, konnte
man sich einigen. Ein Bundesbeschluß setzte die Zustimmung aller
Mitglieder voraus, von denen jedes seine Rechte eifersüchtig hütete.
Dazu kam der stete Gegensatz zwischen Preußen und Österreich um
die Vormachtstellung, der zu einer fast prinzipiellen Ablehnung jedes
von der einen Regierung gemachten Vorschlages durch die andere
führte.
So blieb der deutsche Bund von den Zollinien seiner 35 Staaten
und vier freien Städten durchsetzt, und der Wunsch eines gemeinsamen
Zollwesens unerfüllt.
Die Beurteilung der Napoleonischen Kontinentalsperre für die
deutsche Produktion und für den Handel ist in der Literatur wider-
spruchsvoll. Während von der einen Seite die Befreiung von dem
englischen Wettbewerb gepriesen wird, die das Entstehen neuer wirt-
schaftlicher Kräfte und die Wiederbelebung alter im Gefolge gehabt
habe, wird von der anderen der Absatzverlust betont, den das Export-
gewerbe und der Handel von der Schließung des englischen und
überseeischen Marktes erlitten habe. Die Schriftsteller, die solche
Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen, verfallen leicht in den
Fehler, daß sie die Schutzzollpolitik bzw. die Grenzverschiebungen des
Kaiserreichs mit der Sperre identifizieren, während die Wirkungen
beider verschieden waren, und beide auch nicht den gleichen Sinn
hatten, die ersteren die wirtschaftliche Blüte Frankreichs, die zweite
die Schädigung Englands bezweckten. Ebenso müssen die Aufhebung
der Sperre und die auf dem Wiener Kongreß vorgenommene Neu-
ordnung der europäischen Staaten gesondert betrachtet werden, wenn
man die außenhandelspolitischen Zustände beschreibt, die nach 18 15
in Deutschland bestanden. Man wird also nach Ländern und Ge-
werben spezialisieren müssen.
Schon 18 13 und 18 14 waren deutsche Industrien östhch des Rheins
dem Druck der englischen Konkurrenz preisgegeben. Er war keines-
wegs etwas ganz Neues, wenn er auch niemals so stark gewesen war.
Denn schon am Ende des 18. Jahrhunderts wird in Sachsen, Schlesien
und Baden die Beschwerde laut, daß ihnen die Auslandsmärkte ver-
schlossen würden, weil England auf dritten Märkte"» ^Um Schaden
der Kontinentalindustrie, die mit Prämien unterstützten eigenen Waren
unter dem Wert vertrieb und die Einfuhr von Rohstoffen und Halb-
IV. Deutschland und das Ausland. 43
fabrikaten in ihre Gebiete erschwerte. Im Vogtlande war die Fabri-
kation feiner breiter Musseline, in Chemnitz die der feinen weißen
Gewebe eingegangen. Im Erzgebirge hatte sich die Kattunweberei
und -Druckerei zwar gehalten, hatte aber einen schweren Stand, da
tüchtige Maschinenspinnerei und Walzdruck der Engländer fehlten.
Nach 1815 brachen die britischen Fabrikanten mit den alten erprobten
Methoden in das Inland ein. Die Wirkung war verschieden, je nach
den Begünstigungen, welche die Gewerbe bisher genossen hatten. In
dem linksrheinischen Deutschland, das dem französischen Kaiserreich
einverleibt gewesen war, hatte der Zoll gegen alle Auslandswaren eine
längere Reihe von Jahren genützt, und die Aachener, Crefelder, Saar-
brückner Industrie rasch vorangebracht. Den Rhein bundstaaten hin-
gegen, die nur bis zu 10% des Wertes die französischen Importe be-
lasten und deren Transit nicht hemmen durften, war der Markt des
Kaiserreiches so gut wie verschlossen gewesen. Aber sie empfanden
doch die Fernhaltung Englands auf dem deutschen Markt als eine
Wohltat, so daß es in den Woll-, Leinen-, Eisen- und Stahlwerken
lebhaft zuging. Von der Leipziger Messe des Jahres 1810 wird be-
richtet, daß sie alle ihre Vorgängerinnen übertroffen habe, und daß
das Verlangen nach Ware nicht voll zu befriedigen gewesen wäre.
Den Fabrikanten im Großherzogtum Berg, das der Kaiser seinem
Schwager Murat verliehen hatte, in Düsseldorf, Elberfeld und Barmen,
Solingen, Remscheid, Essen und Bochum wurde aus Paris der Be-
scheid, daß sie, als sie um eine Angliederung an Frankreich ein-
gekommen waren, da ihnen der französische und jeder überseeische
Markt versperrt sei, genügend Schutz besäßen und im Osten ihren
Absatz frei von dem englischen Wettbewerb suchen möchten. Im
neuen Baden, wo die Beamtenschaft hoffte, Napoleon möge die Schweiz
annektieren, damit das Wirtschaftsleben dort wieder erwache und der
badische Transithandel wieder nach dem Süden hin etwas zu tun habe,
verlor die hausindustrielle Stickerei ihren Absatz nach Italien, Frank-
reich und Holland, die ganze Textilindustrie lag darnieder und konnte
gegen die durch das große Kaiserreich begünstigte elsässische nicht
aufkommen.
Linksrheinisch führte das französische Konzessionssystem dahin,
daß kleinere Werke zu größeren verschmolzen wurden, und daß einzelne
Familien rasch zu Wohlstand und Ansehen gelangten. So im Esch-
weiler Kohlenbezirk, wo 1816 schon 318 Arbeiter von der Firma
Englerth beschäftigt wurden, oder in der Zinkproduktion des Alten-
bergs bei Morsenet, oder im Bleierzbergbau bei Machernich. Auch
im Saargebiet griff, wie im Aachener, die Konzentrierung um sich,
bei der wir schon die das ganze folgende Jahrhundert dort führenden
Namen Stumm, Röchling, Böcking, Krämer vorfinden. Um 1806
44 II- Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
besaß die erstgenannte Familie zwei Hochöfen und vier Frischfeuer,
denen sich eigene Hammerwerke und bald auch eine Gießerei an-
schlössen. Als das Saargebiet preußisch wurde, verfügte sie über die
Hälfte aller Saarhütten, verlor aber ihren Markt im Westen. Rechts-
rheinisch blieb die Montanindustrie ohne wesentliche Ausweitung und
ohne Zusammenfassung der Produktionsabschnitte fortbestehen, wenn
ihr auch die Beseitigung der englischen Konkurrenz das deutsche
Absatzgebiet besser zugänglich machte. Auch in Thüringen war die
Metallverarbeitung, besonders die Waffenherstellung unter der Kriegs-
nachfrage erstarkt, in Sachsen das Textilgewebe wie der Kattundruck
und die Kattunweberei, ebenso in Augsburg, wo der Übergang von der
Hausindustrie zur Fabrik angebahnt wurde. In Schwabach wurde von
dem englischen Druck die Nadlerzunft befreit, die, als er sich nach
18 15 wiederholte, ihm nicht gewachsen blieb, im Gegensatz zu Aachen
und Iserlohn, wo sich die Unternehmer mit Fabriken und Maschinen
der neuen Technik angepaßt hatten, so daß sie nach dem Falle der
Sperre nicht bloß standhielten, sondern auch im Ferngeschäft vorwärts
kamen. In Baden kam die Strohflechterei und Bürstenmacherei hoch
und auch die kleinen Metallindustrien zogen ihren Vorteil aus dem
Fortfall der englischen Konkurrenz. Im früheren Kloster St. Blasien
entstand die erste Maschinenfabrik und die erste mechanische Spinnerei
des Landes, die beide durchhielten, bis später der Zollverein sie unter
seinen Schutz nahm. Bei Magdeburg wurde die Zuckerrübe angebaut
und industriell verarbeitet, auch in Schwarzach in Baden entstand
eine größere Fabrik, als Deutschland nur aus dem Schmugglergeschäft
indischen Zucker beziehen konnte. Die Landwirtschaft • hatte also
ebenfalls einige Vorteile davongetragen. Die vermehrte Leinenerzeugung
erweiterte in einzelnen Teilen Deutschlands den Flachsbau, die Tuch-
manufaktur die Schafzucht. Der Krapp-, Waid- und Tabakbau ge-
diehen, als Kolonialwaren und Indigo nur zu sehr hohen Preisen zu
haben waren.
Östlich der Elbe ist es nur die Montanindustrie Schlesiens, die
aus der Fernhaltung Englands vom deutschen Markte Gewinn zieht.
Hier sind es im 18. Jahrhundert weitblickende Männer des großgrund-
besitzenden Adels gewesen, die auf ihren Gütern Werke errichtet
haben. Graf Reden wird als der Begründer der oberschlesischen
Eisenindustrie genannt. Sie allein sind kapitalkräftig genug, um
Unternehmungen im großen wagen zu können. Die Bergordnung
Friedrichs des Großen steht ihnen bei, indem sie das Recht der Grund-
herren auf Eisenerz anerkennt. vSteinkohle wird zwar zum Regal er-
klärt und dem Bergwerkszehnt und der staatlichen Direktion unter-
stellt. Doch erhalten später die Grundherren mancherlei Begünstigung
durch Vor- und Mitbaurecht gegenüber den Verleihungen, die Dritten
IV. Deutschland und das Ausland. a c
gewährt sind. 1804 sind in Oberschlesien 4g Hochöfen und 158 Frisch-
feuer vorhanden. Es gab ein Löschfeuer, ein Zementstahlwerk, zwei
Raffinierhämmer und 13 Schlackenpochwerke. An Roheisen wurden
in demselben Jahre rund 400000 Zentner erzeugt, an Stabeisen
240000 Zentner. Der Wert der Erzeugnisse betrug etwa i 475000 Tlr.
Graf Henckel, Thiele -Winckler, Fürst Pleß, Fürst Ratibor werden
schon damals als Großindustrielle genannt. Neben dem Magnaten-
betrieb gibt es den staatlichen, dessen Technik neben dem des Grafen
Colonna und Grafen Renard an der Spitze steht. Schon 1788 wird
eine Dampfmaschine auf der fiskalischen Friedrichsgrube aufgestellt.
Die ersten Koksöfen haben die ebenfalls staatliche Gleiwitz- und die
Königshütte, die 1818 vier Hochöfen besitzt und als die großartigste
Anlage des Kontinents gilt. 1815 spaltet sich der alte Frischprozeß,
als das Halbfabrikat zu Stabeisen in den Walzwerken ausgereckt
wurde. Die Puddelöfen finden erst 1828 Eingang.
In der Kriegszeit 1 806/1 807 wurde die schlesische Industrie zu-
nächst arg mitgenommen. Unter der Sperre erholt sie sich, beherrscht
den ganzen ostdeutschen Eisen- und Stahlmarkt und dringt bis nach
Mitteldeutschland über Berlin hinaus vor. Nach der Aufhebung kann
ihr England in ihrem engeren Gebiet nicht viel anhaben, teils ihrer
geographischen Lage wegen, teils infolge ihrer technischen Fortschritte,
teils durch das für die Produktion so geeignete Zusammenliegen von
Erz- und Kohlengruben. Der Verkauf in den Gebieten westlich der Elbe
wird ihr jedoch erschwert.
Die Exportindustrie des Ostens, die brandenburgische Tuch-, die
Berliner Seidenmanufaktur wurden durch die Schließung der Seewege
überwiegend geschädigt, ebenso die schlesische Leinenweberei, die schon
während der vorausgehenden Kriegsperiode in Not geraten war, jetzt
ihren wichtigen Ausfuhrhafen Hamburg verlor, der ihr nach dem Frieden
auch nicht mehr viel nützen konnte, da inzwischen England ihr früheres
Absatzgebiet erobert hatte und mit seiner mechanischen Flachsspinnerei
und dem Maschinenwebstuhl behauptete. Seit diesen Tagen hat sich
diese schlesische Hausindustrie nicht wieder erholt und verlor die
Kraft, sich der Neuzeit anzupassen. Auch Hannover litt unter dem
gleichen Druck, von wo bis 1806 Leinen nach Nord- und Südamerika
und Westindien versandt worden war. Mit dem Niedergang des
Hamburger und Bremer Handels hatte das Land auch seine landwirt-
schaftliche Ausfuhr zum Verbrauch in den Hansastädten und zum
Weiterexport teilweise eingebüßt und seinen Durchgangsverkehr nach
Mitteldeutschland mit Kolonialwaren und von dort mit gewerblichen
süddeutschen nach dem Norden einschränken müssen. Die Nürnberger
Luxusgewerbe des Gold- und Silberdrahtes und der Spielwaren, die
a6 II. Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
Fayenceindustrie von Ludwigsburg gingen des überseeischen Marktes
verlustig und brauchten lange Zeit, um neue Beziehung anzuknüpfen.
Der deutsche Osten war nicht nur industriell geschädigt worden.
Der Getreidepreis sank, sobald England nicht mehr regelmäßig ein-
kaufte, das Holz war nicht mehr abzusetzen, die Reederei und der
Handel der Ostseehäfen wurden so geschwächt, daß es ihnen nicht
möglich wurde, dem nach 18 15 rasch vorwärts drängenden und durch
die Lage begünstigten Nordseegeschäft zu folgen.
Die Hansastädte hatten durch die Blockade, die Sperre, durch
Davousts unerhörte Kontributionen und durch die Plünderung der
für den mitteleuropäischen Handel so wichtigen Bank von Hamburg
an ihrem Silberschatz, der „als toter für den Kaiser in Bewegung
gesetzt werden sollte", ungemein gelitten, als dieser erklärt hatte, „die
Städte seien nur englische Kolonien auf dem Festlande, privilegierte
Werbeplätze für den Handelsgewinn der Briten und brächten die Völker
um ihre Barschaften". Sie erholten sich nach Eintritt des Friedens
rasch. 1826 waren in Hamburg 1946 große und kleine Schiffe ange-
kommen, 9 aus Ostindien, 70 aus Westindien, 30 aus Nordamerika,
8 aus Südamerika, 812 jedoch aus England. Das Londoner Dampf-
schiff hatte im Jahre 27 Fahrten gemacht. Das Geschäft mit dem
Auslande war bald so gewachsen, daß ein neues Börsengebäude auf-
geführt wurde. Das Seeassekuranzwesen wurde ein blühendes Geschäft-
Aus jener Zeit stammt in Hamburg die Vorliebe für englische Sitten
und Einrichtungen und die Gewohnheit, junge Leute nach London zu
senden, um dort das Geschäft zu erlernen. In den zwanziger Jahren
verdienten Hamburg und Bremen reichlich durch Einfuhr aus England.
War auch eine süddeutsche Stimme, „die Hamburger seien deutsche
Barbaresken, deren Interessen als englische Faktoreien auf Plünderung
des übrigen Deutschlands, auf Vernichtung seiner Industrie gerichtet",
eine agitatorische Phrase zugunsten heimischer Zölle, kein Zweifel, die
leichte Einfuhr englischer Waren in die meisten deutschen Länder
brachten ihnen Entschädigung für den Geschäftsausfall der Vorjahre,
während der sie keine französischen Luxuswaren im Zwischenhandel
auf dem Seewege mehr beziehen konnten und Kolonialwaren nur im
Wege des gefährlichen Schmuggels einbrachten. Tönningen erblühte
unter ihm. Auf der kleinen Insel Helgoland hatten unter der Sperre
30 englische Firmen ihre Niederlagen, deren Schiffer die holsteinische
Küste und die Elb- und Wesermündung aufsuchten.
Von den Hansastädten waren die eingeschmuggelten Kolonial-
waren und englischen Garne in das Innere von Deutschland zuerst
noch leidlich weitervertrieben worden. Dagegen richtete sich das
„Kolonialsystem" Napoleons von 18 10 — 13, nach dem für die Mittel-
punkte des Handels und der Weiterverarbeitung der Kolonialware
IV. Deutschland und das Ausland.
47
angeordnet wurde, daß sie solche nur aus den nördlichen Departements
Frankreichs beziehen durften und mit Ursprungszeugnissen die dortige
Zollbezahlung nachzuweisen hatten. Güter englischer Herkunft wurden
verbrannt. Handel und Fabrikation, z, B. in Erfurt, wurden durch
das französische Monopol, zu dessen Preisaufschlag noch der einheimische
Zoll hinzukam, in kurzer Zeit zugrunde gerichtet und haben nicht
wieder gesunden können.
Es ist auf die Vorgänge von 1806 — 15 mit zurückzuführen, daß
der Osten Preußens überwiegend auf die landwirtschaftliche Produktion
hingewiesen blieb, der Westen auf die industrielle. Das hat zu Gegen-
sätzen geführt, die sich auch politisch fühlbar machten, als aristokratische
Neigung dort, als demokratische hier. Wenn der Osten im Sinne des
Merkantilismus des 18. Jahrhunderts industriell nach 1815 so fortge-
schritten wäre, als er begonnen hatte, so würde die Landv/irtschaft
ihren Schwerpunkt bald in dem inneren Markt gefunden haben. Unter
den bestehenden Verhältnissen wurde sie auf das Ausland angewiesen,
und der Westen mußte sich fernerhin mit fremdem Getreide versorgen,
um die rasch wachsende Bevölkerung zu ernähren.
Als nun die Sperre fiel, hatten die deutschen Verbraucher zwar
bessere Tage, viele heimische Erzeuger aber schwere zu erwarten.
Am meisten hat die Textilindustrie zu leiden gehabt. Denn die eng-
lische hatte in dem letzten Jahrzehnt große Schritte vorangemacht. Ark-
wrigths Spinnmaschine und Cartwrigths mechanischer Webstuhl be-
herrschten die Preise, und Watts Dampfmaschine war praktisch ins
Große gesetzt worden und wurde andauernd verbessert. 1801 wurden
54 Mill. Pfund Baumwolle versponnen, eine geringe Menge gegenüber
der heutigen, damals eine gewaltige im Vergleich zu dem, was das
Festland mit seiner Handarbeit erzeugte. Die Exportindustrie der
englischen textilen Fertigware war ebenfalls trotz der Schließung des
europäischen Kontinents lebenskräftig fortgeschritten, da "sie auf vielen
überseeischen Märkten heimisch geworden war. So brauchte sie die
Schmuggelstationen am Schwarzen und mittelländischen Meer, an der
Ost- und Nordsee nicht einmal aufzusuchen, die hauptsächlich für
Kolonialwaren und Baumwollgarne Stapelplätze gewesen sind.
Auch in vielen anderen Industrien hatte England während der
Kriegszeit technisch alle anderen Länder überholt, wie das von J. H.
M. Poppe in dem „Geist der englischen Manufakturen" mit_ zahl-
reichen Beispielen 18 12 geschildert wird. Die Namen von Weg~wood
und Boulton werden rühmend genannt. Die Erfindung des Gußstahles
war gemacht und der Kleineisenindustrie für Messer, Scheren, Nadeln,
Feilen, Gewehren dienstbar geworden. Der hohe Stand der Leder-,
Steingut-, Strumpf-, Hut-, Bleiweiß-, Papierindustrie wird den Deutschen
zur Nachahmung empfohlen, in dem naiven Glauben, daß man alles
^8 II- Abschnitt, Die Zeit von 1815 — 183J
alsbald nachmachen könne, wenn man nur die Herstellung begriffen
habe. Vielerlei Werkzeugmaschinen waren damals schon im Gebrauch:
Walz-, Feilhauer-, Bohr-, Hufeisenschlag-, Spinn-, Web-, Scheer-, Druck-,
Strohspalt-, Knopfmaschinen. Die Dampfmaschine, die damals nur
70 — go PS. gab, betrieb nicht nur die Textil werke, wir finden sie schon
in den Brauereien, Papiermühlen und Walzwerken. 1805 war die
erste völlig praktische Lokomotive Trevithicks und Vivians von Merthyr
nach Tydvil gelaufen.
Während des Krieges war England der unbestrittene Herrscher
der See gewesen, und wo die Kriegsschiffe siegreich einliefen, folgten
seine Handelsschiffe nach. Politische Machtmittel zu wirtschaftlichen
Zwecken zu gebrauchen, hat es immer verstanden. An der Gründung
des ohnmächtigen deutschen Bundes auf dem Wiener Kongreß nahm
es lebhaften Anteil. Die Nordseeküste wurde zerstückelt. Das König-
reich der Niederlande wurde durch den belgischen Anhang geschwächt.
Das matrosenreiche Ostfriesland mußte von Preußen an Hannover ab-
getreten werden, dessen Fürstenhaus mit dem englischen verwandt
war. Ein Teil der Nordseeküste gehörte Oldenburg, die Hansastädte
waren souverän. Es gab den dänischen Gebietsteil Schleswig, und
das Herzogtum Holstein, wenn auch dem deutschen Bund angehörig,
unterstand dem dänischen König. Das englische Helgoland lag vor
der Elb- und Wesermündung. So hatte sich das Inselreich ein Vor-
land gegen Preußen eingerichtet, dessen späterer Rest Belgien um
191 4, wohl dazu vorbereitet, noch eine strategische Aufgabe für die
britischen Kriegsziele zu erfüllen hatte. Das deutsche Land des poli-
tischen Glacis war wenigstens nach langen, langen Mühen und Ringen
dahin gebracht worden, wohin es gehörte.
Nach 18 15 wurden die deutschen Märkte mit englischen Fabrikaten
geradezu überschüttet. Man wollte die Verbraucher mit billigen Gaben
ködern und den Wettbewerb sofort zum Schweigen bringen. Die
enghsche Regierung begünstigte dies Ziel, hatten doch berühmte Parla-
mentsmitglieder, wie Henry Brougham, öffentlich erklären dürfen, daß
man „die Kontinentalfabriken in den Windeln ersticken müsse". Klügere
Leute sprachen sich vorsichtiger aus und verkündeten den Segen des
Freihandels. Einsichtsvolle deutsche Gegner dieser Beglückung hatten
die Lehre schon 1825 durchschaut. So heißt es in Venturinis
Chronik: „Indessen gibt es doch unter uns Toren genug, die von
dem Schwalle der Reden im britischen Parlamente über die Handels-
freiheit betäubt, sich von daher die glückHchste Zukunft für Deutsch-
lands Handel und Fabrikwesen versprechen. Daß England nicht er-
kannt worden ist, werden künftige Generationen nicht begreifen".
Die Selbsthilfe der betroffenen Fabrikanten wurde angerufen.
Nur ausnahmsweise vermochten sie einige englische Einrichtungen
IV, Deutschland und das Ausland.
49
nachzuahmen. So führte die Greizer Wollindustrie die Maschinen-
spinnerei und die mechanische Wollkämmerei ein und erdrückte die
heimische Handspinnerei. Die Weberei dort blieb aber in der Form
der alten Hausindustrie fortbestehen und geriet in zunehmende Ab-
hängigkeit von den Verlegern, die das Maschinengarn allein in der
Hand hatten. Im Königreich Sachsen faßte die Baumwollspinnerei
mit Maschinen an einigen Orten Fuß. 1820 wurde im Erzgebirge der
Kattunwalzdruck zuerst versucht.
Da der deutsche Bund eine handelspolitische Abwehrmöglichkeit
gegen den englischen Vorstoß, dem Holland gefügig sekundierte, nicht
besaß, so mußten sich die Einzelstaaten zu helfen wissen, wie es ging.
Aber nur Preußen war groß genug, um erfolgreich etwas durchsetzen
zu können.
Das vom Generaldirektor Maaßen verfaßte preußische Zoll-
gesetz von 1818 schuf für 5000 Quadratmeilen und 10^/2 Millionen
Menschen zum ersten Male in Deutschland ein großes Wirtschafts-
gebiet mit innerer Verkehrsfreiheit und einem einheitlichen, ehemals
dem alten Reich vorbehaltenen, aber niemals ausgenutzten Grenzzoll
gegen das Ausland. Es beseitigte die provinzialen und sonstigen
Akzisen, sowie die Einfuhr- und Ausfuhrverbote und stellte ein
System gemäßigten Zolles zum Ersatz. Es trug zugleich einen finanz-
politischen Charakter, da die Akzisen wenig eingebracht und unregel-
mäßig den Verbrauch belastet hatten. Neben den Schutzzöllen sollten
Finanzzölle besondere Einnahmen geben, wie die auf Kolonialwaren
und Weine, bei denen man bis auf 20 — 30% des durchschnittlichen
Wertes hinaufging. Die Durchfuhrabgaben von 1/3 Tlr. auf den Zentner
erwuchsen sowohl aus finanziellen Erwägungen als auch daraus, um
auf andere deutsche Staaten einen handelspolitisch zu verwertenden
Druck ausüben zu können. Die Zölle wurden nach dem Gewicht auf-
gelegt, worin man mit Recht die einfachste und billigste Erhebungs-
art erblickte. Daneben waren einzelne Stückzölle vorhanden. Für
Fabrik- oder Manufakturwaren sollte der Zoll etwa 10% des Wertes
betragen, wobei man sich auf eine weitgehende Qualitätsverschieden-
heit nicht einließ. Fremde Rohstoffe wurden frei eingelassen, bei der
Ausfuhr wurden wertvolle einheimische bezollt. Die Getreidezölle
waren gering, in den westlichen Provinzen waren Roggen, Gerste,
Buchweizen frei. Erst 1827, unter der Agrarkrise, wurden gleichmäßige
und erhöhte Getreide- und Viehabgaben, jedoch nicht über 14% des
Wertes, für die ganze Monarchie eingeführt.
Das Zollgesetz ist ein glücklicher Griff gewesen. Es war sowohl
dem gegebenen wirtschaftlichen Gesamtzustande als auch der inter-
nationalen politischen Lage angepaßt. Man hatte auf die ehemaligen
Verbündeten Rußland und England Rücksicht zu nehmen, und wollte
A.Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 4
CQ II. Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
jenes nicht durch hohe agrare, dieses nicht durch hohe industrielle
Zölle verstimmen. Die Landwirte des Ostens fanden sich damit ab,
da sie ihre Ausfuhr zu erweitern zunächst sich stark genug fühlten.
Die Industriellen, besonders des Rheins, bestürmten hingegen die Re-
gierung, sich ihrer Wünsche anzunehmen. Ihnen gegenüber wurde
von dieser das Wohl des Gesamtstaates geltend gemacht. Ein hoher
Industrieschutz müßte den Gesuchstellern vornehmlich zugute kommen,
wodurch nicht nur alle Verbraucher, die nach dem Kriege bei der
hohen Steuerlast wenig leistungsfähig seien, zu stark belastet würden,
sondern auch die sonstige industrielle Entwicklung unter der Kon-
kurrenz des Westens nicht aufkommen werde. Der geplante Gewichts-
zoll reiche für die einfache Ware durchaus, die nun überall da erzeugt
werden könne, wo die Vorbedingungen beständen. Man meinte also,
daß ein Land, das im Ganzen industriell so rückständig wäre wie
Preußen, zunächst mit einer breiten Erzeugung gewöhnlicher Güter
sich eine Grundlage schaffen müßte, der Aufbau der feineren würde
dann später nachfolgen können.
Von den rheinischen Unternehmern gelang es bald einer Anzahl
ihren Betrieb zu vergrößern. Ein Beispiel: Die Aachener Tuch werke,
die vorwiegend hausindustriell waren, hatten nach Verlust des franzö-
sischen Marktes schwere Zeiten durchzumachen. Die kleineren gingen
zugrunde, und von den Arbeitern waren bis in die zwanziger Jahre
hin nur ein Drittel beschäftigt. Die kapitalkräftigeren hielten unter dem
gemäßigten Schutz durch. 1821 wurde die erste Spinnmaschine des
Erbauers Cockerill aufgestellt. Tuchscheer- und Waschmaschine
wurde mit Hilfe der Regierung beschafft und das Appreturverfahren
verbessert. Erst 1833 galt die Krise mit der Durchführung des Fabrik-
systems für überwunden, als nach einer Handelskammerschätzung
80000 Stück Tuch zu einem Verkaufswert von 4 Millionen Tlr. in
Aachen und Burtscheid hergestellt worden waren.
Auf Anregung von Anders in Elberfeld wurde die rheinisch-
westindische Kompagnie 182 1 gegründet mit der Aufgabe, deutschen
Waren in überseeischen Ländern Eingang zu verschaffen. Diese
Aktiengesellschaft litt von vornherein daran, daß ihr Kapital von einer
Million Tlr. nicht ausreichte, und daß sie als Handelsunternehmen,
das eine vollständige Sammlung aller bedurften Waren bringen wollte,
diejenigen auswärtiger Herkunft ausschloß, für die in Deutschland noch
kein hinlänglicher Ersatz geboten wurde. Trotzdem gedieh das Ge-
schäft bis 1826 ganz gut, und es wurden für 5^/3 Millionen Tlr. Güter
konsigniert, davon 3 1/3 aus Preußen. Allein der Schleuderkonkurrenz
nach der englischen Handelskrise von 1828 war es nicht gewachsen,
obwohl das Kapital mehrfach erhöht wurde, woran sich auch der
König von Preußen beteiligte. Als nun politische Wirren in West-
IV. Deutschland und das Ausland.
51
indien, Brasilien und Argentinien den Verkehr hemmten, mußte 1831
dieses verfrühte patriotische Unternehmen liquidieren. Nach den ersten
Erfolgen hatte auch ein deutscher Wettbewerb eingesetzt, u. a. durch die
Elb- Amerikanische Kompagnie. So wurde der deutsche Gesamtabsatz
zersplittert, während damals alles hätte getan werden müssen, die ge-
ringe Kapitalmacht für die Ausfuhr zusammenzuhalten. Auch in
Schlesien wurde 1825 eine westindische Gesellschaft errichtet, die mit
der Mehlversendung nach Südamerika begann, als eine Anzahl ver-
besserten Mühlenwerke für Feinmehl entstanden waren. Ihr war eben-
falls kein Erfolg beschieden.
Die erst neu zu organisierende Zollverwaltung Preußens sprach
für die Niedrigkeit des Zolles. Das alte System mit seinen Verboten
hatte manche Klage über Hinterziehung und Bestechung laut werden
lassen. Rückzölle und Prämien waren oft nach Gunst gewährt worden.
Indem man ein ganz neues Personal von höheren Beamten und gut-
bezahlten Grenzwächtern anstellte, kam es darauf an, es nicht in Ver-
suchung zu führen, die bei niedrigen, den Schmugglern wenig ge-
winnbringenden Zöllen gering ist.
Daß eine Anzahl Werke des Schutzes entbehrte, den sie unter
der Sperre genossen hatte, ist richtig, aber vernichtet wurden nur
wenige. Der große Inlandmarkt kam ihnen bald zustatten und das
um so mehr, als die Transporteinrichtungen, wenn auch nur langsam,
besser wurden.
Man darf zum Verständnis der preußischen Zollpolitik von 1818
ferner nicht vergessen, daß die damalige Nationalökonomie von der
Freihandelslehre Smiths beherrscht wurde. Das System war reich an
Gedanken und so einheitlich in der Gesamtauffassung des ökonomischen
Liberalismus, daß das gebildete preußische Beamtentum sich seinem
Zauber nicht entziehen konnte. Endlich machte der Tarif mittlerer
Linie das Gesetz geeignet, einmal später auf ganz Deutschland aus-
gedehnt zu werden. So antwortete der Staatskanzler Fürst von
Hardenberg am 3. Juni 18 18 niederrheinischen Fabrikanten, die um
Schutz vorstellig geworden waren, „es liege im Geiste des Plans, nicht
allein auswärtige Beschränkungen des Handels zu erwidern, sondern
auch Willfährigkeiten zu vergelten und nachbarliches Anschließen an
ein gemeinschaftliches Interesse zu fördern".
Es kann die kurze Betrachtung des preußischen Zollgesetzes
nicht besser als mit den Worten G. Schmollers abgeschlossen
werden: „Es gehört, wie die Städteordnung von 1808, das bäuerliche
Regulierungsedikt von 181 1, das Wehrgesetz von 18 14, die Landwehr-
ordnung von 18 15 zu den gesetzgeberischen Höhepunkten und Groß-
taten jener Zeit, durch die der preußische Staat seinen alten Ruhm ratio-
nellen Fortschrittes im Sinne der Ideale der Zeit aufs neue befestigte."
4*
52
II. Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
Allerdings mußten die andern deutschen vStaaten sich erst von
dem inneren Wert der neuen Einrichtung überzeugen lassen, ehe sie
zum Anschluß bereit waren. Sie hatten unter dem Druck des Aus-
landes zunächst noch eine Leidensschule durchzumachen, bis sie die
Unzulänglichkeit ihrer eigenen zersplitterten Kräfte begriffen.
Die seit 1825 zum Vergleich der folgenden Jahre brauchbare
Handelsstatistik der Ein- und Ausfuhr läßt ersehen, daß in dem ersten
Jahrzehnt nach dem Zollgesetz der ^Außenhandel keineswegs glänzend
war. Die absoluten Gewichtszahlen sind bescheidener Art, etwa
1/2 — ^4^/0 ^'O"^ dem, was das Reich 19 13 im Generalhandel verzeich-
nete, und auch nicht gerade schnell gestiegen. Der ganze Waren-
verkehr, Eingang, Ausgang und Durchfuhr ist dieser:
Jahre
1825 1826
1827
1828
1829
1830
1831
Zentner
die meisten Wa-
ren . . .
8 563 120
8877464
10325 914
10 694 1 13
10764675
II 180 892
12 313 340
Scheffel
Getreide, Hül-
senfrüchte
8658836
8823328
9 594 547
10 293 074
10 409 602
14 264 317
10479894
Stück
Glas , Balken ,
Vieh . . .
4706474
3 955 151
4530156
2 678 927
I 331 990
I 385927
778506
Klafter
Brennholz .
49461
44 146
46 619
50975
54 129
69839
52247
Schiffslasten
Bretter, Steine
179729
165 871
153628
184 617
120 108
133 010
loi 952
Tonnen
Kalk, Gips,
Salz, Heringe
151 329
177 736
201 267
200 403
255 103
312019
270737
Zum Verständnis der Ein- und Ausfuhr können wir hier nur drei
Warengruppen aus der Einzelstatistik herausgreifen. Die Getreide-
ausfuhr ist wegen der hemmenden ausländischen Gesetzgebung einem
Agrarlande wie Preußen keineswegs entsprechend. Erst seit 1824 und
25 wird die Roggen- und Weizenausfuhr größer als die Einfuhr. Mit
dem Aufstand in Polen von 1830 wird dort die Erzeugung unter-
bunden, was den preußischen Landwirte zugute kommt. Für die
Textilindustrie bleibt die im Inland verarbeitete Rohbaumwolle
von 1822/1831 der Menge nach dieselbe, die Spinnereien sind nicht
vorangekommen. Hingegen hat sich die Einfuhr von Baumwollgarn
verdoppelt, die mit einer Mehrtätigkeit der Webereien zusammengeht.
Die Wollausfuhr ist mit der Erweiterung der Schafzucht größer
geworden. In den drei Jahren 1826/1828 beträgt die einheimische
IV. Deutschland und das Ausland.
53
Wollproduktion 696384 Zentner, fremde Wolle 153428 und die Aus-
fuhr und Wiederausfuhr 3 17 2 19. Der Ausgang von rohem gebleichten
und gefärbten Leinwandgarn und von Leinwandgewebe übertrifft zwar
die Einfuhr, zeigt aber rückgängige Zahlen, während derjenige von
seidenen Geweben eine leichte Besserung bekundet. Bei der Eisen -
fabrikation bilanziert sich in den zwanziger Jahren der Handel in
Roh-, Guß- und Abfalleisen ungefähr, im Anfang der dreißiger steht
er zu Preußens Ungunsten. Die Einfuhr von geschmiedetem überwiegt
die Ausfuhr dauernd. Bei dem Eisenblech ist es wie beim Roheisen,
hingegen ist der auswärtige Verkauf von feinen Fabrikaten, nament-
lich in der zweiten Hälfte des Jahrzehntes, der Einfuhr um einiges
überlegen.
Günstiger als der Außenhandel hat sich der Verkehr in dem
durch die Zollgesetzgebung von 18 18 geschaffenen Binnenfreihandels-
gebiet entwickelt, obwohl die Agrarkrise eine allgemeine Hemmung,
wie oben erzählt wurde, gewesen ist.
Fehlt es auch an einer Erzeugungs- und Verbrauchsstatistik, so
läßt sich der Beweis des Vorankommens doch indirekt führen. Der
Gewerbesteuerertrag ist ohne Veränderung der Sätze von 1 824/1 831
von 1652 551 Tlr. auf 2 019 6 15 Tlr. hinaufgegangen. Die Reihenfolge
der meistzahlenden Städte war diese:
1824
Breslau .
• 161425
Tlr.
Breslau . .
174 161 Tlr
Berlin
■ 1 10349
„
Düsseldorf .
144698 ,,
Liegnitz .
. 106511
,,
Berlin . .
135607 „
Düsseldorf
• . 101379
,,
Liegnitz . .
129367 „
Magdeburg
• • 93 345
„
Potsdam . .
. 118206 „
Potsdam .
. 92977
„
Magdeburg
II3323 M
Königsberg
. 87698
,,
Merseburg .
III924 „
Frankfurt a
0. 85377
,,
Frankfurt a. 0
105463 „
Erst in größerem Abstände folgen Erfurt, Arnsberg, Dan zig
Oppeln, Stettin. Die späteren großen Industriemittelpunkte werden
schon sichtbar. Doch ist die Rheinprovinz nur mit einer Stadt unter
den acht vertreten. Köln zahlt 1824 nur 56842, Aachen 50970 Tlr.
Die geringe Gewerbetätigkeit des damaligen Berlins wird uns weiter
unten beschäftigen.
Die Gewerbetabelle der preußischen Monarchie von 1 83 1 mit
der von 18 19 verglichen bringt in allen Abteilungen Beweise der Zu-
nahme der verarbeiteten Gewerbe. Es wird ein kurzer Auszug gegeben
54
n. Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
Mecha-
nische
Künstler
und Hand-
deren
Gehilfen
Buch-
drucke-
reien
Ziegeleien,
Kalkbren-
nereien,
Glas-
hütten,
Eisen- und
Kupfer-
hämmer
und andere
Hütten-
Mehl-
Grützen-
urd
Graupen-
Gehende
Webstühle
Handels -
gewerbe
aller Art
werker
Teeröfen
werke
mühlen
I8I9
276815
142 149
240
3696
1834
Zählung
1822
239 962
250380
69742
I83I
328317
181 054
305
5406
1948
25584
343381
98239
Eine Zunahme der inneren Verkehrstätigkeit wird noch weiter
erbracht durch diejenigen Betriebe, die ausschließlich für den inneren
Markt arbeiten, der Handwerker, Gast-, Speise- und Schankwirte,
Bäcker und Fleischer, Bierbrauer, Fracht- und Fuhrleute. Die Jahr-
märkte, die ausschließlich dem Binnenhandel dienen, und die Messen,
die es zum großen Teil mit etwa 50% in Naumburg, mit 73% in
Frankfurt a. O. tun, haben ihre Warenmengen dem Gewicht nach
verdreifacht. Über Landstraßen, Wasserwege und Schiffahrt wird
weiter unten berichtet werden. Auch hier geht es voran, freilich, wie
alle mitgeteilten Zahlen zeigen, in geringen absoluten Größen. Immer-
hin sind die, wenn auch nur mäßigen Fortschritte im inneren preußischen
Verkehr eine' wertvolle Propaganda für die Zoll Vereinsbestrebungen,
die am Ende der zwanziger Jahre lebhaft gepflegt werden. Ein-
gehendere Angaben über die damaligen preußischen Wirtschaftszustände
finden sich in den Büchern von C W. Ferber, die nach amtlichen
Ermittelungen ausgearbeitet wurden, doch als zu rosig gefärbt mit
Recht beurteilt worden sind.
V. Staatsschulden und Bankiergewerbe. Die Staaten
hatten wohl für die produktiven Gewerbe in der hier besprochenen
Periode einige Aufwendungen gemacht, aber sie waren finanziell nicht
in der Lage, in größerem Stile etwas zu gewähren. Die lange Kriegs-
zeit hatte durch Schuldaufnahmen und Papiergeldausgabe überall die
Finanzen zerrüttet, nicht nur in Preußen, das so lange vom Feinde
besetzt und ausgesogen worden war, sondern auch in den südwest-
deutschen Gebieten und in Sachsen, die von Napoleon die bei seinem
Durchmarsch requirierten Gegenstände nicht ersetzt erhielten und ihm
bei dem russischen Feldzug Gefolgschaft leisten und die Mittel dazu
selbst aufbringen mußten. Daran hatten sich die Anleihen für die
Feldzüge von 1813 — 15 angeschlossen, die teilweise, z. B. in Baden,
zwangweise nach Vermögensabschätzungen erhoben worden waren.
Um Zinsen und Tilgungen einhalten zu können, schwebende Schulden
zu dauernden umzuformen, Papiergeld einzuziehen, die Landesverteidigung
V. Staatsschulden und Bankiergewerbe. ee
ZU sichern, die Truppen neu auszurüsten, wurden in den ersten
Friedensjahren Anleihen aufgelegt, die durchweg nur zu schweren
Bedingungen untergebracht werden konnten. Im ersten Pariser Frieden
hatte man Frankreich keine Kriegsentschädigung abgefordert, im
zweiten nur eine mäßige, so daß Deutschland die Kosten seiner Be-
freiung überwiegend selbst hat tragen müssen. Die preußische Schuld
belief sich 1820 auf 218, die sächsische auf 21 Millionen Tlr., die
bayrische 1815 auf 100, die württembergische auf 25, die badische auf
20 Millionen Gulden. Waren diese Summen auch gering gegenüber
den englischen oder holländischen Staatsschulden, so drückten sie bei
der damaligen Armut die deutschen Länder schwer. Das moderne
Staatsschulden wesen , das den alten privatrechtlichen Charakter ab-
gestreift hatte und das ganze Volk als Steuerzahler haftbar machte,
war eine englische Erfindung, Kriege mit großen Mitteln führen zu
können. Hatte sie daher doch schon Kant 1795 in dem Aufsatz
„zum Ewigen P>ieden" heftig angegriffen — , „als entgegenwirkende
Maschine der Mächte gegeneinander, als ein Schatz zum Kriegführen,
als ein Kreditsystem ins Unabsehliche anwachsender und doch immer
für die gegenwärtige Forderung gesicherter Schulden".
Dies Finanzmittel, das die Lasten der Gegenwart auf die Schultern
künftiger Geschlechter wälzt, und daher in den Parlamenten leichter
als Steuern bewilligt wird, gehört, um nicht zu entarten, in die Hand
von Staatsmännern mit höchstem Verantwortungsgefühl. Die preußischen
Minister jener Tage, wie Rother, waren davon durchdrungen und
machten den preußischen Staatskredit in den nächsten Jahrzehnten zu
einem der besten in Europa, allein die volkswirtschaftlichen Folgen
des Schuldenwesens konnten sie weder voraussehen noch verhindern.
Der tiefe Kursstand der Anleihen — die preußischen 4% igen
standen anfangs Juli 18 13 auf 26 — mußte nach dem Frieden die
Spekulation heftig anregen und nach jeder übermäßigen Hinauf-
bewegung blieb der Rückschlag nicht aus. Im März 1816 erreichten
die Schuldtitel 8oV4%, am 1. September 18 18 637s, am 3. Januar 1825
90V2, am 31. Dezember, als die verheißene große Bank nicht zur
Entstehung gelangte, 87%. Vermögen wurden gewonnen und ver-
loren, und manche Kapitale wurden zu Spielzwecken der produktiven
Betätigung entzogen. Da nun von 1820/30 weder in der Landwirt-
schaft, noch in den stoff verarbeiten den Gewerben, noch im Handel
gut und sicher verdient wurde, so wußten auch vorsichtige Privat-
kapitalisten nichts Besseres zu tun, als ihre Ersparnisse in staatlichen
Fonds anzulegen, konnte man doch 6% Zinsen bei dem damaligen
Stand mancher Werte verdienen und hatte noch die Aussicht auf einen
erheblichen Kursgewinn.
^6 !!• Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833
So kam es, daß die vielen neuen Anleihen nicht zurückgewiesen
wurden, und dabei beschränkte sich das Publikum nicht auf die des
eigenen Landes, sondern griff auch bei ausländischen zu. Aus jener
Zeit stammt die erste deutsche Kapitalanlage im Auslande größeren
Umfanges. Sie hat durch das ganze Jahrhundert angedauert und ist
immer dann rasch gewachsen, wenn die produktive Verwendung in
den heimischen Gewerben wenig gute Aussichten hatte.
Österreich brachte 1818 die Metalliques und 1820 zwei Lotterie-
anleihen in Frankfurt a. M. auf den Markt, die zusammen 100 Millionen
Gulden nominell betrugen, zum Teil auch an ausländischen Börsen
gezeichnet wurden. In diese Zeit verlegt man die Geburtsstunde der
Frankfurter Effektenbörse, als die kleinen Anfänge der Vergangenheit
vergessen wurden und so Großes ins Leben trat. Spanische An-
leihen und 2Y2%ige holländische Integrale waren ein beliebtes Um-
satzpapier. Das Bankhaus Parish in Hamburg vermittelte russische
und österreichische Anleihen. In Berlin wurden seit dem russisch-
türkischen Krieg von 1827/29 russische und polnische Papiere ge-
handelt, in Hamburg dänische und skandinavische. In Berlin hatten
181 8 und 22 die Gebrüder Benecke Norweger Obligationen im Be-
trage von 8,7 Millionen M. übernommen.
Die Vermittlung zwischen Staat und Gläubigern besorgten vor-
nehmlich mit eigenem Kapital die Privatbankiers, deren erste Blüte-
zeit in diese Periode fällt. Die öffentliche Ausschreibung konnte
keinen Erfolg haben, da dem Staat der verzweigte Mechanismus dazu
fehlte, und bei den meisten Anleihen es dem Schuldner darauf ankam,
das Geld rasch zu erhalten. So blieb nur der große Bankier, der gegen
hohe Provision von 5 oder 6% die Summe zur Verfügung stellte, und,
da die Kurse auch dann noch oft unter Pari blieben, eine Steigerung
nach einigem Abwarten inszenierte und noch einmal verdiente. Diese
Bankiers waren Leute, die es verstanden hatten, die Kriegszeiten zu
benützen, um reich zu werden. Während der Kontinentalsperre hatten
auch unternehmende Kaufleute durch den Schmuggelhandel große
Vermögen gemacht. Wie der Frankfurter Rothschild durch seine
Beziehungen zu dem Landgrafen von Hessen, als dieser vor den
Franzosen geflohen war, Millionen für ein Jahrzehnt zur freien Ver-
fügung erhielt, die der für seine Kasse vorsorgende Landesvater von
England für seine zum Kriegsdienst verkauften Landeskinder erhalten
hatte, kann man, witzig geschildert, im ersten Kapitel von Immer-
manns Münchhausen, kritisch in der Geschichte des Hauses Rotschild
nachlesen. Ein Hauptgeschäft machte ein Mitglied dieser Familie an
der Londoner Stokbörse, da es den Ausgang der Schlacht von
Waterloo, dem es als Zuschauer beigewohnt hatte, einen Tag früher
kannte als seine Konkurrenten, denen es sein Wissen verheimlichte
V. Staatsschulden und Bankiergewerbe. cj
und diese zu verkaufen veranlaßte, da die Sache schlecht stände. Die
Kriegsgevvinnsteuer war damals noch nicht erfunden worden.
Daß Frankfurt der wichtigste Börsenplatz Deutschlands in dem
hier behandelten Zeitraum wurde, war dem Hause Rothschild an
erster Stelle zu verdanken. Es hatte einen europäischen Ruf und war
durch vier Brüder des Stammhausinhabers in London, Paris, Wien
und Neapel vertreten, von denen zwar jeder für sich wirtschaftete,
aber bei großen Finanzoperationen mit den anderen im Einverständnis
war. Bis 1820 soll die Familie Anleihen bis zu 1200 Millionen
Gulden abgeschlossen haben. In allen großen Städten lebten Bankiers
in Abhängigkeit von dieser Geldmacht, welche die Börsen beherrschte
und in der auswärtigen Politik ein gewichtiges Wort mitzusprechen
hatte. Der Glanz des Hauses war in raschem Aufsteigen und wird
darauf zurückgeführt, daß es überriskante Geschäfte vermied und sich
mit mäßigem Gewinn bei jedem einzelnen begnügte, — das Börsen-
geschäft, sagte einer von ihnen, sei einem kalten Bade vergleichbar,
schnell hinein und schnell hinaus, — und daß die FamilienmitgHeder
einig waren, zu welchem Zwecke ihnen der Begründer des Reichtums
Anschelm Mayer Rothschild im Testament empfohlen hatte, sämtlich
bei ihrem israelitischen Glauben streng zu verharren. Nach fünfzig-
jährigem Bestehen war der Höhepunkt der, wie man ehedem sagte,
„kosmischen" Berühmtheit und der Macht überschritten, gegen die-
jenige mancher Könige verblaßt war. Auf dem Wiener Kongreß
hatte das Bankhaus schon hinter den Kulissen seine Fähigkeit erprobt,
die in den Jahren des Bürgerkönigtums in Frankreich noch wachsen sollte.
Die Großbanken der fünfziger und sechziger Jahre machten dem
Hause schon Schwierigkeiten, seine Unternehmungsfähigkeit büßte
es aus demselben Grunde wie so viele andere berühmte Namen ein. Die
Lebensenergie der Familie erschöpfte sich, einzelne Zweige starben aus
und andere brachten keine Talente und Charaktere mehr hervor. Ver-
wandtenstreitigkeiten, die zu Feindschaften anwuchsen, und übertriebene
Beschäftigung mit anderen Dingen als mit wirtschaftlichen waren nur
ein Ausdruck des Verfalles.
Die Privatbankiers der zwanziger Jahre — in Frankfurt sind ferner
die Gebrüder Bethmann, die Firmen Schmidt, Grunelius & Co.,
Gontard, Metzler, Neufville, GoU, in Berlin die Gebrüder Schick-
ler, S. Bleichröder, J. u. A. Mendelsohn, Benecke, Jacquier,
Securius, in Leipzig Frege & Co. und Reichenbach, in Hamburg
Parish zu nennen — hatten ihr Geschäft ganz auf Emmissionen und
Spekulationen von Staatspapieren eingestellt. Daneben, doch sehr er-
tragbringend an zweiter Stelle stand der Handel mit Wechseln und das
Geldumwechseln. Handel und Industrie hatten kaum Verbindung mit
Bankhäusern. Das Wechseldiskontieren war noch selten, an kleineren
^8 II' Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
Orten überhaupt nicht möglich. Die laufenden Unkosten der Bankiers
waren gering. Für das Effektengeschäft genügte eine mäßige Anzahl
von Kommis und ein Kontor. Noch 1846 wurden in ganz Preußen
nur 1100 Personen ermittelt, die mit Geld- und Kredithandel zu tun
hatten, davon kamen 384 auf Berlin. Das Effektengeschäft entwickelte
bereits vor hundert Jahren alle wichtigen Formen, in denen es sich
auch heute bewegt: das spekulative Zeitgeschäft, das Kaufen gegen
Prämie, die Effektenarbitrage, die Versicherung gegen Kursverlust.
Dazu kam noch das mit den Lotterieanleihen verbundene Promessen-
geschäft. Um die Zahlungen auszugleichen, wozu die Bestände an
Metall- und Papiergeld nicht ausreichten, wurden Ausgleichstellen ge-
schaffen, die dem Londoner Clearing nachgebildet waren, 1823 der
Berliner Kassenverein, an dem sich 1 1 Privatbankiers und ein Agent
als stille Kompagnons beteihgten, 1824 der Leipziger, Der Konto-
korrent-, der Giro- und Depositenverkehr wurde nur ausnahmsweise ge-
pflegt, obwohl sich das Publikum, wie oben erwähnt, lebhaft am
Effektenkauf beteiligte. Wie alle Welt in Frankfurt im Börsengeschäft
verwickelt war, und welche Mannöver vorgenommen wurden, um die
Kurse zu heben und zu senken, schildert Hauff anschaulich in seinen
„Memoiren des Satan", und in Venturinis Chronik von 1850 wird
erzählt, wie man sich um die Tagungen des Bundesstaates wenig ge-
kümmert habe, gar viel dagegen wie man Integrale und Partiale,
Metalliques und Inskriptionen, Kortes und Kanzbillets, Aktien, Fal-
conetts und Rothschilds notiere, wie man Lügengeschichten aussprenge
zur Erhaschung Yg ^j^ in Mise, Diskonto und Agio, und wie überhaupt
die' Staatsangelegenheiten beurteilt würden eigentlich nur in Rücksicht
auf die Staatspapiere.
Das Judentum, welches damals im Bankgeschäft hochgekommen
ist, fühlte sich 20 oder 30 Jahre später als die Aristokratie unter den
Glaubensgenossen, und war es auch im geistigen Sinne, in Sitte und
Lebensauffassung, als sich manche dieser reichen Leute vom Geldge-
schäft auch höheren Lebenszwecken zugewandt hatten. Die von Osten
herandrängenden Kleinhändler gleicher Rasse wurden von ihnen wenig
geachtet. Aber das neue Element wartete nur auf die Zeitumstände, sich
vom Vieh- und Kleinhandel zur Börse emporzuschwingen, um dann
manche jener alten Familien unter kulturloser Rücksichtslosigkeit aus
dem Sattel zu heben. In dem Hermannschen Roman „Jettchen
Gebert" ist dieser Vorgang für Berlin anschaulich neuerdings ge-
schildert worden.
VI, Die Gründung des Deutschen Zollvereins Es kann
nicht die Aufgabe dieser wirtschaftsgeschichtlichen Skizze sein, dem
Entstehen des Zollvereins in seinen vielen Versuchen und schwanken-
den Erfolgen, ausgleichenden Verhandlungen und dunklen Intrigen
VI. Die Gründung des Deutschen Zollvereins.
59
offizieller und geheimer Agenten, patriotischen und partikularistischen
Wünschen, persönlichen Eigenwilligkeiten, Nachgiebigkeiten, kurzfristi-
gen Verträgen und Vertragsbrüchen in seinen Einzelheiten nachzugehen,
was alles wiederholt, am anschaulichsten in H. von Treitschkes
Deutscher Geschichte erörtert worden ist. Wir beschränken uns darauf,
die wichtigsten Vorgänge von i8ig — 1836, soweit sie für die wirt-
schaftliche Einheit bestimmend waren, und die Kräfte, die ihr freund-
lich und feindlich gesinnt waren, darzustellen.
Ein Zollverein mit innerer Verkehrsfreiheit und gemeinsamer
Zollgrenze auf weitem Gebiete, wie es Deufschland auch ohne Öster-
reich war, mußte für die angeschlossenen Glieder eine Reihe von
leicht faßlichen Vorteilen bringen, wie sie der Großstaat bietet, während
die politische Selbständigkeit der Einzelstaaten nur vertragsmäßig, zu-
nächst keineswegs weitgehend und wegen der zeitlichen Beschränkung
nicht prinzipiell eingefügt zu werden brauchte. Je kleiner die Staaten
waren, um so sichtbarer erschien der Nutzen. Wenn Preußen demnach
verhältnismäßig am wenigsten zu erwarten hatte, und es dennoch die
ganze Sache gemacht hat, so mußte es noch andere Gründe als wirt-
schaftliche und finanzielle haben. Die preußischen Urheber des Werkes
Motz und Maaßen, neben denen Eichhorn und Kühne zu nennen
sind, erkannten sie wohl. Der Zollverein galt ihnen als die Vorstufe
der deutschen Einheit unter preußischer Führung. Aber gerade das
letztere war es, was die Kleinstaaten nicht wollten, so daß sie ihren
eifersüchtig partikularistischen Dünkel den ökonomischen Lebensbedürf-
nissen nur zu gern voranstellten. Aber schließlich waren diese letz-
teren doch so dringend geworden, daß der Widerspruch gegen das
Einheitswerk nach und nach verstummen mußte. Der Zollverein hat
mehrere schwere Krisen durchgemacht, aber stets ist es zur Auflösung
nicht gekommen, weil der Zwang des wirtschaftlichen und finanziellen
Lebens die Übermacht behauptete.
Die Finanzlage der Staaten war in den meisten Fällen die
erste Veranlassung zu Vereinbarungen. Es fehlte an Einnahmen.
Das kleine Zollgebiet kostete zo viel zu bewachen, daß die Reinerträge
der Zölle dahinschwanden. Geht man von der Berechnung aus, die
von den tatsächlich oft ausgezackten Grenzen absieht, daß eine Grenz-
meile so viel zu bewachen kostet, als eine Quadratmeile an Rohertrag
einbringt, so entfallen auf eine quadratische Fläche von 10 Meilen Grund-
linie z. B. 40%, von 100 Meilen nur 4% auf die Erhebung. Kurhessen
mit seinen 154 Quadratmeilen besaß 154 Meilen Zollgrenze, so daß
von der Zollerhebung fast nichts als der Betrag der Durchfuhrzölle
übrig blieb. In Hessen-Darmstadt erklärte die Regierung einen großen
Zollverein für eine unaufschiebbare, finanzielle Notwendigkeit, der
bayerisch-württembergische hatte in den Jahren 1829 — 1831 44% Kosten
5o II- Abschnitt. Die Zeit von 1815— 1833.
der Roheinnahmen verschlungen. Im Deutschen Zollverein minderte
sich der Aufjvand für Bayern zuerst auf 16, dann 10%. Das lang-
gestreckte Baden war fast zum Freihandel übergegangen, weil es die
Kosten des Grenzschutzes nicht tragen konnte.
Die indirekten inneren Verbrauchsabgaben waren in jedem Lande
besonders geartet. Das bereitete unzählige Scherereien an der Grenze,
wenn ein besteuerter Gegenstand wie Bier, Wein, Tabak, Salz ein-
gebracht wurde, wodurch die Erträge der Steuer sanken. Ganz ließen
sich diese Steuerschwierigkeiten in den Verträgen nicht beseitigen,
da sich die Steuern historisch eingelebt hatten. Es sind daher leicht
zu berechnende und zu verwaltende Ausgleichs- oder Ubergangsab-
gaben in einzelnen Fällen beibehalten worden.
Ein verderbliches Übel war der verbreitete Schmuggel und der
organisierte Schmuggelhandel, der die Moral des Volkes vergiftete.
Manche kleinstaatlichen Regierungen unterstützten ihn und richteten
ihre Zollpolitik darauf ein. Der Schleichhandel aus den anhaltischen
Gebietsteilen nach Preußen war zu einer wahrhaft erschreckenden
Größe angewachsen. Während die anhaltische Bevölkerung 9 pro Mille
der preußischen betrug, verhielt sich auf den Kopf die zollfreie Ein-
fuhr auf der freien Elbe zu der preußischen wie das Siebenfache zum
Einfachen. Solche finanziell unmöglichen Zustände konnte nur die
Beseitigung der inneren ZolHnien abändern. Die Landesgrenzen in
Thüringen oder zwischen Württenberg und Baden waren im Gebirge
gelegen und schwer war der Geheimhandel zu hindern. Die Anlage
von Zollstraßen unterblieb in manchen Staaten weil es an Geld fehlte,
und ein Grenzzollbezirk mit besonderen Maßnahmen konnte nicht er-
richtet werden, weil kein Raum dazu vorhanden war.
Die wirtschaftlichen Vorteile des Vereins waren nicht so durch-
sichtig wie die finanziellen und traten auch später nicht so schnell
hervor. Die produktiven Entwicklungen brauchen ihre Zeit. Den be-
troffenen Geschäftsleuten mangelte es während der Verhandlungen gar
zu oft am Verständnis für weitausschauende Pläne des Gesamtzustandes.
Viele sahen nur das Nächstliegende und wußten kleine Ausfälle in
der Gegenwart nicht gegen die großen Zukunftsmöglichkeiten abzu-
wägen. Die Kaufleute der Leipziger Messe fürchteten ihren Ruin,
wenn der Zoll etwas höher werde als bisher oder glaubten kleinmütig,
daß sie trotz ihrer großen Kapitalkraft mit Naumburg oder Frank-
furt a. O. nicht zu konkurrieren vermöchten, da der Staat diesen Orten
einige Privilegien gewährt habe. Die süddeutschen Weber meinten,
daß eine kleine Steigerung des Garnzolles ihnen das Geschäft ver-
derben werde, soweit es auf schweizerischem und elsässischem Baum-
wollgarn aufgebaut war, die Badener, daß ihnen aus dem von ihnen
VI. Die Gründung des Deutschen Zollvereins. 5j
gepriesenen Freihandel der Durchgangsverkehr ihres schmalen Ge-
bietes verloren gehen werde.
Eins mußte freilich jedermann einleuchten: Dem Auslande gegen-
über konnte ein großer Zollverein ganz anders auftreten, als es unter-
einander uneinige Kleinstaaten wagen durften. Daher haben sich
England und Frankreich redlich bemüht, alle Unionspläne zu hinter-
treiben, und Österreich schloß sich ihnen an, das dabei noch seinem
politischen Sonderwunsche nachging, seinen Einfluß im deutschen
Bunde nicht zu verlieren. „Ihr habt nicht recht", rief man im briti-
schen Parlament den preußischen Staatsmännern zu, „mit anderen
deutschen Staaten Verträge zu schließen, die dem englischen Handel
zum Nachteil gereichen". Die Gesandten und Konsuln der orleanisti-
schen Regierung boten den Kleinstaaten Handelsverträge an und be-
mühten sich durch tausend kleine Mittel die Vereinsverhandlungen zu
stören. Der Staatskanzler Österreichs, Fürst Metternich, hatte sich
anfangs über die Wichtigkeit der Vorgänge und die handelspolitische
Not der Kleinstaaten getäuscht und rechnete auf deren Eigensinnigkeit.
Je mehr indessen das Einigungswerk fortschritt, um so mehr war er
bemüht, dagegen den „geheiligten Deutschen Bund" auszuspielen. Immer
bis 1866 ist Österreich dem deutsch-nationalen Gedanken offen oder
geheim feindlich gewesen.
So hatten es die preußischen Staatsmänner wahrhaftig nicht leicht
und die Schwierigkeiten wurden noch verstärkt durch die Befehdung
seitens der liberalen Parteien im Süden und in der Mitte des Vater-
landes. Im Innern des Staates hatten sie wenigstens Freiheit, da bei
dem Fehlen einer allgemeinen Volksvertretung die Gegnerschaft nicht
zu Worte kam. Mit Recht ist gesagt worden, daß nur durch den
preußischen Absolutismus die Handelspolitik jener Tage gelungen ist.
Aber gerade diesen haßten die süddeutschen Demokraten am meisten
und stellten ihre Parteidoktrinen höher als das nationale Wohl. Die
Ultramontanen unterstützten sie eifrigst in enger Fühlung mit den
österreichischen Diplomaten. Die Fürsten und ihre Minister hatten
mehr Sinn für das, was ihren Staaten so nötig war, aber nur zögernd,
schrittweise wichen sie von ihrer partikularistischen Selbstherrlichkeit
zurück.
Der Körner bauenden Landwirtschaft war an dem Verein
nichts gelegen. Sie arbeitete vorzugsweise für den Nahabsatz und von
einer auswärtigen Konkurrenz war damals nicht die Rede, Soweit sie
ausführte, wie in den Staaten der Nord- und Ostsee, neigte sie dem
Freihandel zu. Der für die Industrie gemäßigte preußische Zolltarif,
der auch für den Verein gelten sollte, entsprach übrigens im ganzen
ihren Wünschen, so daß es nicht zu einer offnen Gegnerschaft kam.
Daß ein starker Zollverein mit seinen Handelsverträgen das beste
52 n. Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
Mittel war, für sie den Absatz im Auslande vorzubereiten, wurde kaum
erkannt. Für die Woll-, Wein-, Tabakerzeuger hingegen war das Fallen
der Binnenschranken von leicht sichtbarem Nutzen. Der Wein von
Hessen-Darmstadt, Nassau, Baden und der Pfalz mußte in Norden und
Osten um so mehr gekauft werden, je mehr er dort dem französischen
und spanischen einen Wettbewerb bereiten konnte.
Im Vordergrund aller Betrachtungen stand die Industrie. Sie
bedurfte des Schutzes gegen das Ausland und konnte nur auf einem
großen, freien inneren Markt erstarken. Vermehrter Absatz bedeutete
für sie vertiefte Arbeitsteilung innerhalb der Fabriken, Spezialismus für
viele der Werke in der Volkswirtschaft und Zunahme des Großbetriebes.
Schon 18 17 waren in Leipzig Fabrikanten zusammengetreten, um Ab-
wehrmaßregeln gegen England zu beraten, 18 19 war auf der Frühlings-
messe zu Frankfurt a. M. von 5 — 6000 Fabrikanten und Kaufleuten
ein Verband gegründet worden, „der die Aufhebung aller Separatdouanen
und die Stiftung eines Handels- und Douanensystems" bezweckte. Der
geistige Führer war der hochtalentierte, agitatorisch ungemein reg-
same, auch theoretisch originelle Friedrich List gewesen. Seine
Beweisgründe waren packender Art, da er seine historischen Vergleiche
mit Sicherheit zog und das verhaßte, den Verkehr hemmende Schreiber-
regiment und die Borniertheit der Kleinbürger heftig angriff. Hatte
doch z. B. im gleichen Jahre der Handelsstand in Reuthngen, seiner
Vaterstadt, auf Anfrage der Regierung über den Verfall der dortigen
Gerberei erklärt, der Grund liege darin, daß die Juden den Bauern bei
Lebzeiten des Viehes die Häute abkauften und sogar ein Schneider in
einem benachbarten Dorfe mit Leder handele.
Dem Werden des deutschen Zollvereins hat List durch seine
Ausführungen unschätzbare publizistische Dienste geleistet, bei der
unmittelbar politischen Ordnung der Dinge hat er versagt. Er ist ihr
sogar gelegentlich hinderlich geworden. Mit seinem Fabrikantenverein
wandte er sich an den Deutschen Bund, von dem nicht das Geringste
zu erhoffen stand, da Österreich mit seiner Prohibitionspolitik damals
nicht entfernt daran dachte, der Sache näher zu treten und alle Er-
weiterungen der Bundeskompetenz heftig bekämpfte. Von seiner
Heimatregierung wegen politischer Opposition verfolgt, lebte List
mehr als ein Jahrzehnt als Flüchtling im Auslande und lernte die
Volkswirtschaften Englands, Frankreichs, der Schweiz und Nord-
amerikas gründhch kennen, wodurch seine handelspolitische Einsicht
vertieft wurde, durch die er seinen Landsleuten, die die Scholle nicht
verlassen hatten, gewaltig überlegen wurde, als er endlich zurückkehrte.
Er war für die Zollvereinssache theoretisch bedeutender als der
mehr praktische K. F. Nebenius, der auf mehreren Gebieten des
Finanz- und Wirtschaftslebens, wie durch sein Programm des gewerb-
Vi. Die Gründung des Deutschen Zollvereins. 63
liehen Unterrichts, seinem Vaterlande Baden ein Pfadfinder und Neu-
ordner geworden ist, und dessen staatsmännischer und nationaler Ein-
sicht der Anschluß Süddeutschlands an des nördhche Zollsystem mit
zu verdanken ist. Seine allgemeinen Betrachtungen gingen aber über
die Wissenschaft seiner Zeit nicht hinaus, während die Listschen für
Jahrzehnte nicht aufgehört haben, umgestaltend zu wirken.
Wenn ein großes inneres Freihandelsgebiet geschaffen wurde, so
meinte man, würden die bestehenden Industrien sehr verschieden be-
troffen werden. Diejenigen, die am höchsten ausgebildet wären, würden
gewinnen und die zurückgebliebenen in der Konkurrenz unterdrückt
werden. In Süd- und Südwestdeutschland, in Bayern, Württemberg,
Hessen, der Pfalz, Baden war wohl unter der Kontinentalsperre
mancherlei Industrie entstanden oder gekräftigt worden, aber sie be-
wegte sich als fabrikmäßige auf schmaler Grundlage und hatte viel-
fach noch die handwerksmäßig-heimindustrielle Form, wie die Töpferei
in Bayern, die Holzverarbeitung im Schwarzwalde, die Weberei über-
all. Sie erzeugte vorwiegend für den Nahverkehr, so daß die Be-
völkerung, was auch für Wein, Malz, Tabak, selbstverständlich für
die Lebensmittel galt, das vorzugsweise verbrauchte, was dem heimischen
Boden entnommen war. Nur einige Halbfabrikate und Verbrauchsartikei
des Auslandes waren von besonderer Wichtigkeit, wie Garn aus dem
Elsaß und der Schweiz, Kupfer für die bayerischen Braugefäße und
für die Nürnberger Industrie zur Nachahmung von Gold- und Silber-
draht; Kolonialwaren, insbesondere Zucker, der im Inlande nicht ge-
wonnen wurde, und Luxusgegenstände, z. B. feinere Gewebe aus Baum-
wolle und Seide. Diese Einfuhrgegenstände wurden niedrig bezollt
und die Verbraucher entwickelten eine heftige Gegnerschaft gegen
die Heraufsetzung des Tarifs, wie sie das preußische Zollgesetz von
1818 als Vorbild für den Vereinstarif bringen mußte. Anders lagen
die Produktionsverhältnisse im Rheinland, Westfalen, einigen thü-
ringischen Gebieten, in Schlesien, im sächsischen Erzgebirge, Voigt-
lande, der Lausitz. Hier wurde über den heimischen Bedarf hergestellt,
der Absatz wurde nicht nur in den Nachbargebieten, die sich durch
Grenzzölle zu schützen suchten, sondern auch im nationalfremden Aus-
land gesucht. Der Rübenzucker im Magdeburgischen und in Schlesien,
die Eisenfabrikate im westlichen Preußen, die Garnspinnereien waren
unter dem Zoll gehoben worden, den sie dem Ausland gegenüber
nicht entbehren konnten, und nun fürchteten die Staaten, die in gleichen
Geschäften nicht konkurrieren konnten, daß sie von den fortgeschrit-
tenen Mittelpunkten der Industrie mit Waren überschwemmt werden
würden. In Preußen sahen die Fabrikanten mit Sorgen auf das mög-
liche Vordringen der Webereien und Druckereien des Erzgebirges,
deren niedrige Löhne bei der geringen Lebenshaltung der Arbeiter
54 II- Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
die Ware billig auf den Markt zu bringen gestattete, in Hessen auf
die Zufuhr aus Thüringen, in Baden, Württemberg und Bayern auf
die vom Rheinland und Westfalen, wo überall im Gedränge des nahen
Wettbewerbes und unter gegenseitiger Anregung ein Fortschritt den
' andern jagte. In Nassau, wo man nur mit Rebgärten und Mineral-
wasserbrunnen geschäftliche Zwecke größeren Umfanges verband,
wollte man überhaupt keine Industrie haben und Fabrikate da ein-
kaufen, wo sie am billigsten zu haben waren. Das war im Ausland.
In Frankfurt a. M. dachte man nicht anders, da alle wirtschaftliche
Tätigkeit sich im Zwischenhandel und Geldgeschäft verdichtete. Jeder
Kleinstaat hatte seine Zollpolitik nach seinem augenblicklichen Wirt-
schaftszustand eingerichtet, und der Sinn für die Zukunft, an dem es
ja nicht immer fehlen mochte, wurde durch Klagen der Erwerbsstände
über geplante Neuerungen übertäubt.
Der Handel schloß sich den Ansichten der Industrie an, soweit
er sich auf diese eingerichtet hatte. In Süddeutschland hatte er Be-
ziehungen zu Frankreich, der Schweiz, zu Österreich und Italien, die
er in dem großen Zollgebiet einzubüßen glaubte, ohne die Möglichkeit
des Ersatzes zu erwägen. In Frankfurt a. M. sah man mit den
Neuerungen die englische Einfuhr von Bremen, in Leipzig die von
Hamburg schwinden. Manche Kaufleute waren am Schleichhandel
reich geworden und dachten sorgenvoll an das Versiegen dieser un-
lauteren Quelle. Andere verdienten am Durchfuhrhandel fremder
Waren, die nun nicht mehr so billig eingehen sollten. Die Leipziger
und Frankfurter Messen prophezeihten sich ihren Untergang, wenn
ihre ausgelegten Waren höher bezollt würden als bisher.
Allerdings gab es auch Kaufleute, die sich den Vorteilen des
weiten inneren Freihandels nicht verschlossen. Die Aufhebung der
Binnemauthen mußte der Freiheit der Bewegung ebenso von Nutzen
sein wie die Erleichterung aller Preisberechnungen, wenn nur ein
einziger dauernder Außenzoll vorhanden war. Sie waren in der Minder-
heit, die Mehrheit meinte, daß die Staatsmänner am grünen Tisch nicht
Sachverständige seien und verwechselten ihre augenblicklichen Sonder-
wünsche mit den bleibenden der Nation.
Als nach einem Jahrzehnt des Bestehens des Zollvereins sich alles
ganz anders gestaltet hatte, als ehedem die angsterfüllten wirtschafthch
Zunächstbeteiligten gefürchtet hatten, wollte keiner was gesagt haben.
Es ist zugegeben, daß hier und da ein Geschäftsmann unter der Neu-
ordnung der Dinge Verluste gehabt hat. Das waren vor allem solche,
die die persönliche Befähigung sich anzupassen nicht gehabt hatten.
Im ganzen wurde die deutsche Wirtschaftskraft überall gehoben, von
einer Erdrückung einzelner Erwerbszvveige konnte keine Rede sein.
Überall überragten die gewonnenen Vorteile die geringen Einbußen.
VI. Die Gründung des Deutschen Zollvereins. 5 5
Man muß sich in die Verhältnisse jener Zeit hineinversetzen, um
es zu verstehen, daß die Nachteile der Neugestaltung für die örtlich
oder sachlich ungünstig Betroffenen so gering ausgefallen sind. Viele
Erzeugungsarten waren noch im Anfang, eigentlich im ersten Ent-
stehen und überall noch so im kleinen betrieben, daß eine Ausdehnung
der Konkurrenz sich mit dem Sinken der inneren Zollschranken nur
langsam und schwer fühlbar machte. Von einer Warenüberschwemmung
wird nirgends berichtet. Es kam hinzu, daß die Transporteinrichtungen
noch unvollkommen waren und der Versendung in die Ferne ein
Hemmnis bereiteten. Das wurde erst anders, als die Eisenbahnen ge-
baut wurden. Es war ein günstiger Umstand für den Zollverein, daß
dieses umwälzende Ereignis noch einige Jahre ausstand, während
welcher sich ein Einleben in die neuen Zustände vollziehen konnte.
Um 1833 brachte der befreite innere Verkehr eine solche Summe
von ungenutzten ökonomischen Energien in Bewegung, daß ungünstig
erfaßte Gegenden sich in neuen Gewerben und Umwandlungen, der
veränderten Rechtslage entsprechend, leicht versuchen konnten, außer-
dem verbürgte das vergrößerte Absatzgebiet die Sicherheit, daß un-
beschäftigte Arbeitskräfte und Kapitalien in den bevorzugten Betrieben,
erstere bei der noch bestehenden Beschränkung der Freizügigkeit
wenigstens in jedem Einzelstaat, unterkommen konnten, falls eine Ge-
schäftsaufgabe überhaupt nötig war.
Endlich ist auch nicht zu vergessen, daß namentlich von preußischer
Seite berechtigte Bedenken der Vereinsglieder anerkannt wurden und
unter sorgfältiger Abwägung von Für und Wider, weitgehendes Ent-
gegenkommen gezeigt wurde. Die Steuerfragen wurden durch Aus-
gleichsabgaben aus der Welt geschafft, Frankfurt a. M. wurde bei der
Verteilung der gemeinsamen Einnahmen durch ein Präzipuum be-
günstigt, Baden das erwünschte Grenzzollgebiet gewährt, der Leipziger
Messe Einfuhrerleichterungen zugestanden.
Durch das preußische Zollgesetz von 18 18 wurden zahlreiche
kleine Staaten, die von Preußen ganz oder bezüglich einzelner Landes-
stücke umschlossen waren, geschädigt. Wollten sie untereinander oder
mit dem Ausland in Verkehr treten, so hatten die Waren die fremde
Zollinie zu überschreiten und Durchfuhrabgaben zu entrichten. Wenn
sie in Preußen einkaufen wollten, was dort verzollt war, so kam der
Zoll allein der preußischen Kasse zugute. Diesen Enklaven blieb
nichts übrig, als sich im Wege des Zollanschlusses der fremden Ver-
waltung zu unterwerfen, wofür sie aus den Zollerträgen einen Anteil
erhielten, der nach der Kopfzahl ihres Gebietes bemessen wurde. Der
erste Vertrag fand 18 19 mit Schwarzburg-Sondershausen statt und
A. Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 5
66 II- Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
wurde für spätere Anschlüsse typisch. 1822 folgte Schwarzburg-
Rudolstadt, 1828 Sachsen- Weimar und Eisenach für zwei Ämter, 182Ö
Lippe und Mecklenburg-Schwerin für einige Gebietsteile. Erst nach
langen Verhandlungen und widerwärtigen Streitigkeiten entschlossen
sich 1828 die Anhaltschen Häuser zu ähnlichen Bedingungen.
Auch größere Staaten waren durch das Gesetz in Verlegenheit
gekommen. Orten wie Nürnberg, Leipzig, Augsburg wurde z. B. der
Absatz in Preußen erschwert, oder wenn etwa Hannover mit Sachsen
oder Mecklenburg mit Thüringen Handel treiben wollten, hatten die
Kaufleute Durchgangsabgaben zu entrichten. Bei den Beratungen der
Wiener Schlußakte, welche die Bundesverfassung ergänzten, wurden
solche Beschwerden laut, das preußische Gesetz wurde angegriffen, da
es dem Art. 19 der Bundesakte widerspreche, der den wirtschaftlichen
Verkehr im Bundesgebiet regeln sollte. Freilich mit Unrecht, da nichts
in dessen Sinn geschehen, und jeder Staat in Zollsachen souverän war.
Da sich der Bund nun ganz unfähig erwies, eine handelspolitische
Aufgabe zu lösen, so gab es für die Kleinstaaten nur die beiden
Wege, entweder sich mit Preußen zu verständigen oder sich zu einem
Zollverein ihrerseits zusammenzuschließen. Den letzteren beschritten
Hannover, Kurhessen, Sachsen, Braunschweig, Nassau, Frankfurt a. M.,
Bremen und thüringische Kleinstaaten mit dem mitteldeutschen Verein,
der keinen Bestand hatte und bald von den Vertragsschließenden
willkürlich gebrochen wurde. Den anderen wählte 1828 Hessen-Darm-
stadt, als mit Preußen der erste Zollverein zum Abschluß gelangte.
Das Großherzogtum grenzte zwar nur mit einem schmalen Streifen
an das westliche Preußen an, die Vereinigung war aber beiden wert-
voll, da sie beide handelspolitisch vergrößert wurden. Die Vorteile,
finanzieller Art, waren besonders auf hessischer Seite, für Preußen war
der Vertrag für seine Politik, die darin bestand, nur im Wege der
Einzelverhandlung schrittweise fortzuschreiten, ein erster Erfolg. Auf
diese Weise konnte es stets eine Überlegenheit gegen den an Raum,
Bevölkerung und Wirtschaftskraft unterlegenen Vertragsschließenden
geltend machen, seine Einrichtungen, besonders den Zolltarif, behaupten
und durch wertvolle Zugeständnisse den andern nachgiebig machen.
In dem hessisch-preußischen Abkommen, das für alle späteren vor-
bildlich geblieben ist, kommen die Grundsätze zur Anwendung, daß
in jedem Lande die Zollverwaltung selbständig ist, jedoch nach dem
Zollgesetz von 18 18 geführt wird, und daß die Zollerträge nach der
Bevölkerungszahl verteilt werden sollen. Nach einer Reihe von Jahren
ist der Vertrag beiderseits kündbar. Bei allen Neuerungen der Handels-
politik und des Zollwesens ist die Übereinstimmung beider Parteien
erforderlich. Handelsverträge mit dem Ausland schließt Preußen als
Vormacht ab, jedoch hatte jedes Vereinsmitglied das Recht, zuzustimmen
VI. Die Gründung des Deutschen Zollvereins. 5?
und abzulehnen. Diese somit behauptete Freiheit hatte darum weniger
Bedeutung, da Preußen in der Regel erst nach Anhörung der Wünsche
der Vereinsgenossen vorging, und da die etwa mangelnde Zustimmung
die Union zu gefährden drohte, an der allen um so mehr lag, je länger
sie sich einbürgerte. y
Auch Bayern und Württemberg schlössen 1827 einen Sonderverein,
der sich als zu klein erwies. Man wußte in Bayern, wo man keine
Wasserwege nach Norden und Nordwesten, also in bezug auf Ein- und
Ausfuhr es von Natur nicht leicht hatte, um so weniger je südlicher
die Konsumtion und die Produktion gelagert waren, recht wohl, daß man
politischen Hemmnissen des Verkehrs entgegenzutreten hatte. Erklärte
doch von Utzschneider, als Referent für das Bankgesetz von 1822:
„Wir haben keinen auswärtigen Handel, und keinen inneren Verkehr,
wie England, Frankreich und Österreich, wir sind eine von allen Seiten
durch Prohibitivsysteme zusammengedrängte Nation, die viel vom Aus-
lande bedarf, daß noch mehr an dasselbe zu bezahlen hat als sie von
demselben einnimmt. Unser Ackerbau liegt darnieder, unsere Gewerbs-
leute sind ohne Arbeit; Intelligenz, Betriebskapital und Absatz fehlen."
Es folgte 182g eine Annäherung beider Südstaaten an Preußen-Hessen
in einem Handelsvertrag, in dem die künftige Zollunion in Aussicht
genommen wurde. 1833 kam der Abschluß derselben zustande. Von
dem mitteldeutschen Verein schloß sich Kurhessen zuerst an Preußen
an, was diesem besonders wichtig sein mußte, weil dessen beide ge-
trennten Landesteile jetzt verbunden wurden, dann kamen die thüringischen
Staaten, die sich zuvor zu einer Einheit gestalteten und als solche Mit-
glied wurden. Sachsen, Baden, Nassau und Frankfurt a. M. sind bis
1836 hinzugetreten, letzteres, nachdem es durch einen Handelsvertrag
mit England, Nassau mit einem solchen mit Frankreich das Einigungs-
werk erschwert hatte. Badens Landwirtschaft in Handelsgewächsen,
Wein, Tabak, Zichorie, Krapp, Hanf, Hopfen und Ölsamen war durch
den von vorhergehenden Anschluß von Hessen-Darmstadt und der
bayerischen Pfalz im Westen und Norden schlimm getroffen worden,
da sie unter gleichen klimatischen Bedingungen wie diese Länder
produzierte und nun auf den heimischen Verbrauch fast allein an-
gewiesen war. Um 1840 war die Ausfuhr schon wiedergewonnen
worden.
Somit war das innere deutsche Freihandelsgebiet auf 8253 Geviert-
meilen mit 25 Millionen Einwohnern angewachsen. Die Grenze betrug
1064 Meilen Länge, das waren q Meilen weniger, als Preußen 18 19
zu bewachen hatte. Eine finanzpolitische Sonderstellung der Zollvereins-
staaten machten die vorhandenen Monopole auf Salz und Spielkarten
nötig. Ferner wurden für einige besteuerte Verbrauchsgegenstände,
wie Bier, geschrotetes Malz, Traubenmost, Wein, Tabak und Brannt-
5*
58 n. Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
wein bei der ungleichen Belastung die schon erwähnten Übergangs-
abgaben eingerichtet. Das Gebiet der Erfindungspatente und anderer
Privilegien wurde nicht berührt.
Die Organisation der Zollbehörden und deren Ernennung im
deutschen Zollverein stand jedem Vereinsstaate zu, der die daraus er-
wachsenden Kosten zu tragen hatte, mit Ausnahme derjenigen des
Grenzschutzes, die von den erhobenen Gefällen in Abzug kamen. Durch
Vereinskontrolleure nahmen die Regierungen gegenseitige Einsicht in
die Tatsachen der Verwaltung. Auf den jährlich einmal zusammen-
tretenden Generalzollkonferenzen wurde endgültig abgerechnet, unaus-
geglichene Beschwerden kamen hier zur Erledigung, und Abänderungen
des Tarifs und die Handelsverträge mit dem Auslande standen zur
Beratung. Alle Beschlüsse setzten die Einstimmigkeit dem völker-
rechtlichen Verein gemäß voraus. Preußen hatte rechtlich nicht mehr
zu sagen als Frankfurt a. M. Tatsächlich bestand die Überlegenheit
der großen Staaten, wenn sie auch der Willfährigkeit der kleinen oft
erst nach langem Feilschen gewinnen konnten. Die größeren Staaten
waren aber keineswegs immer gesonnen, untereinander nachzugeben,
und so blieben notwendige Reformen wiederholt ausgeschlossen. Das
Wirtschaftsleben verschob sich, und demgemäß konnte die Tarifänderung
nötig werden. Der Majoritätsbeschluß bestand nicht, so daß die weiteren
Gesichtspunkte einer nationalen Handelspolitik nur dann durchdringen
konnten, wenn sie durch Sondervorteile der Widerstrebenden erkauft
und damit abgeschwächt wurden. Nur dadurch, daß die preußischen
Staatsmänner von dem Gedanken beseelt waren, daß ihrem Staate
die politische Führung in Deutschland dereinst zufallen müsse, ist es
verständlich, daß sie bis aufs äußerste nachgiebig und zu Opfern bereit
gewesen sind, die vom Standpunkte des staatlichen Egoismus kaum
zu rechtfertigen waren. Allerdings war mit der Präsidialstellung Preußens
im Zollverein diesem Staate auch ein Zukunftsvorteil erwachsen.
Seine Minister und Räte lernten nicht bloß alle wirtschaftlichen Eigen-
heiten und Einzelheiten der Vereinsländer kennen, sondern übten sich
auch in der richtigen Behandlung der Bundesgenossen. So ist der
Zollverein für sie eine wertvolle Vorschule der politischen Verwaltung
des späteren Reichs geworden. Blieben solche Vorgänge auch der
ÖffentHchkeit verborgen, so fehlte es jedoch nicht an einigen offen-
sichtlichen Zukunftsideen, welche in die Verträge mit aufgenommen
wurden. Die Vereinsstaaten verpflichteten sich, für ein gleichmäßiges
Münz-, Maß- und Gewichtswesen zu sorgen, die Wasserzölle zu ver-
mindern, eventuell aufzuheben, und die Weg-, Chaussee-, Kanal-,
Schleusengelder möglichst nach dem Gebührenprinzip zu erheben.
Der gehässige Staatspartikularismus, den die Befreiungskriege
zurückgedrängt hatten, war aus den Streitigkeiten der Frankfurter
VI. Die Gründling des deutschen Zollvereins. 5g
Bundesversammlung rasch wieder hervorgewuchert, und die Verhand-
kmgen über den Zollverein zeigten die Giftpflanze in ihrer vollen
Blüte. Und dennoch muß man sagen, was für die Beurteilung anderer
Zollvereine späterer Tage nicht zu übersehen war, daß der deutsche
Verein in der kulturell nationalen Einheit des Volkes eine wichtige
Vorbedigung seines Entstehens und später seines Gedeihens gehabt
hat. Die Gemeinsamkeit der Sprache, der Literatur, die gemeinsame
geschichtliche Überlieferung, das Verständnis für die großen Deutschen
der Vergangenheit führten indirekt zu mancher Verständigung, ohne
daß besondere Beweise dem gegebenen Empfinden hinzugesetzt zu
werden brauchten. Ein deutscher Zollverein ist etwas anderes als ein
solcher, in dem neben den Deutschen Polen, Ruthenen, Magyaren, Slo-
venen, Tschechen und andere mehr mitzureden haben.
Und dann noch dies: Der deutsche Verein war nicht nur eine
wirtschaftliche Angelegenheit. Die nationale Unterströmung haben
manche hervorragenden Männer, die das große Werk in den dreißiger
Jahren vollendeten, in sich empfunden, mochten sie auch ihren Ge-
fühlen eine noch so verschiedene Form verleihen: der feurige Motz,
der bedächtige weitblickende Maaßen in Preußen, die führenden
Minister der größeren Einzelstaaten, wie Du Thil in Hessen-Darm-
stadt, von Zeschau in Sachsen, von Mieg in Bayern. Auch die
ökonomischen Denker, wie List und Nebenius hielten unentwegt
den Blick auf die außerdeutschen Großstaaten und deren Freude an
jeder Störung der deutschen Verständigung. Endlich verdankt auch
das deutsche Volk einigen seiner Fürsten die Mitwirkung ihrer
patriotischen Gesinnung: dem König Ludwig I. von Bayern und
König Wilhelm von Württemberg und Karl August von
Weimar. Von Friedrich Wilhelm III. von Preußen bemerkt
Treitschke, daß die Pflicht der historischen Gerechtigkeit zu dem
Urteil nötige, daß nur das feste Vertrauen auf des Königs unverbrüch-
liche Treue die deutschen Fürsten bewegen konnte, ihre Souveränität
freiwillig zu beschränken.
Es ist ein müßiges Beginnen, abwägen zu wollen, wieviel Ver-
dienst einem jeden der genannten Männer bei der Schaffung des
Vereins zuzusprechen ist. Sie alle haben in sehr verschiedener Weise
und auf ungleichen Gebieten angeregt, geraten, beschlossen, gehandelt.
Der Zollverein ist aus dem tiefen Bedürfnis des deutschen Volkes nach
wirtschaftlicher Einheit heraus eine gemeinsame Forderung gewesen;
ein Glück für uns war es, daß wir über tüchtige Köpfe und feste
Charaktere verfügten, die leitend die Zügel in die Hand zu nehmen
oder die Fahrstraße für den Wagen zu ebnen vermochten, der dem
Ziele, das als ideales bei vielen geistig höher veranlagter Deutscher
Verständnis gefunden hatte, entgegenrollen sollte.
yo II. Abschnitt. Die Zeit von 1815 — 1833.
Es waren nicht bloß Staatsmänner, die die hochpolitische Sache
des Zollvereins gewürdigt haben. Auch der Dichter als Wahrsager
der Zukunft hat in Hoffmann von Fallersleben das Rechte ore-
troffen, als dieser in seinen „unpolitischen Liedern" verkündete:
Schwefelhölzer, Fenchel, Bricken,
Kühe, Käse, Krapp, Papier,
Schinken, Scheren, Stiefel, Wicken,
Wolle, Seife, Garn und Bier;
Pfefferkuchen, Lumpen, Trichter,
Nüsse, Tabak, Gläser, Flachs,
Leder, Salz, Schmalz, Puppen, Lichter,
Rettich, Rips, Raps, Schnaps, Lachs, Wachs !
Und ihr andern deutschen Sachen,
tausend Dank sei euch gebracht!
Was kein Geist je konnte machen,
ei, das habet ihr gemacht:
Denn ihr habt ein Band gewunden
um das deutsche Vaterland,
und die Herzen hat verbunden
mehr als unser Bund, dies Band.
Literatur.
I. * J. Kahn, Geschichte des Zinsfußes in Deutschland seit 1815, 1884.
C. Venturini, Chronik des 19. Jahrhunderts, 1820 — 1830.
* H. von Treitschke, Deutsche Geschichte, 1906.
Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, 1809.
* Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, 1898.
K. Immermann, Die Epigonen, Reclamausgabe.
II. Kasseische Allgemeine Zeitung, 1816 — 1818.
* Fr. Kapp, Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika, 1868.
Fr. Löher, Geschichte und Zustände der Deutschen in Amerika, 1855.
E. V. Pilippovich, Auswanderung, mit Literaturangabe. Hw. Stw., Bd. II, 1909.
Fr. Matthäi, Die deutsche Auswanderung in Rußland, 1865.
L. Elster, Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik, Hw. f. Stw., Bd. II, 1909.
K. Hofmann, Aus badischen Landen, 19 17.
III. Möglinsche Annalen der Landwirtschaft, herausg. v. Thaer seit 18 17.
A. Ucke, Die Agrarkrisis in Preußen, 1888.
J. Conrad, Agrarkrise, Hw. Stw., Bd. I, 1909.
N. Palmeri, Saggio sulle cause ed i remedi della angustie attuali della economia
agraria, Gesamtausgabe der Schriften, 1883.
* M. Weyermann, Zur Geschichte des Immobiliarkredites in Preußen, 19 10.
Graf J. von Seinsheim, Antrag an die hohe Kammer der Abgeordneten über die
Wohlfeilheit des Getreides, 1825.
M. W. von Neu, Über die Ursachen und Nachteile des gegenwärtigen Unwerts der
liegenden Güter, 1825.
IV. L. Beck, Geschichte des Eisens, 1899.
* K. Wiedenfeld, Ein Jahrhundert rheinischer Montanindustrie 1815 — 1915, 1916.
* A. Thun, Die Industrie am Niederrhein, 1879.
* H. G. Heymann, Die gemischten Werke im deutschen Großgewerbe, 1904.
Literatur.
71
* L. Vischer, Die industrielle Entwicklung Württembergs, 1875.
M Beck, Die Nürnberger echte und leonische Gold- und Silberdrahtindustrie, 1917.
E. Dietel, Die Greizer Wollindustrie, 1910.
Kießelbach, Die Kontinentalsperre, 1850.
R. Höniger, Die Kontinentalsperre, 1905.
Albin König, Die sächsische Baumwollindustrie am Ende des vorigen Jahrhunderts
imd während der Kontinentalsperre, 1899.
E. Tarle, Deutsch - französische AVirtschaftsbeziehungen zur Napoleonischen Zeit,
Schmollers Jahrbuch 19 14.
Pallas, Eine Zeitschrift für Staats- und Kriegskunst, 1808 — 18 10.
J. H. M. Poppe, Geist der englischen Manufakturen, 1812.
L. V. Ranke, Zur Geschichte der deutschen, insbesondere der preußischen Handels-
politik 18 18 — 1828. Sämtl. Werke 49/50.
Nemesis, Zeitschrift für Politik und Geschichte, herausg. von H.Luden, 18 14 — 1820.
A. Bechmann, Die rheinisch-westindische Compagnie, 19 15.
Denkschrift der oberschlesischen Eisenbahn-Bedarfs-A.-G., 1917.
G. Schmoller, Das preußische Handels- und Zollgesetz von 18 18, Univers.-Schf. 1898.
C. W. Ferber, Beiträge zur Kenntnis des gewerblichen und kommerziellen Zustandes
der preußischen Monarchie, 1829.
Derselbe, Neue Beiträge zur Kenntnis der gewerblichen und kommerziellen Zustände
der preußischen Monarchie, 1832.
V. P. Schwartz, Die Entwicklungstendenzen im deutschen Privatbankiergewerbe, 1915.
Das Haus Rothschild, seine Geschichte und seine Geschäfte, 1857.
A. Moser, Die Kapitalanlage in Wertpapieren, 1862.
R. Ehrenberg, Große Vermögen, ihre Entstehung und Bedeutung, 1901 — 1903.
Geschichte der Frankfurter Handelskammer, 1908.
VI. K. L. Aegidi, Aus der Vorzeit des Zollvereins, 1865.
H. v. Treitschke, Die Anfänge des deutschen Zollvereins, Preuß. Jb., B. 30.
* W. Weber, Der deutsche Zollverein, 1871.
K. F. Nebenius, Der deutsche Zollverein, sein System und seine Zukunft, 1835.
* G. Höfken, Der deutsche Zollverein in seinen Fortbildungen, 1842.
W. Röscher, Die Anfänge des Zollvereins, in der Zeitschrift „Deutschland" von
W. Hoffmann, i8"o.
F. Eckert, Zur Vorgeschichte des Zollvereins, Schm. Jb., Bd. 26.
C. W. Asher, Der deutsche Zollverein, 1841.
J. Bo wring, Bericht über den deutschen Zollverband an Palmerston, deutsch 1840.
R. V. d. Borght, Handel und Handelspolitik, Bibliographie über den Zollverein, 1900
* Adam Gutmann, Bayerns Industrie und Handel, 1906.
III. Abschnitt.
Die Zeit von 1833 bis 1848.
I. Einführung. Der jetzt zu schildernde Zeitraum bedeutet ein
volkswirtschaftliches Vorwärtskommen, das 14 Jahre währt und sich
zwar nicht besonders rasch, doch allgemein, in der zweiten Hälfte
auffallender als in der ersten, vollzieht, Ein Dauervorgang dieser Art
hat sich nur einmal in dem Jahrhundert ereignet. Wir haben zwar
seit 1850 wiederholt Zeiten der aufsteigenden Konjunktur gehabt, sie
waren stürmischer, tiefer und weitergreifend, aber kürzer und zu-
gleich Teile eines industriell-kapitalistischen Kreislaufes, liefen in Über-
spekulation und Krise aus und hatten einen längeren Niedergang im
Gefolge.
Die Erscheinung des regelmäßigen, aus innerem eigenen An-
trieb erwachsenen Wechsels vom Auf- und Zurückgehen des Wirt-
schaftslebens, die man schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in
England und bald darauf auch in Frankreich und in den jugendlichen,
aber schon verkehrsmäßig und kapitalistisch lebenden Vereinigten Staaten
kannte, setzt in Deutschland, wo man zwar schon seit der Mitte der
zwanziger Jahre Krisen an der Börse im Handel mit Staatspapieren
erlitt, und wo man auch die volkswirtschaftlichen allgemeinen Störungen
des Auslandes, wie 1825 und von 1837 — 1^39 ^^^ 1847 unter Ver-
mittelung des Außenhandels als einen Rückschlag fühlte, erst in den
fünfziger Jahren ein. Gewiß gab es in den beiden vorausgehenden
Jahrzehnten schon Unternehmungen, die sich ganz in den Dienst des
unmittelbaren Gewinnbezuges stellten, aber der Geist der Eigenwirt-
schaft, der hergebrachten Landwirtschaft, des Hanwerks, umspannt so
sehr noch alles Tun, daß die Schwankungen der Industrie auf dem
Wege des Verkehrs nicht in die Tiefe der gesamten volkswirtschaft-
lichen Tätigkeit einzudringen vermochten. Auch war der Mut des
rastlosen industriellen Drauflosproduzierens, in der Hoffnung, man werde
durch sein Angebot die Nachfrage von Seiten der Unternehmungskraft
aller anderen erzwingen, erst im Werden, dem J. ß. Say in seiner in
Deutschland bewunderten „Theorie der Absatzwege" ebenso empfohlen,
wie ihn der französische Sozialismus als rücksichtslosen Bereicherungs-
trick gescholten hatte.
I. Einführung. y -i
In der Praxis war man vorsichtig. Als man 1836 in Baden eine
Rübenzuckerfabrik auf Aktien errichtete, empfahl man versuchsweise
nur im kleinen vorzugehen und das gezeichnete Kapital erst dann ganz
einzuziehen, wenn man feste Abnehmer für das Produkt gefunden hätte.
Die Julirevolution von 1830 hatte in Frankreich die Bourgeoisie
zu Macht und Ansehen gebracht, und die Parole des Bürgerkönigs
Louis Philippe ,,Enrichissez-vous" fand auch rechtsrheinisch ihre An-
beter. Allein das Geldmachen sowohl mit Arbeit und Erfindung als
auch mit Spekulation und Ausbeutung beherrschte die öffentliche
Meinung noch nicht in den dreißiger und vierziger Jahren, wie in den
beiden folgenden Jahrzehnten. Der Biedermeier war noch der ange-
sehene Mann, nicht bloß in Krähwinkel, wenn auch die Weitschauenden
das Heraufkommen einer neuen erwerbenden Volksklasse mit dem
Hegeischen Satz „alles was ist, ist vernünftig", zu preisen verstanden.
Die bürgerliche Demokratie, die an die idealistische Phrase fest glaubte,
daß sie die Vormacht der Tüchtigsten verbürge, war mit ihren unge-
hobelten Sitten, mit ihrer antiaristokratischen Lebensführung in Wohnung
und Kleidung noch nicht offenkundig durchgedrungen und verbarg
ihr Triebwerk, die Herrschaft des beweglichen Besitzes den weniger
begehrlichen Familien, die den Nachschlag der guten alten Zeit in sich
zu erleben hofften. Aber ein Riß war doch in das nationale Leben
durch den Sturm im Westen gekommen, neue Quellen sprudelten aus
der Tiefe empor, bald trüber, bald klarer Flut. Die Umwälzung setzte
wohl ein, erst nach 1848 wirkte sie im großen.
Der wirtschaftliche Liberalismus war 1840 rechtlich noch nicht
so vollendet, wie 25 Jahre später, daher jede soziale Wendung gegen
ihn in den Kinderschuhen steckte. Es wurden an seine Ausgestaltung
große Hoffnungen gesetzt, und da die Arbeiterfrage erst in undeutlichen
Umrissen auftauchte, wurde der Staatseingriff in sie von den Schrift-
stellern kaum erwähnt.
Der Wunsch des Bürgertums an Gesetzgebung und Verwaltung
des Staates teilzunehmen, wird seit den dreißiger Jahren in ganz Deutsch-
land beobachtet und findet einen Ausdruck in der Kritik und den An-
griffen gegen die Engherzigkeit und Verknöcherung des hergebrachten
Beamtentums. Der Aufruf zu politischen Neuerungen ging vornehm-
lich von Süddeutschland, besonders Südwestdeutschland aus, wo in den
Kammerverhandlungen eine Schulung für liberale Politiker und Redner
geschaffen worden war. Eine starke ideell-politische Beeinflussung
des Nordens durch den Süden ist in dieser Periode nachweisbar, was
auch bald in der Praxis bei der Verteidigung wirtschaftlicher Interessen
fühlbar wurde.
In Preußen hatten bis 1830 die Regierenden einer überkonser-
vativen Richtung gehuldigt, die in den Kreisen der Gebildeten durch
nA III. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
die Hegeische Staats- und Geschichtsphilosophie, in welcher sich ver-
möge der dialektischen Methode das revolutionäre und das erhaltende
Prinzip zu einer höheren Einheit zusammenfanden, gestützt wurde.
Der Staat ist für den Philosophen, der von 18 10 — 30 in Berlin als
Professor wirkte» und seine Lehre als Staatsdogma verherrhcht erlebte,
nichts anderes als Verwirklichung der sittlichen Idee, die jetzt in der
Synthese der sozialliberalen Gesetzgebung von 1808 — 181 2 mit der
Restaurationspolitik erkannt wurde. Nach der Julirevolution wurde
jedoch die Lehre, die ein ewiges neues Werden zugleich proklamiert
hatte, vorwiegend umgekehrt fortschrittlich gedeutet und diente weiter-
hin auch den Wirtschaftssoziologen wie Lassalle, Marx, Engels
zum Ausgangspunkt ihres Radikalismus. Mit der dialektischen Formel
ließ sich alles beweisen, was man nur wünschte. So kam es, daß
die süddeutsche Praxis und die norddeutsche Theorie denselben Strang
zogen, zuerst mehr in verborgener, seit 1840, als mit dem Regierungs-
antritt Friedrich Wilhelm IV., mit dem man eine liberale Zeit er-
wartete, in unverhüllter Weise, in der sich die Vorgänge von 1848
vorbereiteten.
Der Zinsfuß war seit den zwanziger Jahren in Deutschland ge-
fallen und behielt bis in die Mitte der vierziger Jahre diese Richtung
bei, ein Beweis, daß der steigende Gewinn noch nicht so verbreitet
war, um ihn nach oben zu treiben. Das Nachlassen der staatlichen
Nachfrage nach Anleihegeldern, das Festlegen der Ersparungen in
sicheren Anlagen, drücken auf ihn, obwohl der Zollverein seine pro-
duktive Wirkung bereits zeigte, der Eisenbahnbau eingesetzt hatte und
die Landwirtschaft nach Überwindung ihrer Krise, sowohl aus eigenem
Willen heraus als auch unter der Anregung jener beiden Vorgänge
anfing, sich emporzuarbeiten. Um die Mitte bis Ende der vierziger
Jahre waren Industrie und Landwirtschaft indessen so vorangekommen,
daß der Kapitalmarkt nicht mehr in seiner Ruhe beharren konnte.
Die Epoche des steigenden Zinses, die bis 1873 anhält, beginnt. Der
Fernverkehr wird durch die Eisenbahnen auf eine breitere Grundlage
gebracht, und die Schiffahrt stellt sich ebenfalls in seinen Dienst. Die
Wirtschaftskräfte ballen sich zusammen, und die Bedürfnisse nach neuen
Formen für ihre Betätigung werden empfunden. Inmitten dieses deut-
lichen, erst kurzen Vorwärtsstrebens, das kaum zum Bewußtsein seiner
selbst gelangt ist, schlägt die Revolution von 1848 wie ein Ungewitter
ein, von einem Bürgertum hervorgerufen, das sich auf eine ökonomische
Macht stützte, die in den 30 vorausgegangenen Friedensjahren ge-
wonnen, zugleich nicht stark genug war, die Gesetzgebung so in ihren
Dienst zu nehmen, wie es sich vorgenommen hatte.
Die Industrie war in den dreißiger Jahren in bezug auf die
Technik von England und Frankreich abhängig geblieben, wo eine
I. Einführung. je
praktische Neuerung die andere verdrängte. Man rühmte es noch 1844,
daß die Kattundruckerei in Preußens Hauptstadt den Walzen- und
Plattendruck des Auslandes eingeführt hatte, das englische Frischver-
fahren in der Rheinprovinz heimisch wurde, die amerikanische Methode
Nägel kalt aus Blechen zu fertigen, in Sömmerda gelungen war, die
Zuckerfabrikation bei Magdeburg die Erfindungen von Howard und
Hawkins zu benützen gelernt hatte, als in Berlin die erste größere
Gewerbeausstellung eröffnet wurde, an der sich alle Zollvereins-Länder,
die übrigen deutschen Staaten und auch Österreich beteiligten. Ihre
Statistik kommt uns heute armselig vor, damals sah man in ihr den
Ausdruck ungemeinen Aufschwunges. 3093 Personen hatten ausgestellt,
und 240000 Eintrittskarten waren in 2 14 Monaten gelöst worden.
Eine von Borsig gebrachte Lokomotive erregte die höchste Auf-
merksamkeit damals, als gleichzeitig Maffei die erste Lokomotive für
die bayerische Staatsbahn erbaut hatte, ein hübsches, kleines Dampf-
boot war nach zwanzigstündiger Fahrt zur allgemeinen Besichtigung auf
der Spree eingetroffen. In der Maschinenabteilung herrschten die
Druckmaschinen vor, bei denen neuzeitliche Verbesserungen vorgeführt
wurden. Eine Torfpresse wurde umständlich in den Zeitungen be-
schrieben. Eine Eisenplatte, 32 Fuß lang und 4 Fuß breit, erregte
die höchste Bewunderung. In nicht wenigen Gegenständen fand man
Nachahmungen französischer und englischer Vorbilder. Heimische ver-
zinnte, gußeiserne Geschirre erhielten dadurch ihr Lob, daß sie als
englische Ware gelten könnten. Die Ausstellungsberichte in süd-
deutschen Zeitungen muten einen eigentümlich an. Die Berichterstatter,
die „die große Reise" nach Berlin gemacht hatten, erzählen von dieser
Stadt wie von einem fern gelegenen, überseeischen Orte heutzutage.
Man ist über das Leben höchst erstaunt, und Schwaben und Bayern
fanden es dort zu leben weit angenehmer, als sie je gedacht hatten.
Durchblättern wir die Nachrichten über technische Erfindungen
jener Tage, so begegnen wür jedoch einer anderen Beweglichkeit des
Geistes als 20 Jahre vorher. Es fehlt indessen noch ganz die zusammen-
hängende Richtung, man bemüht sich auf verschiedenen Gebieten neben-
einander ohne jedes System. Die Versuche vollziehen sich in kleinen
Betrieben.
Als eine seltene Annahme wurde es gepriesen, als 1814 König
in Eisleben und Bauer in Stuttgart eine Schnellpresse für den Buch-
druck erfanden und aufstellten. In den nächsten 20 Jahren schweigt
der deutsche Erfindergeist. Mitte der dreißiger Jahre, als die Eisen-
bahnen kamen, meldet er sich wieder. 1835 hatte Peschel in Dresden
eine Steinbohrmaschine erdacht, einige Jahre später Hummel eine
Maschine zum Gewebedruck. Dann folgte der Ölfarbendruck mit guten
Ergebnissen für die Hersteller. Man knüpfte an Bekanntes an. Die
^5 III. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
Bilddruckerei war eines der Gewerbe, das in Deutschland sehr gepflegt
worden war, seitdem Senefelder schon 1785 die Lithographie er-
funden und 1806 in München die erste größere Steindruckerei mit von
Ar et in zusammen errichtet hatte. 1845 gelang es dem sächsischen
Webemeister G. Keller, in der auf mechanischem Wege zerlegten
Weichholzfaser ein Ersatzmittel für Hadern bei der Papierfabrikation
zu schaffen. L. Faber in Nürnberg erfand für seine Bleistiftindustrie
mancherlei Werkzeugmaschinerie. Er legte Mühlen an, um Thon und
Graphit zu vermählen und preßte die Bleistifteinlage in endlosen Faden
aus. Georg Sedlmayr ist in seiner Münchener Brauerei sein eigener
Ingenieur und Baumeister durch Einfügung mechanischer Hebe- und
Transport- Vorrichtungen und einer verbesserten Schrotmühle, nachdem
sein Vater Gabriel schon die Dampfmaschine im Braubetrieb „zum
Spaten" aufgestellt hatte. Die landwirtschaftliche Zentralschule in
Schleißheim bildete junge der Brauerei beflissene Leute aus. Die vollen
theoretischen und praktischen Lehrkurse werden jedoch erst später in
den sechziger Jahren auf der Akademie für Landwirtschaft und Brauerei
Weihenstephan erreicht. In Frankfurt a. M. und München vervoll-
kommnete man die optischen und chirurgischen Instrumente. Frauen-
hofers Fernrohre waren berühmt. Weittragende Pläne verfolgte Bauer
in Nürnberg mit einer elektro-magnetischen Maschine, die aber nur
als Gewürzstampfe zunächst Verwendung fand, und J. D. Wagner,
der den Elektro-Magnetismus auf den Bahnbetrieb übertragen will.
Die Erfindung Jacobis, Kupfer in metallischer Form durch den gal-
vanischen Strom aus einer Lösung von Kupfervitriol niederzuschlagen,
regt den Artillerieoffizier Werner Siemens an, die galvanische Ver-
goldung und Versilberung zu entdecken. Derselbe fertigte damals
eine rotierende Schnellpresse zur Anwendung des bekanntgegebenen
Zinkdruckes an, ihm gelang die Vernickelung der gravierten Kupfer-
platten, die Benutzung der Schießbaumwolle, die Schön b ein in seinem
Baseler Labaratorium unter Anlehnung an Ottos praktische Versuche
hergestellt hatte, für militärische Zwecke, die Anwendung der erhitzten
Luft als Triebkraft und vor allem manche Neuerung auf dem Gebiete des
Telegraphenwesens, wie die Isolierung der Drähte durch Kautschukum-
hüllung, die für die Kabellegung später so wichtig wurde, nachdem Gauß
und Weber 1833 von einem Häuschen neben der Göttinger Stern-
warte nach dem Mittelpunkte der Stadt an einem 900 m langen Draht
die Leitung erprobt hatten und St ein heil Verbesserungen 1837 an
einer längeren Linie von 5500 m geglückt waren. Die Firma Siemens
& Halske erfreute sich bald sogar ausländischer Bestellungen. In seinen
Lebenserinnerungen bemerkt Siemens, daß damals noch zwischen
Wissenschaft und Technik eine unüberbrückbare Kluft geherrscht habe.
Zwar habe der verdienstvolle Beuth, der unbestreitbar als Gründer
II, Die Fortbildung des Zollvereins. Die Industrie. nn
der norddeutschen Technik anzuerkennen sei, in dem Berliner Gewerbe-
institut eine Anstalt geschaffen, die in erster Linie zur Verbreitung
wissenschaftlicher Kenntnisse unter den jungen Technikern bestimmt
gewesen sei. Die Wirkungsdauer dieses Institutes, aus dem später die
Gewerbeakademie und schließlich die Charlottenburger technische Hoch-
schule hervorging, sei aber noch zu kurz zur Erhöhung der Bildungs-
stufe bei den damaligen Gewerbetreibenden ausgefallen.
Die Naturwissenschaft, die von Staatswegen in Berlin gepflegt
worden war, hatte nur wenig Fühlung mit der Industrie, deren Männer
neben dem preußischen Beamten- und Militärstand wenig Ansehen
genossen, und sie selbst dünkte sich zu hoch, zur Technik hinab-
zusteigen, war eher darauf bedacht, eine umfassende Weltanschauung zu
begründen, wie das A. von Humboldt mit seinen ausgedehnten Kennt-
nissen und seinem lebendigen Wissen in dem „Kosmos" versuchte.
Es liegt in dem Wesen der Technik, daß ihre Fortschritte in der
Jugend nur langsam sind. „Es wurde mir klar", erzählt Siemens
weiter, „daß die Technik nicht in plötzlichen Sprüngen vorschreiten
kann, wie es der Wissenschaft durch die schöpferischen Gedanken
einzelner bedeutender Männer oft mögUch gewesen ist. Eine technische
Erfindung bekommt erst Wert und Bedeutung, wenn die Technik
so weit fortgeschritten ist, daß die Erfindung durchführbar und ein
Bedürfnis geworden ist."
Deutschland war einerseits noch zu sehr vom Auslande beein-
flußt, um sich seiner schlummernden, wissenschaftlich praktischen
Kräfte voll bewußt zu werden, andererseits was das vom Staat kaum
unterstützte Bürgertum nicht reich genug, um die Mittel aufwenden
zu können, verfehlte Experimente leicht zu ertragen. Die spätere
Entwicklung Deutschlands im Zollverein und Reich läßt sich daher
nur als ein wirtschaftspolitisches Ganzes begreifen, so hoch man auch
die aus der Naturwissenschaft und Technik entsprießenden Antriebe
für sie einschätzen mag.
IL Die Fortbildung des Zollvereins. Die Industrie.
Der Zollverein war zunächst auf 8 Jahre abgeschlossen worden. Ein Teil
von Norddeutschland stand noch außerhalb, Hannover, Oldenburg,
Braunschweig, die beiden Mecklenburg, Holstein, die Hansestädte und
einige kleine sich anschließende Fürstentümer. Die drei ersteren, mit
denen Schaumburg -Lippe zusammenhing, hatten 1834 — 36 den Steuer-
verein gegründet, welcher wegen der Lage zum Meere, der wenig
fortgeschrittenen Industrie und des starken Verbrauches ausländischer
Waren einen besonders niedrigeren Zolltarif für zweckmäßig hielt und
zunächst für sich bestehen konnte. Wir besitzen in Fr. von Redens
Buch „Das Königreich Hannover" eine gute Beschreibung des Landes
vom Ende der dreißiger Jahre. Nur i/^o der Bevölkerung entfiel auf
III. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — iJ
die stoffeverarbeitenden Gewerbe und den Handel. Die Herstellung
von Fluß- und Seeschiffen, die den Küsten verkehr besorgten, kam
über kleine Fahrzeuge nicht hinaus. Der Straßenbau war gefördert
worden, 18 17 hatte das Königreich 94, 183g 313 Meilen Chausseen,
deren Hauptaufgabe war, das Innere mit den Seeplätzen zu verbinden.
Die Beziehungen zu Hamburg und Bremen erleichterten die Einfuhr,
die die Regierung aus Gefügigkeit gegen England und aus fiskalischen
Zwecken guthieß, obwohl sie das Wachsen der Freihäfen scheel ansah.
Die Ausfuhr bestand aus Getreide und Vieh, die ehemalige von Lein-
wand war zurückgegangen.
Braunschweig kam als Anschlußland in Frage, da es den nördlichen
und südlichen Teil des Königreichs verband. Kleinstaatliche Reibereien
und die Schutzbedürftigkeit einiger Industrien veranlaßten 1841 das
Herzogtum zum Zollverein überzugehen. Auch das Fürstentum Lippe-
Detmold, die Grafschaft Schaumburg, das Fürstentum Pyrmont wurden
in demselben Jahre von ihm aufgenommen. Die Braunschweiger Industrie
empfand den Segen des Zollvereins bald, während die hannoverische
auf niedriger Stufe verblieb. 1842 entschloß sich Luxemburg, das dem
deutschen Bunde angehörte, zum Zollanschluß unter preußischer Ver-
waltung. Die wirtschaftlichen Geschäftsbeziehungen des Großherzogtums
neigten damals zwar nach Belgien hin, allein die Sorge, die politische
Unabhängigkeit zu verlieren, verhinderten die Wahrnehmung eines
solchen Vorteils. Zu klein, um ein eigenes Zollwesen einzurichten,
fand das Ländchen weiterhin seine wirtschaftlichen und finanziellen
Wünsche gewahrt und war so lange einseitig begünstigt, bis es durch
seine spätere Eisenindustrie die Schuld an den großen östlichen Nach-
bar abtragen konnte.
War schon der Erfolg des Zollvereins durch seine Vergrößerung
bewiesen, so trat er noch deutlicher bei den Handelsverträgen mit
dem Auslande hervor, die zwar nicht jedermann zufrieden stellten, aber
den einzelnen Teilnehmern mehr brachten als sie durch eigene Kraft
je hätten erreichen können. 1837 und 1839 wurde mit Holland, 1839
mit Griechenland, 1840 mit der Türkei, 1841 mit England, 1844 mit
Belgien abgeschlossen.
Der Handelsvertrag jener Zeit war Reziprozitätsvertrag, enthielt
eine gegenseitige Bevorzugung, die als ein zusammenhängendes Ganze
galt und den Grundsatz der Meistbegünstigung ausschloß. Der welt-
wirtschaftlichen Entwicklung wurden damit Fesseln angelegt, da jede
Verallgemeinerung eines Zugeständnisses an dritte Länder von der
Gegenpartei durch Entziehung des ihrerseits Gewährten verhindert
werden konnte.
Von Holland und England suchte der Zollverein vor allem zu
erhalten, daß die deutschen Schiffe derjenigen Rechte teilhaft wurden,
II. Die Fortbildung des Zollvereins. Die Industrie. yq
welche sie den eigenen zubilligten. Dafür mußten Einfuhrzollermäßi-
gungen gegeben werden, zunächst für Reis und Zucker, weiter für
einige Industriewaren. Die ostdeutschen Landwirte hatten auf Er-
mäßigung der englischen Getreidezölle gehofft, aber Lord Palmerston
erklärte, daß ihre Wünsche kein Verhandlungsgegenstand seien. Hätte
er nachgegeben, so würde der Zollverein Entsprechendes von seinem
Industrieschutze haben fallen lassen müssen. Glücklicherweise ist es
nicht dahin gekommen, da die junge deutsche Industrie es durchaus
nicht zu ertragen vermocht hätte. Wenn England auf Bestimmungen
seiner Navigationsakte zugunsten Preußens verzichtete, so war dies
für seine eigene Schiffahrt ganz gefahrlos, da sie die preußische in
keiner Weise zu fürchten hatte.
Der Zollverein war den Engländern ein dauerndes Greuel, das
sie mit der ihnen üblichen heuchlerischen Anmaßung bekämpften.
Offiziell behaupteten sie, die kleinen Staaten gegen Preußen verteidigen
zu müssen. 1847 verkündete Palmerston, daß es kein englischer
Minister je gestatten könne, daß die deutschen Küstenländer die Ver-
ein szölle annähmen.
Mit Belgien zogen sich die Verhandlungen von 1841 bis 1844
hin. König Leopold hatte mit einer Zollunion Frankreich gegen-
über kokettiert, dieselbe auch dem Zollverein angeboten und bei
seinem Doppelspiel von ersterem einige Vorteile erlangt. Daraufhin
wurde auch der Zollverein nachgiebig, ließ wallonische Eisenwaren billiger
ein, als er die gleich zu besprechende Zollreform von 1844 festlegte,
und verminderte den Wollausfuhrzoll, erhielt dafür die damals wenig
wertvolle freie Durchfuhr von Aachen nach Antwerpen und einige
unbedeutende Tarifermäßigungen. Die Gefahr einer Zollunion Belgiens
mit Frankreich war dauernd beseitigt.
Die deutschen Eisenproduzenten verhielten sich nach der Maxime
„principiis obsta" ablehnend gegen jede Herabsetzung. Die Haupt-
gefahr erblickten sie mit Recht jenseits des Kanals, wo die Technik
in den letzten Jahre wiederum vervollkommnet worden war. Sie so-
wohl wie die Baumwollspinner betonten schon in die Mitte der dreißiger
Jahre die Notwendigkeit, die Schutzzölle zu erhöhen, noch mehr in der
zweiten Periode des Vereins, die 1842 begann, als er für weitere
10 Jahre festgelegt wurde.
Diese Ansprüche führten zu seiner ersten ]<]rise. Die Frage von
Freihandel und Schutzzoll erregte mehrere Jahre ganz Deutschland
heftig, als ob zwei unversöhnliche Religionen aufeinandergeplatzt wären.
Eine Widerholung des Streites wurde Ende der siebziger Jahre erlebt
Viele Beweisgründe Für und Wider waren die gleichen geblieben, ohne
die Gegner zu überzeugen. Der Unterschied beider Epochen war der,
daß der Zollverein ein unbehilfliches Instrument zur Schlichtung ge-
8o ni, Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
wesen ist, die Abänderung der Tarifs daher nicht 2ureichend ausfiel,
während dem Reich eine nationale Handelspolitik zu führen durch die
Verfassung gegeben war.
Die Gegensätze wurden auf der Generalzollkonferenz in Stutt-
gart 1842 sichtbar, erst nach vier Jahren wurde auf der Berliner der
von der Vernunft schließlich als das geringere Übel anbefohlene Aus-
gleich zum vollen Abschluß gebracht. Für den Freihandel traten der
Großkaufmannsstand, soweit er am Außengeschäft beteiligt war, ferner
die ausführende Landwirtschaft und die Verbraucher, das heißt die
nicht wirtschaftlich produzierenden Gruppen, ein. Das Ansehen der
nationalökonomischen herrschenden Schule englischen Ursprungs stand
auf seiner Seite. Norddeutschland war vorzugsweise sein Gebiet, in
dessen großen Handels- und Meßplätzen seine Hauptvertreter tätig
waren. Für den Schutzoll kämpften die Eisenindustrie des Westens
und Schlesiens und die Baumwollspinnerei des Südens. Hier waren
in dem letzten Jahrzehnt neue Betriebe entstanden und ältere aus-
gedehnt worden, obwohl der Schutz für den Zentner Garn nur 2 Tlr.
betragen hatte. Jetzt, als England so große Produktionsfortschritte
machte, und die Eisenbahnen die in den hohen Transportkosten ehe-
dem gegebene Abwehr zu beseitigen begannen, reichte der Zoll nicht
aus, das Geschaffene zu behaupten. Gegen seine Erhöhung waren die
Weber, besonders des sächsischen Erzgebirges, die von England bil-
liges Halbfabrikat bezogen, und verschiedener norddeutscher Gegenden,
wo unter 30 — 50 Tlr. Zollabgabe ihr Geschäft erstarkt war. ^s ^^^
zu verwebenden Garnes wurde eingeführt, Yg war im Zollverein ge-
sponnen. Wie weit England voraus war, ergibt sich daraus, daß dort
1841 — 1843 H Pfund Garn auf den Kopf der Bevölkerung hergestellt
worden waren, im Zollverein nur Y^^ Pfund.
In der Eisenindustrie bestand ein ähnlicher Gegensatz als in der
textilen. Die Eisenverarbeiter an der Ruhr, im bergischen Lande, bei
Aachen, hatten ihren Vorteil vom billigen Roheisen, das zollfrei war.
Es kam jetzt ebenfalls besonders wohlfeil von England herüber, das
sich nach der Verkehrsstockung von 1837 — 39 ^^s Überschusses zu
entledigen suchte. Bis zum Jahre 1S49 g^^ ^^ i"^ Ruhrgebiet nicht
einen Koksofen — der erste wurde auf der Friedrich-Wilhelmshütte
in Mülheim angeblasen — , während die Schmiedeeisenerzeugung ge-
schützt worden und vorangekommen war. Etwas besser stand es mit
der Montanindustrie im Saargebiet, dessen Kohle jedoch zum großen
Teil nach Frankreich ging, weil sie daheim keinen Absatz fand. Die
Eisenfabrikate wurden über die französische Zollinie nicht eingelassen,
in Deutschland konnten sie nicht recht vordringen, da die Eisenbahn
diese abgelegene Gegend noch nicht mit dem Osten verband. Immerhin
hatte hier der kapitalkräftige Betrieb um 1840 Kokshochöfen errichtet,
II. Die Fortbildung des Zollvereins. Die Industrie.
und schon vorher war das Puddeln und Walzen nach englischem
Muster in einigen Anlagen geglückt.
Von dem damaligen Standpunkt der Berufsinteressen der Halb,
und Ganzfabrikanten war der Streit nur durch einen Vergleich bei-
zulegen, der freilich beide Teile nicht eigentlich befriedigen konnte
Von dem der Gesamtwirtschaft und der Zukunft mußte man sagen,
daß Deutschland an einer ganzen vollen Industrie weit mehr als an
einer halben gelegen war. Die eigene Herstellung von Roheisen und
Garn war für sie die sicherste Grundlage der Fertigindustrie. Wurden
jene Halbprodukte zunächst durch den Zoll verteuert, so bedurften
auch die Fabrikate eines erhöhten Schutzes, bis die Vereinsvorindustrie
zur Fähigkeit der billigeren Erzeugung gelangt war. In der Folge-
zeit ist dieser Zustand für die Montanindustrie erreicht worden, die
Baumwollspinnerei blieb noch lange das Stiefkind der deutschen Poli-
tik, obwohl für die Erzeugung der meisten ihrer Nummern die gün-
stigen Vorbedingungen nicht fehlten.
In den vierziger Jahren haben die Vertreter des geringen Eisen-
schutzes so argumentiert: „Gegen ihn seien nicht bloß die Besitzer von
Frischhämmern, Puddelwerken, Blech-, Draht-, Waffenfabriken, die
gesamte Kleineisenindustrie, sondern auch die Landwirte, die Schiffs-
bauer, alle die, welche Maschinen gebrauchten, die Eisenbahnen, kurz
alle sonstigen produktiven Stände". Diese Anschauung war eine ver-
kehrte. Gerade weil Roheisen für jede produktive Tätigkeit notwendig
war, mußte Deutschland sich vom Ausland unabhängig zu machen
suchen.
Wie wenig volkswirtschaftlich man 1842 noch in einzelnen Kreisen
zu denken verstand, ersieht man aus einem Beweisgrund gegen die
Eisenzölle, den die Augsburger Allgemeine Zeitung in einem langen
Artikel zu erörtern für gut befand. Die Eisenproduktion würde unter
erhöhtem Zoll so gesteigert werden, „daß die Holzpreise in die Höhe
gehen müßten, wodurch die ärmeren Bewohner des Landes in Not
kommen und demoralisiert werden müßten".
Nun lagen im Zollverein die Dinge so, daß jeder Staat für seine
Sonderwünsche seine Stimme geltend machte. In Preußen war die
Regierung freihändlerisch gesinnt, schon weil sie damals den Verein
mehr als Finanzquelle denn als volkswirtschaftliche Einrichtung wertete-
Landwirtschaft und Außenhandel schlössen sich ihr begeistert an, und
die Spinnerei, die sich nicht so bedrückt als in Süddeutschland fühlte
widersprach nicht so heftig als hier. Nur für die Eisenindustrie und
die Leinwandspinnerei war man zu mäßigem Opfer in der Theorie
bereit. In Sachsen überwog die Fürsorge für die Leipziger Messe
und die heimische Weberei, so daß hier die preußische Ansicht unter-
stützt wurde. In Braunschweig dachte man ebenfalls in erster Stelle
A. Sar torius v. Waltershausen Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. D
82 ni. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1{
an seine Messe und war nur für Zölle zugunsten des Leinwand-
gewebes. Frankfurt a. M. hatte allein seine Handelsgewinne im
Auge. Kur h essen war schwankend, Nassau aus Finanzgründen
freihändlerisch.
Die Gegenpartei war in Süddeutschland, das sich bei der Grün-
dung des Zollvereins selbst dem gemäßigten Tarif Preußens wider-
setzt hatte. An der Spitze stand Württemberg, das seine Spinnerei
rasch ausgedehnt hatte, aber sich dem englischen und belgischen Wett-
bewerb nicht gewachsen fühlte. Mit dem „Zollvereinsblatte" hatte
es in Fr. List einen einsichtigen Vertreter. Ähnliche Verhältnisse
walteten in Baden. In Bayern waren die Anschauungen geteilt.
Der Augsburger Spinnerei standen die zahlreichen Webereien im Lande
gegenüber. Der Beamtenstand war in ökonomischen Fragen gleich-
gültig, anders als in Preußen, wo er dem Freihandel ausgesprochen
zuneigte. Die Entscheidung für seine Landesstimme traf König Ludwig,
der von dem Abwägen kleinlicher Interessen nichts wissen wollte und
der nationalen Selbständigkeit auf wirtschaftlichem Gebiete sein Herz
geöffnet hatte. Er ging daher mit den anderen süddeutschen Staaten
zusammen. Die Vorteile des Zollvereins für Bayern waren unverkenn-
bar, wie es die Gewerbeausstellungen in München und Nürnberg während
der dreißiger Jahre erwiesen. Genügte 18 18 ein Zimmer im Schwarzen
Adler zu München um alles aufzunehmen, so hatte man zu gleichem
Zweck nach 20 Jahren gerade den Raum des Odeons nötig. München
ist die Stadt der Ausstellungen geblieben, für Gewerbe, Kunstgewerbe
und Kunst, alles auf größerer Grundlage, als 1854 der Glaspalast als
dauernde Ausstellungshalle gebaut worden war. Inzwischen war sie
durch die Initiative und die Schatulle König Ludwigs I. der Vorort
deutscher Kunst geworden, und auch die Wissenschaften wurden eifrig
gepflegt, als seit 1826 die Universität von Landshut hierher verlegt
worden war. Ihre Verspottung als „Isarathen" war nicht ganz gerecht.
War sie auch kein Athen geworden, so war doch so viel geleistet,
daß die Nachwirkung durch das ganze Jahrhundert hindurch zu
spüren war.
Die Schwäche des Zollvereins mit der vorgeschriebenen Staaten-
abstimmung offenbarte sich jetzt. Eine gegnerische Stimme konnte
jede Neuerung hinfällig machen. Aber auch seine Stärke wurde bald
sichtbar. Preußen war seine Vormacht und wurde sich der politischen
Bedeutung der Zolleinigung für das deutsche Volk wieder bewußt.
Es ordnete der politischen Zukunft seine Sonderwünsche unter und bot
zu einem Ausgleich die Hand, zumal die süddeutschen Garnerzeuger
in ihrem verblendeten Partikularismus den Anschluß an Österreich
forderten.
II. Die Fortbildung des Zollvereins. Die Industrie. 32
In der Eisenfrage kam man 1844 zu einer Entscheidung, der
sich die süddeutschen Schutzzollstaaten nicht wohl verschließen konnten.
Ein Zoll von 10 Sgr. wurde für Roheisen festgesetzt, der alsbald eine
gute Wirkung hatte und später nicht erhöht zu werden brauchte.
Stabeisen und Schienen erhielten eine Aufbesserung von i auf 1 14 T^^lr.,
feines und fassoniertes Schmiede- und gewalztes Eisen von 2^ auf
3 Tlr. Auch wurde der Ausgangszoll auf Lumpen von 2 auf 3 Tlr.
zugunsten der Papiererzeugung heraufgesetzt. Der Finanzzoll auf
Zigarren und Schnupftabak stieg von 11 auf 15 Tlr., für gebrannten
Kaffee und Kakao von 6^/3 auf 1 1 Tlr.
Unter dem Schutzzoll gelang es hernach der Eisenindustrie am
Rhein, in Westfalen und an der Saar die Linie ihres Absatzes nach
Osten und Norden vorzuschieben, zumal gleichzeitig der Bahnbau die
Frachtkosten ihrer Produkte ermäßigte. England wurde von den
Küsten der Nord- und Ostsee und mehr noch von deren Hinterländern
in Mitteldeutschland zurückgedrängt, das jetzt wie Süddeutschland als
Verbraucher die w^estdeutsche Montanindustrie in sich einbezog, wo-
durch die deutsche Volkswirtschaft zu einem mehr einheitlichen Ganzen
gestaltet wurde. Im Eisenguß blieb das Ausland noch in den sechziger
Jahren überlegen, was namentlich im Saargebiet, obwohl ihm hier viel
Kraft zugewandt wurde, empfunden wurde.
1845 blieb bezüglich der Garnzölle auf der Zollkonferenz in
Karlsruhe alles in der Schwebe. Noch einmal wollten die Parteien
nicht ein Jota preisgeben. Intrigen des Auslandes hatten mitgewirkt.
„Es erscheint fast als ein unverkennbarer Hohn", schreibt W. Weber
in seiner Zollvereinsgeschichte, „daß, als das negative Resultat der
Konferenz bekannt wurde, der englische Gesandte plötzlich alle Kon-
ferenzbevollmächtigte zu einem Diner im Gasthause zum Englischen
Hof in Karlsruhe einlud". Die Geladenen hatten jedoch einmütig den
Takt, abzusagen, worin man eine gute Vorbedeutung für die weiteren
Verhandlungen erblickte, die 1846 in Berlin unter glücklicher Mäßigung
auf allen Seiten geführt wurden. Endlich schien man sich des trau-
rigen Schauspiels innerer Zerrissenheit vor dem Auslande zu schämen.
So wurde denn der Eingangszoll für rohes ein- und zweidrähtiges, ge-
zetteltes Baumwollgarn von 2 auf 3 Tlr. erhöht. Gebleichtes und ge-
zwirntes Garn, das nur in geringen Mengen einging, kam von 6 auf
8 Tlr. Der Leinenindustrie wurde ein stärkerer Schutz als bisher für
Maschinengarn von 2 gegen i Tlr. gewährt. Auch die übrigen Lein-
wandwaren erhielten in neuen Zöllen eine geringe Aufmunterung.
Der sonstige Tarif wurde nur um einige Kleinigkeiten abgeändert.
Da nun die Preise vieler Fabrikate unter dem Fortschritt der Technik
und der Verbilligung der Rohstoffe gefallen waren, wurde der auf-
recht erhaltende Gewichtszoll ein vermehrter Schutz, der in einzelnen
6*
84 IJ^I- Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
Fällen auf das Doppelte gegen früher berechnet wurde. Unter ihm
vermochte manches Gewerbe in den nächsten 20 Jahren zu erblühen.
In schutzzöllnerischen Kreisen stützte man sich mit Vorliebe auf
Fr. Lists 1841 erschienenes Hauptwerk „Das nationale System der
politischen Ökonomie", welches wegen der Prägnanz seines Stiles und
seiner agitatorischen Schlagworte hierfür hervorragend geeignet war.
Es gehört gleichzeitig- zu den originellsten theoretischen Untersuchungen
der Nationalökonomie, die Deutschland hervorgebracht hat.
Die herrschende Lehre, sowohl auf den Universitäten als auch
in den Beamtenkreisen, war die englische, wie sie von Smith be-
gründet, von Malthus und Ricardo fortgebildet worden war. Hatten
die Deutschen zwar eine größere Reihe von Einzelheiten des Systems
als für ihre Heimat nicht passend abgelehnt und namentlich in der
Volkswirtschaftspolitik, die sie der reinen Theorie gegenüberstellten,
den individualistischen Radikalismus verworfen, so blieb doch auch
hier das Prinzip des staatlichen Nichteingreifens in die wirtschaftlichen
Dinge die allgemeine Regel, der jedoch, nicht gerade konsequent, viele Aus-
nahmen gegenüber standen. Die eigentliche Bedeutung solcher Männer,
wie J. F. E. Lotz, GrafJ. Soden, L. H. v. Jakob und J. G. H o f f -
mann liegt in ihren sorgfältigen Monographien, von denen die des
letzteren über das Geld- und Steuerwesen über ihre Zeit hinaus Aner-
kennung behaupteten. Als bedeutende Systematiker traten F. B. W. Her-
mann mit seinen Staatswirtschaftlichen Untersuchungen 1832 und K. H.
Rau mit dem Lehrbuch der politischen Ökonomie 1826 hervor, dessen
spätere Auflagen bis in die sechziger Jahre das Kompendium für die Stu-
dierenden blieb. Des ersteren auf dem wirtschaftlichen Prinzip des
kleinsten Mittels logisch aufgebaute abstrakte Theorie der Produktion
und der Verteilung der Güter, die Analyse des Vermögens und des
Verbrauchs, die Korrektur des Triebes des Selbstinteresses durch den
Gemeinsinn sind noch heute für jeden Nationalökonomen als Schule
des Denkens wertvoll.
Die Nationalökonomie hatte jedenfalls angefangen, sich einer
deutschen Eigenart dadurch bewußt zu werden, daß sie im Gegensatz
zu der englischen nicht bloß die unmittelbar, sondern auch die mittelbar
wirkenden Kräfte im Wirtschaftsleben, nicht bloß den Reichtumszweck,
sondern auch andere Ziele des nationalen Daseins, daß sie die Pflichten
des Staates gegen die Gesellschaft und der einzelnen gegen den Staat
betonte, wobei sie sich nicht der Philosophie ihres Zeitalters, Fi cht es,
Hegels, Schellings entzog.
Zu einer grundsätzlichen Kritik der englisch-liberalen Schule
— der französische Sozialismus und Sismonde de Sismondi waren ohne
sichtbaren Einfluß geblieben — kam es erst nach den vergessenen,
oben genannten Versuchen von Adam Müller durch Fr. List, von
II. Die Fortbildung des Zollvereins. Die Industrie. 85
dem die Nationalökonomie Smiths als kosmopolitisch, materialistisch
und individualistisch beurteilt wurde. Der positive Ausgangspunkt der
Volkswirtschafts -Wissenschaft könne nie der einzelne Mensch mit
seinen Trieben sein, sondern die Nation, die ihre höchste Form der
Stufen der Entwicklung: des wilden Jäger- und Fischerzustandes,
Hirtenstandes, Agrikulturzustandes, Agrikulturmanufaktur-, Agrikultur-
manufakturhandelsstandes erreichen müsse. Damit ist eine geschichtlich
soziale Auffassung vorgezeichnet, die in der Gegenüberstellung der
Theorie der Werte und der produktiven Kräfte einen Ausdruck findet.
Jene, d. h. die liberale, rechnet mit dem höchstmöglichen Reichtum,
der in der Gegenwart zu erzielen ist, sei es auch auf Kosten der Zu-
kunft, diese will alle ethischen, nationalen, geistigen und materiellen
Faktoren eines Volkes in den dauernden Dienst der Volkswirtschaft
stellen, um diese produktiv, zeitgemäß fortschreitend ausbilden zu
können. Man wird nicht zu übersehen haben, daß man die Abschätzung
in Werten zu Vergleichen durchaus aufrecht erhalten kann, ohne dabei
die produktiven Kräfte in Theorie und Praxis zu vernachlässigen.
Wogegen List sich wendet, ist die einseitige materialistische Wert-
zielsetzung, der alles untergeordnet wird. Gegen die Listsche Stufen-
lehre ist eingewandt worden, daß sie der wirklichen Geschichte Gewalt
antue und von He gelschen Abstraktionen angesteckt sei. Die Kon-
struktion sei willkürlich, ohne Abschluß, auf letzter Stufe eine Ver-
allgemeinerung neuzeitiger Verhältnisse, besonders englischer, die für
andere Geschichtsepochen nicht passe. Es ist z. B. richtig, daß in
Nordamerika keine Hirten und Nomaden aus den Jägern hervor-
gegangen sind, oder daß die antike Welt den Handels- und Industrie-
staat nicht hervorgebracht hat. Allein man wird doch zugeben, daß
die aufeinander geschichtlich folgenden Zustandsschilderungen Neues
für die Volkswirtschaftslehre gebracht haben, wenn auch Korrekturen
am einzelnen vorzunehmen sind, und daß solche Entwicklungseinsichten
auch des praktischen Nutzens in der Politik nicht ermangelt haben.
Eine weltbürgerliche Epoche des Wirtschaftslebens liegt nach
List in so nebelhafter Ferne, daß man für absehbare Zeiten nicht mit
ihr zu rechnen braucht. Die Wirklichkeit gehört den nationalen
Volkswirtschaften. Freihandel und Schutzzoll sind nur Mittel für deren
Ausbildung. Den letzteren braucht gegenwärtig der Zollverein gegen
das überlegene Ausland. Er wird auch als Erziehungszoll zur inter-
nationalen Verkehrsfreiheit charakterisiert, worin indessen nicht viel
anderes als eine taktische Wendung, ein Entgegenkommen gegen die
damals verbreitete freihändlerische Stimmung zu sehen ist. Die hei-
mische Industrie mit der stärkeren des Auslandes konkurrenzfähig zu
machen, ist denkbar, wenn man von bestimmten Zeitverhältnissen den
Ausgang nimmt. Sie ist aber keinem kurzlebigen Individuum zu ver-
86 III. Abschnitt. Die Zeit von 1833— 1{
gleichen, das man in 10 oder 15 Jahren für das Leben erziehen kann.
Sie schreitet voran oder bleibt zurück, bald wird dieses, bald jenes
Land an der Spitze stehen. Die Schwächeren werden sich immer zu
wehren suchen. Ein ewig dauernder internationaler Freihandel wäre
zudem das Ungeschichtlichste, das man ausdenken könnte, er würde
einen ökonomischen und technischen Stillstand voraussetzen, was dem
volkswirtschaftlichen Selbstmord gleichkäme.
Es wurde oben betont, wie sehr finanzielle Erwägungen das Zu-
standekommen des Zollvereins gefördert hatten. Von den Erträgen
entfielen rund ^s ^"^ Jahre 1845 auf Finanzzölle, auf Zucker, Kaffee,
Tabak, Wein usw., 5% auf geschützte heimische land- und forst-
wirtschaftliche Produkte, 28% auf industrielle. Die Bruttoeinnahme
an Eingangs-, Ausgangs- und Durchfuhrzöllen hatte sich von 1834 bis
1845 von 145 15 722 Tlr. auf 27422535, d. h. im Verhältnis von 100
zu 189 gesteigert, während die Bevölkerung, die natürliche und die
durch Anschlüsse gewonnene, ein solches von 100 zu 121 ergab. Die
gemeinsamen Ausgaben für Grenzschutz waren von Ye ^"f Yil> der
Bruttoeinnahme gesunken. Aus diesen Angaben folgte, daß sich die
Nettoeinnahme auf den Kopf von 15 Sgr. und 7 Pfg. auf 26 Sgr.
und 5 Pfg. erhöht hatte. Die allgemeine Wohlstandssteigerung äußerte
sich in dem zunehmenden Verbrauch ausländischer, finanziell belasteter
Waren. Die Einfuhr von Kolonialzucker war um 146,44, von Kaffee
um 96,53, Gewürzen um 82,40, Südfrüchten um 46,38, Reis um 142,24,
Kakao um 188,58*^/0 vermehrt worden.
Die Verteilung der Zolleinnahmen hatte sich so gestaltet, daß in
den 1 2 Jahren Preußen, Sachsen, Braunschweig, Frankfurt a. M. 46 832 895
Tlr. herausgezahlt hatten, welche Summe Bayern, Württemberg, Baden,
die beiden Hessen, Thüringen, Nassau und Luxemburg erhielten. Die
fordernden Staaten hatten also kein schlechtes Geschäft gemacht, wenn
man auch nicht übersehen darf, daß mancherlei Ware, deren Zoll z. B.
an preußische Zollämter gezahlt wurde, nach Süddeutschland im
Wege des Handels weitergegangen ist, wobei die Abgabe von dem
dortigen Verbraucher dem Importeur zurückerstattet werden mußte.
Die Industrie hatte in dem hier geschilderten Zeiträume manche
Verbesserungen und Erweiterungen durchgemacht. Der Übergang von
der Hand- zur Maschinenarbeit wird andauernd berichtet. Technische
Schulen wurden eröffnet, die Fabrikanten bereisten das Ausland, vor
allem England, um die dortigen Methoden zu erforschen. Maschinen
wurden von dort, auch von Belgien und Frankreich bezogen, ausnahms-
weise erst im Inland gebaut. Die preußische Statistik zeigt die ge-
ringe Anzahl von Dampfmaschinen des Jahres 1837, zugleich ihre
rasche Vermehrung bis 1849:
II. Die Fortbildung des Zollvereins. Die Industrie. ß«?
Dampfmaschinen in Preußen:
1837 1843 1849
Stehende Maschinen . . . . 41g 863 i444
Dampfwagen — 149 429
Dampfschiffe 4 79 90
Die Fortschritte der einzelnen Geschäftszweige sind in dieser Jugend-
zeit der deutschen Industrie sehr ungleiche gewesen, wie das bei der
Auflösung der alten Zeit mit ihrem Widerstände gegen Neuerungen
nicht wohl anders sein konnte. Auch Rückständigkeiten sind nicht
ausgeblieben.
Einst, bis zum Ende des 1 S.Jahrhunderts, genoß das deutsche L e i n -
wandgewerbe in ganz Europa eines hohen Ansehens und versandte
sogar in fremde Erdteile, nachdem der Patriot und Kaufmann Hasen-
klever im schlesischen Riesengebirge einen verbesserten Flachsbau
und eine Legart und Appretur der Leinwand im Geschmack aus-
wärtiger Verbraucher eingeführt hatte. Machte auch bald die baum-
wollene Ware der leinenen Konkurrenz, so konnte darin doch nicht
der entscheidende Grund des Darniederliegens der Leinenfabrikation
nach 18 15 erblickt werden, da sie sich in England, Irland und Belgien
gehalten hatte. Vielmehr war die in Handspinnerei und Handweberei
beharrende altmodische Betriebsweise die Fessel der ganzen Betriebs-
weise. Der Niedergang übertrug sich auch auf den Flachsbau, von
dem die Landwirte sich zurückzogen, als sie keine zahlungsfähigen,
regelmäßigen Käufer mehr fanden. Obwohl das deutsche Land für
diese Rohstofferzeugung wohl geeignet war, reichte sein Angebot für
die sinkende Nachfrage nicht einmal mehr aus, und die Einfuhr von
Rußland und Österreich entmutigte die Landwirte von neuem. Die
Bemühungen der Regierung, in den vierziger und fünfziger Jahren
den Flachsbau zu heben, blieben erfolglos.
Der Leinwandweberei brachte der Zollverein zwar erweiterten
Markt, so daß sie, insbesondere die schlesische, anfangs mit dem
gewährten Schutz leidlich auszukommen schien. Die einst so große
Ausfuhr war indessen verloren gegangen. England hielt durch außer-
ordentliche Zölle jede Leinenzufuhr fern und verstand es, die über-
seeischen Absatzgebiete sich zu sichern. Spanien, Belgien, Rußland
ließen ebenfalls die deutsche Ware nicht mehr hinein, auch Österreich
setzte die Politik fort, die es mit dem Verluste Schlesiens seit dem
Hubertusburger Frieden befolgte, siedelte an den Sudeten Leinwand-
weber an und rächte sich für den Verlust der verlorenen Provinz da-
durch, daß es deren Waren ins eigene Land nicht hineinließ. Die
belgische Leinwand hatte mit der Napoleonischen Vereinigung Bel-
giens mit Frankreich im Westen Fuß gefaßt und behauptete ihr Ab-
III. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — iJ
satzgebiet weiter, so daß die Schlesier auch diesen unter dem Kaiser-
reich verlorenen Markt nicht wiedergewinnen konnten. Ein Ersatz
für alle solche Verluste konnte in Deutschland nicht gefunden werden.
Ein Teil der schlesischen Weber ging zu einer wenig fruchtbaren
Baumwoll-Handweberei über. Die meisten verfielen nach 1830 in ein
Elend, das sprichwörtlich geworden ist, wenn von der Not einer Haus-
industrie die Rede ist.
Mit der Gewerbefreiheit war der binnenländische Wettbewerb noch
verstärkt worden. Er führte zur Verschlechterung und Verfälschung
der Ware durch die Hinzunahme von Baumwolle, worunter auch die-
jenigen litten, die zuverlässig lieferten. Die alte staatliche Beaufsichtigung
mit Schau und Stempelung wurde daher 1827, wenn auch nicht obli-
gatorisch, wieder aufgenommen, aber die Toten kehren nicht zurück.
Die schlimmsten Zeiten in Schlesien waren in den vierziger
Jahren, in denen der Hungertyphus bei den schlechten Erntejahren
1846 und 1847 Hunderte von Menschen hinwegraffte, und es zu einem
gewaltsamen Aufruhr gegen die Verleger kam, deren Härte gegen die
armen Heimarbeiter nicht geleugnet werden konnte, die aber ihrer-
seits bei dem Absatzmangel ebenfalls in einer steten Schwierigkeit
waren. Damals war der Tagesverdienst eines Webers 2^2 — 3 Sgr.
für eine Arbeit von i6 Stunden! Gar mancher war verschuldet und
mußte seinen Stuhl verkaufen, um ihn dann zu hohem Preise wieder
zu mieten. War die Ware schlecht, so machten die Mittelspersonen,
die Faktoren, Abzüge, war sie ordentlich, so zahlten sie um so
weniger, je mehr der Verkauf stockte oder je mehr Ellen ihnen heran-
gebracht wurden. Geldsammlungen, um den notleidenden Webern zu
helfen, waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der Staat wurde
angerufen, und König Friedrich Wilhelm IV., der nach Schlesien
eilte, um die Zustände in Augenschein zu nehmen, beauftragte die
Preußische Seehandlung, Spinnereien zu errichten, in denen auch eine
Anzahl der Unglücklichen unterkam. Allein, wie Treitschke im
5. Bande seiner „Deutschen Geschichte" mitteilt, das gute Herz des
Königs fand wenig Verständnis bei seinen Räten, die ganz im Banne
der liberalen Doktrin lagen und von den „Naturgesetzen der Volks-
wirtschaft" alles Heil erwarteten. Insofern hatten sie recht, als das
veraltete System der Handarbeit nicht mehr zu retten war. Unter
den gegebenen Verhältnissen war weder von der Selbsthilfe der Ar-
beiter noch von der Einsicht der Unternehmer etwas zu erwarten.
Aber sie irrten, wenn sie das Eingreifen des Staates abwiesen. Nur
unter einem starken, das ganze Gewerbe erfassenden Schutzzoll hätte
die Anregung zur Gründung von neuen Spinnereien und Webereien
im großen mit zeitgemäßen Einrichtungen kommen können. Der
Übergang würde für die Arbeiterschaft schmerzhaft gewesen sein.
II. Die Fortbildung des Zollvereins. Die Industrie. go
doch hätte die Radikalkur allein geholfen, da die Vorbedingungen für
die Neuordnung des Gewerbes, genügend Arbeitskraft, Boden für die
Rohstofferzeugung und, unter den allgemeinen Fortschritten des Zoll-
vereins, auch Unternehmungslust und Kapital vorhanden waren.
Die alte Leinwandspinnerei stand schon unter dem Druck
der neuen mechanischen. In Bielefeld wurde bereits feineres Garn
gesponnen, und die Bleicherei war auch in anderen Teilen Deutsch-
lands verbessert worden. Im ganzen war die Maschinenspinnerei je-
doch rückständig. 1839 zählte man in Preußen erst 11 Fabriken.
Bei der Schutzzollfrage von 1842 — 1846 handelt es sich vor allem um
den Gedanken, diese verbesserte Erzeugung hochzubringen, da die
Handspinnerei nicht mehr zu halten sei. Die mechanische Weberei
in Wolle und Baumwolle wurde als Beispiel herangezogen, wie sicher
der Schutz gegen das Ausland nützen könne. Als Hauptgegengrund
wurde die Verteuerung des Garnes für die Hausweber geltend ge-
macht, obwohl man mit Recht von der anderen Seite darauf hinwies,
daß dieses Gewerbe nicht lebensfähig sei. Die oben erwähnten Zu-
geständnisse, 21/2% Schutz für Maschinengarn, zu welchem sich 1846
die Generalzollkonferenz verstand, waren jedoch für die mechanischen
Fabriken ungenügend, wie die Folgez-eit lehrte, so daß eine Neuord-
nung des ganzen Gewerbes ausblieb.
Die Baumwollweberei war mehrfach aus der vorgenannten
Industrie hervorgegangen. Sie hatte ihren Sitz besonders in Sachsen.
Unter dem preußischen Zollgesetz wurde sie auch im Rheinland und
in Berlin lohnend, so daß sogar eine bescheidene Ausfuhr Platz ge-
griffen hatte. Nach dem Eintritt Sachsens in den Zollverein erwuchs
Preußen ein Mitbewerber, dem durch den Übergang zu feineren
Stoffen und durch die Verbesserung der Druckerei, und Weberei be-
gegnet wurde. In der Lausitz, in Schlesien, Schwaben, Bayern ent-
standen in dieser Zeit größere Betriebe mit guten Ergebnissen. Bei
weitem das meiste verwebte Garn war ausländischen, besonders eng-
lischen Ursprungs. Die Mehreinfuhr betrug 1834 195 728 Ztr.,
1845 545283. In Sachsen und am Rhein waren unter der Kontinen-
talsperre neben den älteren kleinere Spinnereien begründet worden.
Der Schutz des Zollvereins hatte in Bayern, Württemberg, Baden durch
kapitalkräftige Unternehmer auch einige größere aufkommen lassen,
die bei den niedrigen Arbeitslöhnen sich so lange halten konnten, bis
die englische Technik wiederum einen Sprung nach vorwärts machte.
Die Mehreinfuhr von roher Baumwolle in den Zollverein belief sich
1834 ^uf 155 156 Ztr., 1845 auf 340969, aber die Transportspesen
waren unvergleichlich höher als in Manchester, wo die Fabrikanten
zudem jede Konjunktur am Weltmarkt ausnützen konnten, um sich
zu versorgen. Nach der vorerwähnten Zollerhöhung kamen zunächst
go III. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
noch keine besseren Tage für die Spinnereien, da die politischen
Wirren von 1848 ihnen die so nötige Stetigkeit des Absatzes nicht
gewährten.
Die Seide nindustrie war unter dem Zollverein vorwärts ge-
kommen. Schon vorher hatte sie in Crefeld großes Ansehen genossen,
wo sie aus Haus- und Fabrikarbeit zusammengesetzt war, jetzt schoß
sie in Elberfeld und auch wieder in Berlin kräftig hervor, wo sie
schon zu Friedrich des Großen Zeiten gepflegt worden war.
In den zwanziger Jahren war auf der Leipziger Messe die
Cref eider Ware der Züricher nicht gewachsen gewesen, in Frankreich
beherrschte Lyon den Markt, die englische Industrie war in dem
Färben der Foulards überlegen. Bei dem vergrößerten deutschen
Wirtschaftsgebiet faßten die Crefelder in Leipzig bald wieder Fuß.
Die Rohseide, die aus Italien und Österreich bezogen wurde, und die
fremden Gespinste brachten 1834 eine Mehreinfuhr von 6969 Ztr.,
1845 H3Ö8. In Crefeld wurden 1846 8000 Stühle beschäftigt, als
dort eine Absatzkrise durch den zeitweisen Verlust amerikanischer und
orientalischer Märkte auftrat. Die Stadt hatte vorher jährlich um
1 200 Einwohner zugenommen, die Frauenarbeit war umfangreich ge-
worden. Die Löhne waren rasch gestiegen, es bestanden 20 Färbereien,
7 Appreturen. Eine Webschule wurde 1839 errichtet, neue unter-
nehmende Häuser waren zu den alten hinzugekommen.
Die Wollindustrie — die in Aachen wurde in ihrem Wieder-
aufbau bis 1831 oben erwähnt — war unter dem preußischen Tarif
hier und in Monjoie, Eupen, Burg, Brandenburg, Luckenwalde erblüht,
und die hergestellten Tuche gewannen in Südwestdeutschland besseren
Eingang, Die linksrheinischen Werke waren bald so erstarkt, daß sie
in der Schweiz, Italien, Spanien, in der Türkei und in den Vereinigten
Staaten ihre Ware zu vertreiben wußten. 1841 erschienen die Moden-
und leichten Wollstoffe sogar auf dem belgischen hochgeschützten
Markt. Auch in Württemberg und Gotha waren größere Betriebe
entstanden, und in Langensalza wurde die erste Kammgarnspinnerei
mit englischen Maschinen eröffnet, welcher Vorgang in Thüringen
bald Nachahmung fand. Doch blieb die Kammgarnspinnerei dauernd
unter dem Druck der englischen Konkurrenz, der der Kapitalreichtum,
der nahe Rohwollmarkt und die Maschinenverbesserungen zugute kamen.
Die Lederherstellung war unter dem Niedergang der handwerks-
mäßigen Gerberei und der Erweiterung des heimischen Marktes auf eine
breitere Grundlage gehoben worden, ohne daß sie ihre technischen
Fähigkeiten verändert hatte. Das französische Seguinsche Schnell-
gerbverfahren bewährte sich nicht, wenn es auch die Anregung zu
späteren erfolgreichen Forschungen geworden ist. Die bedeutendsten
Gerbereien waren am Rhein und an dessen Nebenflüssen, nutzten das
II. Die Fortbildung des Zollvereins. Die Industrie. q j
fließende Wasser aus, auf dem ihnen auch der wertvolle Hilfsstoff aus
den nicht entfernten Schälwäldern zugeführt wurde. Die seit 1827
errichtete Dampfschiffahrt versah sie auch mit Häuten und verfrachtete
ihre Ware zum Verbrauch. Die Nachfrage nach Leder war unter
dem Gedeihen der Landwirtschaft durch den Bedarf nach Gurten,
Riemen, Geschirren belebt worden. In gleicher Richtung wirkten die
Treibriemen für das anbrechende Maschinenzeitalter, das Schuhwerk
für die reicher werdende Bevölkerung, die Möbelpolsterung, die Aus-
rüstung der vergrößerten Heere, auch das allgemein rasch seit 1845
verbreitete Lederportemonaie mit Stahlbügel und der Lederkoffer.
Die Papierfabrikation wird im Zollverein durch den Ausfuhr-
zoll von Lumpen und Hadern geschützt. Vor 183 1 hatte sie ihren
Sitz nur in der Rheinprovinz, später auch in Bayern und Sachsen.
Damals wurden die Papiertapeten zuerst in Deutschland üblich, deren
Muster sich an französische Vorbilder anlehnten, während die Druck-
einrichtungen aus England geholt wurden.
Auch für Herstellung von Seife, Kerzen, Stärke, Mehl, Öl,
Glas, Ton waren bringt die Zoll Vereinsstatistik günstige Zahlen. Die
Nürnberger Luxus- und Spielwaren behaupteten ihren alten Ruf,
nachdem die handwerksmäßigen Betriebe vielfach in die Form kleiner
Fabriken ausgeweitet worden waren, sowie ihre Ausfuhr nach Eng-
land, Italien, Frankreich, der Levante und Amerika. Die Oberammer-
gauer, die bis zum Anfang des Jahrhunderts ihre Niederlagen an Schnitz-
waren in Kopenhagen, Petersburg, Moskau, Amsterdam, Cadix und
Lima behauptet hatten, hoben ihre Ausfuhr von neuem durch be-
güterte Verlagshäuser. In der Tabakfabrikation drang die Zigarre
ein, die den Pfeifengebrauch langsam zurückdrängte. Noch 1847 kamen
erst Vg cles verarbeiteten Tabaks auf Zigarren. In Baden war der
Produktionsfortschritt in Fabrik und Hausindustrie auffällig verbreitet
worden. 1834 waren hier nur 5 10 Personen in der Zigarrenfabrikation be-
schäftigt gewesen, 1861 schon 3592 in 172 Betrieben, 1905 berichtet
die Statistik von 35721 Arbeitern und 753 Werken. In den Chemi-
kalien waren damals England und Frankreich führend. Unter dem
Zollschutz wurden im Rheinland, Westfalen und Sachsen mancherlei
Hilfsstoffe der Industrie, Schwefelsäure, Alkalien, P'arben, Soda, Ultra-
marin auch in Nürnberg, hergestellt, aber im Vergleich zu dem für
den Weltmarkt arbeitenden England nur im kleinen. Doch fängt die
deutsche chemische Wissenschaft mit ihrer Gründlichkeit schon an, im
Auslande bemerkt zu werden. Auf der Londoner Weltausstellung von
1851 wurde ein Vergleich der englischen und deutschen chemischen
Industrie gezogen. Von jener hieß es, daß sie nur wenige Stoffe im
großen und billig zum Verkauf bringe, während diese in ihren Fa-
briken allerdings einige Stoffe begünstige, im übrigen bei ihren vielen
92
III. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — li
gebildeten Chemikern zahlreiche Waren der verschiedensten Art liefere,
wie in Farben und Arzneistoffen, in geringen Mengen, aber guter
Beschaffenheit.
Aus dem waldreichen Deutschland wurde wie ehedem viel Holz
auf dem Rhein, der Weser, der Elbe und der Memel zur Ausfuhr ge-
bracht. Jetzt zog die Zeit der Sägemühlen herauf. Die Möbel stammten
vorzugsweise noch aus dem Handwerk, das aus Birnen- und Nußholz
und aus importiertem brasilianischen Mahagoni die Zimmereinrichtung
im Biedermeierstil anfertigte. Viel gewöhnliches Holz wurde beim Herd-
und Ofenbrand, aber auch in der Metallindustrie verbraucht. Seit der
Mitte der dreißiger Jahre wurde mit der Abnahme des Holzbestandes
die Steinkohle höher geschätzt. Die Dampfmaschinen waren ganz
auf sie angewiesen. Die Rheindampfschiffahrt gebrauchte nur Ruhr-
kohlen, von denen Preußen 1828 1689935 Ztr., 1831 4373147 aus-
führte. 1839 ^st die Gesamtausfuhr an Kohlen aus dem Vereinsgebiet
7 Millionen geworden, Schlesien sorgte für den eigenen Bedarf. Sachsen
bezog außer aus eigenen Lagern Braunkohle aus Böhmen, Nord-
deutschland erhielt englische Kohlen, die bis Magdeburg gingen. Das
Gas, das 1815 schon London zur Nacht beleuchtete, vertrieb erst 1826
in dem nordseenahen Hannover, 1828 in BerHn, I840 in Leipzig, 1841
in Köln die an Ketten quer über die Straße hängende Öllampe. Die
Gesamtmenge der in Preußen geförderten Steinkohlen bemißt Dieterici
1831 auf 7019958, 1842 auf 14900932 To. Für die Braunkohle sind
die entsprechenden Zahlen i 719495 und 4431645.
Von dem sonstigen Bergbau ist der für Gold und Silber bei
der Einfuhr aus Amerika und Rußland wenig lohnend. Gold wurde
noch im Rhein, z. B. bei Bischofsheim in Baden, gewaschen, Silber
im Harz und Königreich Sachsen aus Schächten gefördert. 1831
kannte Preußen eine Silberproduktion von 19 031, 1842 von 21 798
Mark. Kupfer, doch nicht ausreichend für den heimischen Bedarf,
wurde im Mansfeldschen gegraben. Blei kam aus Spanien, Zinn aus
England. Zink, vor allem aus Schlesien, deckte die Nachfrage des
Binnenmarktes und gelangte zur Ausfuhr. Für ganz Preußen betrug
1845 die Rohzinkgewinnung 293752, 1852 794379 Ztr.
In die Eisen- und Stahlerzeugung und Verarbeitung geben
uns mehrere statistische Angaben einen Einblick. Rohstahleisen und
Gußwaren erbrachten 1 83 1 eine Menge von i 24 1 665 Ztr., 1 842 i 962 1 1 2.
Dieselben Gegenstände mit Einschluß des Stabeisens, gewalzten Eisens,
Eisenblech, Eisendraht 1842 4315893, 1852 8614278 Ztr. Nach einer
anderen Aufzeichnung war die Hochofenproduktion in Preußen von
1834 bis 1847 von 2,69 auf 4,58 Millionen Ztr. gestiegen. Die Beleg-
schaft im gesamten Bergbau und Hüttenbetrieb des Staates gibt für
1836 von Reden auf 49752, 1847 ^^f 103693 Personen an, mit deren
II. Die Fortbildung des Zollvereins. Die Industrie. g^
Hilfe 2 1,5 und 48,4 Millionen Tlr. Erzeugnisse am Ursprungsort vor-
handen waren. Die Entwicklung der Montanindustrie war im Zoll-
verein durchaus nicht gleichmäßig. In der Oberpfalz, wie bei Amberg,
war die Tätigkeit in den staatlichen und privaten Eisenerzgruben ohne
Vorwärtsbewegung, in den Hüttenwerken ging es lebhafter zu, aber
bald häufen sich die Klagen über teure Kohle und ungenügende Ab-
fuhrverhältnisse. Aus Schlesien wurde 1846 kein Roheisen ausgeführt,
da es ganz am Orte verhüttet wurde. Die Provinz wurde von dem
Preisdruck weniger mitgenommen als der Westen. Sie arbeitete schon
mit Koks, das heißt billiger, und war von der belgischen und eng-
lischen Konkurrenz in ihrer Abgeschiedenheit nicht überlaufen. Der
Eisenbahnbau von der Mitte der vierziger Jahre an brachte Schlesien
ebenso wie dem preußischen Westen lebhafte Anregung. Die Unter-
nehmung mit neuen Rechtsformen, die in Ostdeutschland nur langsam
eindrang und nur zögernd die Magnatenbetriebsweise ersetzte, wußte
sich im Westen rascher heimisch zu machen. Die Koksöfen wurden
erbaut und die Stahlindustrie nach englischem Vorbilde umgeformt.
Als 1826 Friedrich Krupp, der Erfinder des deutschen Guß-
stahles starb, übernahm sein Sohn Alfred, 14 jährig, mit seiner Mutter
zusammen die Firma, bei der vier Arbeiter beschäftigt waren. Die
Gußstahlerzeugung im großen mit ihren gewaltigen technischen Fort-
schritten und die Verarbeitung des Produktes ist sein Lebenswerk.
Anfangs war er Schmied und Schmelzer, Korrespondent und Reisender
zugleich. Damals brachte er seine Gußstahlwalzen für die Gold- und
Silberindustrie und seine Münzstempel zum Ansehen, die er in Bayern
und Schwaben absetzte. Dann ging es schneller vorwärts. 1835
war die Zahl der im Werke Tätigen 67, und die erste Dampfmaschine
wurde aufgestellt, 1843 gelang die Anfertigung von Büchsen- und
Pistolenläufen aus Gußstahl, 4 Jahre später die von Geschützrohren,
184g von Eisenbahnwagen-Achsen. 1846 war der Betrieb noch ein
mittlerer mit 122 Arbeitern. In dem nächsten Jahrzehnt ging es unter
den veränderten Umständen in einer ganz anderen Geschwindigkeit
voran.
Die Kleineisenindustrie am Rhein, in Suhl, Schmalkalden hatte
in den zwanziger Jahren ihren halb handwerksmäßigen, halb haus-
industriellen Charakter bewahrt. Im Zollverein wurde bald die fabrik-
mäßige Beschränkung auf weniger Waren vorteilhaft, wenn man auch
von der damaligen englischen Typenbildung noch weit entfernt war.
Neue Waren, wie Taschenstahlbügel, Regen- und Sonnenschirmgestelle,
Zuckerformen erscheinen auf dem Markte. Die Fabrikzeichen werden
von den Zünften auf die Fabriken übernommen. Die Fall-, Ruh-
und Federhämmer, die Schneide- und die Auszahnmaschinen für Sägen
werden regelmäßige Bestände des Inventars. Die Vorbereitung für
94
III. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — li
den Weltruf der Ganzfabrikate der nächsten Jahrzehnte war getroffen
worden.
Blicken wir auf die wirtschaftliche Gesamtentwicklung im Zoll-
verein zurück, so ist sie als eine günstige anzusprechen. Für 16 Waren
des Verbrauchs zusammen berechnet Dieterici den Geldwert der auf
den Kopf der preußischen Bevölkerung entfallenden Mengen:
1 806 1 1 Tlr. 1 5 Sgr. — Pfg.
1831 21 „ 5 „ 9 „
1842 22 „ 3 „ II „
184g 26 „ 21 „ 3 „
In dieser Stufenfolge wird die Zunahme des Reichtums zum Aus-
druck gebracht. Hatte der Zollverein auch in der Zeit seiner Krise
einzelnen Produzentengruppen eine große Enttäuschung bereitet, später
als man eine Übersicht über die Jahre 1833 bis 1848 hatte, verschwanden
die Beschwerden in dem Fortschritt des Ganzen. Der innere Markt
war kräftig entwickelt worden. Nur ein erheblicher Mangel war fühlbar.
Das Vereinsgebiet hatte keinen eigenen Ausgang zur Nordsee. Die
Ostsee nützte nur der ostelbischen Getreideausfuhr, allerdings in zu-
nehmender Weise, als seit 1844 die Kornzölle in England gefallen
waren. Die Nordseehäfen machten ihr Hauptgeschäft in der Einfuhr
und dem Zwischenhandel und förderten damals die industrielle Waren-
verschickung nicht viel. Eine Besserung für die Ausfuhr brachten
die Eisenbahnen, doch blieb die handelspolitische Lücke noch weiter-
hin eine reizbare, schwache Stelle der sonst so segensreichen Neu-
schöpfung.
III. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt. Der Deutsche
Zollverein hatte angefangen, die Volkswirtschaft dem Auslande gegen-
über als ein Ganzes zusammenzufassen. Das blieb den meisten Zeit-
genossen in den vierziger Jahren verborgen, sie schätzten eigentlich
nur seine negative Wirksamkeit, die Beseitigung der inneren Zoll-
hindernisse. Bei der Verbesserung der Landstraßen und Wasserwege
und bei der Anlage der Eisenbahnen bewegte man sich in einer ähn-
lichen Gedankenreihe: Man hielt sich an ihre Verkehrserleichterung,
übersah ihre treibende, positive Kraft.
Die lange Kriegszeit hatte den Ausbau der Landstraßen hintan-
gehalten, ihren Bestand verfallen lassen. Im Frieden erkannte man
alsbald die Notwendigkeit einer umfassenden Straßenpolitik. Anfang
1816 betrug die Länge der vom preußischen Staat unterhaltenen Straßen
mit Steinunterlage 419^4 Meilen, zu denen noch 102^4 andere öffent-
liche mit oder ohne Weggelder hinzukamen. 1831 war die staatliche
Gesamtziffer auf 1147V8, 1848 auf 1573, 1862 auf 1920, die der kom-
munalen Chausseen von 299 des Jahres 1831 auf 1865 des Jahres 1862
gestiegen. 1875 wurden die Staatsstraßen den Provinzen überwiesen.
III. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt.
95
Überall war es der Staat, der zum Bau den Anstoß gab, die
private Tätigkeit fand hier keinen Gewinn. Nur ausnahmsweise wurde
die Verwaltung von finanziellen, der Regel nach von volkswirtschaft-
lichen Gesichtspunkten geleitet. Das kam dadurch zum Ausdruck,
daß die Chausseegelder nach dem Gebührenprinzip erhoben wurden,
also höchstens die Kosten der Erhaltung zu decken hatten, während
die Aufbringung der Baulast und der Zinsen der Steuerkasse anheim-
fiel. Die hohen Ausgaben bei der Gebühreneinziehung, die bis zu
30% der Roheinnahme verschlangen, und die Überzeugung, daß die
Landstraßen der Gesamtheit so sehr nützten, daß die besonderen Vor-
teile der sie befahrenden Fuhrleute dem gegenüber ganz zurücktraten,
hat zuerst in Süddeutschland und später, im letzten Drittel des Jahr-
hunderts, auch im Norden die Beseitigung der Strafdenabgaben her-
beigeführt. In Mecklenburg -Strelitz sind sie erst 19 15 ganz ver-
schwunden.
Auch der Zollverein hatte eingegriffen und den Beschluß erreicht,
daß die Gebühren nicht über den preußischen Tarif von 1828 erhöht
werden durften. Gleichzeitig wurde durch seine Vermittlung angeordnet,
daß Kanal-, Brücken-, Hafen-, Niederlage-Abgaben nur nach Maßgabe
wirklich stattgefundenen Gebrauchs aufgelegt werden sollten.
Von Anfang an wurden die Chausseen so fest errichtet, daß sie
dem schweren Massentransport gewachsen waren, anders als in Eng-
land, wo die leichteren Wege genügten, da große Mengen von Waren
auf der Wasserstraße verfrachtet wurden. Nur die Bezirks- und Vizinal-
straßen wurden weniger intensiv gebaut, da sie einem geringeren
Verkehr ausgesetzt waren. Sie erhielten meistens eine Staatsunterstützung,
um rasch vollendet zu werden. Die Straßenpolitik war eine wohl-
überlegte und richtige.
Auf den Chausseen bewegten sich mit überspannter Plane die
von 4 oder 6 Pferden gezogenen Frachtwagen, die, wenn es bergauf
ging, eines Vorspannes bedurften. Der Personenverkehr wurde gegen
früher durch das staatliche Postwesen erleichtert. 1824 hatte der
preußische Generalpostmeister Na gl er die in England und Frankreich
einige Jahre vorher erprobten Schnellposten nach seinem Lande
verpflanzt, wodurch die bisherige Reisedauer z. B. von Berlin nach
Magdeburg von 2Y2 Tagen auf 15 Stunden abgekürzt wurde. Das
erschien dem Reisenden damals als eine solche Vollkommenheit, daß
man die Gegnerschaft jenes sonst verdienstreichen Mannes gegen die
Eisenbahnen vielfach teilte, da sie das große Landstraßenkapital zu
entwerten drohten.
Die Chausseen gaben einer Menge von Menschen Verdienst,
den Fuhrmännern und den beliebten Postillonen mit dem Posthorn,
den Straßenarbeitern und den Gebühreneinnehmern, den Fuhrhaltern
q5 III. Abschnitt. Die Zeit von 1833— 1848.
und den Wirten, die meist in einer Person vereinigt waren. Noch
heute findet man, besonders in Bayern, die alten weiten Gasthöfe mit
ihren großen Ställen, die ehemals gedrängt vollgestanden hatten, wo
eine Reihe von Frachtwagen des Nachts vor dem Hause Halt machte,
in dem, wie es Ludwig Thoma von „Altaich" beschreibt, „von 4 Uhr
morgens angezapft, der Kessel mit Voressen ans Feuer gerückt wurde,
und den Hausknechten die Säcke von den Trinkgeldern wegstanden".
Dieser ganze Kreis von Leuten, die an der Landstraße ihre Lebens-
quelle fanden, erhob gegen jede Abänderung des Bestehenden heftigen
Einspruch, und die väterlichen Landesregierungen hatten für ihn ein
warmes Herz.
Mit dem Zollverein erwuchsen dem Straßenbau insofern neue
Aufgaben, als die alten Warenzüge sich verschoben und bei der inneren
Verkehrsfreiheit jetzt an die direkten nächsten Linien zwischen den
großen Orten gedacht werden mußte. Dieser Anlageplan konnte weiter-
hin nicht derselbe bleiben, als die Eisenbahnen den Hauptverkehr über-
nahmen. Er wurde zu einer, wenn auch wichtigen Ergänzung des
eisernen Wegenetzes und hatte zugleich sich den Bedürfnissen des
Nahverkehrs anzupassen.
Die ersten Eisenbahnen, die in Deutschland gebaut wurden,
hielt man nur für Personenbeförderungsmittel. Man hatte abgezählt,
wie viele Menschen sich täglich durchschnittlich auf der Straße von
Nürnberg nach Fürth bewegten und berechnete aus der gewonnenen
Zahl die künftige Rentabilität der Linie. Erst im zweiten Jahre des
dortigen Betriebes wurde eine bescheidene Güterverfrachtung versucht.
Wie wenig man von den neuen Transportmitteln erwartete, er-»
sehen wir u. a. daraus, daß sich Fr. von Reden, der als unermüd-
lich tätiger Statistiker und weitgehende Pläne hegender National-
ökonom wertvolle Nachrichten über die deutsche Wirtschaftsgeschichte
hinterlassen hat, hinsichtlich des Landes, in dem er beamtet gewesen
war, 1839 so aussprach: „daß von jeher ihm als Hannoveraner die
Anlage von Eisenbahnen durch das Königreich, namentUch in der
Richtung von Norden nach Süden, nur dann gerechtfertigt erscheine,
wenn sie als eine — unangenehme — Notwendigkeit sich darstellte".
Reden (1804—1857) trat 1837 in die preußische Verwaltung über,
wurde aber 1848, als er im Frankfurter Parlament zu der linken Seite
des Hauses gehalten hatte, auf Wartegeld gesetzt. Er schrieb nicht
nur über Deutschland, sondern auch über Rußland, Amerika und Frank-
reich. Sein bekanntestes Buch ist geworden: „Die Erwerbs- und Ver-
kehr sstatistik des Königsstaates Preußen 1853 — 1854", das uns weiter
unten als Quelle dienen wird.
Der Ausspruch König Friedrich Wilhelms IIL: „Kann mir
keine große Glückseligkeit vorstellen, ob man einige Stunden früher
III. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt.
97
in Potsdam ankommt oder nicht", und der seines Generalpostmeisters:
,,daß er täglich diverse Sechssitzposten nach Potsdam gehen lasse,
und es sitze niemand darin, und nun wollten die Leute noch gar eine
Eisenbahn bauen", ist ganz von den irrigen Vorstellungen getragen,
erstens, daß die Bahn höchstens für den Personenverkehr tauge, und
zweitens, daß man von dem bestehenden Verkehr auf der Landstraße
ausgehen müsse, um den künftigen auf der Eisenbahn zu ermitteln.
Daß man schneller als früher fuhr, wurde ohne weiteres eingesehen,
bald überzeugte man sich von der größeren Billigkeit, später von der
größeren Zuverlässigkeit, häufigeren Gelegenheit und Regelmäßigkeit
der Verbindung. Dann übertrug man die gewonnene Einsicht auf
den Güterverkehr. Man hatte nur privatwirtschaftlich gedacht, als
man sich die Beseitigung der bestehenden Transporthindernisse ver-
rechnete. Das volkswirtschaftliche Verständnis, das schon List auf
Grund seiner amerikanischen Erfahrungen zum Ausdruck gebracht
hatte, brach sich erst langsam Bahn. Durch die verbesserten Fahr-
mittel wächst der Personenverkehr schon deshalb, weil er weniger
Zeit als ehedem in Anspruch nimmt, und vor allem weil der aus
ihnen steigende Güterverkehr und der wachsende Reichtum mehr Ge-
schäfts- und Vergnügungsreisen nach sich ziehen. Für Waren jeder
Art wird die billige Verfrachtung eine Markterweiterung, und je größer
der Markt ist, um so umfangreicher und spezialisierter wird die Güter-
erzeugung werden. Durch den regelmäßigen und großen Fernaustausch
entsteht zudem eine örtlich befestigte, produktive Gliederung der ver-
schiedenartigen Gewerbe, wenn auch unter natürlich bedingter oder
geschichtlich erworbener Sonderheit. Soweit eine solche Schichtung
nicht alsbald Platz greift, setzt der Fernwettbewerb ein, der um so
weiter ausholt, je schneller und billiger sich die Verschickung der
Waren gestaltet. Seine Wirkungen sind nicht immer frei von sozialen
Bedenken gewesen, vom Standpunkt der Gütererzeugung war hier der
mannigfache, überwiegende Vorteil nicht zu verkennen.
Der wirtschaftliche Aufschwung infolge vergrößerten Absatzes
setzte die Fähigkeit der Menschen und Naturkräfte, mehr als bisher
leisten zu können, voraus. Dem war auch so. Land- und Forstwirt-
schaft, Bergbau und Fischerei waren schon vor der Eröffnung der
Eisenbahnen örtlich oft über den Bedarf ergiebig, während in
wenig Meilen Entfernung Mangel herrschte. Jetzt kam der Ausgleich.
1817 hatte der Scheffel Weizen 66 Y2 Sgr. und ein Scheffel Roggen
75V3 ^S^- niehr im Rheinland als in Posen gekostet, bei einem Durch-
schnittspreis in der Monarchie von 122 bzw. 85^3 Sgr. 1853 waren
die Unterschiede nur 17 und 23, obwohl der Preis im ganzen gestiegen
war. Zu denselben Kosten konnte der Weizen damals auf 60 — 80
Meilen mit der Bahn befördert werden wie auf der Chaussee auf 10 — 15,
A. S a r t o r i u s v. W a 1 t e r s h a ii s e n , Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. '
q3 III. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848,
SO daß weit abgelegene Landgüter auf dem nationalen und Weltmarkt
konkurrenzfähig wurden.
Neue Bedürfnisse entstehen und werden befriedigt, bisher unbe-
kannte Gegenstände werden angeboten. Das Volk verbindet sich durch
ungezählte wirtschaftliche Wechselwirkungen und wird zu einem Ge-
sellschaftskörper, in dem sich ebenso wie stoffliche auch geistige Güter
bewegen. Die Ideen wandern schnell von Ort zu Ort und in bisher
abgelegene Gegenden. Gewiß, die radikalen ebenso wie alle anderen
daher sich Moralprediger und Pfaffen über die gefährlichen Tendenzen
der neuen Verkehrsmittel oft genug entrüstet haben. Allein der prak-
tische Nutzen war bald so groß, daß man sich lächerlich machte, wenn
man gegen den Strom anschwimmen wollte. So hieß es noch 1848
in der „Schwäbischen Dampfhymne" der FHegenden Blätter:
Und wia nur die Eisabah
Gar so dundrisch sausa ka!
Freilich sey's im Büachla z'finda,
Daß der Deufel steck dahinda. —
Doch dös ficht mir Keiner a:
Isch vom Deufel, wia mar leasa,
Isch koi dummer Deufel geweasa!
Daß das Bewußtsein der wirtschaftlichen Zusammengehörigkeit
auch zu einem nationalpolitischen werden muß, hat schon Goethe
ausgesprochen, in einem Wort, das uns Eckermann aus dem Jahre
1828 aufbewahrt hat: „Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins
werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden
schon das ihrige tun. Vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander,
und immer sei es eins, daß der deutsche Taler und Groschen im ganzen
Reiche den gleichen Wert habe; eins, daß mein Reisekoffer alle 36
Staaten ungeöffnet passieren könne".
Die Prophezeiung ist eingetroffen, mochten auch noch einige
Jahrzehnte vorüberziehen. Der politische Partikularismus war dem
heraufkommenden Eisenbahnwesen ein schweres Hemmnis. Denn alle
Anlagen vollzogen sich ohne den Plan eines deutschen Gesamtnetzes,
jeder baute auf eigene Faust, nicht einmal die notwendigsten Transit-
und Anschlußlinien kamen anfangs folgerichtig zustande. Jeder Staat
hatte seine eigene Meinung über Konzessionswesen, Oberaufsicht,
Staats- und Privatbetrieb und Tarifgestaltung. Von allen Ländern
konnte nur Preußen leidlich im großen und ganzen arbeiten.
List hatte schon 1831 ein nationaldeutsches Bahnsystem ersonnen,
welches seinen Mittelpunkt in Leipzig, der wichtigsten Stadt des
damahgen Binnenhandels, haben sollte. Sein Entwurf (die Karte ist zu
finden bei A. von Mayer, Geschichte und Geographie der deutschen
Eisenbahnen 1891) erfaßtö mit genialer Sicherheit, was später nach
mühsamem und kostspieligem Ausprobieren und harten Meinungs-
III. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt.
99
kämpfen endlich begriffen wurde. Der Deutsche Bund war zu ohn-
mächtig, um einen wahrhaft produktiven Gedanken zur Erwägung zu
stellen, der Zollverein in seinen Aufgaben zu beschränkt, um sich an
ein solches Werk heranwagen zu können. Bis 1846 sind in verschiedenen
Teilen Deutschlands Linien dem Verkehr übergeben oder bewilligt
worden, welche Städte, die meist nicht weit voneinander entfernt liegen,
miteinander verbinden: 1838 Berlin — Potsdam, Braunschweig — Wolfen-
büttel, Düsseldorf — Erkrath eröffnet, 1839 Leipzig — Dresden ebenfalls,
1840 Leipzig — Magdeburg, München — Augsburg, Heidelberg — Mann-
heim, Frankfurt — Mainz desgleichen, Bonn— Köln, Berlin^ — Stettin ge-
nehmigt, 1841 Berlin — Anhalt Köthen, Düsseldorf — Elberfeld, Köln —
Aachen eröffnet, Berlin — Frankfurt a. d. O., die oberschlesische Bahn,
Breslau — Schweidnitz genehmigt, 1842 Magdeburg — Halberstadt ebenso,
Leipzig- Altenburg eröffnet, 1843 die rheinische Bahn, Hannover —
Lehrte eröffnet, Leipzig — Hof und die niederschlesisch-märkische ge-
nehmigt, 1844 Hannover — Braunschweig, 1845 Cannstatt — Untertürk-
heim eröffnet, 1844 die bergisch-märkische, die thüringische, die nieder-
schlesische, die Wilhelmsbahn, Kosel — Oderberg, Dresden — Görlitz,
1845 Berlin — Hamburg, Loeben — Zittau, Chemnitz — Risa genehmigt.
Je mehr dieser Einzelstrecken wurden, um so dringender wuchs
das Bedürfnis ihres Anschlusses aneinander. Zugleich wurde auch die
Verbindung mit dem Ausland erwünscht. In der zweiten Hälfte der
vierziger Jahre lassen sich, bestimmt durch ihr eigenes Gebiet, vier Gruppen
von Linien unterscheiden: die nord-mitteldeutsche mit dem Mittelpunkt
Berlin, die niederrheinische mit Köln, die südwestdeutsche, von Frank-
furt a. M. sich südlich hinziehende, und die bayerische mit München
und Nürnberg. 1847 wurde die erste und zweite durch die Köln —
Mindener und die hannoversche Staatsbahn, die bayerische 1851 mit
der nord-mitteldeutschen durch die Strecke Leipzig — Hof — Lichtenfels,
und 1854 mit der südwestdeutschen durch die Linie Frankfurt a. M. —
Hanau- Aschaffenburg — Bamberg, 1859 die südwestdeutsche mit der
rheinischen durch die Linien der rheinischen Bahn notdürftig ver-
knüpft.
Mit Belgien wurde der Anschluß von Aachen her bei Herbestal
schon 1843, mit Österreich von Kosel bei Oderberg 1848, mit Frank-
reich von Saarbrücken bei Forbach 1852, mit Holland von Wesel bei
Emmerich 1856, mit der Schweiz von Freiburg bei Basel 1858 und
mit Rußland von Königsberg bei Eydtkuhnen 1861 fertiggestellt, d. h.
also an je einem Punkte konnte das Ausland mit der Bahn erreicht
werden.
Den sechziger und siebziger Jahren bleibt es vorbehalten, das stück-
weise zusammengeschweißte Gebilde mit neuen Strängen zu durchziehen
und Seitenlinien von den Hauptlinien auslaufen zu lassen. Am Ende
lOO in. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 15
der siebziger Jahre setzt eine neue Form des Baues ergänzend ein, die
Schmalspur-, Sekundär-, Lokal-, Straßenbahn, die dem Dorf-, Vorort-
Stadtverkehr den Anschluß an die Vollbahnen ermöglicht. Um die
Mitte der fünfziger Jahre kann man zuerst von einem deutschen, wenn
auch noch nicht vollendeten Eisenbahnnetz sprechen. Die Rückwirkung
auf das deutsche Wirtschaftsleben war freilich schon vorher fühlbar
geworden, insbesondere auch auf den deutschen Zollverein.
Zunächst waren neue Industrien entstanden, die Lokomotiven, Schie-
nen, Wagen und die sonstigen vielartigen Gegenstände herstellten, welche
vom Bau und Betrieb der neuen Verkehrswege verlangt wurden. Der
Eisen verbrauch, der 1834 auf 10,6 Sgr. für den Kopf berechnet wurde, war
schon 1841 auf 18,1 gestiegen. An Schienen-, Roh-, Stab- und Schmiede-
eisen wurden 1834 367000 Ztr. eingeführt, 1840 bereits i 203000. Am
Anfang der zweiten Vereinsperiode liefen in Deutschland 245 Loko-
motiven, von denen 166 aus England, 12 aus Belgien, 29 aus Nord-
amerika und nur der Rest aus Deutschland stammten. Die Abhängig-
keit vom Auslande wird hiermit ebenso beleuchtet wie durch die
Schienen- und sonstige Einfuhr an Eisenmaterial, als von 1842 — 45 die
Mehreinfuhr von geschmiedeten Eisen und Stäben, Luppeneisen, Eisen-
bahnschienen, auch rohem und raffiniertem Stahl in das Vereinsgebiet
über I Million Ztr. im Werte von mehr als 5 Millionen Tlr. betrug-
Die Tatsache ist erheblich für die Erklärung der Vereins-Handelsbilanz
von 1834 — 46:
Einfuhr Ausfuhr aus dem
Jahre zum Verbrauch freien Verkehr
Tlr. Tlr.
1834 105943598 143622605
1834 — 1838 127 191 826 157 665 610
1839 — 1843 180072088 176770907
1846 221 488812 170764480
Die Bilanz ist bis 1838 aktiv und wird dann vornehmlich infolge
der Einfuhr von Bahnmaterial passiv. Fragen wir, wie die Differenz
bezahlt wurde, so hört man wenig von Geldexporten bei ungünstigem
Wechselkurs. Wohl aber wird berichtet, daß Deutschland bei seinen
Bahngründungen auch ausländisches Kapital herangezogen habe. Man
kann daher schließen, daß die Mehreinfuhr mit Bahnaktien bezahlt
wurde. Die ausländischen Aktienzeichner zahlten ihren Bankiers im
eigenen Lande den Betrag ein, welcher den Material-Exporteuren für
ihre Wechselforderung zufloß, die dann in Deutschland zur Deckung
der erworbenen Aktien diente. Doch war Deutschland nicht mehr
lange auf fremdes Kapital und fremde Ware bei seinem Bahnbau
angewiesen, da sowohl der Reichtum zunahm, als auch seit der Zoll-
III. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt. lOi
gesetzgebung von 1844 die heimische Produktion in Eisenfabrikaten
erstarkte.
Für den Zollverein ergaben sich noch weitere Folgen. Seine
Binnenstädte, die bisher die Landesgrenze mit ihren Waren wegen des
teuren Straßentransportes nur ausnahmsweise erreichen konnten, be-
dienten sich jetzt der Bahnfahrt und gewannen die Ausfuhrfähigkeit.
Das Anwachsen kleiner Landstädte, wie Dortmund, Essen, Bochum, zu
großen Fabrikstädten, das Erblühen der westfälischen und schlesischen
Eisen- und der sächsischen Textilindustrie, die Entwicklung Berlins
zu einem industriellen Mittelpunkte, dies alles wäre in dem Binnen-
lande ohne die Eisenbahnen schlechterdings unmöglich gewesen.
Berlin ist von der Natur stiefmütterlich behandelt worden. Die
umgebende Bodenbeschaffenheit von Sand und Sumpf leistete für die
Gütererzeugung wenig, und seine Lage fern von dem Meer war für
die Verkehrsentwicklung nicht günstig. Obwohl zwischen Elbe und
Oder gelegen, mußte die Verbindung erst künstlich geschaffen werden,
so wie alles, was Berlin groß gemacht hat, den Hohenzollern und dem
eisernen Fleiß und der Unternehmungskraft der Bürgerschaft zu danken
gewesen ist, der Kolonisten des märkischen Landes, die strebsam und
tüchtig aus der Kargheit des Bodens den Antrieb zu äußerster Kraft-
anspannung entnahmen. Die Stadt wuchs mit Preußen, dessen Mo-
narchen in dem Werden ihrer Hauptstadt das Spiegelbild ihrer poli-
tischen Erfolge erblicken wollten. Sie zählte 18 16 197 717 Einwohner,
1831 248682, 1846 397767 und 1861 547571. Die Vergrößerung des
Staates nach 1815, die Neuordnung der Verwaltung, die große Garnison,
die Aufträge für die militärische Rüstung, auch die Mac-Adamschen
Kunststraßen, der verbesserte Weg zur Oder hatten zwar den Handel,
das Handwerk und einige Industrien begünstigt, wie klein aber die
Verhältnisse damals waren, ersieht man z. B. daraus, daß 1822 ein
einziger Kran genügte, um den ganzen Berliner Wasserverkehr um-
zuschlagen, und daß die erste Berliner Gewerbeausstellung des gleichen
Jahres mit 998 Gegenständen beschickt worden war.
Ehemals zur Blütezeit des Fridericianischen Merkantilismus hatte
die Stadt manche größere Industrie beherbergt, hausindustriell und
manufakturmäßig betriebene, zur Herstellung von Textilen, Metallwaren,
Porzellan, Chemikalien, Surrogaten, Tabak, Sehießpulver, Kalk, Gips,
Ziegeln, Zucker, Emaillewaren, Fächern, Federn und Blumen für Hüte,
Perlmuttergegenständen, Luxuslederwaren, Papier, Seifen u. a. m.
Nach dem Zusammenbruch des preußischen Staates von 1806,
mit dem die Kaufkraft der wohlhabenden Bevölkerung dahinsiechte
und die staatlichen Unterstützungen und Ausfuhrprämien aufhörten,
erlitten alle Veredelungsindustrien einen schweren Schlag, während die
Kontinentalsperre die einfachere Verarbeitung, besonders in der Textil-
JQ2 in. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
Industrie, noch lebensfähig hielt. Aber auch dieses Gewerbe schrumpfte
nach 18 16 unter der enghschen Konkurrenz zusammen. Das Lagerhaus,
die großen Verlagsanstalten gingen ein, die Spinnerei verschwand fast
gänzlich. Es zeigte sich, daß die merkantilistischen Grundlagen der
Industrie doch nicht so stark gewesen waren, als man sie in ihrer
Glanzzeit eingeschätzt hatte. Ebenso wie der alte Staat mit dem Siege
Napoleons einstürzte, erlebte die Wirtschaftspolitik ihr industrielles Jena.
Wie der Staat durch die Tüchtigkeit der Regierenden und die Kraft
des Volkes wieder errichtet wurde, so erwuchsen neue Gewerbe aus
dem zähe sich haltenden Handwerk, und unternehmende Bürger knüpften
an alte Werke, die den Sturm überdauert hatten, z. B. bei der Färberei
und der Kattundruckerei, an. Doch ging es nur langsam vorwärts.
Erst als der Zollverein und die Eisenbahnen einsetzten, kann man von
der Geburtsstunde der neuzeitlichen BerHner Industrie sprechen. Be-
gabte Handwerksmeister, im Königlichen Gewerbeinstitut vorgebildet,
lernten im Auslande, namentlich in Paris, und begründeten z. B. die
Fabrikation von Neu.silber, gold- und silberplattierter Ware und Lampen
und die Daguerrotypie. 1846 zählte die Stadt 350 Fabriken und fabrik-
ähnliche Betriebe. Doch waren unter 5,1 Berliner Einwohnern nur ein
Gewerbetreibender i. e. S., so daß der Stand der Industrie, wie er um
1800 gewesen war, noch nicht erreicht wurde.
Jetzt geht die Entwicklung schneller, wie das im einzelnen von
O. Wiedfeldt in seiner hier benutzten Geschichte der Berliner In-
dustrie eingehend geschildert worden ist, und auf festerem Unterbau
als in dem Jahrhundert vorher. Wir werden später auf diese Fort-
schritte zurückkommen.
Deutschlands Weltstellung im Herzen Europas wurde für die
Fabrikatausfuhr erst durch die Eisenbahnen nutzbar gemacht. Ent-
sprechend wurde auch die Einfuhr erleichtert. Das Problem, die Bahn-
tarifpolitik mit der Handelspolitik in Einklang zu bringen, damit die
zweite durch die erstere nicht illusorisch gemacht wurde, entstand,
sobald die Privatbahnen die Höhe ihres Gewinnes von Erleichterung
der ausländischen Zufuhr abhängig zu machen wußten.
Der Zollverein w^urde daher jetzt mehr denn früher als eine Not-
wendigkeit dem Auslande gegenüber von allen Fabrikanten empfunden,
die eine fremde Konkurrenz zu bestehen hatten oder exportieren
wollten. Ebenso mußte auch der wachsende heimische Verkehr die
Wiederkehr aller rechtlichen Binnenschranken um so entschiedener
abweisen, je billiger die Verfrachtung und je mehr der Fernverkehr
zur Regelmäßigkeit wurde. Der Zollverein ist also durch das Eisen-
bahnwesen neu gefestigt worden, so daß er den politischen Versuchen,
ihn zu sprengen, aus eigenem inneren Bedürfnis Widerstand leisten
konnte. Und auch der politische Partikularismus der kleinen Staaten
III. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt. jq-j
mußte sich den Wert des Zollvereins durch die Eisenbahnen recht
drastisch zu Gemüte führen. So schreibt Treitschke: „Seitdem man
das engere Vaterland in drei Stunden durchfuhr, kam auch dem
schlichten Manne die ganze verlogene Niedertracht der Kleinstaaterei
zum Bewußtsein, und er begann zu ahnen, was es heißt, eine große
Nation zu sein".
Die Privatbahnen entstanden in mehreren Teilen Deutschlands,
weil die Staaten anfangs keine finanziellen Opfer bringen wollten und
sich zu keinem gemeinsamen Vorgehen aufraffen konnten. Die Ge-
winnaussicht war maßgebend für die privatwirtschaftliche Unternehmung,
daher zunächst diejenigen Linien herausgesucht wurden, die größere
Städte unter Benutzung einträglicher Zwischenstationen verbanden.
Die aus diesem System sich ergebende Verschiedenartigkeit der Kon-
zession, der Tarife, des Frachtrechtes mußten den Kaufleuten und den
Produzenten das Geschäft erschweren, woneben auch über die Be-
günstigung der der Bahnverwaltung nahestehenden Großunternehmer
geklagt wurde. Auf wie niedriger Stufe übrigens in den ersten
Jahren des Zollvereins der private und öffentliche Unternehmungssinn
für den Bahnbau standen, zeigt die Tatsache, daß 9 Jahre nach der
Eröffnung der Linie Liverpool-Manchester vergehen mußten, ehe die
erste deutsche Strecke mit Dampfbetrieb zustande kam. Es war dies
die 6 km lange von Nürnberg nach Fürth, deren Baukapital von
177000 Gulden von einer Anzahl Nürnberger Bürger aufgebracht
worden war. Die treibende Seele des Werkes war J. Scharrer, der
es auch, patriotisch vorempfindend, durchsetzte, daß der Bau einem
deutschen Ingenieur übertragen wurde. Die Lokomotive, der „Adler",
war von Stephenson, ihrem Erfinder, bezogen worden und wurde von
einem Engländer geführt. Die Staatsbehörden verhielten sich zurück-
haltend, da der König von Bayern die Konkurrenz künftiger Bahnen
für den ihm sehr am Herzen liegenden Ludwigskanal, der, im Anschluß
an die alte Fossa Carolina, die Donau mit dem Main unter Benutzung
der Regnitz und Altmühl verband, fürchtete. Doch zeigte sich die
Ansbacher Regierung, als man den Namen Ludwigsbahn gewählt
hatte, generös und zeichnete den Betrag von 200 Gulden.
Schon 1833 hatte List seine ihm später wenig Dank einbringende
Agitation für die Verbindung von Leipzig nach Dresden begonnen.
Auch sie wurde durch Aktienzeichnung finanziert. Als sie im ersten
Jahre ihres Bestehens 412000 Passagiere und 3,85 Millionen Ztr. Güter
beförderte, wurden einige andere Pläne, die bisher nur schüchtern be-
redet worden waren, zur Ausführung gebracht. Bis 1848 kannte Preußen
nur Privatbahnen. Dieser ersten Periode folgt bis 1848 die zweite
mit staatlicher Beteiligung am Anlagekapital und mit Übernahme der
Zinsgarantie. Daran schließt sich die dritte bis 1862, in welcher das
I04 m- Abcchnitt. Die Zeit von 1833 — i!
Staatsbahnsystem begründet wurde, weiter eine vierte bis 1877, ^i^
wieder der privaten Unternehmung günstig ist, bis dann die letzte
einsetzt, in welcher der Staat die vorhandenen Privatbahnen aufkauft
und das Netz durch Zwischen- und Nebenlinien vollendet. Parallel
mit diesen Tatsachen hat sich die Nationalökonomie gewandelt. Unter
der Herrschaft des ökonomischen Liberalismus der sechziger Jahre trat
sie vorwiegend für die private Initiative ein, mit der dann folgenden
sozialpolitischen und nationalen Wirtschaftsauffassung wurde das Staats-
bahnsystem folgerichtig empfohlen.
Der erste Bau der Privatbahnen in Preußen führt zu dem Eisen-
bahngesetz von 1838. Es gewährt dem Staat ein ausgedehntes Auf-
sichtsrecht über die Aktiengesellschaften und setzt für Anlage und
Betrieb seine Genehmigung voraus. Das Ankaufsrecht ist ihm vor-
behalten, und die unentgeltliche Postbeförderung ihm zugesichert. Den
Gesellschaften wird das Recht der Bodenenteignung gewährt, zugleich
ihnen auch eine Steuer abgefordert. Das Gesetz hat bis zur Ver-
staatlichung gegolten. Die Aufsichtsgewalt wurde mit kluger Mäßigung
gehandhabt, so daß die anfangs erhobenen Klagen über Bevormundung
bald verstummten, dem Staatsbau wurde nicht vorgegriffen, und bald
zeigte sich, daß die öffentliche Unternehmung im Gesamtinteresse von
Volk und Staat nicht zu entbehren war. Die Privaten hielten sich an
die einträglichen Strecken, für den Osten von Berlin aus liefen keine
Gesuche ein.
Da sich dem Staatsbau eine staatsrechtliche Schwierigkeit ent-
gegenstemmte, die Aufnahme einer Eisenbahnschuld ohne die zu-
stimmende, vor 1848 fehlende Volksvertretung, blieb nichts übrig, um
das volkswirtschafthch notwendige Werk nicht zum Stocken zu bringen,
als durch Unterstützung aus vorhandenen Steuermitteln der Fortfüh-
rung der privaten Bahnen entgegenzukommen. Eine Anzahl Linien
wurde somit vollendet, nur an die von der Regierung empfohlene Ost-
bahn wagte sich keine Gesellschaft heran. Sie wird erst nebst der
westfälischen und der Saarbrückener als Staatsbahn von dem nach
der Revolutionszeit geschaffenen preußischen Parlamente genehmigt.
In der Zeit bis 1862 entsteht das Staatsbahnnetz. Die niederschlesisch-
märkische und die Münster-Hannoverbahn gehen in den Staatsbesitz,
die bergisch-märkische, die Prinz Wilhelmbahn, die Stargard-Posener,
die Kosel-Oderberger in die Staatsverwaltung über. Doch fehlt es
nicht an einigen neuen Privatbahnen, und unter den bestehenden bilden
sich Interessengemeinschaften.
In den übrigen größeren deutschen Staaten war der Verlauf
ein anderer. In Hannover baute der Staat, allerdings erst seit 1847,
von Anfang an selbst, da die private Anregung in dem industriearmen
Lande fehlte. Das Netz wurde den Bedürfnissen des Königreichs
III. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt. 105
angepaßt und der Anschluß an die Nachbarn leidlich gefunden. Baden
hatte schon 1857 das öffentliche rechtliche System angenommen und
ist nicht davon abgewichen. Ebenso Württemberg, wenn auch nur
in langsamem Vorgehen. In Bayern rechnete man zuerst auf die
bürgerliche Tätigkeit, als sie aber nach dem Bau der Linie München-
Augsburg versagte, ging die Regierung 1844 zum eigenen Bau und
Betrieb über, mit Ausnahme bei den seit 1856 geschaffenen Ostbahnen,
die 1875 zum Zwecke der Einheitlichkeit vom Staat erworben wurden.
In der bayerischen Pfalz hingegen bestand im Anschluß an die erste
Konzession der Ludwigsbahngesellschaft von 1838 das Privatsystem
mit vier Hauptlinien, die sich 1870 einer gemeinsamen Leitung unter-
ordneten. Im Großherzogtum Hessen war die hessische Ludwigsbahn-
Gesellschaft die wichtigste, die an zweiter Stelle stehenden ober-
hessischen Bahnen wurden 1876 in den Staatsbesitz übergeführt. Im
Kurfürstentum Hessen hat ein gemischtes System bestanden, in
Mecklenburg-Schwerin das private mit erheblicher Staatsunter-
stützung, endlich im Königreich Sachsen zuerst das private, später
das gemischte, aus dem dann 1876 das rein staatliche durch Ankauf
hervorgegangen ist.
Da jede Bahn Verwaltung auf ihrem Gebiete tun und lassen konnte,
was ihr beliebte, so kann man sich das Durcheinander vorstellen, das
in Anschlüssen bei der Beförderung von Personen und Gütern herrschte.
Eine Ordnung brachte der 1846 gegründete ,, Verein deutscher Eisen-
bahnverwaltungen", der durch „gemeinsame Beratungen und gemein-
sames Handeln das eigene Interesse und das des Publikums zu fördern"
bezweckte. Ihm ist vor allem in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens
die Einheitlichkeit der Anlage und Ausstattung der Eisenbahnen zu
danken, so daß die Zustände nicht unerträglich wurden.
Nach von Reden besaß Deutschland 1853 663,7 Meilen Staats-
und 687,8 Privatbahnen. Am 31. Dezember 187 1 war das Verhältnis
9902 km zu 11569 km. Man wird daher schwer mit W. Sombart
(die deutsche Volkswirtschaft, 1903) behaupten können, daß die deut-
schen Eisenbahnen ein Werk des Kapitalismus gewesen seien. Befand
sich doch, ehe die Verstaatlichung in Preußen und Sachsen im großen
eingesetzt hatte, fast die Hälfte der Linien im Staatseigentum. Außer-
dem darf man nicht vergessen, daß viele Privatbahnen nur mit Staats-
zuschuß zustande gekommen sind. Indem das Unternehmertum die
Rosinen aus dem Kuchen herauspickts und nur für Strecken mit
guten Dividenden zu haben war, hat es für den Zusammenhang des
ganzen Netzes, d. h. volkswirtschaftlich, wenig geleistet. Die Grün-
dungen in den sechziger Jahren, der sogenannten Strousbergperiode,
waren allerdings vom Privatkapital ausgegangen, haben aber durch
ihr schwindelhaftes Gebahren nicht wenig dazu beigetragen , den
Io6 III- Abschnitt. Die Zeit von 1833 — iJ
Geldmännern ihr Ansehen auf dem Gebiete des Bahnwesens zu
nehmen.
Es ist überhaupt eine nicht unbedenkliche Wendung, die dem
Marx sehen ökonomischen Determinismus nahesteht, zu saeen, daß
der Kapitalismus etwas hervorgebracht habe. In Wahrheit sind es
doch die unternehmenden Männer gewesen, die die Werke vollendeten.
Wenn es auch feststeht, daß das Gewinnstreben für den Privateisen-
bahnbau eine wirksame Triebkraft gewesen ist, so ist es doch niemals
die einzige gewesen. Namentlich in der ersten Zeit waren es
Kommunalbeamte, Bürgermeister, welche zum Wohl ihrer Stadt
hervortraten und die zögernden Kapitalisten ermutigten, ihre Mittel
herzugeben. Wie diese also der Führung bedurften, verstanden es
später geschickte, ursprünglich nicht einmal kapitalreiche, Gründer,
das Publikum in Bewegung zu setzen. Daß Männer wie List und
N e b e n i u s mit ihrer wissenschaftlichen Autorität die Aufmerksamkeit
der Geldbesitzer auf das Eisenbahnwesen hinlenkten, mag daneben
erwähnt werden.
Die Binnenschiffahrt tritt den Leistungen der Eisenbahn
gegenüber zurück. Von den Strömen dient ihr an erster Stelleder Rhein,
es folgt die Elbe, weiter die Weser, Oder, Donau, Ems und Weichsel.
Sie alle haben, während die Eisenbahn ihr Netz nach und nach über
ganz Deutschland ausspannte und die abgelegenen Orte in seine
Maschen einbezog, ihre besonderen isolierten Zonen lange beibehalten,
die sich flußseitwärts nur soweit ausdehnten, als es die Schiffbarkeit
der Nebenflüsse gestattete. Erst der Zug der neueren Zeit geht
dahin, die Ströme mit breiten und tiefen Kanälen zu verbinden, die
damit nicht nur örtlich, sondern als ein Teil eines Ganzen gewürdigt
werden sollen.
Vom Standpunkt einer volkswirtschaftlichen planmäßigen Aus-
bildung des Transportwesens sind die Eisenbahnen und Wasserstraßen
nicht als einander gegensätzliche Wettbewerber, sondern als gegen-
seitige Ergänzung unter dem Grundsatz der Arbeitsteilung mit be-
sonderen Aufgaben zur Bewältigung des Verkehrs zu denken. Die
geschichtlichen Vorgänge mit ihren individualistischen Geschäfts-
tendenzen sind einer solchen Gesamtauffassung lange Zeit abhold ge-
blieben.
Nachdem das linke Rheinufer französisch geworden war, räumte
Napoleon durch den Oktroivertrag mit den meisten Hemmnissen der
Vergangenheit im Rheingebiet auf. Aber da die französische Landes-
und Zollgrenze in den Talweg des Stromes gelegt wurde, kam die
Schiffahrt aus einer lästigen Kontrolle nicht heraus und erlebte den
erwarteten Aufschwung nicht.
in. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt.
107
Auf dem Wiener Kongreß wurde die Freiheit der Schiffahrt
völkerrechtlich geordnet: Sie soll auf Flüssen, die mehrere Länder
durchfließen oder zwischen ihnen die Grenze bilden, von dem Punkte
an, wo der Fluß schiffbar wird, bis zur Mündung zum Transport frei,
zum Zweck des Handels keinem Angehörigen dieser Staaten unter-
sagt sein. Die Abgaben sollen von dem sonstigen Zollwesen getrennt,
nicht höher als bisher, vielmehr zur Ermunterung der Schiffahrt mög-
lichst herabgesetzt werden. Eine Ordnung aller Einzelheiten blieb den
Uferstaaten vorbehalten. Aber es verging noch eine längere Reihe
von Jahren, bis diese sich geeinigt hatten. 1821 wurden die Eibakte,
1823 die Weserakte, 183 1 die Rheinakte, 1843 die Emsakte zum Ab-
schluß gebracht. Einige Zusätze mit zeitgemäßen Veränderungen
folgten. Die Freiheit der Strombenutzung wurde später auch für alle
Völker, nicht bloß für die anwohnenden, anerkannt, noch bestehendes
Umlade- und Gildenrecht nach und nach beseitigt, ein Schiffahrts-
gericht, der Befähigungsnachweis für die Schiffer, Untersuchung der
Schiffe auf ihre Tüchtigkeit, die Verbesserung der Leinpfade eingeführt,
die Beseitigung von Hindernissen im Fahrwasser den Einzelstaaten auf-
gelegt, die Rang- oder Reihefahrt des Monopols entkleidet und von der
Genehmigung der betreffenden Staatsregierung abhängig gemacht, der
Frachtsatz allein durch die freie Vereinbarung der Schiffer und Ver-
sender bestimmt, die Herabsetzung der Zahl der Zollstätten beschlossen.
Die Hauptschwierigkeit bereitete die Ordnung der Abgaben. Einige,
wie die Schiffahrtsgebühr und Oktroi, fielen alsbald, die Wasser- und
Durchfuhrzölle erst nach und nach, für die Elbe mit ihren vierzehn
Zollämtern 1863 zuerst teilweise, später vollständig durch den Vertrag
des Norddeutschen Bundes mit Österreich 1870, für die Weser mit
zehn. Zollstätten durch Abkommen der Uferstaaten 1856, für den Rhein,
auf dem fünf Staaten an sieben Orten Abgaben erhoben, durch den
Handelsvertrag von 185 1 zwischen Holland und dem Zollverein und
durch ein Abkommen der deutschen Grenzländer untereinander von
1866, für die Donau durch den Pariser Frieden von 1856 und die
Schiffahrtsakte des folgenden Jahi^es. Der Zollverein hatte sich wieder-
holt für die Erniedrigung der Rhein- und Elbeabgaben eingesetzt.
Die segensreichen Folgen aller dieser Befreiungen sind nicht
ausgeblieben. In den dreißiger und vierziger Jahren, ehe die Eisen-
bahnen zu einer beherrschenden Stellung im Transportwesen gelangten,
nahm die Flußschiffahrt einen lebhaften Aufschwung. Die alten hand-
werksmäßigen Gildenbetriebe gingen ein, und die neuen Einzelunter-
nehmer benutzten die Gewerbefreiheit und die Konzessionserteilung,
um auf eigene Rechnung und Gefahr das Geschäft in die Hand zu
nehmen. Im Vergleich zu dem ehemaligen der Gildenmeister war
dieser neue Betrieb ein großer und mußte es sein, da das Dampfschiff
loS m» Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
an die Stelle des Segelkahns und des Treidelwerkes getreten war.
18 16 wurden die ersten Dampfschiffe gebaut: „Die Weser" des Bremer
Reeders Fr. Schröder, eines auch sonst um seine Vaterstadt ver-
dienten Mannes, in Vegesack und die „Prinzessin Charlotte" bei
Spandau. Die Maschineneinrichtung war aus England bezogen. Auf
der Unteroder fuhr das erste 1840, erst 10 Jahre später haben die
preußischen Ostseehäfen eine Dampferverbindung. 1824 kam der erste
niederländische Dampfer den Rhein herauf bis Bacharach, 1827 er-
öffnete die preußisch-rheinische Dampfschiffgesellschaft ihren regel-
mäßigen Verkehr zwischen Köln und Mainz, 1830 wird von 12 Rhein-
dampfern berichtet. Der Unternehmungsgeist war, wie man sieht, im
westlichen Deutschland dem des östlichen überlegen. Auch im
Süden zögerte man lange. 1838 erst wurde die bayerisch- württem-
bergische Dampfschiffahrtsgesellschaft mit dem Sitz in Regensburg
gegründet, die in den folgenden 4 Jahren den Personentransport auf
der Donau verdreifachte.
Die ursprüngliche Anregung war, wie bei den Eisenbahnen, der
Personenverkehr, dem sich auch hier nach und nach eine Güterver-
sendung anschloß. Das Hauptgeschäft wurde längere Zeit hindurch
bei dem ersteren gemacht. Das änderte sich mit der Schleppschiff-
fahrt, die übrigens erst 183g nach zehnjährigem Bestehen lebensfähig
wurde, als sie von den großen Gesellschaften übernommen wurde.
Noch später, 1841, bildete sich arbeitsteilig für den Rhein eine reine
Schleppschiffahrtsgesellschaft, der bald weitere folgten. Anfangs wurden
nur die alten Kähne der kleinen Schiffer gezogen, dann benutzten
die Gesellschaften ihre eigenen leistungsfähigeren Schiffe. Eine Neue-
rung war es 1846, als die Kohlenbergwerksbesitzer M. Stinnes und
F. Haniel in Ruhrort damit begannen, ihre Kohlen in eigenen
Schiffen und Schleppdampfern bergwärts zu befördern. Es ist be-
greiflich, daß unter solchen Betriebsverschiebungen die kleine selb-
ständige Schiffahrt vernichtet wurde. Sie kämpfte Jahrzehnte den
Todeskampf. 1848, im Revolutionsjahr, gingen die Treidler zur offenen
Gewalt gegen die Mitbewerber über. Der Aufruhr wurde unterdrückt,
und die nachfolgenden Verhandlungen, in denen einige Zugeständnisse
von selten der Großunternehmer gemacht wurden, haben den Werde-
gang der Dinge nicht aufgehalten. Die Überlegenheit der Großen
war in jenem Jahre bereits entschieden, als die Gesellschaften 25
Schleppdampfer, 192 eiserne und 400 hölzerne Lastschiffe besaßen,
denen 61 deutsche Rheinsegelschiffe gegenüberstanden. Wie sehr sich
der Verkehr im Ganzen gehoben hatte, läßt sich ungefähr aus dem
jährlichen Güterdurchgang bei den einzelnen wichtigen Zollämtern
ersehen :
III. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt.
109
Zollämter
I n 1 000 Tonnen
1836
1840
1850 1860
zu Berg 1 zu Tal
zu Berg
zu Tal
zu Bergj zu Tal zu Berg
zu Tal
87,8
241-5
128,0
253.8
173.7
399.5
300,5
745,0
81,4
72,9
163,2
128,3
322,4
262,9
614,7
449,0
76,3
69,0
160,8
I13.9
336,8
230,7
600,9
335,2
70,4
54.0
135.5
79.9
274.6
175.6
497,3
294,5
42,4
61,8
43>o
48.7
58,8
83.8
49,6
171,8
Staaten
Emmerich .
Koblenz . .
Kaub . . .
Mainz . . .
Mannheim .
Holl. Grenze
Preußen
Hessen-Kassel
Großh. Hessen
Baden
In diesen 24 Jahren waren die deutschen Eisenbahnen entstanden,
zwar war ihr Netz noch nicht vollendet, doch schon so fortgeschritten,
daß es der Schiffahrt ein gefährlicher Gegner wurde. Daran hatten
weder die rheinischen Reeder noch die Eisenbahngesellschaften ur-
sprünglich gedacht. Die ersten Bahnen im Rheingebiet waren lediglich
als Anschlußstrecken an die Wasserstraße gebaut worden, wie die Linien
von Mannheim nach Heidelberg 1840, von Düsseldorf nach Elber-
feld 1841, von Deutz nach Minden 1845, von Duisburg nach Dort-
mund 1847, von Ludwigshafen a. Rh. nach Kaiserslautern. Parallel-
bahnen mit dem Strom anzulegen galt bei der Billigkeit des Wasser-
transportes für ein aussichtsloses Wagnis.
Allein es stellte sich bald heraus, daß dies nicht der Fall war.
Zuerst am Oberrhein, als 1844 die badische Bahn von Mannheim nach
Basel eröffnet wurde. Die Schwierigkeit und Kostspieligkeit der
Schiffahrt auf dieser Stromstrecke hatte überhaupt hemmend auf die
Zunahme des Transportes eingewirkt. Schon 1847 hörte die Güter-
versendung nach Basel, 1855 nach Kehl auf, und Mannheim wurde
für die nächsten 50 Jahre der Endpunkt der Rheinschiffahrt und ge-
langte damit als Umschlagplatz zu großer geschäftlicher Entfaltung.
Durch den Bau der elsässischen und Pfälzer Bahnen war die südliche
Rheinfahrt weiter bedrängt worden. Anders war es am Mittelrhein,
wo sich erst in der Mitte der fünfziger Jahre die Bahn vorteile der
Schiffahrt gegenüber eindringlich fühlbar machten. Aber sie wirkten
nicht vernichtend, wie aus den Zahlen der gegebenen Tabelle zu er-
sehen ist. Der Personenverkehr und diejenige Güterversendung, die
rasch erledigt werden mußte, gingen zum größten Teil auf die Bahn
über. Die Massengüter, Kohlen, Eisenerze, und später Petroleum und
Getreide blieben dem Schiffe erhalten. So war zwischen beiden
Transportmitteln hier eine vernünftige volkswirtschaftliche Gliederung
vorhanden, die erst recht fortbestehen konnte, als die Wasserstraßen
verbessert und die Schiffe größer gebaut wurden. Wo die Bedingungen
weniger günstig als am Mittelrhein, wo die Wasserstände ungleich
oder Schleusenbauten erforderlich waren, wie am Main, wo 1858 die
Dampfschiffgesellschaft liquidierte, an der Lahn, Mosel, Ruhr, Lippe,
Ems, der oberen Weser, der Saale, Oder, siegte der Landverkehr.
IJO III- Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
Ähnlich wie der Mittelrhein hielt die Elbe den Mitbewerb der
Bahnen aus, insbesondere als es gelang, die Fahrrinne zu vertiefen
und die Kettenschiffahrt einzurichten. Die Zu- und Abfuhr an der
Hamburger Grenze betrug im Durchschnitt der Jahre 1851 — 1860
483,5 Tausend Tonnen und I861 — 1870 660,0.
In den sechziger Jahren erlosch die Schiffahrt auf den kleinen
Flüssen fast vollständig, und in jener Zeit, als man die freie Kon-
kurrenz als die höchste und beste Triebkraft des Wirtschaftslebens
und das Zugrundegehen aller schwächeren Bestandteile als eine Natur-
notwendigkeit verherrlichte, sprach man den Eisenbahnen etwas vor-
eilig die volle Überlegenheit über die Binnenwasserstraßen zu. Aber
bereits nach einigen Jahren änderte sich die Meinung, auf die wir in
einem späteren Kapitel zurückkommen werden.
Die Seeschiffahrt war auch durch die Kleinstaaterei behindert.
Die Küstenstaaten an der Ostsee, Preußen, Mecklenburg, Lübeck,
Holstein, an der Nordsee Hamburg, Hannover, Bremen, Oldenburg,
verfolgten ihre Sonderzwecke, die die englische Politik mit ihren gegen
Preußen oder den Zollverein gerichteten Bestrebungen unterstützte.
Preußen und Hannover gewährten sich gegenseitig die Küstenfahrt
(Kabotage) nicht; alle Staaten schlössen Handels- und Schiffahrts-
verträge mit dem Auslande, ohne dabei die deutschen Nachbarn zu
berücksichtigen. Hannover, die Mecklenburgs, die Hansestädte wollten
von dem Eintritt in den Zollverein nichts wissen, obwohl er für ihren
Seehandel das gegebene Hinterland war.
Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Ostseereederei einen
bedeutenden Aufschwung genommen, obwohl sie mit der Schwierigkeit
zu kämpfen hatte, daß im Winter die Häfen häufig zufrieren, was an
der Nordsee selten der Fall ist. Nach M. Peters war 1805 an der
heutigen Ostseeküste der Schiffsraum V4 Million Tonnen gegenüber
nur 100 000 der Nordseereederei gewesen. Die Kontinentalsperre
vernichtete das Geschäft so sehr, daß z. B. der Betrieb der Königs-
berger tätigen Flotte von 1807 — 1808 mit Einschluß der Küstenfahrer
von 980 auf 5 1 Schiffe zurückging.
In der Friedenszeit wurde dann zwar der Getreidehandel nach
dem Auslande wieder aufgenommen, kam aber während der Agrar-
krise nicht vorwärts. Erst in den dreißiger Jahren und besonders von
1837 — 41 nahm die Ausfuhr von den östlichen Provinzen Preußens
wieder größeren Umfang an, was auch der heimatlichen Handelsflotte
zugute kam. Nach der Beseitigung der englischen Getreidezölle
wurde dies Geschäft noch erweitert. Die Ostseeschiffahrt Preußens
steigerte sich von 1846 — 49 von 160000 auf 300000 Tonnen. Als
England auch seine strengen Bestimmungen der Navigationsakte
III. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt.
milderte, einigte es sich mit Preußen, und dieses erlangte gleiche Rechte
auch für diejenigen seiner Schiffe, die aus den sogenannten Vorhäfen
des Zollvereins ausliefen. Die Seefahrt von den Ostseeländern aus er-
hielt hierdurch einen weiteren Anreiz, aber um 1842 hatten Orte wie
Memel und Königsberg nicht so viel Schiffe, als sie am Anfang des
Jahrhunderts besessen hatten. Die Ostseeschiffahrt blieb in der Folge-
zeit bei nur mäßigem Fortschreiten abhängig vom Getreidehandel.
Waren die Preise des Auslandes niedrig, oder die heimische Ernte
gering, so verdiente sie wenig. Als Ende der siebziger Jahre die
deutschen Getreideversendungen aufhörten, wurde sie von neuem er-
heblich getroffen. Ihr Unternehmungsgeist erlahmte, da sie sich auf
dem Weltmeer kein Ansehen erobern konnte. Einen Ersatz für den
Getreidehandel konnte sie nicht finden, da der Osten Deutschlands
nur wenig industriell war. So strömte der Reederei kein Kapital zu,
das sie in einer Zeit besonders nötig hatte, als die großen Schiffe die
kleinen verdrängten. Der weitere Niedergang wird daraus ersichtlich,
daß 1873 die deutsche Ostseeflotte noch 2109 Schiffe mit 454916
Tonnen besaß, 1900 nur noch 840 mit 218750.
Zu alledem kam, daß der Ostseetransport auch durch die Eisen-
bahnen zu leiden gehabt hat. Hamburg riß den Importhandel für
Ostdeutschland dadurch an sich, daß es die billige Bahnfahrt benutzte,
um es z. B. mit Kolonialwaren zu versorgen. Die Ostseeschiffahrt
beschränkte sich seit ihrem Niedergang vornehmlich auf ihr eigenes
ensfes Gebiet, auf den Küstenverkehr mit den deutschen, dänischen,
schwedischen und russischen Häfen.
Die Seereederei Bremens und Hamburgs ist durch den trans-
atlantischen Handel groß geworden. Wie im 18. Jahrhundert der
Freiheitskrieg der nordamerikanischen Kolonien den Hansestädten von
Nutzen gewesen war, so im ersten Viertel des 19. derjenige der süd-
amerikanischen. Diese neuen jungen Staaten öffneten ihre Häfen allen
Nationen unter den gleichen Bedingungen. Am Anfang der dreißiger
Jahre holten 30 — 40 deutsche Schiffe Zucker und Kaffee aus Brasilien.
Damals verfügte Bremen über den größten Tonnengehalt unter allen
deutschen Städten. Mit dem Wachsen der Schiffsgrößen war die Stadt
durch die geringe Tiefe der Weserrinne bedroht worden. Dem half
die Anlage von Bremerhaven nahe dem Meere ab, mit der 1827 be-
gonnen wurde. Die Schiffe, die nach Nordamerika deutsche Waren
brachten, fanden eine regelmäßige Rückladung- dort nicht immer. Sie
suchten nach ihr an der langen Ost- oder Westküste des Kontinents
entlang und in Westindien, gingen sogar nach Ostindien, wenn es
ihnen auf dem westlichen Erdteil nicht glückte. Eine große Erschwerung
hatte die hanseatische Schiffahrt in der sie ungünstig unterscheidenden
Behandlung von selten Englands, Spaniens, Portugals, Hollands, Frank-
112 IIL Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
reichs und deren Kolonien gegenüber der eigenen Flotte dieser Länder
durchzumachen. Zwischen 1825 und 41 gelang es den Städten, eine
Anzahl Verträge abzuschließen, die wenigstens einige Ermäßigungen
brachten, dafür aber dem Gegenkontrahenten den fast freien Eingang
bei sich gestatteten.
Es waren Stimmen laut geworden, die für Deutschland ein
Navigationsgesetz forderten, wie das, durch welches England groß
geworden war. Aber die Hanseaten mußten sich mit Recht sagen,
daß sie allein ein solches nicht durchführen konnten, weil dann die
fremde Schiffahrt sich anderen deutschen Häfen zugewandt hätte.
Daher erwogen sie gelegentlich den Anschluß an den deutschen Zoll-
verein, dem sich ihr freihändlerischer Zwischenhandel lebhaft wider-
setzte. Auch scheint es England verstanden zu haben, alle deutschen
nationalen Pläne mit seiner Diplomatie zu durchkreuzen. 1842 wurde
viel von einem Oberst Hodges gesprochen, der in den Hansestädten
den Widerstand gegen den Zollverein schürte. Obwohl man damals
über die willkürliche Behandlung Hamburger Schiffe in Afrika gerade
sehr entrüstet war, wurde doch bei der Geburt des Prinzen von Wales
ein großes Fest in Hamburg auf Betreiben von „Englisch-Deutschen"
gefeiert, bei dem die Militärkapelle des Hamburger Bundeskontigents
„Rule Britannia" aufspielte,
Es war dies in demselben Jahre, als Hamburg vom 4. bis 8. Mai
von einer gewaltigen Feuersbrunst heimgesucht wurde, bei der mehr
als 1000 Häuser in Asche gelegt und 30000 Menschen obdachlos
wurden. Den Schaden schätzte man auf 200 Millionen M. Banko.
Ganz Deutschland wetteiferte durch Sammlungen, den vom Unglück
Betroffenen zu helfen, ein schönes Zeichen, daß die Deutschen ihre
Gemeinsamkeit doch nicht ganz vergessen hatten, wenn sie auch erst
die Not daran erinnern mußte.
Die Ohnmacht der deutschen Schiffahrt, die damals keine Bundes-
flagge, keine Kriegsflotte schützte, wird dadurch gekennzeichnet, daß
unweit der Elbemündung Barbareskenschiffe erschienen waren, und
hanseatische Reeder sich genötigt sahen, englische und holländische
Hilfe anzurufen und dem Sultan von Marokko ein Tributangebot zu
machen. Deutsche Schiffe konnten, bevor die Franzosen sich Algier
unterworfen hatten, der Seeräuber wegen die Straße von Gibraltar
nicht passieren, abgesehen von den schnellen Frachtschoonern aus
Altena, die von Livorno und Malaga Südfrüchte holten und unter
dänischer Flagge segelten, welche vermöge eines Abfindungsvertrages
nicht belästigt wurden. Hingegen spielten die dänischen Kriegsschiffe
auf der Elbe den großen Herrn. Noch um 1852 hielten sie ein Ham-
burger Fahrzeug an und brachten es auf, angeblich weil auf demselben
III, Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt. 117
das mißliebige Lied „Schleswig- Holstein meerumschlungen" gesungen
worden war.
Ende der dreißiger Jahre waren 50 % der in Hamburg ein-
laufenden Schiffe englischen Ursprunges, und 1849 waren die Eng-
länder noch allen Flaggen überlegen. Lange Jahre hindurch war der
Dampfschiffverkehr nur in englischer Hand.
Die ökonomischen Ziele Englands wurden von einzelnen deutschen
Politikern wohl durchschaut, aber die öffentliche Meinung verstand sie
keineswegs. 1841 schrieb die Augsburger Allgemeine Zeitung: „Eng-
land verfolgt in seinem Verhältnisse zum Zollverein mit der größten
Intelligenz dieselbe Politik, welche es seit Cromwell gegen andere
Nationen unverrückbar verfolgt hat, und welche es heutzutage, um Un-
wissenden Sand in die Augen zu streuen, mit dem lügnerischen Namen
der Handelsfreiheit dem Publikum vorstellt, wie ein Charlatan auf der
Bühne dem Publikum verspricht, ihm ein Krokodil zu zeigen, wenn
er eine Eidechse im Kasten hat", — „Er ist ein gemütlicher, treu-
herziger Kerl, dieser John Bull — versteht sich bei Porter und
Beefsteak. Aber im Handel und Wandel ist er ganz Kopf und aller
Ränke voll und schont seinen Bruder nicht, geschweige denn so weit-
läufige Vettern, wie wir — die Deutschen — sind. Wo es sich um
Pfunde und Schillinge handelt, ist sein Lächeln das eines Wolfes." —
„Wahrhaftig, ich bin voriges Jahr in den Tod erschrocken, als ich
Sir Robert Peel die Deutschen als das edelste und großmütigste Volk
der Erde preisen hörte. Offen gestehe ich, mir klingt nichts lieblicher,
als die Schmähungen der englischen Blätter, versteht sich, wenn von
Handel und Industrie die Rede ist, weil ich dann weiß, daß Deutsch-
land anfängt durch eine selbständige Haltung den Engländern Achtung
einzuflößen,"
Die Bremer Tonnage war von 1825 bis 1836 im Verhältnis wie
100:170 größer geworden, als beide Hansastädte ungefähr an Schiffs-
raum gleichstanden. Es war ihnen zum erstenmale gelungen, die nord-
amerikanische Flagge zurückzudrängen. Noch 1820/21 waren aus
nordamerikanischen Häfen nach den Hansastädten amerikanische Schiffe
im Betrage von 17308 Tonnen ausgelaufen, 1838/39 nur noch in einem
solchen von 4892. Andererseits war unter hanseatischer Flagge von
1820/21 bis 1839/40 eine Steigerung von 4091 auf 42324 geglückt.
War das Gesetz von 1793 der Vereinigten Staaten, demgemäß nur im
Lande erbaute Schiffe unter amerikanischer Flagge fahren durften,
der eigenen Ozeanschiffahrt abträglich, oder mochten der teuere Schiffs-
bau und die hohen Löhne des Schiffspersonals gegen die Amerikaner
gesprochen haben, die außerordentliche Rührigkeit der Hanseaten hat
auch das ihrige zu ihrem Erfolg beigetragen. Die Überlieferung des
alten Ruhmes und Stolzes schien nicht vergessen zu sein, als es diesen
A. Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 8
114 ^^^' -^^schnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
Deutschen weiterhin auch als keine zu große Gefahr erschien, selbst mit
England, dem Beherrscher der Meere, zu konkurrieren. 1836 errichtete
R. M. Sloman in Hamburg eine regelmäßige Verbindung nach
New- York mit vier Seglern. In Bremen hatte schon 1826 H. H. Meier,
der unternehmendste Reeder der Stadt, damit begonnen. 1848 ging
das erste in Deutschland beheimatete Dampfschiff nach England, 1850
nach den Vereinigten Staaten. Der Aufschwung der Hamburger See-
schiffahrt zeigt sich in diesen Zahlen:
Durchschnitt der Jahre
Seeschiffe überhaupt Dampfschiffe
Anzahl Reg.-Tonnen Anzahl Reg.-Tonnen
Last
Einlauf Auslauf
1847
52496 76061
1862
125482 130293
1836 146 25722 — —
1841—45 211 39570 3 895
1856 — 60 483 I3923Ö 18 10282
1876 — 80 473 230691 110 87050
Für Bremen werden folgende Zahlen angegeben:
Gesamtverkehr der ein- und aus- Transatlantische Schiffe
gelaufenen Schiffe
Schiffe Last (4000 S5)
1847 5957 360609
1869 6208 883376
1869 276660 223466
Beide Städte sind an dem Seeverkehr nach Nordamerika erstarkt,
aber sie haben den sonstigen überseeischeu auch schon früh und an-
dauernd gepflegt. Sie knüpften in den dreißiger Jahren Verbindungen
mit Mexiko, Westindien und Südamerika an. Daneben bemühte man
sich um den Verkehr mit England und Frankreich. Er diente mehr
der Einfuhr als der Ausfuhr, die jenes durch seine tatsächliche Über-
legenheit an Industriewaren, dieses durch seine Handelspolitik hemmte.
So sehr die Städte auf das Weltmeer hinausstrebten, so war doch
insofern ein Unterschied zwischen beiden, als der Schwerpunkt des
Hamburger Geschäftes im Handel, des Bremer in der Schiffahrt lag.
1840 war der Hamburger Hafenverkehr in Gütern doppelt so groß
als in Bremen, aber die Reederei war bei beiden gleich stark. 1852
war in der letzteren Stadt der eigene Anteil an allen ein- und aus-
gehenden Schiffen 35,53 %, womit sie an der Spitze aller Flaggen stand,
in der ersteren nur 21,78. Hier war die Handelsüberlegenheit durch
die Elbestraße und das an sie angrenzende Landgebiet gegeben,
während die Weser weniger aufzunehmen hatte, und das westdeutsche
überseeische Geschäft nach Holland und Belgien hinneigte. Von den
Kapitalien drängten die Bremer vorzugsweise in die Schiffswerte, die
Hamburger in den Handel, so daß hier die Reederei öfters zu kurz
III. Landstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt.
115
kam. Bremen hatte sich mit aller Kraft auf die Beförderung der
Auswanderer geworfen. 1833 hatte es 8891 nach Nordamerika geführt,
1840 12806, 1852 58551, Hamburg 1836 nur 2870, 1840 1407 und
1852 22230. Bremen hatte 1832 ein Auswandererschutzgesetz erlassen,
seine Agenten betrieben eine eifrige Werbetätigkeit, und Südvvest-
deutschland, von wo die meisten Leute fortzogen, lag der Stadt näher
als Hamburg. Die Amerikaner konnte man unterbieten, da diese in
Deutschland keine ausreichende Rückfracht aufnehmen konnten,
während man selbst in der neuen Welt genug davon vorfand, um
die Auswandererschiffe zu befrachten.
Die Rechtsform der Seereederei wurde mit der neuen Technik
und dem an sie sich anschließenden Großbetrieb umgestaltet. Anders
als die handwerksmäßig in Gilden betriebene Binnenschiffahrt erschien
sie schon am Anfang des Jahrhunderts als privatwirtschaftliche Unter-
nehmung. Die Schiffe gehörten den großen Kaufleuten, welche sie
bauen ließen und mit ihren eigenen zusammengekauften Waren aus
ihren Speichern befrachteten, in denen sie auch die überseeischen ein-
gebrachten Güter bis zum Weiterverkauf lagerten. Der Verdienst war
sowohl Fracht- als auch Handelsgewinn, was den Vorzug hatte, daß
bei dem Versagen des einen der andere den Schaden ausgleichen
konnte. Schon 1830 machte sich die produktive Kraft der Berufsteilung
geltend, der Handel löste sich von der Schiffahrt ab, früher, ent-
sprechend dem Gesagten, in Hamburg als in Bremen. Verbreitet wurde
jetzt die Partenreederei, bei der mehrere Personen, die an dem Schiffe
verdienen wollten, der Kaufmann, der Schiffsführer, der Provianthändler,
der Versicherer, der Schiffsbauer sich zusammenschlössen, das Kapital
aufbrachten, die Seegefahr gemeinsam trugen und den Gewinn nach
Einlage und sonstiger Leistung sich verrechneten. Als nun die See-
dampfer allgemein wurden und zu immer größeren Typen übergingen,
mußten die Geldmittel aus weiteren Kreisen der Stadt oder dem son-
stigen Deutschland, selbst dem Auslande herbeigezogen werden. Jetzt
wurde die Aktiengesellschaft mit ihrer vereinigten Kapitalmacht und
Gefahrverteilung auf viele Personen die maßgebende Geschäftsform,
die sich bis in die Gegenwart behauptet hat.
In der Mitte des Jahrhunderts bestand das Haupthandelsgeschäft
der Hansastädte darin, aus überseeischen Gebieten Genußmittel, Zucker,
Kaffee, Tabak, Gewürze und einige Rohstoffe für die Industrie ein-
zuführen. Die Ausfuhr von deutschen Fabrikaten war noch beschränkt,
und oft brachten nur die Auswanderer die Summen ein, um die Aus-
fahrtkosten zu decken. Der Importhandel spezialisierte sich nicht
nach Waren, wie später, sondern nach Ländern und Gegenden. Ein
Sohn wird hinausgesandt, bleibt Jahrzehnte draußen, kauft dort alles
Begehrenswerte ein, verkauft dort importierte Waren jederlei nationaler
jl5 ni. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
Herkunft. Die Kolonialwaren werden, in Hamburg oder Bremen an-
gelangt, in das Inland weiterverkauft, auch an einen anderen Kauf-
mann in der Stadt abgesetzt, der die Kundschaft im Binnenlande kennt.
Die Niederlassung in Übersee war, als regelmäßige Dampferlinien
aufkamen, kein Wagnis mehr an den Orten, die sie berührten. Überall
ließen sich hier Konkurrenten nieder, die Nordamerikaner brachten
zudem den Ausfuhrhandel zum Teil in die eigenen Hände, vor allem
nach dem Bürgerkriege, als die Nordländer die Früchte ihres Sieges
in den Südstaaten zu pflücken wußten.
Die Auslandsdeutschen hatten sich, wenn sie wie ehedem weiter
wirtschaften wollten, als Kaufleute auf Mittel- und Südamerika zurück-
zuziehen, überhaupt auf die Tropen, dort, wo sie die guten Plätze
nicht von den Engländern besetzt fanden. Hier verstanden sie es, mit
den Eingeborenen Fühlung zu nehmen, sprachen spanisch und portu-
giesisch und erregten den Neid der sprachlich unbeholfenen Engländer
und Nordamerikaner, insbesondere als die deutsche Industrie solide
, und vielseitig wurde und daher an Absatz gewann. Wenn das Ge-
schäft in solchen Hafenstädten sieht nicht mehr lohnte, gingen sie in
das Innere des Landes hinein, um ihr Glück hier von neuem zu ver-
suchen, und drangen selbst bis in die Wildnis vor, in der sie ihre
Faktorei errichteten, eine große gemischte Warenhandlung, die in der
nächsten Hafenstadt alles aufstapelte und von dort nachkommen ließ,
was den Bedürfnissen in Busch, Wald und Steppe entsprach.
IV. Die Fortschritte der Landwirtschaft. Die Land-
wirtschaftslehre war in Deutschland während der ersten Jahrzehnte
des 19. Jahrhunderts von Thaer, Schwerz, Burger, weiterhin von
Schülern des ersteren, Koppe, Wulf fen , Block und Schweitzer
aus einer Summe praktischer Erfahrungssätze auf die Höhe der Wissen-
schaft gehoben worden. Entbehrte sie auch noch der naturwissen-
schaftlichen Voraussetzungen, so war sie doch von einem allgemeinen
ökonomischen Gesichtspunkte aus und nach den Regeln der Technik
systematisch so durchgebildet worden, daß sie bei einem theoretisch
begabten Volke ihre große Wirkung nicht verfehlen konnte.
Indessen hatte ihr Eindringen in die Praxis vor den dreißiger
Jahren mit schweren äußeren Hindernissen zu kämpfen, den Folgen
der Kriegszeit und der Agrarkrise. Die jetzt kommende Zeit des ge-
werblichen und kommerziellen Aufschwunges erhöhte die landwirtschaft-
lichen Renten und brachte damit den Landwirten die Möglichkeit, an
Betriebsverbesserungen heranzutreten, welche die Wissenschaft vor-
gezeichnet hatte. Erforderlich wurde nicht bloß die Kenntnis der eng-
lischen Fortschritte, wie sie schon ehedem Arthur Young bekannt-
gegeben hatte, sondern auch eine solche Übertragung auf Deutschland,
. IV. Die Fortschritte der Landwirtschaft. nj
daß sie den natürlichen und geschichtlich gegebenen Zuständen an-
gepaßt wurde.
Der Mann, der das Werk vollbracht hat, dann durch zielbewußte
Zusammenfassung der gesamten Lehre über diese Aufgabe hinaus-
gegangen ist, war Albrecht Thaer aus Celle (1752 — 1828), gleich-
bedeutend als Schriftsteller, akademischer Lehrer, Begründer landwirt-
schaftlicher Schulen und Praktiker des Versuchswesens. Sein Haupt-
werk , .Grundsätze der rationellen Landwirtschaft" stellt, losgelöst von
der alten Kameralwissenschaft, eine neue Privatwirtschaftslehre auf,
die, von dem Eigentum an Land und der Verkehrsproduktion aus-
gehend, den Satz verteidigt, daß die vollkommenste Landwirtschaft
diejenige ist, die den höchsten nachhaltigen Reinertrag erzielt. Die
Voraussetzung dazu ist die volle freie Verfügbarkeit über den Boden,
die, Beseitigung aller noch bestehenden Beschränkungen des Flurzwanges,
der alten Dienstleistungen und Abgaben, der Gemeinheiten, der Weide-
servituten. Dann erst vermag jedes Gut ein geschlossenes Ganzes zu
werden, dessen beide Hauptbetriebsarten, der Ackerbau mit Frucht-
wechsel und die Viehhaltung mit dauernder Stallfütterung, ineinander
zu greifen haben.
Zu den Schülern von Thaer gehört auch J. H. von Thünen
(1783 — 1850), der 'die reinen Landwirtschaftler, die in der Vervoll-
kommnung der Technik aufgingen, den national-ökonomischen Satz von
dem relativen Wert der Ackerbausysteme lehrte. Er untersuchte unter
Anwendung einer eigenen Methode in seinem Buche „Der isolierte
Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie, 1826"
den Einfluß der Transportkosten bis zum Markt von Getreide, Holz, Vieh
auf die Betriebsweise und kam zu dem Schluß, daß die wachsende Inten-
sität derselben die erleichterte Verkaufsmöglichkeit zur Voraustzung
habe. Auch andere volkswirtschaftliche Einsichten sind Thünen zu
verdanken, besonders auf dem Gebiete der durch den näheren oder ferneren
Absatzort des Getreides differenzierten Grundrente. Seine später ver-
öffentlichte Sozialpolitik, die in eine wenig glückliche mathematische
Spielerei auslief, enthält die damals neue Wendung, daß es gerecht sei,
entsprechend dem Wachsen der allgemeinen volkswirtschaftlichen Pro-
duktivität auch den Lohn in die Höhe zu setzen. Seiner Erklärung
des tatsächlich gezahlten Lohnes und des Zinses steht die Grenznutzen-
lehre der späteren österreichischen Schule nahe.
Die alte Dreifelderwirtschaft wurde in den dreißiger und vierziger
Jahren vielfach abgeändert. Rotklee, Kartoffeln, Rüben und Hülsen-
früchte traten an die Stelle der Brache. Die „verbesserte Dreifelder-
wirtschaft" löst sich in eine größere Zahl von Schlägen auf. Die Auf-
einanderfolge des Halmbaues während zweier Jahre und die beschränkte
Brache blieben dabei fortbestehen. Das ist bei dem Fruchtwechsel
Il8 III- Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1{
nicht der Fall, bei dem eine regelmäßige Umschicht von Blatt- und
Halmfrüchten stattfindet, von denen die letzteren nie mehr als die
Hälfte der Schläge in Anspruch nehmen. Namentlich in den west-
lichen tief gelegenen Gebieten Deutschlands ging man bald zu diesem
System über. Auf den meisten Gütern des nordöstlichen Preußens,
Holsteins, Mecklenburgs verbesserte man die Koppel- oder Feldgras-
wirtschaft, indem man sie einer festen Reihenfolge von Schlägen unter-
warf und Blattfrüchte einschob. Alle veränderten Anbauweisen ge-
statteten eine größere Viehhaltung. Die Sommerstallfütterung wurde
möglich, und bessere Viehrassen traten an die Stelle der alten. Man
zählte in Preußen:
Pferde
Rindvieh
Schafe
Ziegen
Schweine
I8I6
I 243 261
4013912
8 260396
143433
1494369
1849
1575417
5371644
16 296928
584771
2 466316
Nach Th. v. d. Goltz waren im Anfang des Jahrhunderts auf
dem Gebiete des heutigen deutschen Reiches 2 1 Millionen ha. Acker-
land vorhanden, davon nicht ganz y^ Brache. 50 Jahre später schätzte
er die letztere noch auf 15%, welche Minderung einem Mehrerzeugnis
an Getreide oder Produkten gleichen Wertes von 120 Millionen Ztr.
entsprochen habe.
Die Fortbildung der Landwirtschaft im Sinne rationeller Inten-
sität hat sich in den einzelnen Landesteilen verschieden vollzogen, da
sie bedingt war sowohl durch Klima und Feuchtigkeit des Bodens
und die Handels- und Transportverhältnisse, als auch durch die Aus-
führung der sozialen Agrargesetzgebung und deren Folgen.
In den Marken hatte sich die Vergrößerung der Güter bei der
Ablösung der bäuerlichen Verpflichtungen gegen Bauernland insofern
nützlich erwiesen, als in der Hauptstadt ein guter Absatz der ver-
mehrten Feldprodukte vorhanden war, und Land- und Wasserstraßen
und später die Eisenbahnen die Mehrprodukte fortführten. Auch die
Brennerei machte sich mit der verstärkten Kartoffelpflanzung bezahlt
und wurde technisch vervollkommnet. Die Schafzucht mit Merinos
wurde gewinnbringender, als im Zollverein die Fabriken erstarkten
und die Wolle dauernd zu guten Preisen aufnahmen. Im benachbarten
Posen entstanden ähnliche Verhältnisse der Produktion und des Ver-
kaufes, die Provinz war aber durchweg weit weniger lebhaft und zeit-
gemäß fortschreitend, da mit der ungeordneten polnischen Arbeitsart'
und Lebensweise erst gründlich aufgeräumt werden mußte, eine Aufgabe
die sich die preußischen Gutsbesitzer, Beamten und Schulen, ohne je
Dank zu ernten, angelegen sein ließen. Anders lagen die Verhält-
nisse in den Ostseeländern. Mit dem Steigen der Getreidepreise
verband sich in Ost- und Westpreußen eine wachsende Ausfuhr, die
IV. Die Fortschritte der Landwirtschaft.
119
die Nichterreichbarkeit des damaligen Berliner Marktes ausglich. In
Pommern hatten sich die großen Besitzer während der Argrarkrise
besser gehalten als in der östlichen Nachbarschaft. Jetzt profitierte
man hier von der ausgedehnten Schafhaltung und dem Ostseehandel
um so mehr. Dasselbe galt für Mecklenburg, das durch seine Boden-
beschaffenheit für Körnerfrucht begünstigt ist. Die dortige mit der
Koppelwirtschaft verbundene Viehhaltung diente daher vor allem der
Düngerherstellung, während in Holstein die Aufzucht von Rindern
und Pferden und die Butter- und Käsebereitung der hauptsächlichste
Betriebszweck waren, dem durch den starken Verkauf außerhalb der
Landesgrenzen entsprochen wurde.
Weniger rasch als die bisher genannten Gebiete hatte sich
Schlesien von den schlimmen Zeiten erholen können. Viele Land-
wirte waren verarmt und konnten von der ReguHerung des Bauern-
landes bei dem Absatzmangel vor der Eisenbahnzeit keinen Vorteil
ziehen. Nur in den Teilen des Landes, in denen die Industrie er-
blühte, gelang es, die Nahrungsmittel zu steigenden Preisen zu ver-
kaufen. Ein Fortschritt kam unerwartet in der Mitte der dreißiger
Jahre durch den Anbau von Zuckerrüben.
Die Gewinnung des Zuckers aus Rüben geht auf den deutschen
Chemiker Markgraf zurück, der 1747 Zucker zuerst in der Runkel-
rübe nachwies. 1798 entstand in Schlesien die erste gewerbliche An-
lage, in welcher F. Archard besonders gezüchtete Rüben verarbeitete.
Während der Kriegsjahre konnte sie sich nicht halten, die späteren
Jahre der Kontinentalsperre regten jedoch, wie hier, so auch in der
Magdeburger Gegend, zu neuen Versuchen an. Auch in Baden ist
damals schon die Zuckerrübe gepflanzt worden. Nach 18 15 erstickte
die Einfuhr billigeren indischen Rohrzuckers die Ansätze der Industrie.
Unter dem Finanzzoll Preußens und des Zollvereins von 5 Tlr. auf
den Zentner konnte die Herstellung wieder aufgenommen werden und
wurde nun bald heimisch, zumal der Zuckerkonsum in Deutschland
gewohnheitsmäßig hoch stand, 1832 auf 5 Pfund für den Kopf be-
rechnet wurde, während man ihn in Frankreich nur auf 3 1/2 schätzte.
Die Statistik meldet für 1837 122 Fabriken mit einem Jahresergebnis
von 28000 Zentner Rohzucker. Schon 1841/42 kamen auf jedes Werk
im Durchschnitt 2332, 10 Jahre später 5390 Zentner.
Die Zuckerindustrie in Deutschland liefert einen Beweis dafür,
wie ein Gewerbe mit guten natürlichen Vorbedingungen unter einem
ausreichenden Zoll rasch erstarken kann. Doch würde sich der Vor-
gang langsamer vollzogen haben, wenn nicht das System der Roh-
materialsteuer anreizend hinzugekommen wäre, aus der Rübe eine
möglichst große Ausbeute an Rohzucker zu gewinnen. Die Züchtung
einer widerstandsfähigen, sehr zuckerreichen Feldfrucht gelang — ver-
I20 III- Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
edelte Rüben wurden 15 — iS^/q zuckerhaltig, waren auf das dreifache
gehoben — , und Wissenschaft und Technik wetteiferten in der Aus-
beutungsfähigkeit für die Fabriken. 1840 brauchte man 20 Zentner
Rüben, um einen Zentner Zucker zu erzeugen, 1860/70 durchschnittlich
12^2» und im folgenden Jahrzehnt nur noch 10. Unter der steigenden
Nachfrage der Fabriken nach Rohstoff erblühte die Landwirtschaft ihrer
Umgebung. Der Boden wurde tiefer gepflügt, und die entzuckerten
Rübenschnitzel wurden ihm im Viehfutter als wertvolles Düngemittel
zurückgegeben. Bis in die Mitte des Jahrhunderts befanden sich die
Werke in der Hand eines Landwirtes oder mehrerer gemeinsam, welche
die Rüben anbauten und für ihre Rechnung verarbeiten ließen. Die
fnnere Steuer, von Preußen 1840 eingeführt, war zuerst gering, und
wurde nach und nach, als sie der Zollverein übernommen hatte, erhöht.
Der Rübenzucker hat den kolonialen nicht bloß auf dem deutschen
Markt verdrängt, sondern sich weiterhin ihm auch auf dem Weltmarkt
ebenbürtig entgegengestellt.
Von den preußischen Provinzen wurde später Sachsen für den
Rübenanbau die wichtigste. Es hatte 1851/52 102 Fabriken, während
auf Schlesien 47, auf Anhalt 21 und Braunschweig 8 entfielen. Die
neuerworbene Provinz erfreute sich schon vor 18 15 eines besonderen
Wohlstandes und wurde von dem landwirtschaftlichen Preisdruck der
zwanziger Jahre weniger betroffen als der Osten der Monarchie. Der
gesicherte Absatz des Getreides in Magdeburg und Leipzig, die gute
Verbindung mit Berlin und Hamburg, der verbreitete Anbau von
Handelsgewächsen, des Rapses, der unter der Kontinentalsperre auf-
gekommenen Zichorie, des Kümmels und Anises, auch die Schafzucht
ermöglichten den nicht zu vielen großen und den vielen mittleren
Landwirten das Durchhalten. Als nun die Weizenpreise wieder stiegen
und England als Käufer auftrat, fand eine regelmäßige bedeutende
Ausfuhr auf dem Elbewege statt, die in der Gegend von Halberstadt
und Magdeburg und in Teilen der Altmark weite zusammenhängende
Weizenflächen entstehen ließ. In Anhalt und Braunschweig
bildeten sich gleiche landwirtschaftliche Verhältnisse wie in Sachsen
heraus, und diese Ähnlichkeit ist so im weiteren Verlaufe des Jahr-
hunderts geblieben.
Im Königreich Hannover, wo die mittleren Bauerngüter zahl-
reich waren, fehlten die guten Vorbedingungen für die Schafzucht.
Der Ackerbau war bei der zunehmenden Bevölkerung zwar besser
geworden, die Brache wurde eingeschränkt, obwohl man willkürlich
ohne viel System wirtschaftete. Doch reichte man für den heimischen
Verbrauch kaum aus, so daß namentlich Weizen aus Preußen einge-
führt werden mußte. In den südlichen Landesteilen überwog der
Körnerbau, in den nördlichen die Viehzucht. Der Weizen gedieh jedoch
IV. Die Fortschritte der Landwirtschaft. 1 2 I
am besten in den Marschen. Die Kornbrennerei war verbreitet. Ein
Verkauf nach dem Ausland fand nur aus Ostfriesland mit seinem
guten Boden statt, von Weizen, Hafer, Rapssamen, Butter und Vieh,
vornehmlich nach England. Das dünnbevölkerte östliche Westfalen
versorgte die Bergwerks- und Industrieorte des westlichen und sandte
auch noch einen mäßigen Teil seines Überschusses die Weser abwärts.
Die Rheinprovinz bedurfte bei ihrer bedeutenden Gewerbstätigkeit
einer Zufuhr aus den östlichen Nachbarländern. Der Kleinbesitz war
sehr verbreitet und brachte wenig zum Verkauf. In den zwischen
Rhein, Mosel, Luxemburg und Belgien gelegenen agraren Gebieten
galt der Ackerbau auf dem gebirgigen Boden für rückständig. Eine
Kornausfuhr auf dem Rhein fand von hier ausnahmsweise nur in
besonders guten Erntejahren statt.
In Nassau, Hessen -Darmstadt und der Pfalz, insbesondere
im Rheintal, hatte schon vor der hier beschriebenen Zeit ein intensiver
Landbau im Kleinbetrieb bestanden. Die Städte wie Frankfurt, Mainz,
Worms, Speyer waren die Abnehmer des Getreides, des Weins und
Tabaks. In Baden kamen bei ähnlicher Kultur in den tief gelegenen
Landesteilen noch der Hanf, Raps, Hanfsamen, Lein, Leinsamen,
Hopfen, Mohn und die Zichorie zu jenen Handelsgewächsen hinzu,
alles Produkte, deren Überschuß in guten Jahren auch in die Schweiz,
die Rheinprovinz und nach Holland versandt wurde. Das gleiche
galt von Württemberg, abgesehen von den Landesteilen, in denen
die Bodenzersplitterung bei stark wachsender Bevölkerung im Über-
maß vorhanden war. Hier konnten sich die Familien auf den Zwerg-
betrieben nicht mehr ernähren. Selbst der Kartoffelanbau, so verbreitet
er geworden war, reichte nicht aus. Eine eingehende Schilderung hat
List gegeben, als er die starke süd westdeutsche Auswanderung nach
Amerika im Anfange der vierziger Jahre erklärte und zu ihrer Ver-
meidung die Erweiterung der süddeutschen Industrie forderte. Am
schlechtesten lebten die Weingärtner, das waren 1841 19000 Familien
oder 11,7% der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die nur über i,4iVo
des landwirtschaftlich benutzten Bodens verfügten.
Die ostbayerische Landwirtschaft ist der norddeutschen gegen-
über rückständig. Der Getreidebau reicht für den heimischen Ver-
brauch jetzt so ziemlich aus, gelegentlich finden Ausfuhren nach
Österreich statt, aber die Dreifelderwirtschaft ist nicht überwunden.
Die Schafzucht ist nur gering. Ausgedehnte Landstriche sind in Alt-
bayern nicht angebaut, die Wiesenkultur ist im Regenkreise schlecht,
die dauernde Stallfütterung wird von den Bauern abgelehnt, der Dünger
mangelhaft ausgenutzt, der Flachsbau deckt den Bedarf nicht, die
Ackergerätschaften gelten als unvollkommen. Die Bauerngüter sind
in der Flur vieler Teile des südlichen Bayerns besonders zer-
122 III' Abschnitt. Die Zeit von 1833 — li
Stückelt. Über die Güterzertrümmerung und den Wucher wird geklagt.
Die Edikte und Verordnungen von 18 13 und 1824 gegen die erstere
haben sich nicht als wirksam erwiesen. In Franken und in der Oberpfalz
sind einige Fortschritte bei den Handelsgewächsen zu bemerken. Der
Hopfenbau gedeiht recht gut, Flachs, Hanf und Tabak werden reich-
licher gewonnen als früher.
Nicht besser als im südHchen Bayern war der Landbau in den
thüringischen Staaten, besonders auf dem Walde, wo nur Kar-
toffeln, Hafer und Gerste gediehen. Aber auch in der Ebene, selbst
in der fruchtbaren gothaischen, waren die Ernten durchschnittlich
gering. Wohlstand herrschte in Altenburg, wo auf den großen
Bauerngütern der früher schon hohe Ertrag durch zeitgemäße Neuerungen
gesteigert worden war, so daß bedeutende Mengen von Getreide und
Vieh nach dem Königreich Sachsen abgegeben wurden. Hier
blieb die von altersher gepflegte Schafzucht zwar noch dem Gutsbesitz
erhalten. Wo hingegen die Bodenzerstückelung trotz des durch die
Gesetzgebung stark beschränkten Landverkaufes f ortschritt, mußte sie
eingestellt werden. Die zunehmende Verbraucherzahl des industriellen
Königreichs erheischte immer mehr die Kartoffel, deren Anbau im
Erzgebirge bei den dortigen gewerblichen Arbeitern im Nebenbetrieb
allgemein übhch wurde. Die Getreideerzeugung in der Ebene war
wohl gehoben worden, doch reichte sie nicht ganz aus, so daß Zu-
fuhren aus Böhmen, vor allem aus Preußen, nötig waren.
Die hier gegebene Übersicht zeigt, daß Deutschland trotz seiner
Bevölkerungszunahme in der Lage war, sich selbst zu ernähren, und
auch einiges an Lebensmitteln und Handelsgewächsen zur Ausfuhr zu
bringen. Die Versorgung blieb wie ehedem in mehreren Landesteilen
noch unsicher und unregelmäßig, bedurfte der verbesserten Verkehrs-
mittel neuzeitlicher Technik und des industriellen Aufschwunges als
Voraussetzung weiteren Ausgleiches.
Landwirtschaftliche Geräte wurden von der Industrie nach aus-
ländischen Mustern verbessert und auf den Markt gebracht, während man
sich an den Bau von Maschinen nur ausnahmsweise heranwagte. Die
meisten und besseren bezog man aus England und Belgien. Die
Weltausstellung in London 1851 zeigt die volle Überlegenheit beider
Länder, zu denen noch Nordamerika auf diesem Gebiete hinzutrat.
Der Zollverein hatte weder an landwirtschaftlichen Werkzeugen noch
Maschinen etwas auszustellen gewagt, als die Engländer schon in
großen Sälen ihre Säe-, Schneide-, Dibbel- und Dreschmaschinen, neue
Arten von Pflügen, darunter Dampf pflüge, vorführten.
Auch die agrar-sozialen Zustände, die sich nach der Bauern-
befreiung in Deutschland sehr verschieden gestaltet hatten, waren für
die Lebenslage der landwirtschaftHchen Bevölkerung stark mitbestimmend.
IV. Die Fortschritte der Landwirtschaft. 123
Im ganzen hatte die veränderte Rechtslage auf die großen und mitt-
leren Besitzer günstig eingewirkt. Fleiß, Ordnungs- und Sparsinn
waren gehoben. Die freie Konkurrenz und das Selbstverantwortlichkeits-
gefühl der gebildeten Landwirte regte mächtig dazu an, die Betriebs-
weise zu heben und die mit dem neuen Verkehr gegebenen Möglich-
keiten auszunützen.
Der gesetzlichen Aufhebung der agrarisch-ständischen Gesell-
schaft durch die Einzelstaaten lag der Gedanke zugrunde, daß die
freiere Bewegung der bisher herrschenden und beherrschten Klasse
im ökonomischen Gesamtinteresse liege. Der ersteren Schaden zuzu-
fügen, war nicht beabsichtigt, insbesondere in Preußen nicht, wo der
Adel mit Staat und Krone eng verbunden war. Hier wurde die Ab-
lösung von Frohnden und Abgaben auf den größeren Bauerngütern
so durchgeführt, daß der Berechtigte mit Land oder Geld entschädigt
wurde. Aller landwirtschaftliche Boden bestand von nun an aus Privat-
eigentum der grundsätzlich gleichberechtigten Bürger. Daraus folgte
eine neue Gliederung der landwirtschaftlichen Bevölkerung. Es gab
einerseits Landbesitzer und besitzlose Arbeiter, andererseits große, mittlere
und kleine Landeigentümer. Aus dem Adel gingen die großen, aus
den ehemals unfreien Bauern die mittleren und kleinen Besitzer hervor
Die Landarbeiter entstanden größtenteils aus rechtlichen Vorgängen,
die mit der Regulierung zusammenhingen. Das war der Anfang.
Da der Boden jedermann zugänglich war, erwarben bald auch kapital-
besitzende Städter, recht auffällig während der Preissenkung von 1820
bis 1830, Boden, und wer sich von den kleinen Landeigentümern unter
dem ökonomisch freien Mitbewerb nicht halten konnte, wurde in die
Gruppe der Arbeiter eingereiht.
Die soziale Neuerung beeinflußte sofort die landwirtschaftliche
Betriebsweise. Wer Eigentümer war, mußte in der Verkehrswirt-
schaft für eigene Rechnung und Gefahr tätig sein oder verpachten,
und wer mit der eigenen Arbeitskraft und derjenigen seiner Familie
nicht auskam, hatte Arbeiter heranzuziehen, die er mit Geld, Natu-
ralien oder Landnutzung bezahlt machte. Im letzteren Falle wirt-
schafteten die Arbeiter ebenso auf eigene Rechnung wie die länd-
lichen Kleineigentümer, die Arbeit suchen mußten, falls ihr Besitz
nicht groß genug war, sie ganz zu beschäftigen oder zu ernähren.
Wer Geldlohn bezog, hatte sich ebenfalls an die Verkehrswirtschaft
anzupassen. In die gesamte Umwandlung griff die individuelle Aus-
lese ein. Schwächere Naturen wurden herabgedrückt, stärkere gelangten
nach oben. Diese Umschichtung mußte sich besonders fühlbar machen,
weil alles unfertig, und bei der Lösung der überkommenen Gemein-
schaftsbande jeder unvermittelt auf sich allein angewiesen war. Durch
die Agrarkrise wurde die Konkurrenz noch verstärkt.
124 III- Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
Obwohl in der zweiten Hälfte des 18, Jahrhunderts von preußischen
Rittergutsbesitzern gesprochen wurde, die persönlich die Wirtschaft
führten, so war dieser Zustand keineswegs die allgemeine Regel. In
den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts wurde es durchweg
üblich, daß die Großgrundbesitzer zur Selbstverwaltung übergingen.
Einfluß hierauf hat Thaer gehabt, der bemittelte junge Leute aus
alten Familien zu seiner landwirtschaftlichen Anstalt heranzog, auf
der sie manche Anregung zu zeitgemäßen Neuerungen empfingen.
Manche, die als Offiziere aus Frankreich heimkehrten, suchten nach
sie ausfüllender, verantwortlicher Tätigkeit, anderen war mit der Regu-
lierung der bäuerlichen Verhältnisse die Notwendigkeit aufgelegt, sich
um ihr Gut eingehend zu bekümmern. Ihre Landfläche war ver-
größert worden, nun mußten sie für das erforderliche Betriebskapital
sorgen, Gebäude aufführen und sich nach Arbeitern umsehen. Kamen
ihnen auch die Landschaften mit Kreditgewährung zu Hilfe, so schien
doch alles in der Zeit der sinkenden Getreidepreise gefährdet, so daß
sie stets auf dem Posten sein mußten. Diejenigen, die durchhielten,
waren mit ihrem Betrieb jetzt so verwachsen, daß sie sich nicht von
ihm mehr trennten und ihre Söhne das eigene Lebenswerk fortzu-
setzen erzogen.
Die bürgerlichen Erwerber, die auch Land von solchen Bauern
zusammenlegten, welche den neuen Ansprüchen der freien Wirtschafts-
weise nicht gewachsen waren, verstanden es, mit manchem alther-
sfebrachten Schlendrian zu brechen und wurden auch ein Vorbild ihrer
alteingesessenen Nachbarn, die so praktisch waren, das Gebotene nicht
abzulehnen. Um die Mitte des Jahrhunderts waren alle Großgrund-
besitzer östlich der Elbe, wie v. d. Goltz ausführt, zu einem einheit-
lichen Berufsstand verschmolzen. Für die Fortbildung der Landwirt-
schaft haben die Großgrundbesitzer die größte Bedeutung gehabt.
Alle technischen Fortschritte sind von ihnen ausgegangen. Die Bauern
sind zögernd nachgefolgt. Wenn man jenen vorgeworfen hat, daß sie
sich eine Lohnarbeiterklasse geschaffen haben, die sie in Abhängigkeit
hielten, so muß dem höchst zweifelhaften Ideal eines allgemein gleichen
Kleinbauernbesitzes gegenüber betont werden, daß der Großbetrieb
ohne Arbeiter nicht bestehen konnte, und daß er eine zeitgemäße
Landwirtschaft geschaffen hat, die für die Volkswirtschaft unumgäng-
lich nötig war. Auch die politische Zusammenfassung der Landwirte
in der späteren Zeit der Volksvertretung war dieser Gutsbesitzer Werk,
das für die Versorgung der industrialisierten Nation mit Lebensmitteln
weiterhin so wichtig geworden ist.
Der Großgrundbesitz bestand auch in Mecklenburg, wo er zu
sehr hervorstach, als daß eine breite Klasse freier Bauern hier hätte
entstehen können. Westlich der Elbe finden wir ihn im Königreich
IV. Die Fortschritte der Landwirtschaft.
125
und in der Provinz Sachsen. Da in dieser die bäuerliche Unter-
werfung von altersher weniger streng gewesen war, standen sich die
großen und mittleren Besitzer gesellschaftlich näher, und die Betriebs-
verbesserung konnte sich daher schneller verallgemeinern. Im süd-
westlichen Deutschland hatten die mediatisierten Fürsten und Reichs-
grafen ihr früheres Staatsgut zum großen Teil als Privateigentum er-
halten. Es waren dies vor allem Wälder, und da die Masse der Be-
freiten aus Kleinbauern bestand, blieb der Einfluß von oben nach
unten gering. Von dem niederen Adel hier und ebenso in Bayern
gingen manche als Landbesitzer zugrunde. Das Ablösungsgeld be-
nutzten sie nicht zum Ankauf von Land, verbrauchten es bei großen
Lebensansprüchen oder verteilten es an Erben zu gleichen Teilen.'
Daher ist der Großbetrieb selten und erst in der späteren Zeit des
Jahrhunderts durch städtischen Kapitalismus hier und da neu ent-
standen. Ackerbau und Viehzucht blieben im Vergleich zum Norden
rückständig, und der Zustand wurde erst besser, als die allgemeine
Bildung, die Staatsfürsorge und das Genossenschaftswesen ihre pro-
duktive Kraft geltend machten. Im Rheinlande war es nicht viel
anders, in Westfalen und Hannover war ein gemischtes System. Neben
vielen mittleren Bauerngütern hielten sich hier auch größere von 3- bis
5 facher Größe, die von sparsamen und unternehmenden Männern vor-
trefflich geführt wurden und ihre Nachbarschaft beeinflußten. Bei der
Aufhebung des Gemeindelandes hatten sie sich arrondiert, und aus
Ablösungssummen hatten sie Vieh gekauft. Zu den Trägern des land-
wirtschaftlichen Fortschrittes gehörten in Hannover und Kurhessen
auch die Domänenpächter, die auf 18 Jahre pachteten und, indem die
Söhne oft an die Stelle des Vaters traten, eine kleine wichtige Ge-
sellschaftsschicht bildeten.
Wenn vor der Gesetzgebung von 1807 und 181 1 die ostelbischen
Bauern zum großen Teil nicht einmal wußten, ob sie ihr Land ihren
Kindern hinterlassen würden, und daher nur darauf bedacht waren,
sich den Lebensunterhalt zu bestreiten und dem Grundherrn möglichst
wenig zu leisten, wenn die Städter in dem Bauern, zwar mit Über-
hebung, die Verkörperung von Stumpfsinn, Roheit und Mißtrauen
gegen sich zu erblicken glaubten, so mußte die liberale Agrarreform,
die alle Landwirte mit einem Schlage zu selbstverantwortlichen Unter-
nehmern machte, ein politisches Wagnis kühnster Art sein. Daß Stein
und Hardenberg und ihre Räte nicht davor zurückgeschreckt sind,
muß ihnen hoch angerechnet werden. Es steckte in den Bauern, hier
wie in anderen deutschen Landen, genügend gesunde germanische
Rasse, die von jeher als eigenes besaß, sich bei Achtung der eigenen
Persönlichkeit der überlegenen vertrauensvoll unterzuordnen. Mochte
auch diese Eigenschaft durch das Untertänigkeits Verhältnis unterdrückt
126 m» Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
worden sein, daß sie fortlebte, hatte schon der Befreiungskrieg nach
der Einführung der Wehrpflicht erwiesen. Der Regierung begegneten
die Bauern seit der Zeit Friedrichs des Großen mit weniger Abneigung
als dem Gutsherrn. Sie verstand es, diese Stimmung durch mancherlei
Maßregeln auch weiterhin zu behaupten, dadurch, daß sie das Volks-
schulwesen hob — in größerem Stile geschah es von 1830—50 — , dem
Vereinswesen Vorschub leistete, die alte Flurverfassung umgestaltete
und die die Ablösung erleichternden Landrentenbanken schuf, durch
welche der Staat statt des Gutsherrn der Gläubiger des Bauern
wurde.
Daß nicht alle frei gewordenen Bauern ihr Eigentum halten
konnten und nicht sofort zu einer zeitgemäßen Wirtschaft übergingen,
war selbstverständlich. Die verringerte Betriebsgröße führte in Ost-
und Westpreußen dazu, daß von der hergebrachten Schafzucht meist
abgegangen wurde. Die Beseitigung der Brache war wegen der zu-
nächst noch bleibenden, seit alter Zeit hergebrachten Gemengelage
und des Flurzwanges nicht ohne weiteres ausführbar. Kreditinstitute
für den bäuerlichen Besitz fehlten. Andererseits besaß der Bauer aus
der Spanndienstzeit her das nötige Arbeitsvieh, verstand die Aufzucht
der Rinder und Pferde, nach denen auf den großen Betrieben eine
dauernde Nachfrage vorhanden war. Die Agrarkrise hatte ihn nicht so
geschädigt als den großen Landwirt, da er weniger auf die Verkehrs-
produktion angewiesen war als dieser.
Der Belehrung war er wohl zugänglich, aber zunächst war er
noch voller Argwohn gegen den ehemaligen Herrn, und im Osten,
wo das Land nur dünn besiedelt war, konnten auch freundliche nach-
barliche Beziehungen nicht so rasch geknüpft werden wie westlich
der Elbe, wo die Landwirte aller Art sich auf den nahen Märkten
trafen und sich bei dem höheren Stand der allgemeinen Bildung leichter
verstanden. Es wird berichtet, daß es unter den Freigewordenen Bauern
gegeben hat, denen das Selbstwirtschaften nicht zusagte. Sie verkauften
das Land an den angrenzenden Gutsbesitzer oder auch an einen
findigeren Genossen und nahmen Lohnarbeit. Im ganzen hat sich die
große Mehrheit jedoch behauptet. Nach Meitzen waren in Preußen
1816 351607 Bauernhöfe mit 34425731 Morgen Land vorhanden ge-
wesen, zu denen bis 1859 noch 3003 durch Gemeinheitsteilung spann-
fähig gewordene Kleinstellen mit 834343 Morgen hinzugekommen
waren. Eine Zählung in diesem Jahre, also nach mehr als 40 Jahren
freien Verkehrs, in denen sowohl Land an nicht spannfähige Klein-
stellen als auch an Gutsbesitzer abgegeben worden war, ergab 9873
Höfe mit i 761 641 Morgen weniger als 1S16, d. h. eine Verminderung-
an Höfen um 2,8^/0. Das würde immerhin für die Zähigkeit sprechen,
mit der die Großbauern ihren Besitz gehalten haben. Viel mehr kann
IV. Die Fortschritte der Landwirtschaft.
127
man aus dieser Höfestatistik nicht schließen. Eine brauchbare ver-
gleichende Aufnahme aller Größenklassen ist erst seit 1882 vor-
handen.
In denjenigen Teilen Deutschlands, in denen die im Kleinbetrieb
wirtschaftenden Bauern tatsächlich schon in der Napoleonischen Zeit
frei gewesen waren, wurde die Beseitigung grundherrlicher Abgaben,
der Zehnten, Gülten, Grundzinsen, Herren- und Staatsfronden, auch
des steuerlichen und ökonomischen Drucks der Kleinstaaterei als eine
Wohltat empfunden, aber es war damit keine rechte Veranlassung
gegeben, von der hergebrachten Wirtschaftsweise abzustehen. Erheb-
lichen Eindruck haben die Reformen der süd westdeutschen Landwirt-
schaft nicht gemacht. Nur langsam wurden Betriebsverbesserungen
dort sichtbar, wo es dem Staat durch Belehrung, Vereine, Prämien
gelang, die hergebrachten Vorurteile zu überwinden, oder wo die
Nachfrage der angewachsenen industriellen Bevölkerung nach Lebens-
mitteln die Steigerung der Intensität nahelegte.
Der besitzende deutsche Bauer, so verschieden seine Wirtschaft
in Nord und Süd ist, hat in der Zeit, die hier geschildert wird, noch
eine Summe höchst gleichartiger Züge, die sich durch W. H. Riehls
Wort: „Der Konservatismus des Bauern ist seine Sitte" umschließen
lassen. Indem er an Recht und Regel, an Religion und Gebet, an
Hausordnung und Arbeit auf das zäheste festhält, mußten schon starke
Anstöße von außen kommen, um ihn zu einer Abänderung der her-
gebrachten Wirtschaft zu bewegen. An solchen hat es zwar damals
nicht gefehlt, aber die übliche Lebensanschauung wurzelte doch so tief,
daß in keiner Weise seine gesellschaftlichen Einrichtungen von ihm
angetastet wurden, die ihm für das Gut ökonomisch oft mehr besagten
als der Erfolg des technischen Fortschrittes. Aus seinem Beruf geht er
nicht heraus, mag er noch so gut verdienen oder mag ihm für sein
Land noch so viel geboten werden. Der Tempelhofer Bauer als Boden-
spekulant erscheint erst mit dem Berliner Gründungsschwindel nach
1871. Der reiche Bauer pocht hochmütig auf seinen mit Silbertalern
gefüllten Geldsack und ist schwer zu bewegen, seine Ersparnisse in
Wertpapieren anzulegen. Wer den unbarmherzigsten, egoistischsten
Aristokraten kennen lernen will, muß sich in die Grundsätze hinein-
versetzen, die bei der Ebenbürtigkeit der Verheiratung in alten Familien
festgehalten werden. Denn Geld und Rang der Braut, mag sie sonst
sein wie sie will, ermöglichen dem bevorrechteten Sohne, das ange-
stammte Gut zu erhalten. Rücksichtslos wird der auf dem Altenteil
sitzende Vater, wenn es dem Sohne gefällt, den Geiz für den Glanz
seines Hofes einzusetzen, behandelt, störrisch, hartköpfig, prahlerisch
der Nachbar, verschlagen, unverschämt der in Geschäften kommende
Städter, wenn nur im entferntesten eine Übervorteilung vermeint wird.
128 m^- Abschnitt. Die Zeit von 1833— 1848.
Solchen nicht unberechtigten Rügen gegenüber wird man jedoch die
Lichtseite des konservativen Bauerntums alten Schlages in einer Periode
der sozialen Zersetzung nicht hoch genug einschätzen können. Frei
von der Empfindelei, von der zerbrochenen Sitte und dem individualisti-
schen Begehren des ewig unfertigen modernen Stadtlebens lebt auf
dem Dorfe ein nervenstarkes Geschlecht, national, ohne den Begriff
der Nationalität zu verstehen, staatlich, ohne über das Wesen des
Staates nachzudenken, historisch, ohne Geschichte gelesen zu haben,
als eine Kraftquelle, aus der heraus das Volk sich in der Liebe zur
Arbeit und der Wertschätzung des selbst Geschaffenen stets von neuem
verjüngt.
Ein großes Hindernis für den Übergang zu einer vollkommneren
Produktion, d. h. Ertragsvermehrung, Kostenersparung, Melioration,
Steigerung der Kreditfähigkeit, Vergrößerung des bebauten Areals,
Änderung des Ackerbausystems lag in der hergebrachten weit ver-
breiteten Flureinteilung, die mit der Bauernbefreiung und der Grund-
entlastung nicht berührt worden war. Die Flur war seit uralten Tagen
in Hauptabschnitte, die Gewanne, nach Bodenbeschaffenheit, Abdachung,
Himmelsgegend, Höhenlage, Entfernung vom Dorfe zerlegt worden,
in denen jeder Hufenbesitzer einen durch Erbesteilung, auch durch
Verkäufe parzellierten Anteil hatte. Ein schmaler Streifen sthloß sich
an den anderen an, der meist nur zugänglich war, wenn der Boden
des Nachbars überschritten wurde. Feldwege gab es nicht. Die Be-
stellung und die Ernte mußten daher zur gleichen Zeit vorgenommen
werden. Dazu kam die gemeinsame Stoppel-, Vor- und Nachweide,
die nur auf zusammenhängenden großen Flächen möglich war. Der
individuelle Übergang zu einem intensiveren Betrieb war ausgeschlossen,
hatte zunächst nur Aussicht bei arrondierten Gutsbesitzern und bäuer-
lichen Einzelhöfen. Neben den parzellierten Feldern gab es ein ge-
meinsames Land, bestehend aus Weiden, Wiesen, Holzungen, Moor-
gründen, dessen Nutzung eine unzertrennliche Pertinenz der Hufen
war, aufrecht erhalten durch die Dreifelderwirtschaft, der nur durch
die allgemeine unveränderte Weide die Ernährung des Viehes, wenn
auch in Dürftigkeit, ermöglicht wurde. Die Gutsherren hatten hier
Rechte, besonders der Schafvveide. Der Wald war nicht selten vom
Fiskus unter Belassung servitutischer Nutzungsrechte den Bauern-
schaften entrissen worden.
Eine Radikalkur war nur zu erreichen durch Austausch und Zu-
sammenlegung der Parzellen, Verkoppelung oder Separation genannt,
Aufteilung der Gemeinheiten und Ausbau von Gehöften aus dem
Dorfe. Sie ist aber nur selten vollständig gelungen. Wo die Boden-
beschaffenheiten der Feldmark sehr voneinander abwichen, wo bei
der freien Teilbarkeit des Bodens die kleinen Besitzungen überwogen
IV. Fortschritte der Landwirtschaft.
12g
und stets neue Teilungen und Verkäufe bevorstanden, wo eine garten-
ähnliche Kultur den Parzellen einen individuellen Wert verlieh, wie
im westlichen und südwestlichen Deutschland, in manchen thüringischen
Staaten, mußte man sich damit begnügen, die Zahl der Gewanne und
Parzellen zu vermindern, den letzteren bessere Form zu geben, die
Möglichkeit zur Ent- und Bewässerung zu schaffen und Feldwege
anzulegen. In diesem Sinne bewegten sich die nassauischen Gesetze
von 1829 und 1830 und spätere badische, hessische und württem-
bergische und die preußischen für die Rheinprovinz.
Ein größerer Erfolg wurde dort gewonnen, wo Gutshöfe und
bedeutende Bauernstellen den größten Teil der Feldmark ausmachten,
wie im Norden und Osten Deutschlands. Hier hat eine strengere
Gesetzgebung eingegriffen und konnte es auch. Schon im 18. Jahr-
hundert hatte Friedrich II., besonders in Schlesien, mit Separationen
begonnen, die den Rittergütern vor allem zugute gekommen waren,
auch für Schleswig und Holstein sind gute Anfänge zu verzeichnen.
In Hannover begann die Teilung der Gemeinheiten und die Verkoppe-
lung am Ende des 18. Jahrhunderts. Bis 1833 waren 737825 Morgen
der Generalteilung unterworfen und 423557 Morgen verkoppelt worden.
1821 folgt für Preußen eine Gesetzgebung mit späteren Ergänzungen
von 1838 und 1872, welche die Arrondierung mit der Aufteilung des
Gemeinlandes in Verbindung brachte. Das sächsische Gesetz von 1834
und das hannoverische von 1842 bezogen sich nur auf Zusammen-
legungen, da solche über die Aufteilung des Gemeinlandes schon
früher erlassen waren. Beides wurde aber tatsächlich miteinander ver-
einigt. Ein alle befriedigender Maßstab bei der Zerlegung des öffent-
lichen Landes war schwer zu finden, und das Ergebnis waren Ver-
zögerungen. Die Aufteilung des Waldes erkannte man bald als eine
verkehrte Maßregel, ebenso diejenige von sandigen Heidegründen,
die für die Aufforstung am besten zurückbehalten wurden. Auch aus
finanzpolitischen Gründen ist man vielfach der Teilung entgegen-
getreten, was dort am leichtesten ausführbar war, wo der Besitz auf
die politische Gemeinde von der alten realen übergegangen war. Durch
Erhaltung des zu verpachtenden Gemeindebesitzes war eine Steuer-
entlastung zu erwarten und auch für Schulen, Kirchen, Gemeinde-
häuser der nötige Boden durch Austausch zu gewinnen. Man erhielt
auch sein Gemeinland sowohl aus sozialpolitischen Gründen, weil so
den kleinen Leuten Nutzungsrechte, die sie gegen geringes Entgelt
besaßen, gelassen wurden, als auch als Standort für den Bau von
Arbeiterwohnungen, zumal dort, wo Industrien sich ansiedelten.
Eine freie ländliche Lohnarbeiterklasse von Bedeutung
war im 18. Jahrhundert nicht vorhanden. In der großen Ökonomischen
Encyklopädie von Krüniz (1781) fehlt das Wort Arbeiter vollständig.
A. Sattoriu s V. Wal tershausen Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 9
j-iQ III. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
Dieser soziale Begriff ist erst unter Vermittlung der englischen National-
ökonomie in Deutschland heimisch geworden. Im Norden, Osten, Süd-
osten hatten große und kleinere Bauern Spann- und Handdienste zu
leisten, und wenn in der Erntezeit Hilfsdienste herangezogen werden
mußten, so griff man in Preußen zu Soldaten, gelegentlich auch zu
Städtern, denen damals die Landarbeit mehr vertraut war als heut-
zutage. Halb Arbeiter, halb selbständige Landwirte waren die von
dem preußischen König angesiedelten Kleinstellenkolonisten, besonders
in den Marken, die zeitweise im Jahr auf Nebenverdienst angewiesen
waren.
Im Westen und Südwesten fehlte bei den Grundherren der Bedarf
nach Arbeitskräften im großen. Als ländliche Lohnarbeiter gab es
hier schon Wanderarbeiter, die auf weite Entfernung hin Arbeit suchten.
Sie stammten, wie die Eichsfelder oder die Schwarzwälder, aus klein-
bäuerlichen, vom Frondienst freien Familien, deren Besitz zum Leben
nicht ausreichte. Sie gingen in die neuere Zeit über und fanden später
weiter unten zu besprechende Nachfolger. In Hannover und West-
falen kannte man die Hollandgänger, die zu Tausenden nach dem
Westen zogen, meist für Monate, aber auch für ein oder zwei Jahre.
Die 4 — 5000 Hannoveraner, die jährlich zum Torfbaggern, Grasmähen
und zur Erntearbeit fortzogen, weil sie daheim wenig verdienten,
brachten 30 — 50 Taler heim. Sie betrieben zugleich einen kleinen
Handel, indem sie Wollaken, Leinwand und Flachsgarn mitnahmen
und gut absetzten. Als sich in den dreißiger Jahren Belgien von
Holland abtrennte, Schutzzölle einführte, die diesen Handel unterbanden,
und im östlichen Holland die Löhne sanken, änderten die Wander-
arbeiter ihren Weg und suchten Mecklenburg, Holstein und Dänemark
auf. Erst als Hannover in den Zollverein eingetreten war, fanden diese
Leute im eigenen Lande nach und nach ausreichend Beschäftigung.
Die größeren Gutsbesitzer in der neuen Gesellschaft mußten be-
müht sein, je mehr der Frondienst verschwand, aus dem freien Bauern-
stande Lohnarbeiter zu gewinnen, wenn sie überhaupt den Betrieb
fortsetzen wollten. Hier boten sich als Tagelöhner die Kleinstellen-
besitzer der Dörfer an, denen es an Unterhaltsmitteln oder fortlaufender
Beschäftigung mangelte. Frauen und Kindern wurden die Sommer-
arbeiten auf dem eigenen, geringen Besitz überlassen. Im westlichen
und südlichen Deutschland waren sie die wichtigste Arbeitergruppe.
Ihre Lage war durch ihr Eigentum gesicherter als diejenige der Ein-
lieger, die bei den Bauern zur Miete wohnten und sich ebenfalls gegen
Tagelohn verdangen, Personen, die ihr Land freiwillig verkauft hatten
oder hatten verkaufen müssen. Ihre Kinder waren Proletarier wie sie.
Mit der Entstehung der großen Städte und Industrien waren sie
es, die als bewegliche Masse zuerst abwanderten. Eine dritte Gruppe,
IV. Die Fortschritte der Landwirtschaft.
131
vornehmlich östlich der Elbe, waren die meist für ein Jahr gebundenen
Gutsarbeiter, Insten, Dreschgärtner usw. genannt. Die lange Bindung
entsprach den Bedürfnissen der Arbeiter nach dauernder Sicherstellung
und denen der Landbesitzer nach ganzjähriger Verfügung, entsprechend
dem wirtschaftlichen Kreislauf. Im Frühjahr, Sommer und Herbst
waren sie auf dem Felde, im Winter beim Dreschen beschäftigt. Sie
hatten sich täglich für feste Arbeitsstunden einzufinden, oft auch einen
zweiten Arbeiter, den Scharwerker oder Hofgänger, in arbeitsreichen
Wochen auch die Ehefrau mitzubringen, insbesondere als der Hack-
bau bei den Blattfrüchten sich verallgemeinerte. Sie erhielten einen
festen, geringen Geldlohn, meist Wohnung auf dem Gute, ein Stück
Garten- und Kartoffelland, Getreide, Viehfutter. Oft war eine Inter-
essengemeinschaft zwischen Arbeitgeber und -nehmer derart gebildet,
daß das Vieh des Insten im herrschaftlichen Stalle stand, sein Land
im allgemeinen Betrieb mitbestellt wurde und eine Quote des Er-
drusches ihm zufiel.
Diese Klasse von Leuten ist aus Kleinbauern hervorgegangen,
die in der Freiheit den eigenen Betrieb nicht führen konnten oder
wollten, und vor allem aus denjenigen nicht spannfähigen und nicht
katastrierten alten Bestandes, die gemäß der Deklaration von 18 16 als
nicht regulierbar erklärt wurden, also ihres Landes, an dem sie freilich
nur ein sehr unsicheres Besitzrecht hatten, verlustig gingen. Sie
mußten, obwohl sie jetzt abwandern konnten, sich auf dem Lande ver-
dingen, da ihnen die industrielle Arbeit noch nicht zugänglich und
die Auswanderung nach Amerika, wenigstens bis in die vierziger Jahre,
unbekannt war. Manche hatten wohl auch wenig Neigung zu Neue-
rungen und nahmen das sichere Arbeitsverhältnis nicht ungern an. Aller-
dings mußten sie hier zur regelmäßigen Arbeit erst erzogen werden,
und das ist für die preußische Landwirtschaft von Wert gewesen.
Ehedem lebten sie in den Tag hinein und machten der Wald- und
Jagdpolizei genug zu schaffen. Sie konnten wohl ihr Leben fristen,
aber sie hatten kaum den Wunsch, zu höherer Gesittung und Lebens-
haltung aufzurücken.
Die Vorschrift von 18 16 war für die Erhaltung der großen Be-
triebe eine Notwendigkeit. Daß der Fortschritt der Landwirtschaft
nur so ermöglicht wurde, ist bereits oben erwähnt worden. Sie war
aber auch eine staatsmännische Klugheit, da der preußische Staat die
Klasse der großen Gutsbesitzer nicht entbehren konnte, die ihm in
der Vergangenheit vieles geleistet hatte, und von der man, indem man
sie an ihrem Boden festhielt, das gleiche für die Zukunft erwartete. Das
hat sich späterhin auch durchaus bewahrheitet, da die Reichsgründung
unter Preußens Führung und der Ausbau der Reichspolitik die kon-
servative Partei nicht entbehren konnte.
9*
132 ni. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1{
Von Reden hat für den preußischen Staat von 1849 ^^^ Insten
und die ihnen nahestehenden Arbeiter auf 903 000, die Häusler oder
Kolonisten, Leute mit kleinem ländlichen Grundbesitz, auf 146700,
die Einlieger auf 749000 berechnet. Die ökonomische Lage der Insten
schildert er als eine im ganzen zufriedenstellende. Ihr Einkommen ist
in manchen Gegenden so, daß sie etwas ersparen können, die Löhne
sind örtlich verschieden, was den Preisen der Bedarfsgegenstände un-
gefähr entspricht. Schlechter sind die kleinen Eigentümer gestellt, die
die Lohnarbeit als Nebenbeschäftigung suchen müssen. Nicht wenige
haben ihr Land verschuldet, andere haben bei der Aufteilung der ge-
meinsamen Landnutzung verloren. Über die zu weitgehende Boden-
zersplitterung wird geklagt. Die gewerbliche Hausarbeit des Spinnens
und Webens ist weniger einträglich als früher geworden. Am meisten
leiden sie darunter, daß sie die gesuchte Landarbeit oft gar nicht, im
übrigen nur unregelmäßig finden. Am unsichersten und unzureichendsten
ist das Einkommen der in starker Konkurrenz befangenen EinHeger,
die ganz auf die schwankende Nachfrage nach Arbeit bei ihren be-
sitzenden Nachbaren angewiesen sind. Auch sie drückt die schlechte
hausindustrielle Konjunktur. Im Westen der Monarchie belastet sie
zudem die Preissteigerung der Lebensmittel während der vierziger Jahre.
Eine Besserung der Lebenshaltung und die regelmäßigere Be-
schäftigung auf dem Lande treten erst 10 Jahre später ein, als die neue
Großindustrie Arbeitskräfte sucht, und die Abwanderung vom Lande
stärker einsetzt, die durch das verbilligte Reisen mit der Eisenbahn
gefördert wird. Dieser Vorgang macht sich in den industriellen Pro-
vinzen des Westens, in Brandenburg und in Sachsen früher geltend
als in den übrigen, den rein agraren, und in Schlesien.
Literatur.
I. Allgemeine Zeitung, Augsburg 1833 — 1848.
Das Zollvereinsblatt, herausgegeben von Fr. List, 1833 — 1848.
Werner von Siemens, Lebenserinnerungen, 1892.
Emil Struve, Die Entwicklung des bayerischen Braugewerbes, 1893.
L. W. Schertel, Über den Zustand der bayerischen Gewerbeindustrie, insbesondere
unter Ludwig I, 1836.
II. A. Widung, Anschluß des Großherzogtums Luxemburg an das Zollsystem Preußens
und der übrigen Staaten des Zollvereins, 19 12.
* A. Beer, Geschichte des Welthandels IL, 1884.
L. K., Der deutsche Zollverein während der Jahre 1834 — '^45' amtliche Denkschrift,
1846.
Julius Kautz, Die geschichtliche Entwicklung der Nationalökonomik und ihrer
Literatur. IV. 2. 4. über Deutschland, 1860.
W. Röscher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland, 1874.
C. F. W. Dieterici, Statistische Übersicht der wichtigsten Gegenstände des Ver-
kehrs und Verbrauchs im preußischen Staat und im Zollverein 1838 — 1857.
Literatur.
133
C. F. W. Dieterici, Handbuch der Statistik des preußischen Staates, 1861.
Amtlicher Bericht über die Industrieausstellung aller Völker zu London im Jahre
1851, Berlin 1852,
* Otto Hübner, Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik, 185 2 ff.
Alfred Zimmermann, Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien, 1885.
H. Niederraayer, Die Eisenindustrie der Oberpfalz, 191 2.
C. Frahrae, Die Textilindustrie im Wirtschaftsleben Schlesiens, 1905, mit viel
Literaturangabe.
Fr. von Reden, Das Königreich Hannover, 1839.
Derselbe, Erwerbs- und Verkehrsstatistik des Königreichs Preußen, 1853.
C. von Rehlen, Geschichte des Handwerks und der Gewerbe, 1859.
* D. Baedeker, Alfred Krupp und die Entwicklung der Gußstahlfabrik zu Essen,
191 2. Friedrich Krupp A.-G., Essen/Ruhr, 1812 — 1912, Fest- und Denk-
schrift 191 2.
III, * G. Cohn, Nationalökonomie des Hände s und Verkehrswesens, 1898.
A. von Mayer, Geschichte und Geographie der deutschen Eisenbahnen, 1891.
F. Perrot, Zur Geschichte des Verkehrswesens, 1871.
* Otto Wiedfeldt, Statistische Studien zur Entwicklungsgeschichte der Berliner In-
dustrie von 1720 — 1890, 1898, Staats- und soziaiw. Forschungen.
O. Teubert, Die Binnenschiffahrt, 19 12.
E. Gothein, Geschichtliche Entwicklung der Rheinschiffahrt im 19. Jahrhundert,
1903, Schriften des Vereins für Sozialpolitik.
Ch. Eckert, Rheinschiffahrt im 19. Jahrhundert, 1900, Staats- und sozialw.
Forschungen.
E. Fitger, Wirtschaftliche und technische Entwicklung der Seeschiffahrt, Schriften
des Vereins für Sozialpolitik, 1902.
Max Peters, Die Entwicklung der deutschen Reedereien, 1899 und 1905.
Nauticus Jahrbuch, Entwicklung und Bedeutung der deutschen Reederei, 1900.
H. Raschen, Die ,, Weser", das erste deutsche Dampfschiff und seine Erbauer. Jahrb.
der schiffsbauenden Gesellschaft, 1907.
R. Reinhard, Die wichtigsten deutschen Seehandelsstädte, Forschungen zur deutschen
Landes- und Volkskunde, 1901.
* W. Vogel, Die deutsche Handelsmarine im 19. Jahrhundert, 1914.
E. W. As her, Freiheit der Schiffahrt, ein Kommentar zu den Unterbrechungen der
Schiffahrt auf der Elbe durch dänische Kriegsfahrzeuge, 1852.
* W. Kundt, Die Zukunft unseres Überseehandels, 1904.
IV. * Th. V. d. Goltz, Geschichte der deutschen Landwirtschaft, Bd. IL 1903.
A. Kotelmann, Die preußische Landwirtschaft, 1853.
G. von Gülich, Die gesamten gewerblichen Zustände in den bedeutenden Ländern
der Erde II und III, 1853.
J. H. von Thünen, Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und National-
ökonomie, 3. Auf.., 1875.
Landwirtschaftliches Wochenblatt für das Großherzogtum Baden, 1833 — 1848.
J. G. Koppe, Darstellung der landwirtschaftlichen Verhältnisse der Mark Branden-
burg, 1839.
Fr. List, Ackerverfassung, Zwergwirtschaft und Auswanderung, 1842.
M. J. Rühe, Die Natur der Volkswirtschaft mit besonderer Anwendung auf Bayern,
1850.
H. Morgenroth, Über die Industrie und Kultur im Regenkreise, 1836.
A. Meitzen, Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse Preußens, Bd. i,
1861.
1^4 ni. Abschnitt. Die Zeit von 1833 — 1848.
G. Hanssen, Agrarhistorische Abhandlungen, 1880 — 1884.
B. Schütte, Die Zusammenlegung der Grundstücke, 1886.
G. F. Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den
älteren Teilen Preußens, 1887.
Derselbe, Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit, 1891.
V. Brüneck, Besprechung des ersteren Knappscheu Buches, Jahrb. f. Nat. und Stat.,
1888.
W. Witt ich, Die Grundherrschaft in Nordwestdeutschland, 1896.
Derselbe, Epochen der deutschen Agrargeschichte, Grundr. d. Soz.-Ök. 1914.
* J. Conrad, Volkswirtschaftspoitik, 1902.
W. H. Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, 1853.
Bogumil Goltz, Physiognomie des Volkes, 1859.
IV. Abschnitt.
Die deutsche W^irtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
I. Vorbemerkung, Die Entwicklung des deutschen Zollvereins
zu einer einheitlichen und vertieften Verkehrsvvirtschaft und der damit
verbundene Aufschwung der Gütererzeugung setzten sich nach Über-
windung der revolutionären Störung von 1848 und 1849 '^^ ^^^ fünf-
ziger und sechziger Jahren fort. Die Kriege von 1864 und 1866
waren zu kurz, um in das Wirtschaftsleben hemmend eingreifen zu
können. In ihrem Gefolge entstand der Norddeutsche Bund, der es
mit seiner Gesetzgebung positiv fördernd belebte. Im Vergleich zu
den beiden vorausgehenden Jahrzehnten bringen uns Güterherstellung
und Verkehr auf vielen Gebieten sehr erhöhte Ziffern. Die Ausdehnung
hat etwas Überspanntes, Ruckweises und bleibt daher von dem Rück-
schlag nicht verschont. Die Wirtschaftskrise von 1857 zeigt die Ein-
bürgerung der kapitalistischen Großindustrie, zugleich auch die erhöhte
Fähigkeit der Reichtumsvermehrung. Die Arbeiterfrage heftet sich
an die Ferse der Einkommensgegensätze.
Deutschland tut von 1850 — 1870 den ersten entscheidenden Schritt
zum modernen Industriestaat. In der Mitte der Periode belehrt uns
die Zollvereinsstatistik darüber in folgender Weise:
Mill. Tlr.
1860 Verzehrungs- Rohstoffe Halb- Fabri- Summe
gegenstände fabrikate kate
Einfuhr 102,5 134,5 86,8 34,7 358,8
Ausfuhr 90,1 74,4 53,8 239,0 460,5
Die Fabrikatausfuhr, die in diesem Jahre ausnahmsweise hoch ist,
zeigt die Tendenz am deutlichsten, sie beruht noch zum größten Teil auf
den im Inland gewonnenen Rohstoffen. Der alte Zustand des Agrar-
staates ist nicht mehr vorhanden, die Einfuhr der Verzehrungsmittel
und Rohstoffe überwiegt bereits deren Ausfuhr. Ein Symptom des
Industriestaates, die andauernd passive Handelsbilanz, ist in den fünf-
ziger Jahren noch nicht vorhanden. Die handelsstatistischen Angaben
dieser Zeit gelten als nicht ganz zuverlässig, so viel lassen sie ersehen,
daß die aktiven mit den passiven Jahren wechseln und solche des
Gleichgewichtes nicht fehlen.
1^6 iV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
Die Richtung des zollvereinlichen Außenhandels veranschauhchen
1860 folgende prozentuale Angaben:
Länder
Einfuhr
Ausful
Rußland
12,81
6,60
Österreich-Ungarn
15.70
20,93
Schweiz
3,51
8,11
Frankreich
2,68
2,83
Belgien, Holland
23.50
18,41
Bremen, Hamburg
26,97
24,98
Mecklenburg, Holstein usw.
3,58
2,18
Zusammen landwärts
88,75
84,04
seewärts,
Nordsee
4.41
M5
seewärts,
Ostsee
6,84
I4.S I
Der Zollverein hatte nur einen geringfügigen eigenen Seehandel.
Die überseeischen Waren kamen über die Hansastädte, Holland und
Belgien. Seine Staaten besaßen keine Kriegsflotte. 1864 zählte man in
England 14050 Kanonen auf den Kriegsschiffen, 265 in Preußen, das von
Brasilien, Portugal und der Türkei übertroffen wurde. Dänemark
hatte beinahe viermal soviel!
Obwohl die Einfuhr an Verzehrungsgegenständen die Ausfuhr
übertrifft, so leidet die deutsche Großlandwirtschaft darunter nicht. Das
volkswirtschaftliche Vorwärtseilen zeigt eine, wenn auch nicht volle
Harmonie zwischen ihr und der Industrie. Diese belebt jene durch
ihre zunehmende Kaufkraft, und die ländliche Grundrente, vor allem
auf absatzfähigen Gütern, ist im Steigen bis in die Mitte der siebziger
Jahre. Die städtische folgt nach, als die Bevölkerungszahl der Städte
zunimmt, die besonders als große seit der Mitte des Jahrhunderts mehr
und mehr der Sitz der Industrie werden. Die Eisenbahnen führen
ihnen billig Rohstoffe zur Verarbeitung und Lebensmittel zu, die
überall aufstellbare Dampfmaschine macht die ländliche Wasserkraft
entbehrlich, die Arbeiterschaft ist reichlich in der Stadt angeboten und
hier leichter festzuhalten als auf dem Lande. Die Warenpreise heben
sich allgemein. Die Geldlöhne vermögen sich nur zögernd ihnen an-
zupassen, aber schließlich gelingt es. Der Zinsfuß erhöht sich mit den
steigenden Gewinnen. Den besitzenden Klassen, als wirtschaftlich
tätigen, sparenden und ausleihenden, geht es gemeinsam gut. Die
Gesetzgebung wird ihren Bedürfnissen dienstbar gemacht. Das von
England eingeführte Manchestertum erlebt seine deutsche Blüte und
beherrscht die praktische wie die theoretische Nationalökonomie.
Doch ist man von Englands Reichtum noch sehr weit entfernt.
Hier hatten im Jahre 1806 1021 Personen ihr Einkommen für eine
loproz. Steuer auf mehr als loooo £ erklärt, während jetzt in Preußen
I. Vorbemerkung. j-^n
die gesamte Einkommensteuer, d. h. ohne die Klassensteuer der kleinen
Leute, nur 2,8 Millionen Tlr. erbrachte. Aber die englischen Methoden
zur Vermögensansammlung wurden in Deutschland wiederholt und
blieben nicht erfolglos.
In der Revolution von 1848 ist das deutsche Bürgertum zwar
politisch unterlegen. In der sogenannten Reaktionszeit fängt es an,
die ihm immerhin g^e währten Freiheitsrechte in den Parlamenten zu
benutzen, um eine Gesetzgebung vorzubereiten, die die ihm verfügbaren
ökonomischen Mittel fruchtbar machen soll. Der volle Erfolg gelingt
erst am Ende der Periode nach der politischen Umgestaltung.
Das liberal-bürgerliche Milieu der fünfziger und sechziger Jahre
ist zu wenig positiv und zu sehr in abstrakten Doktrinen befangen,
als daß es eine einheitliche Kultur, besonders auf dem Gebiet der
Kunst hätte schaffen können. Die vormärzlichen Freiheitsgesänge von
Herwegh und der Leute des „Völkerfrühlings" wurden in der arbeit-
samen und geschäftsspekulierenden Zeit^ der sich die nationalpolitische
von 1864 — 1870 anreihte, schnell vergessen. Gutzkows, Dingel-
stedts, Freytags, Auerbachs politische Tendenzen in dem Ge-
wände des Dramas und des Romans erzeugten keine ideale Gesinnung,
befriedigten aber das Bürgertum dadurch, daß sie sagten, die Gegen-
wart sei gut und schön. Die Dichter wie Hebbel, Keller, Reuter,
Scheffel, Storni, Fontane wandelten in der unfertigen Gesellschaft
ihren eigenen Weg und bewiesen, daß die höhere Poesie sich nach
eigenen Gesetzen richtet und nicht, wie die ökonomische Theorie von
Marx in dieser Zeit ausklügelte, nur ein Spiegelbild des jeweiligen
wirtschaftlich sozialen Lebens ist. Diese „materialistische" Lebens-
anschauung war unter dem verblüffenden Eindruck der technischen
neuzeitlichen Errungenschaften und unter der Beeinflussung der sozialen
Zustände durch sie als Verallgemeinerung einiger Beobachtungen in
England entstanden, wo diese Lehre als ein Zwitter der dort üblichen
brutalen Wertschätzung der Tatsachen und Hegelscher Philosophie
den Gebildeten und den Massen ebenso unverständlich blieb, wie sie
in Deutschland von sozialistischen Journalisten und Arbeiterführern
erfolgreich eingeschwärzt wurde, um den hier verbreiteten Glauben an
abstrakte Philosopheme der Einheitlichkeit des Daseins neue Genug-
tuung zu gewähren.
Auch in die Malerei hat das wirtschaftende Deutschland von 1815
bis 1870 keineswegs gestaltend eingegriffen. Sie folgt den tastenden
Versuchen nach neuen Zielen und unter der Abwehr gegen zeitweise
herrschende Schulen mühesam ihrem verschlungenen Pfad, der „von
der Tradition zur Freiheit" führt, und den sie in den achtziger Jahren
glaubt zurückgelegt zu haben. War sie ehedem unter dem aristokratischen
Schutz gepflegt worden, wobei die Beschützer, die nicht des Kunst-
j-jg IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848— 187 1.
Verständnisses ermangelten, so freisinnig waren, die Künstler gewähren
zu lassen, so sollte sie jetzt von der Bourgeoisie und dem ihr nach-
empfindenden kommunalen Beamtentum dadurch demokratisiert werden,
daß die alten Gemälde aus säkularisierten Klöstern und verarmten
Schlössern in Museen, die jede Stadt haben wollte, geschmacklos auf-
gestapelt und die neuen von Kunstausstellung zu Kunstausstellung
der Großstädte geschleppt werden. Von Kunsthändlern und in Auk-
tionen wurde „das moderne Material" schließlich losgeschlagen, um in
bunter Mischung die Wände der Salons der frischgebackenen Ver-
walter des nationalen Reichtums zu zieren. Die Kunstmode tritt die
Herrschaft an, die ebenso vergänglich ist wie das flüssige Kapital,
das man in Kunstwerken anlegt. Das sichere Brot für den Maler ist
das Porträt, das sich auf beachtenswerter Höhe hält und für die Zu-
kunft einen Schatz an Typen von erfolgreichen Industriellen und Ban-
kiers im Stile des Klassizismus, der Biedermeier-, der Kleinmalerei-
periode aufbewahrt. Die Historienmalerei begünstigt der Staat bis in
die Mitte des Jahrhunderts zum didaktischen und patriotischen Zweck.
Sie schwelgt fast nur in ferner Vergangenheit und impft damit ge-
legentlich reichen Leuten eine Romantik ein, die sie bestimmt, sich
Sammlungen von altdeutschen Meistern anzulegen und verfallene Burgen
am Rhein und an der Mosel in einer mißverstandenen Gotik auf-
zubauen.
Die Baukunst, die mehr als andere Künste von der gesellschaft-
lichen Verteilung des Reichtums abhängig ist, erhält von den steuer-
armen Gemeinden nach 1850 nur wenig Aufträge, und der Staat leistet
auch nicht viel, was er noch in der vorhergehenden Periode wie in
München unter König Ludwig I. und in Berlin mit Hilfe der fürst-
lichen Schatullen getan hatte. Architektonisch hat Berlin in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts nichts Bleibendes geleistet. Das Bürger-
tum geht im Erwerbsleben auf, und das Bismarcksche Zeitalter ist dem
Kunstbau in Stein abhold, so gelungen es politisch aufzubauen ver-
mochte. Vielleicht gerade deshalb. Die Kirche besaß keine großen
Mittel; was sie künstlerisch anregt, sind kleine Wiederholungen großer
Vorbilder. Der Schloß- und Palastbau des Landadels ist ganz zurück-
getreten, denn diese Gesellschaftsschicht fängt erst in den vierziger
Jahren an, sich von der Notzeit des Krieges zu erholen. Der Bahnhof-
bau ist kleinzügig und nur auf praktische Bedürfnisse gerichtet. In
den sechziger Jahren beginnt das deutsche Großbürgertum in Städten
wie Berlin, Leipzig, Dresden mit schweren geschmacklosen Neubauten
hervorzutreten, um seinen Wohlstand zu beweisen, das mittlere mit
bescheidenen|Villen vor der Stadt, gleichzeitig mit den Aktiengesell-
schaften, die ihre Geschäftshäuser für das Bank- und Versicherungs-
wesen als Reklame benutzen. Als allgemeine Erscheinung haben wir
II. Die Revolution von 1848/49, Handwerker und Lohnarbeiter. i^g
in den Groß- und Mittelstädten Riesengebäude der letzteren Art, deren
innere Einteilung und Einrichtung ihren praktischen Zwecken voll-
kommen angepaßt werden, erst in den nächsten Jahrzehnten. Der
Geist des neuen Bürgertums, der sich in technischen und wirtschaft-
lichen Neuerungen ausgibt, hat mit der Baustilbildung seiner Epoche
nichts zu tun. Man prüft die Kosten und läßt Vorschläge von den
Architekten machen, die unter keiner strengen ästhetischen Disziplin
stehen oder Nachahmer bewährter Vorbilder sind, wobei sich die Talente
ihrer Aufgaben mit größerer oder geringerer Geschicklichkeit entledigen.
IL Die Revolution von 1848/49, Handwerker und Lohn-
arbeiter. Die Revolution von 1848 war die des Bürgertums, in der
Hauptsache demokratischer Natur. Ihr auch wirtschaftliche Triebkraft
allgemeiner Art zuzusprechen, ist insofern zulässig, als der während
der letzten Jahrzehnte angewachsene Wohlstand in Industrie und Handel
sich über breitere städtische Volkskreise, wenn auch recht ungleich-
mäßig, ergoß und in ihnen unter gleichzeitiger Erhebung praktischer
wirtschaftspolitischer Wünsche das Bewußtsein einer verstärkten sozialen
Macht im Staate erzeugt hatte.
Der Ausbruch der Unruhen war von Frankreich ausgegangen.
Daß er sich in der friedfertigen deutschen Nation so rasch fortpflanzen
konnte, hing mit einer weit um sich greifenden Mißstimmung der
letzten zwei Jahre zusammen, die unmittelbar aus wirtschaftlichen Ver-
hältnissen zu verstehen ist und sich in landläufige politische For-
derungen umgesetzt hatte, in dem unklaren Gefühl, daß man mit ihrer
Erfüllung den Notstand beseitigen könne. Alle Revolutionen stammen
aus dem Magen, meinte der erste Napoleon.
Schon 1845 hatte die Kartoffelkrankheit, die Naß- oder Zellen-
fäule, Deutschland heimgesucht, und im folgenden Jahre hatte sich das
Übel .verschlimmert. Der Mangel an gesunder Frucht war bald ein
allgemeiner, und die Ausfuhrverbote des Zollvereins und der Einzel-
staaten sowie das Verbot der Branntweinbrennerei hatten nichts nützen
können. Die Kartoffelnot ward um so mehr empfunden, als der An-
bau in den letzten beiden Jahrzehnten rasch zugenommen hatte, nach-
dem sich die befreiten Bauern mit Energie auf ihn zu werfen ver-
standen und Handwerker und Heimarbeiter ihre Gärten damit bestellt
hatten. Nun kamen noch sehr ungünstige Getreideernten hinzu und
brachten Preissteigerungen, die man seit Menschengedenken nicht
kannte. Der Mittelpreis eines preußischen Scheffels Roggen war in
Norddeutschland 1844 auf 40712 Sgr. berechnet worden. 1845 stieg
er auf 51, 1846 auf 70^Vi2' 1^47 auf 862/^2- Die beiden letzten Jahre
bringen eine stark vermehrte Sterblichkeit. Handwerker und Arbeiter
waren nicht minder in Verzweifelung als die Bauern, die nichts zu
verkaufen hatten. Die Zufuhr vom Ausland, das selbst nur wenig
IAO IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
abzugeben hatte, war gering, da die Eisenbahn damals noch nicht
im großen Hilfe zu bringen vermochte. Auf eine einheitliche Bahn-
tarifherabsetzung war nicht zu rechnen, und der Zollverein zur Auf-
hebung der Lebensmittelzölle bei seiner schwerfälligen Verwaltung
nicht zu bewegen.
Obwohl die Revolution weder die deutsche Einheit schuf, die
als nationaler Wunsch mit dem demokratischen vereinigt worden war
und dem Kampf in der Gesellschaft einen höheren Schwung verliehen
hatte, noch die politischen Ansprüche des Bürgertums befriedigte, hat
sie doch auf dem Gebiete des Verfassungs- und Verwaltungsrechtes
eine Reihe Neuerungen im Gefolge gehabt, die unter der Vermitt-
lung der neugeordneten Parlamente, wie namentlich in Preußen, auch
wirtschaftliche Wirkungen besaßen. So kam in vielen deutschen
Staaten jetzt die liberale Agrargesetzgebung zum Abschluß. Die be-
stehenden Lasten, die noch aus der ständischen Zeit übrig waren,
wurden als ganz unzeitgemäß empfunden. Die Bauernunruhen, nament-
lich in Schlesien, hatten in dem Widerwillen gegen die veralteten
Pflichten ihre Ursache gehabt.
In Preußen waren von 1816 — 1848 70582 bäuerliche Eigentümer
mit einem Gesamtbesitz von 5 158 8 17 Morgen abgelöst worden. Das
waren */, aller größeren Pflichtigen Bauern, während von den Klein-
bauern nur 289651 befreit worden waren, etwa ^4- Nach dem
Ablösungsgesetz vom 2. März 1850 wurden einige geringere Lasten
aufgehoben, die übrigen durchweg in Geldrenten verwandelt, die mit
dem 18 fachen Betrage kapitalisiert wurden. Zur Vermittlung der
Kapitalzahlung an die Berechtigten wurden staatliche Rentenbanken
errichtet, die die Geldrenten von den Bauerngütern unter Amortisation
einzogen, wodurch in 56 Jahren die Ablösung zum Schluß gebracht
werden sollte. Von 1850 — 1865 wurden noch 12706 größere bäuer-
liche Besitze und i 014 341 kleine losgekauft. Die gesamte an Private
und Domänen entrichtete Ablösungssumme seit i8i6 berechnet Meitzen
auf mindestens 2 13 861 035 Tlr., wobei der Morgen Kulturland auf 20,
von Forstland auf 10 Tlr., der Scheffel Roggen auf i Tlr. durch-
schnittlich angenommen ist.
In Bayern und Württemberg wurde das entscheidende Ablösungs-
gesetz überhaupt erst 1 848 erlassen, das ebenfalls die Vermittlung staatlicher
Kassen nach sich zog. In Baden, Sachsen-Weimar, Gotha, Meiningen,
Altenburg wurde das vorher Begonnene energisch fortgesetzt. Zu alledem
kamen neue Gesetze, die noch bestehende alte Jagd- und Fischereirechte
teilweise ohne Entschädigung aufhoben, teilweise ablösten und den
landwirtschaftlichen Betrieb störende Weiderechte beseitigten.
Die 1848 er Bewegung hat auch Reformen direkter Steuern, Be-
seitigung noch vorhandener Steuerexemptionen veranlaßt, die, wenn
II. Die Revolution von 1848/49, Handwerker und Lohnarbeiter. i^j
auch, wie in Preußen, einiges davon widerrufen wurde, ebenfalls wirt-
schaftliche Erleichterung den mittleren und unteren Volksschichten
gewährten.
Aber weiter direkt umgestaltend hat sie in die deutsche Volks-
wirtschaft nicht eingegriffen. Die Handelspolitik, das Geld-, Bank-
und Transportwesen wurden durch sie nicht berührt, obwohl die Ein-
sicht, alles dies auf eine neue staatsrechtliche Grundlage zu stellen,
nicht fehlte. Die in Frankfurt tagende Nationalversammlung hatte in
dem Entwurf der Reichs Verfassung vom 28. März 1849 wichtige volks-
wirtschaftliche Bestimmungen eingesetzt, die in dem preußischen Ent-
wurf der mit Sachsen und Hannover provisorisch vereinbarten Mai-
verfassung wiederholt wurden. Das zu gründende Reich sollte ein ein-
heitliches Zoll- und Handelsgebiet werden, mit Wegfall aller Binnen-
zölle und mit wertvollen indirekten Verbrauchssteuern. Für das Patent-,
Post- und Telegraphen-, das Münz-, Bank-, Maß- und Gewichtswesen
wurde die gesetzliche Reichskompetenz verlangt, und alle diese Ver-
waltungszweige sollten der Oberaufsicht des Reiches unterstehen. Der
deutsche Zollverein wäre dann nicht weiter nötig gewesen.
Da diese Pläne der deutschen Einheit zu nichts geführt haben,
blieb der Zollverein fortbestehen, der während der politischen Lähmung
der Einzelstaaten die Einnahme ruhig weitererhob, statutenmäßig ver-
rechnete und verteilte.
In Verbindung mit der Revolution sind zwei Vorgänge sozial-
wirtschaftlichen Inhalts zu nennen, die zwar nicht unmittelbar tief in
das Wirtschaftsleben einschnitten, aber doch Ereignisse der sechziger
Jahre vorbereiteten : Die Handwerker- und Lohnarbeiter-
bewegung. Die erstere führte schließlich zu dem Gegenteil des Be-
absichtigten, indem die staatlichen Versuche, ihren Zielen nachzugeben,
die Unzweckmäßigkeit derselben erwiesen. Die zweite blieb für die
Lage der Arbeiter zwar praktisch erfolglos, wurde aber später im
gleichen Sinne aufgenommen, so daß ihre theoretischen Gedanken
fortlebten.
Die rechtliche Lage des Handwerks war nach 18 15 in Deutsch-
land ungleichartig. Gewerbefreiheit, Konzessionssystem, Zunftrecht
waren bunt gemischt. Nicht bloß der einzelne Staat, sondern die
Provinzen, sogar die Städte hatten das Gewerbewesen partikular ge-
regelt. In Süddeutschland wurden die Rechte der Vergangenheit
wenig beachtet. Man ließ staatlicherseits unter Mißachtung der In-
nungen, wenn auch unter bürokratischer Willkür, die Entwicklung der
neuen Gewerbsarten zu, aber die alten fortbestehenden Beschränkungen
waren doch noch eine Fessel des Fortschrittes, da sie formell nicht
aufgehoben worden waren. In Hannover hatten sich die Zünfte be-
142 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
hauptet, doch schon 1833 zeigte die Statistik in den freien Gewerben
43 537 Selbständige und 1 1 830 Gehilfen, 29356 und 973g unter
Konzession, 18840 und 19064 in Zünften, so daß diese nur ein Drittel
der Gewerbetreibenden umschlossen. Ähnlich lagen die Verhältnisse
in Kurhessen, Sachsen, Württemberg, Baden, Oldenburg und den vier
freien Städten.
Nach den Untersuchungen von G. Schmoller hatte sich in
Preußen bis 1 83 1 trotz der Gewerbefreiheit das Handwerk auf seinem
alten Umfang in der Gesamtbevölkerung gehalten, entsprechend dem
oben mitgeteilten volkswirtschaftHchen Zustand der Ruhe oder der
nur langsamen Vorwärtsbewegung. Die Lebensgewohnheiten des
Volkes hatten sich nicht sehr geändert, und die kleinen Gewerbe-
treibenden blieben zunächst im sicheren Besitz ihres bescheidenen Ab-
satzes. In der nächsten Periode nimmt mit dem Schwinden der Eigen-
produktion die Zahl der Handwerker auf Kosten der Landwirtschaft
zu, besonders auf dem Lande, da dies die Gewerbefreiheit gestattete.
Gleichzeitig gerät die stoffverarbeitende alte Kleinproduktion in eine
unheimliche Gärung. Überall werden tüchtige Schmiede, Tischler,
Maurer, Sattler gesucht, Meister und Gesellen, um in die neuen Fa-
briken einzurücken. Dann ergänzt und erweitert, als Reservoir für
diese Fabriken, das städtische Handwerk die Zahl seiner Angehörigen,
um nach wenigen Jahren schon zu erfahren, daß die neue Technik
der Fabrikation in Verbindung mit dem verbesserten Transport sich
gegen die alte Form der Verarbeitung wendet und bei ihren in Ver-
gleich zu später zwar noch primitiven Methoden den ungelernten
Lohnarbeiter nicht selten dem gelernten Gesellen vorzieht. In der
Mitte der vierziger Jahre wurde in ganz Deutschland von einer Krisis
des Handwerks gesprochen, und als nun schlechte Ernten die Kauf-
kraft des Landes herabsetzten und 1847 die englische Handelsstockung
auf Deutschland, besonders auf Bremen, Hamburg, Karlsruhe, Mann-
heim und Offenbach, hinübergriff, fand das Revolutionsjahr einen höchst
unzufriedenen Kleingewerbestand vor, der die allgemeine politische
Erregung benutzen zu müssen glaubte, um seinen Forderungen Gehör
zu verschaffen. Obwohl die Handwerker zuerst von dem demokratischen
Fahrwasser mit fortgerissen wurden, setzten sie sich bald zu dem
wirtschaftlichen Liberalismus in Gegensatz und bekämpften die Ge-
werbefreiheit, die an allem ihren Unglück schuld sein sollte. Da
einem das Hemd näher als der Rock ist, wurde dieser Kampf bald
der Mittelpunkt der Bewegung, was zugleich dahin führen mußte, bei
den Konservativen, die sie mit offenen Armen aufnahmen, Anschluß
zu suchen.
Die Agitation wurde durch einen „offenen Brief" von 22 Leip-
ziger Obermeistern an alle Innungen Deutschlands eingeleitet, dann
II. Die Revolution von 1848/49, Handwerker und Lohnarbeiter. 1A3
tagte in Hamburg ein Vorkongreß, der von 200 Abgeordneten besucht
war. Hier wurde eine Neuordnung entworfen, die ein angeblich zeit-
gemäßes, neues Innungswesen enthielt und den Männern in der Frank-
furter Paulskirche mit dem Ansinnen übersandt wurde, daß die Auf-
hebung der Gewerbefreiheit zu einem Reichsgrundsatz erhoben werden
sollte. Das 1918 von Rußland nach Deutschland importierte Räte-
system wurde damals schon vorgefühlt. Man erklärte, daß ein „Hand-
werkerparlament" in Frankfurt tagen sollte, dessen Beschlüssen das
Hauptparlament Gesetzeskraft zu geben habe. Also eine Durchbrechung
der Demokratie durch Berufsinteressen, freilich in bescheidenerer Form
als 19 19, da die Handwerker über ihre eigenen nächsten Angelegen-
heiten hinaus keinen politischen Einfluß beanspruchten. Doch sieht
man, daß sie weitmehr als eine beratende Körperschaft sein wollten,
wie solche die Handels- und Gewerbekammern später gebildet haben.
Das Handwerkerparlament trat zusammen und ließ der National-
versammlung einen „feierlichen von Millionen Unglücklichen besiegelten
Protest" gegen die Gewerbefreiheit und eine allgemeine Handwerks-
und Gewerbeordnung überreichen, die die obligatorischen Zünfte mit
öffentlich rechtlichen Befugnissen, den Befähigungsnachweis der Meister,
die Wanderzeit der Gesellen, die Beschränkung der Lehrlingszahl
wieder herstellen sollte. Außerdem ging die Forderung auf Verbote
des Hausierhandels, der Assoziation von Nichtinnungsgenossen, der
Staats- und Aktien Werkstätten und öffentlicher Submissionen, auf eine
hohe Extrabesteuerung der Fabriken, die vom Handwerk streng ab-
zutrennen seien, und auf die Errichtung einer Gewerbekammer, die als
höhere Instanz über den Zünften zu stehen und zugleich das neue
deutsche Reich in der Handwerkersache zu beraten habe.
Der geistige Führer war der Professor der Kasseler Gewerbe-
schule Winkelblech, der unter dem Pseudonym Karl Mario ein
umfassendes Werk, „Untersuchungen über die Organisation der Arbeit,
oder System der Weltökonomie" herauszugeben begonnen hatte, ein
ehrlich empfindendes Buch, dessen zweiter Band eine auch heute noch
lesenswerte Geschichte der Nationalökonomie und des älteren Sozia-
lismus enthält, im übrigen ein aus Malthusianismus, Kommunismus,
Innungsidealen und christlicher Moral zusammengesetztes System ent-
hält, das, trotz mancher eingestreuter, zutreffender Bemerkungen, mit
der geschichtlichen Entwicklung des Wirtschaftslebens seiner Zeit in
keine zureichende Verbindung gebracht ist.
Was die Meister vorgemacht hatten, ahmten die Gesellen nach.
Auf einem Gegenkongreß, ebenfalls in Frankfurt a. M., wurde scharfe
Kritik an dem Handwerkerprogramm geübt, jede Herrschaft des
Meisters über den Gesellen verworfen, aber die Innung nicht preis-
gegeben. Unter Winkel blechs Bemühung kam es zu einem Kom-
144 ^^- -Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848/1871.
promiß, so daß wenigstens nach außen die Einheit des ganzen Standes
gewahrt blieb.
Die Nationalversammlung war der Aufgabe, ein allgemeines
deutsches Gewerberecht zu schaffen, nicht gewachsen. Sie war mit
Petitionen und Versammlungsbeschlüssen überschüttet worden, und
der volkswirtschaftliche Ausschuß sollte in Kürze sich in dem Chaos
der Widersprüche zurechtfinden und das für ganz Deutschland Passende
herausfinden. Der Ausschuß legte zwar einen Majoritätsentwurf auf
gewerbefreiheitlicher Grundlage und zwei entgegenstehende Minioritäts-
vorschläge vor, empfahl aber gleich, nicht darauf einzugehen und die
Ordnung einem späteren Reichsgesetz zu überlassen.
Damit waren die Eingaben der Handwerker und Gesellen er-
ledigt. Dennoch ist die Handwerkerbewegung nicht ohne Folgen
geblieben, da sowohl in Preußen 1849 Verordnungen zugunsten der
Zünfte erlassen wurden, als auch eine größere Anzahl Staaten, u. a.
Bayern und Hannover, nicht dazu zu bewegen waren, die bestehenden
zünf tierischen Einrichtungen abzuändern, obwohl die Lage der Hand-
werker hier in keiner Weise besser war als dort, wo die Gewerbe-
freiheit Rechtens war.
Die preußische Gewerbeordnung von 1845, die nach zehnjähriger
Beratung zustande gekommen war, hatte im Grundsatz die freiheit-
lichen Gesetze von 1810 und 181 1 aufrecht erhalten, aber die freien
Korporationen der Handwerker durch Begünstigungen zu schützen
versucht. Hiermit wurde 1849 gebrochen. Bei einer großen Zahl der
Gewerbe wurde ihre Ausübung von der Mitgliedschaft einer Innung
abhängig gemacht, eine dreijährige Lehr- und Gesellenzeit als Mindest-
maß vorgeschrieben, die gemeinsame Ausübung mehrerer Handwerke
konnte verboten werden, Abgrenzungen der Betriebsarten voneinander
wurden vorgeschlagen.
Zur Ordnung aller sich ergebender Schwierigkeiten und zur
Überwachung der Vorschriften schuf man Gewerberäte, deren Mit-
gheder für bestimmte Bezirke von dem Handwerker-, Fabrikanten-
und Handelsstande gewählt wurden. „Die Gewerberäte waren", schreibt
Schönberg, „ein verunglücktes Experiment. Die unzweckmäßige
Zusammensetzung derselben, die Unbestimmtheit der ihnen erteilten
Befugnisse und der Mangel an Verständnis, an korporativer Willens-
kraft und an Gemeinsinn in den Kreisen der Gewerbetreibenden ließen
sie nicht zu der gehofften Entwicklung kommen."
Die Gewerberäte fanden dort, wo sie eingeführt wurden, lebhaften
Widerstand in allen denjenigen industriellen und kommerziellen Kreisen,
denen eine ungehinderte Bewegung, zu Neuerungen zu gelangen not-
wendig war. Die Regierung legte bald selbst kein Gewicht auf dieses
Institut mehr, das sie nur an das Jahr 1849 erinnerte. In vielen Be-
II. Die Revolution von 1848/49, Handwerker und Lohnarbeiter. j^ =
zirken wurde es gar nicht erst einmal versucht, und wo es bestand
ließ man es seine Pflicht tun oder nicht tun, wie es ihm paßte.
Die Rückkehr zu den Prinzipien der alten Innungen wurde in
den fünfziger, noch mehr in den sechziger Jahren als ein Widerspruch
zu dem wirtschaftlichen Leben der Nation begriffen, je rascher es
industriell fortschritt, was in einer Weise geschah, wie nie zuvor. 1854,
begann Württemberg, wo verwandte Gewerbe in dieselbe Innung ein-
gegliedert wurden, mit der Reform im liberalen Sinne, 1859 folgte
Gotha, 1860 Nassau. In den sechziger Jahren schlössen sich Baden,
Oldenburg, Bremen, Hamburg, die thüringischen Länder, Sachsen, zu-
letzt das zähe an seinem Konzessionssystem hängende Bayern (1862
und 68) an, so daß die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes
den Boden für die Gewerbefreiheit geebnet vorfand. Im rechtsrheinischen
Bayern hatte die Bevölkerung von 18 18 — 187 1 nur von 3,26 bis zu
4,24 Millionen zugenommen, und doch klagte man über zu viele Men-
schen, da das überwiegend agrarische Land eine starke Auswanderung
hatte. Der Wanderungsverlust hat von 1840 — 1910 765000 Personen
betragen. In den ersten Jahrzehnten zogen viele über See; als die deutsche
Industrie erstarkte, waren Sachsen, die Rheinprovinz und Westfalen be-
sonders aufnehmend. Der Abzug wäre noch größer gewesen, wenn
die verarbeitenden Gewerbe im Lande nicht auch fortgeschritten wären.
Das wird meist der freiheitlichen Bewegung von 1868 zugeschrieben.
Mit gewissem Recht. Doch haben die Reichsgründung und die
Rückwirkung aus dem sonstigen erstarkten Deutschland ein Übriges
geleistet. Die liberale Literatur hatte diese neue Bewegung stark an-
geregt, in Süddeutschland unter der Führung von v. Steinbeiß und
Schäffle, im Norden unter der von Schultze-Delitsch und
V. Huber, die beide mit dem Genossenschaftswesen dem Handwerk
neue Kraft zuführen wollten; durch V. Böhmert, C. Braun und den
Manchestermännern, die auf diesem Gebiete am glücklichsten ge-
handelt haben und welche die seit 1858 tagenden Kongresse deutscher
Volkswirte nach dieser Richtung hin zu bestimmen verstanden. Die
Handwerkertage jener Tage, die der 1862 gegründete Handwerker-
bund abhielt, wurden mit ihrem Innungsprogramm demgegenüber
kaum gehört.
Die deutschen Handwerker waren in der Mitte des Jahrhunderts,
das ist unbestritten, in einer wenig günstigen Lage, da sie durch die
veränderte Technik in den Fabrikgroßbetrieben, durch die billige Haus-
industrie, den aufkommenden Fernabsatz und den zunehmenden Hausier-
handel bedrängt wurden, ohne daß sie eine Abwehr gegen ihre
Widersacher oder eine Anpassung an die neuzeitliche Volkswirtschaft
gefunden hatten. Allerdings in verschiedener Weise. Spinner, Weber,
Tuchmacher, Metallarbeiter, Brauer, Nadler, Nestler, Strumpfwirker,
A.Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. It)
146 IV* Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
Seifensieder, Seiler, Böttcher, Töpfer, Handschuhmacher, Färber, Nagel -
schmiede, Bleicher, Drucker, Mützenmacher konnten sich nicht halten
und verschwanden als Handwerker allmählich, während alle diejenigen,
die für die persönlichen und häuslichen Bedürfnisse ihrer Kunden
arbeiteten, wie Friseure, Barbiere, Schuhmacher, Schlosser, Schmiede,
Klempner, Glaser, durch die neue Betriebsweise direkt weniger betroffen
wurden. Schneider und Schneiderinnen wurden hier und da geschädigt.
1850 wurde das erste große Magazin von Hermann Gerson in
Berlin eröffnet, das 20000 Mäntel und Mantillen lieferte, 2000 Personen,
darunter zahlreiche Modistinnen und Putzmacherinnen, in seinen haus-
industriellen Dienst stellte. Die Kleiderbazare traten im Verlauf der
fünfziger Jahre auch in anderen Städten auf, gewannen bald größere
Ausdehnung, als die Nähmaschine ihren Siegeszug durch die ganze
Welt antrat. Sie war 184Ö von Elias Howe in Massachusetts erfunden
worden. Mitte der fünfziger Jahre versuchten sich auch deutsche
Mechaniker an neuen Konstruktionen. Die bald darauf in Leipzig,
Bielefeld, Berlin, Magdeburg und Stettin entstehenden Unternehmungen
blieben indessen klein, und leistungsfähige sind erst 20 Jahre später
vorhanden. Inzwischen herrschte das amerikanische Weltmonopol.
Die Nähmaschine konnte auch hausindustriell benutzt werden,
wie es überhaupt vielfach die Hausindustrie auf breiter Grundlage war,
die neben der Fabrik dem Handwerk Schaden zufügte. So nicht nur
in der Textil- und Konfektionsindustrie, sondern auch bei der Her-
stellung von Ledertaschen, Koffern, Spielwaren, Musikinstrumenten
und Klein eisen waren.
186 1 war im Vergleich zu 18 16 der Anteil der Handwerker in
der preußischen Bevölkerung, freier und zünftlerischer, nicht geringer
geworden, wenn auch in den letzten Jahren eine kleine Abnahme die
vorherige Zunahme aufzuzehren begann. Es wurden 28,3°/oo g^gen
24,9 ermittelt, und die Gehilfen eingerechnet sogar 59,0 gegen 30,8.
Von den Personen der geschädigten Handwerksbetriebe waren manche
in die besser gehenden übergetreten und brachten hier ein Überangebot
hervor, wodurch die Allgemeinheit der Klagen begreiflich wurde.
Andere versuchten kleine Verkaufsgeschäfte einzurichten, gingen hau-
sieren, betrieben mehrere Arbeiten nebeneinander, warfen sich auf
Reparaturen, wozu ihnen immer mehr Gelegenheit geboten wurde, je
unselbständiger die Familienwirtschaft wurde. Am schlechtesten erging
es dem Handwerk in den Großstädten, während es in den Kleinstädten
und auf dem Lande relativ große Zahlen behauptete.
Wenn man sich die Tatsache vorhält, daß aus dem Handwerker-
stande viele Personen in die neuen Fabriken übertraten, so erscheint
es auffallend, daß die Quote in der Bevölkerung sich so gehalten hat.
Die Erklärung dürfte darin liegen, daß viele Hilfspersonen der Fabriken,
II. Die Revolution von 1848/49, Handwerker und Lohnarbeiter. j^^
wie Maurer, Tischler, Zimmerleute, Sattler, Schmiede, Schlosser ganz für
diese tätig wurden, ohne zunächst den eigentlichen Lohnarbeitern sich
zuzurechnen. Außerdem vollzog sich die Abwanderung aus der Land-
wirtschaft und aus der ländlichen Hausindustrie in die Städte oft so, daß
die Ankömmlinge sich zuerst dem Handwerk zuwandten, das ihnen
mehr zusagen mochte als die gleichförmige Fabrikarbeit, und damit
die Verluste wieder auffüllten.
Ebenso wie der landwirtschaftliche, bedurfte der industrielle Groß-
betrieb der Lohnarbeiterschaft, um zu gedeihen. Der gewerbliche
Lohnarbeiter ist in dem theoretischen System des Liberalismus ein Mann,
der mit einem anderen, dem Arbeitgeber, einen Vertrag über eine gegen
Geldlohn zu leistende Arbeit abschließt, unter den Schranken des für
alle geltenden bürgerlichen Rechtes, im übrigen wirtschaftlich tun und
lassen kann, was ihm beliebt, ein Mann, der auf sich selbst gestellt,
zu einem zufriedenen Dasein und zu der Ausbildung seiner ihm eigenen
Anlagen gelangen wird.
Diese Definition ist ein Ziel, das unter den Tatsachen des Lebens
zunächst nicht oder nicht genügend erreicht werden konnte, solange
Besitz und Besitzlosigkeit eine ganz verschiedene, geschichtlich ge-
gebene Machtverteilung in der Gesellschaft darstellten. Vielmehr ent-
stand ein solcher Zustand unter beiden Gruppen, der außerhalb der
Arbeitsbetätigung zu einer gegenseitigen Abschließung hinsteuerte.
Die Güterproduktion bedurfte des Zusammenwirkens beider und wurde
dadurch möglich, daß die besitzlosen Arbeiter unter den gegebenen
Verhältnissen Arbeit zu suchen genötigt wurden, womit sie, wie sich
indessen erst später herausstellte, auf die Verbesserung ihrer Lage
nicht zu verzichten brauchten. In den vierziger und fünfziger Jahren
wußten sie noch nicht, wie sie es anfangen sollten. Die ersten Vor-
stellungen der Selbsthilfe sind ihnen, wenn auch nur wenigen, 1848
aufgegangen, und von dorther stammen die Anfänge „des Emanzipa-
tionskampfes des vierten Standes". Die Betriebsform, in der alle Pro-
dukte dem Unternehmer, mochte dieser auch der Staat sein, gehören,
wurde in den kommenden Kämpfen nicht verändert, und alle Versuche
dieser Richtung sind bis zur Gegenwart fehlgeschlagen. Der Unter-
nehmer blieb zur Deckung des allgemeinen Bedarfes in der modernen,
arbeitsteiligen und auf Fern- und Massenerzeugung gerichteten Volks-
wirtschaft unentbehrlich, es war also eine Notwendigkeit, ihm die Dis-
ziplin über seine Arbeiter und das Recht der Entlassung nicht zu
schmälern. Unter diesen Zugeständnissen konnte es also nur darauf
ankommen, ihn gegenüber der Lohnarbeiterschaft zu der Erfüllung
sozialer Pflichten anzuhalten. Der Trieb nach Reichtum in w. S. hatte
Vermögen und Produktivkraft unwiderstehlich zum größeren Betrieb
10'
148 I^' Abschnitt. Die deutsche "Wirtschaftsgeschichte vou 1848 — 1871.
mit Lohnarbeitern geführt. Das Individuahnteresse, das der Bauer und
der Handwerksmeister am Erfolg ihres Schaffens haben, ließ sich auf
die Arbeiter nicht übertragen, sondern nur auf wenige, einen oder
einisre Unternehmer oder deren Stellvertreter. Die Motive zum Ar-
beiten mußten daher wo anders hergenommen werden, falls man nicht
auf den ökonomischen Fortschritt verzichten wollte. Furcht vor Ent-
lassung war das nächste, das zur Anwendung gebracht wurde. Lohn-
aufbesserung, Aufrücken zu höherer Stellung, Aussicht auf Ersparungen,
Hausbesitz, Alters- und Invalidenversorgung sind weiter herbeigezogen
worden.
In der Mitte des 18. Jahrhunderts waren die gewerblichen Lohn-
arbeiter nur in den wenigen kleinen Fabriken anzutreffen, wie etwa in
der sächsischen Kattundruckerei, während der Kontinentalsperre nahm
ihre Zahl zu, hielt sich aber bis in die dreißiger Jahre noch in sehr be-
scheidener Grenze.
Jn den zwanziger Jahren gab es jedoch noch keine gewerblichen
Arbeiter i. w. S. mit ausgeprägtem Klassenbewußtsein. Am meisten
besaßen dav^on die Gesellen in den großen Städten, die sich in ihren
Hilfsvereinen gegenüber den Meistern bei besonderen Anlässen als
eng zusammengehörig fühlten. Die Bergarbeiter waren in Knapp-
schaftsverbänden genossenschaftlich organisiert, betonten aber in ihnen
eigentlich nur die Kranken- und Invalidenfürsorge, bei der sie von
den Ge werken unterstützt wurden. Die außerhalb der Innungen
stehenden Leute zu gewerbhchen Arbeiten waren weit zerstreut über
Stadt und Land in der Hausindustrie und den wenigen Fabriken,
deren Gründungen man z. B. zwischen 181 1 und 1820 im Königreich
Sachsen nur auf 70 beziffert hat, die zu ^7 Kleinbetriebe mit wenigen
Arbeitern waren.
In den dreißiger und noch mehr in den vierziger Jahren ver-
ändert sich das Bild. So gab es z. B. von 1841 — 1850 in Sachsen
schon 64 Fabriken mit je 50 — 100 Arbeitern, 74 mit je 100 — 500 und
1 1 mit noch größerer Anzahl. Nach den Mitteilungen des statistischen
Bureaus in Berlin von 1860 hatte von 18 16 — 1847 die Zunahme der
Fabrikarbeiter, Handwerksgesellen und des Gesindes in Preußen 6,88%
mehr als die der Bevölkerung betragen. In Berlin hatten sich die
Handwerksgesellen um 50,60%, die Fabrikarbeiter um 170,41% ver-
mehrt. In den letzten Jahren vor der Berichterstattung waren im
Königreiche von 8 — 14jährigen Kindern 13, in Berlin 32 auf tausend
Einwohner in der Industrie beschäftigt gewesen.
Die gelernten Arbeiter in den neuen Werkstätten waren ehe-
malige Meister und Gesellen oder auch Heimarbeiter, die ungelernten
die Nachkommen dieser Lohnarbeiterschaft, denen die handwerksmäßige
Ausbildung versagt blieb, und Leute vom Lande, Einlieger und nach-
II. Die Revolution von 1848/49, Handwerker und Lohnarbeiter. i^^g
geborene Bauernsöhne, die keinen Boden ererbt hatten, Personen, die
ihren kleinen Besitz verloren, Mädchen, die sich in ihrer Heimat nicht
verheiratet hatten und dem ländlichen Gesinde nicht angehören oder
städtische Dienstboten nicht werden wollten.
In diesen ersten Umformungsvorgang paßte eine Arbeiterbewegung
nicht hinein. Zunächst hatten sich die Lohnarbeiter an ein gemein-
sames Arbeiten zu gewöhnen. Dann erst konnte das Bewußtsein der
sozialen Zusammengehörigkeit lebendig werden. In den dreißiger Jahren
brachten die wandernden Gesellen einige neue Ideen aus Paris und
der Schweiz nach Deutschland. Teils drehte es sich dabei um repu-
blikanische und demokratische Forderungen, teils um kommunistische
Pläne Fouriers und Cabets, mit welchen praktisch nichts zu
machen war.
In den vierziger Jahren entstand eine Propaganda, die sich an den
Namen des Schneiders W. Weitling (1808— 187 1) anknüpfte. Er
war auf der Wanderschaft nach Paris gekommen, wo er mit dem
Kommunismus, der ganz ungeschichtlich, d, h. ohne an Bestehendes
anzuknüpfen, die Phantasie von unverbesserlichen Schwärmern erfüllte,
vertraut geworden war. Nach der Schweiz übergesiedelt, suchte er in
öffentlichen und geheimen Vereinen nach Anhängerschaft, die ihm auch
nicht versagt blieb, bis die Staatsbehörden sein Treiben unterdrückten.
Sein erstes Büchlein „Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein
sollte" (1838) will die Welt in einen Garten und die Menschheit in
eine große Familie verwandeln. „Die Garantien der Humanität und
Freiheit" (1842) bringen die genaueren Formen der utopistischen Or-
ganisation, während die dritte Schrift „Das Evangelium eines armen
Sünders" (1845) den Nachweis liefern sollte, daß der Kommunismus
mit der Lehre Christi übereinstimme, die er sich zu einer Vorschrift
für Genußleben und Liebe in jedem Sinne des Wortes aus mehr als
hundert Bibelstellen mundgerecht gemacht hatte. In die Güterverbrauchs-
gemeinschaft der ersten Christengemeinden, die übrigens von gemein-
samer Produktion niemals etwas wußte, wollte er die moderne Groß-
industrie einschmelzen und glaubte sicher der Schwierigkeit Herr zu
werden, wenn die Arbeiter ihn für einen zweiten Messias nähmen, für den
er sich selbst halten mochte. Aber das taten sie nicht, und so mußte er
das erleben, worauf eigenartige Köpfe in der Arbeiterdemokratie immer
-gefaßt sein müssen, daß ihre Gedanken noch heftiger befehdet werden
als die der verhaßten bürgerlichen Gesellschaft.
Als die Revolution 1848 ausbrach, kam es nicht nur schon zu
einzelnen größeren Arbeitseinstellungen, bei denen die Arbeiterführer
den Klassenstandpunkt verteidigten, sondern in Berlin und in Köln
wurde der erste Versuch einer politischen Arbeiterbewegung gemacht.
Beides hatte mit Weitlings Plänen unmittelbar nichts zu tun, doch
ICQ IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
läßt sich nicht verkennen, daß seine und ähnlich gesinnte kommu-
nistische Agitation in Gesellen- und Arbeiterkreisen den Glauben an
die Ungerechtigkeit der bestehenden Eigentumsordnung geweckt hatten.
In Frankreich hatte die Februarrevolution neben dem bürger-
lichen einen proletarischen Charakter gezeigt. In England hatte es
die Chartistenbewegung gegeben. Von diesen beiden Ländern mit
ihren fortgeschrittenen Industrien gingen die Reflexerscheinungen aus,
die in Deutschland damals aufleuchteten. Doch waren sie für die
deutsche Revolution, die eine solche des Bürgertums blieb, ohne
größeren Nachhalt. Da die Bewegung von 1848 eine demokratische
war, ist sie von den späteren Sozialdemokraten immer verherrlicht
worden. Der demokratisch-revolutionäre Glaube war von der Bour-
geoisie dem Proletariat vermacht worden. In diesem Sinne ist auch
der Ausspruch Bismarcks von 1878 bei der Beratung des Sozialisten-
gesetzes zu verstehen : „Der „Fortschritt" ist, um landwirtschaftlich zu
sprechen, eine sehr gute Vorfrucht für den Sozialisten als Bodenbe-
reicherer, letzterer gedeiht danach vorzüglich".
Ein Aufruf des Berliner Schriftsetzers Born zur Beschickung
eines Arbeiterparlajnentes war an alle Arbeiter-, Handwerker- und
Bildungsvereine ergangen. Es sollte über eine Garantie der Arbeit
durch den Staat, staatliche Unterstützung industrieller Arbeiterasso-
ziationen, staatliche Versorgung aller hilflosen und invaliden Arbeiter,
Regelung und Beschränkung der übermäßigen Arbeitszeit und Reform
des Steuerwesens beraten werden. Ein Kongreß fortgeschrittener
Arbeiter trat auch in Berlin zusammen, der im Sinne der vorgenannten
Forderungen beschloß und, ebenso wie die Handwerker, die Frank-
furter Nationalversammlung anging, die Beschlüsse in die Grundrechte
des deutschen Volkes aufzunehmen. Der Erfolg blieb aus. Eine prak-
tische Betätigung suchten die Born sehen Anhänger damit zu erreichen,
daß sie sich überall dem radikalen Flügel des deutschen Bürgerturtis an-
schlössen, was dann zu dem Ergebnis führte, daß die ganze Bestrebung
mit der Niederwerfung der Revolution zertrümmert wurde. Der
spätere sozial-demokratische Gedanke, mittels der Politik soziale Wünsche
der Arbeiter durchzusetzen, war somit schon ausgesprochen worden.
In präziserer Form wurde er später von Lasalle unter Vermittlung
des allgemeinen gleichen Wahlrechts aufgenommen.
In Köln war es der in London gegründete Kommunistenbund,
an deren Spitze Karl Marx und Friedrich Engels standen, und
der die Arbeiter der Rheinprovinz, wo das Fabrikwesen am weitesten
fortgeschritten war, zur proletarischen Revolution aufrufen wollte. Die
„Neue Rheinische Zeitung" unterstützte ebenfalls die radikale Demo-
kratie, ohne sich zu verhehlen, daß hierin höchstens ein vorläufiges
Mittel zu einem viel weiteren Zweck, dem Kommunismus, gesehen
II. Die Revolution von 1848/49, Handwerker und Lohnarbeiter. jci
werden könne. Zwar kam es den beiden Führern nicht darauf an,
irgend ein System sofort zur Verwirkhchung zu bringen, vielmehr
wurde für die unmittelbare Gegenwart nur die selbstbewußte Teilnahme
der Arbeiter an dem vor ihren Augen vorgehenden Umwälzungs-
prozeß der Gesellschaft verlangt. Doch war das entferntere Ziel klar
in dem „Kommunistischen Manifest" ausgesprochen worden: „Das Pro-
letariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie
nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente
in den Händen des Staates, d. h des als herrschende Klasse organi-
sierten Proletariats, zu zentralisieren".
K. Marx (18 18 — 1883) war aus einer Familie von Geistes-, nicht
Handarbeitern entsprossen, der Stammbaum seines Vaters, der Rechts-
anwalt war, weist in gerader Linie, hinauf bis in das sechzehnte Jahr-
hundert, nur Rabbiner auf, was alles Eigenschaften seiner Persönlichkeit
bedingte, die in einer anthropologisch orientierten Wissenschaft nicht
zu übersehen sind: die ungemeine Gelehrsamkeit, die talmudische Spitz-
findigkeit, die Advokatur für die Unterdrückten, das Ressentiment
des Judentums und die kritische Richtung. Auf der Universität ergab
er sich ganz der junghegelschen Demokratie, die in Männern wie D.
F. Strauß, B. Bauer und A. Rüge mittels der Dialektik des Phi-
losophen das Christentum und die Monarchie radikal angriff. Doch
ging Marx bald darüber hinaus, als er, nach einer nicht geduldeten,
vergeblich versuchten Privatdozenten- und Journalistenkarriere am
Rhein, die älteren französischen Sozialisten und die Proudhonsche
Eigentumskritik in Paris kennen lernte, aus denen er sich belehrte,
indem er beide ebenso zu zersetzen unternahm (Misere de la Philoso-
phie 1847 und Äußerungen gegen die Weitlingsche Richtung) wie den
Hegeischen Staatsbegriff, dem er als den Schlüssel zum Verständnis
der geschichtlichen Entwicklung die ökonomische Gesellschaft ent-
gegenstellte, ohne die dialektische Methode des Philosophen preis-
zugeben. Aus Frankreich ausgewiesen, betrieb er in Brüssel praktische
Agitation in Arbeiterkreisen und verfaßte das genannte kommunistische
Manifest, das wesentliche Grundgedanken seiner späteren literarischen
Gedankenwelt bereits enthält: daß die ökonomische Gütererzeugung
und die aus ihr mit Notwendigkeit sich ergebende gesellschaftliche
Gliederung den Unterbau für die politische und intellektuelle Geschichte
einer Periode bilden ; daß die ganze bekannte Geschichte eine solche von
Klassenkämpfen gewesen ist; daß der gegenwärtig zwischen Bourgeoisie
und Proletariat auszufechtende Kampf eine Stufe erreicht hat, auf der
dieses sich von jener nicht befreien kann, ohne zugleich die ganze
Gesellschaft von der Unterjochung zu erlösen.
Fr. Engels (1820 — 1895), aus einer wohlhabenden Fabrikanten-
familie stammend, ging mit seiner gründlichen vielseitigen Bildung,
jC2 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
und seinem schriftstellerischen zur Popularisierung neigenden Talent
ganz in Marx' Lebenswerk auf, obwohl er schon früher als dieser mit
den tatsächlichen Zuständen der Großindustrie in Manchester bekannt
geworden war. Sein Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in Eng-
land" (1845) ist für viele andere einseitig zielbewußte Arbeitervertreter
ein literarisches Vorbild geworden und genießt daher eine originelle
Berühmtheit. Selbst Heglianer und Marx' scher Dogmatiker, behielt
er doch mit dem wirklichen Verlauf des ökonomischen Geschehens
Fühlung, um gelegentlich Korrekturen an den zu starren Konstruk-
tionen seines Freundes vorzunehmen, verlor auch sein deutsches, hu-
morvolles Empfinden niemals, mußte er auch den größten Teil seines
Lebens als verbitterter Ausgewiesener in London verbringen.
Die Kölner Arbeiterbewegung wurde bald durch die Polizei be-
seitigt und hat der deutschen Arbeiterschaft in ihren berechtigten For-
derungen damals nur geschadet. Der Kommunismus wurde zu einem
Popanz, dem gefährlichen „roten Gespenst" gemacht, um die Unter-
drückung jeder Arbeiterbewegung im Anfange der fünfziger Jahre
möglichst ungeniert durchführen zu können. Marx und Engels
verHeßen Deutschland und griffen erst nach 15 Jahren wieder in die
proletarischen Kämpfe ihres Heimatlandes ein. Ihre zuerst schwer-
verständlichen Ideen wurden nur von wenigen Arbeitern und Poli-
tikern im stillen Busen aufbewahrt, und es bedurfte der Lassall e-
schen Vorbereitung, um sie weiteren Kreisen mundgerecht zu machen,
III. Die Krise des deutschen Zollvereins und der
deutsch-österreichische Handels vertag von 1853. Dem
Zollverein, wie er 1833 nach mühevollen Verhandlungen zustande
gekommen war, hatte man in Österreich eine politische Bedeutung
zunächst nicht beigelegt. Im Verlauf der Jahre war man anderer
Meinung geworden, als Preußens Führung immer deutlicher hervortrat.
Als nun in dem Unionsvorschlag von 184g die auf eine politische Neu-
gestaltung eines engeren Deutschlands gerichteten Pläne hervortraten,
ging das österreichische Ziel darauf hinaus, entweder mit dem Kaiser-
staat in den Zollverein einzutreten oder diesen zu sprengen. Man hoffte
um so mehr auf einen baldigen Erfolg, als die preußische Machtpolitik
in Olmütz unterlegen, und der alte Deutsche Bund in seiner lockeren
Form wieder hergestellt worden war. Nach mancherlei Verhandlungen
wurde auf der General -Zollkonferenz zu Kassel 1850 der Eintritt
Österreichs, für den sich dessen Handelsminister, Baron von Brück,
mit aller Entschiedenheit und mit großer Geschicklichkeit eingesetzt
hatte, zur Beratung gebracht und ein vorläufiges Einverständnis in
der Weise erzielt, daß Preußen, Bayern und Sachsen die Verhand-
lungen mit dem südlichen Nachbarstaate zu führen ermächtigt wurden.
in. Die Krise des deutschen Zollvereins usw.
153
an dessen weitgehendem Entgegenkommen auf handelspolitischem
Gebiete nicht gezweifelt werden konnte, nachdem er von seinen alten
Prohibitivmaßregeln das meiste preiszugeben bereit war. Der öster-
reichische Vorschlag kam darauf hinaus, daß der Zolltarif beider
Gebiete als ein einheitlicher, und die innere Handelsfreiheit in drei
Perioden des Überganges mit herabzusetzenden Zwischen zollen an-
gebahnt werden sollte. Als nun Preußen, obwohl es geneigt war,
jede sonstige Erleichterung des zwischenstaatlichen Verkehrs unter
Voraussetzung der bisherigen Selbständigkeit zu unterstützen, erklärte,
daß bei der gänzlich verschiedenen Verbrauchsfähigkeit ausländischer
Waren in beiden Gebieten die Verteilung der Zollgefälle sich nicht
regeln lasse, daß das Tabakmonopol und die österreichischen Finanz-
zölle unüberwindliche Schwierigkeiten bereiteten, auch der Zollverein
von seiner gemäßigten Handelspolitik nicht abgehen könne, führte die
österreichische Regierung, um ihre Willfährigkeit zu beweisen, eine
Summe von Reformen ein. Die noch vorhandenen Binnenzölle und
die Einfuhr-, Durchfuhr- und Ausfuhrverbote fielen, zahlreiche Zölle
auf Halb- und Ganzfabrikate wurden ermäßigt, auf Roh- und Hilfs-
stoffe der Industrie aufgehoben, die Ausfuhrzölle auf eine geringe Zahl
beschränkt.
Preußen war jetzt in einer schwierigen Lage, zumal die deutschen
Mittelstaaten seinen Gegner unterstützten. Es verstand , daß es von
der Spitze des Zollvereins verdrängt werden sollte. In dieser Lage
der Dinge wurde man 185 1 durch einen Vertrag zwischen Preußen
und Hannover, dem sich auch Schaumburg-Lippe und Oldenburg an-
schlössen, also den Ländern des Steuervereins, überrascht, womit es
dem ersteren, auch wenn Kurhessen sich vom Zollverein, der 1853
vertragsmäßig ablief, lossagte, ermöglicht wurde, ein zusammen-
hängendes und lebensfähiges Zollgebiet zu bleiben, während die süd-
und mitteldeutschen Staaten den Zugang zur Nord- und Ostsee ver-
loren, und die Ströme des Rheins, der Ems, der Weser, der Elbe, der
Oder nur mit Preußens Einwilligung zollfrei benutzen konnten.
Dazu kam, daß die Staaten des Steuervereins zur Handelsfreiheit
neigten, in welchem Sinne ihnen namentlich bezüglich der Finanzzölle
Zugeständnisse gemacht wurden, auf die Österreich niemals eingehen
konnte. Für Hannover, das sich seit der Beendigung der Personal-
union mit England handelspolitisch freier bewegen konnte, war der
Vertrag ein gutes Geschäft. Es erhielt bei der Verteilung der Zoll-
einnahmen Präzipuen, zollfreie Einfuhr von Schienen für seine Staats-
bahn, freie Entrepots für die Seestädte Emden, Harburg und Geeste-
münde, Zollausschluß für die ostfrisischen Inseln, den freien Küsten-
zugang zu dem preußischen Aleere. Seine Staatsbahnen mußten durch
den preußischen Handel mit Bremen, Hamburg und dem Westen ver-
ICA IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
dienen, die Industrie, die bald einige Fortschritte verzeichnete, ein
Absatzgebiet . auch außerhalb der Landesgrenze gewinnen.
Es folgten lange Verhandlungen zwischen Preußen und den bis-
herigen Zollvereinsstaaten. Die thüringischen Länder fanden es bald
in ihrem Vorteil, bei dem hergebrachten Verhältnis zu verharren,
wodurch auch Sachsen, um mit Westdeutschland in Verbindung zu
bleiben, bewogen wurde, sich zu dem gleichen zu entschließen. Die süd-
deutschen Staaten hofften, in ihrer Abneigung gegen den Norden,
noch auf ein Zollbündnis mit Österreich, kamen aber auch davon ab,
als ihnen ihre bisherigen Finanzeinnahmen aus Zöllen und Verbrauchs-
steuern nicht verbürgt wurden. So wurde denn für weitere zwölf
Jahre der Zollverein von neuem vereinbart (1854^ — 1866), der auf
9040 Quadratmeilen angewachsen war.
Der Unionsplan mit Österreich war gescheitert, und Preußen hatte
einen diplomatischen Sieg errungen, den einzigen von Bedeutung, den
man der Manteuffelschen Politik hat nachrühmen können. Das wert-
volle Gut der werdenden deutschen Einheit blieb erhalten. Die Krise
hatte wiederum gezeigt, wie wenig Stetigkeit die völkerrechtliche
Grundlage des Zollvereins gewährleistete. Neue Störungen konnten
kommen, und die Frage lag nahe, ob eine verfassungsmäßige, dauernde
Ordnung der äußeren Handelspolitik nicht erreichbar wäre.
In Österreich sah man sich indessen nicht als ganz geschlagen
an, da man im Februar 1853 mit dem Zollverein einen Handelsvertrag
vereinbarte, ohne w^elchen die süddeutschen Staaten nicht hatten nach-
geben wollen. Der Vertrag nahm ein ausgedehntes System gegen-
seitigen Entgegenkommens in sich auf, das als Vorstufe zu einer künf-
tigen Union angesehen wurde, auf die ausdrücklich im Eingange des
offiziellen Textes hingewiesen worden war. Es wurde vereinbart, daß
der Verkehr durch kein anderes Verbot gehindert werden solle, als
es aus den Monopolen in Tabak, Salz, Kalendern, Spielkarten, Schieß-
pulver folge, ferner daß viele Rohstoffe, Fabrikmaterialien und Fabri-
kate von geringem Wert gegenseitig frei eingehen und zahlreiche
andere Waren der Industrie einen gebundenen Zoll mit der Ermäßigung
von 25 — 50% gegen den Generaltarif genießen sollten. Diese Ab-
machung hielt die gesonderten Zollsysteme aufrecht, war eine Rezi-
prozität, mit der beide Gebiete sich aneinander an- und gegen dritte
Staaten abschließen sollten. Der Plan war, in Zukunft noch w^eiter
zu gehen und so die Einheit des Wirtschaftsgebietes vorzubereiten.
Dahin war noch ein weiter Weg. Denn erstens mußten die Tarife
vereinheitlicht werden, und zweitens die Handelsverträge mit dritten
Staaten gemeinsam werden. Einstweilen war es jedem der beiden
freigestellt, Handelsverträge mit irgendeinem Staate abzuschließen,
und damit hierdurch der andere Kontrahent nicht benachteiligt werde,
III. Die Krise des deutschen Zollvereins usw.
155
gewährten sie sich gegenseitig die Meistbegünstigung. Da aber jeder
von beiden in seinen Konzessionen an Dritte so weit gehen konnte,
daß es dem anderen nachteihg wurde, wurde die Reziprozität durch
die Zulässigkeit eines Zwischenzolles geschützt. Gab z. B. der Zoll-
verein an England eine Herabsetzung des Garnzolles, die dem Satz
für die österreichische Ware noch nicht gleichzukommen brauchte, so
konnte Österreich den Zoll um den Betrag der Herabsetzung erhöhen
und, indem es somit die enghschen billigen Garne von sich fern hielt,
sollten auch diejenigen deutschen Ursprungs getroffen werden. Diese
Eventuahtät sollte verhindern, daß der Verein England ein solches
Zugeständnis machen werde.
Eine Anzahl Nebenbestimmungen, wie über die Benutzung von
Straßen und Eisenbahnen, über Zollkartell und Schiffahrt, Veredelungs-
verkehr, Zusammenlegung der Grenzzollämter, waren an sich geschickt,
die wirtschaftlichen Beziehungen der Nachbarn zueinander zu ver-
stärken, aber sie konnten doch nur etwas Vollkommenes leisten, wenn
der gute Wille auf beiden Seiten bestand, bei allen technischen Neue-
rungen und wirtschaftlichen Fortschritten dem anderen Vertragsteil
nach Kräften entgegenzukommen.
Die Absicht, den Zollverein zu verwirklichen, war nun keineswegs
auf beiden Seiten vorhanden. Österreichs Regierung wollte ihn durch
den Handelsvertrag vorbereiten und hatte 1860 als neues Verhand-
lungsjahr festgelegt, die preußische war darauf bedacht, alles Derartige
zu hintertreiben und dachte, Zeit gewonnen, alles gewonnen.
Die Ergebnisse des Februarvertrages waren keine so glänzenden,
als man beim Abschluß prophezeit hatte. Während nach amtlichen
österreichischen Schätzungen 1845 ^^^ Einfuhr aus dem Zollverein
— ohne die zur See anlangende — 34,2 Millionen fl, die Ausfuhr
nach ihm 29,5 Millionen fl. betrug, war 1864 die Einfuhr in den Zoll-
verein nach deutscher Angabe auf 70 und die Ausfuhr aus ihm auf
57 Millionen Tlr. gestiegen. Getreide ging aus Österreich nach Schlesien
und Sachsen, ungarische Schafwolle, Flachs, Hanf, Holz, Häute nahmen
die deutschen Fabriken, Vieh ging zum allgemeinen Verbrauch ein,
während der Zollverein wenige Lebensmittel und Rohprodukte, dafür
hauptsächlich Fabrikate mannigfaltiger Art, namentlich Woll-, Seiden-,
Kurz-, Eisen- und Stahlwaren versandte.
«
Die Zahlen im einzelnen zeigen ein ungleiches Fortschreiten.
Wenn sich der Verkehr als ganzer gehoben hatte, so war die eigent-
liche Ursache davon die rasche ökonomische Entwicklung Deutsch-
lands gewesen. Sie bedurfte der österreichisch-ungarischen Zufuhr
für die aufstrebende Industrie, daher die Bezüge zunahmen. Anderer-
seits war die Kaufkraft der Donaumonarchie überhaupt, daher auch
für Waren des Zollvereins, zurückgeblieben, teils infolge der Finanz-
l c() IV. AbscliDitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
und Papiergeldschwierigkeiten, teils durch den Krimkrieg, der das
Aus- und Durchfuhrgeschäft nach dem Orient lahmgelegt hatte und
den Krieg mit Frankreich, in dem Österreich die Lombardei einbüßte.
Es ergab sich aus dem verschiedenen Werdegang beider Volks-
wirtschaften während der fünfziger Jahre, daß eine Zollunion zu
schließen am Ende derselben entschieden schwieriger als am Anfang
war. Je ungleicher die Kraft der industriellen Konkurrenten in dem
geplanten gemeinsamen Gebiete werden mußte, um so weniger ver-
spürten die Schwächeren die Lust, ein solches zu schaffen. Die deutsche
Industrie andererseits legte auf den österreichischen Absatz um so
geringeren Wert, als sie glaubte, auch in anderen großen verbrauchs-
fähigen Ländern ankommen zu können, und in der allgemeinen Meist-
begünstigung das Ziel nach dieser Richtung hin sah. Noch 1848 hätte
der Verein gelingen können, wenn beide Teile entschieden gewollt
hätten und zu Opfern bereit gewesen wären. Ohne solche ist er über-
haupt niemals zu verwirklichen, wie es auch die Geschichte des
deutschen Zollvereins erwiesen hatte. Diese Opfer vom Volke zu er-
zwingen, wären beide Regierungen damals stark genug gewesen, da
die parlamentarische Einsprache, hinter die die bedrohten Interessenten
sich flüchten konnten, damals weit weniger bedeutete als in den
folgenden Jahrzehnten, außerdem Einwendungen von Seiten Ungarns,
das seine erst 1867 erworbene handelspolitische Selbständigkeit noch
nicht besaß, in der ganzen Angelegenheit wenig besagen wollten.
Die ostdeutschen Landwirte würden 1850 keine Opposition gemacht
haben, da sie dem Freihandel zuneigten und an eine gefährliche
ungarische Konkurrenz nicht im entferntesten dachten. Das Haupt-
hindernis auf wirtschaftlichem Gebiete war die Verschiedenheit der
industriellen Ausbildung, sie war aber, wie gesagt, 1850 geringer als
später. Jedes Land hatte seine Spezialitäten, die in einem arbeits-
teiligen Ganzen weiterhin gedeihen mußten, worauf es in jeder Zoll-
union herauskommt. Die finanziellen Bedenken waren zwar keine
leichten, aber wenn Preußen ernstlich gewollt hätte, würde es für die
Verrechnung der Zollerträge wohl einen Schlüssel gefunden haben.
Es hatte politische wohlberechtigte Gründe, der Union zu widerstreben.
In der äußeren Handelspolitik kann niemals alles von wirtschaftlichen
Erwägungen allein abhängig gemacht werden. Sie hat sich vielmehr
wie jede Spezialpolitik derjenigen des staatlichen Gesamtwohles unter-
zuordnen, die sich damals für Preußen schon in der Gründung des
kleineren Deutschlands zusammenfassen ließ.
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und indu-
striellen Gütererzeugung. Als 1848 die Unruhen das politische
Deutschland heimsuchten, wurde auch die Verkehrs Wirtschaft heftig
erschüttert, der Handel gelähmt, der Verbrauch eingeschränkt, der
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzeugung. i c y
Verkauf von Immobilien fast unmöglich, das Bargeld als Schatz auf-
gespeichert, der Kurs sicherer Effekten um 20—30^0 gesenkt, der
Kredit unterbunden, selbst der sonst so gute preußische Kassenschein
in Süddeutschland zeitweise für die Hälfte seines Wertes verschleudert.
Die Erholung trat zwar mit der Unterdrückung der Revolution ein,
ein volles Vertrauen gewann die Geschäftswelt, insbesondere für den
auswärtigen Verkehr, erst nach dem Staatsstreich Napoleons III. vom
2. Dezember 1851.
Die jetzt einsetzende Gegenbewegung legte überall die politischen
Bestrebungen in dem Bürgertum brach, in welchem mancher der
Sache, als sie ihr anarchisches Gesicht zeigte, längst überdrüssig ge-
worden war.
Vertieft man sich heute ohne Parteileidenschaft in die Vorgänge
des „tollen Jahres", so wird es leicht begreiflich, daß ein Katzenjammer
ihnen folgen mußte. Die politische Unreife der theoretisch oft tüchtigen
Parlamentarier, d. h. ihre Unkenntnis von den wirklichen Kräften in
Staat und Gesellschaft, die manchem Politiker den Titel des Welt-
verbesserers eintrug, entbehrte schon bei den großen Aktionen nicht
ganz des Fluches der Lächerlichkeit, wie mußten erst viele Einsichts-
volle empfinden, als das Ganze so kläglich gescheitert war. Nur die
Juden hatten, wie bei allen Revolutionen der europäischen Völker,
gewonnen. Ihre deutsche Emanzipation datiert vom Jahre 1848.
Die vom Alpdruck der Unruhen befreite Volkskraft wandte sich
dem Wirtschaftsleben zu, um so mehr als Arbeitseinstellungen nicht
zu befürchten waren, und die Regierungen die Ablenkung von der Ver-
fassungsfrage durch wirtschaftlich-liberales Entgegenkommen begünstigen.
Manche Erleichterung brachte die Folgezeit dem Weltverkehr.
Die Eisenbahnen über die Landengen von Suez und Panama wurden
eröffnet, Japan dem europäischen Handel zuerst erschlossen, der Sund-
zoll gegen Entschädigung Dänemarks aufgehoben, die Donau von Ab-
gaben entlastet.
Eine starke Anregung erhielten alle fortgeschrittenen Volkswirt-
schaften durch die Edelmetallbewegung, die durch die Goldfunde in
den großen Lagern der Schwemmlande von Kalifornien seit 1848 und
in Australien seit 1851 veranlaßt wurde. In den nachfolgenden 25
Jahren ist mehr Gold auf der Erde gewonnen worden als in den 250
vorangehenden. Die stärkste Wirkung auf den Verkehr übte der Zu-
strom in den fünfziger Jahren aus.
Nach Stanley Jevons ist von 1848 — i86g ein durchschnitt-
liches Heraufgehen der Goldpreise im Großhandel um i8°/o festgestellt
worden, nach Laspeyres zwischen 1850 und 1862 um 20,47570» bei
einer Vergleichung der Durchschnittspreise von 1831 — 1840 mit denen
von 1850 — 1862 um 24,037 •/(,. Die naive Vorstellung vieler National-
1^8 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871,
Ökonomen brachte diese Verschiebung in unmittelbare Verbindung
mit der Goldproduktion. Andere sahen in dieser wenigstens die ent-
scheidende Ursache der Aufwärtsbewegung. Die spätere wirtschafts-
geschichtliche Untersuchung der Periode von 1850 — 1870 urteilt ge-
mäßigter. Sie kann weder eine direkte Beeinflussung der Preise im
Welthandel und in den einzelnen Volkswirtschaften durch das ver-
mehrte Goldangebot zugeben, wie sie etwa in den diggings Platz griff,
wo für Lebens- und Genußmittel unter dem Schwanken der Funde
bald mehr, bald weniger gezahlt wurde — , noch die Meinung, daß
die Hochkonjunktur in der Zeit der Goldvermehrung durch diese allein
oder ganz überwiegend hervorgebracht worden ist.
Der Geschäftsaufschwung, der sich nach 1850 in Europa und
Amerika vollzog, insbesondere auch in Deutschland, war durch Vor-
gänge der vorangehenden Jahre vorbereitet worden, vor allem durch
das Eisenbahnwesen, durch die Dampfschiffahrt, durch die neue indu-
strielle Technik, durch die Befreiung des Kapitals von lästigen Rechts-
schranken, durch die Ausbildung des Großbetriebes und der Arbeits-
teilung. Alles dies kam jetzt erst zur rechten Entfaltung in mehreren
Ländern, denen England in gleicher Weise bereits vorangegangen war.
Das einströmende Gold und auch das Silber, dessen Produktion durch
die für das Amalgamationsverfahren wichtige Ouecksilberausbeute in
Kalifornien ebenfalls bald vorankam, führten zur Ausdehnung der
Geldwirtschaft, zur allgemeineren Metalldeckung der Banknoten, zur
Vermehrung des Geldleihkapitals, zum erleichterten Ausgleich der
internationalen Bilanzen. Der volkswirtschaftliche Nutzen dieser Tat-
sachen soll nicht in Abrede gestellt werden, man wird ihn aber in
seiner preissteigernden Wirkung nur im Umkreis der vorgenannten
Förderungen des Aufschwunges zu würdigen haben.
Die mittelbare Beeinflussung der Preise durch die Goldproduktion
erfolgte zunächst in der Weise, daß die Kaufkraft der erzeugenden
Länder, vornehmlich der Vereinigten Staaten, gesteigert wurde. Das
Gold wurde als Ware verschifft, z. B. 1850 und 1851 von Kalifornien
im Betrage von 34,4 und 45,8 Millionen Dollars. Das unter spanisch-
mexikanischer Mißwirtschaft zurückgebliebene, agrarisch höchst ex-
tensiv bewirtschaftete Pazifikgebiet wurde durch Einwanderung, Städte-
gründung und neue Gewerbe belebt. Die Zufuhren aus dem Osten
und aus Europa über Panama schwollen an. Ein ähnlicher Austausch
vollzog sich in dem Verkehr zwischen England und Australien.
Die Vereinigten Staaten beginnen seit der Mitte des Jahrhunderts
im Weltverkehr eine auffallend rasch zunehmende Bedeutung zu ge-
winnen. Die große Einwanderung sowie die Erweiterung des Eisen-
bahnnetzes sind die stärksten Triebfedern. Ende 1852 waren 13315
englische Meilen Bahnen in Betrieb, deren Zahl sich in 5 Jahren
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzeugung. j cg
verdoppelt hat. Das in den Bahnen angelegte Kapital wurde Ende
1852 auf 500 Millionen Dollars geschätzt, wovon 261 hauptsächlich
in der Form von Obligationen in europäischem Besitz waren. 30
Millionen entfielen auf Deutschland, wo diese Anlage wegen ihres
hohen Zinsgenusses von 7^0 und bei der Unsicherheit des heimischen
Geschäftes während der politischen Wirren sehr beliebt war. Die
Kapitalhingabe nach Amerika vollzog sich in europäischen Waren und
brachte die Handelsbilanz für die Amerikaner zur Passivität, der sie
durch große Ausfuhren an Gold zu begegnen wußten, woran sie in
ungemünzter und gemünzter Form Überfluß hatten. In der Ausfuhr-
liste von 1851 finden wir 18 Millionen Dollars geprägtes Gold.
Bei der bestehenden Doppelwährung der Union strömte das
kalifornische Gold in großen Mengen der amerikanischen Münzstätte
zu, während die Silberausprägung, da das weiße Metall im Kurse
etwas über die gesetzliche Relation gestiegen war, nachließ. Die euro-
päischen Silberwährungsländer, vor allem Deutschland, erhielten ameri-
kanisches Silber, das Gold ging vornehmlich nach England und von da
wieder nach dem bimetallistischen Frankreich, wo es sich in Franken
umwandelte und große Beträge von Silber zur Ausfuhr drängte. So
erfolgte in vielen Ländern eine erhebliche Vermehrung des Edelmetall-
schatzes unter Umprägung in Münzform.
Es wurden Goldmünzen ausgeprägt:
Millionen
Frankreich Fr. Ver. Staaten Doli.
30,8 3,7
285,0 62,6
27,0 56,8
330,0 51,8
Der offizielle und der private Bankdiskont standen von 1850 — 1852
in den Edelmetall einführenden Ländern niedrig, was wenigstens teilweise
auf diese Einfuhr zurückzuführen ist, und regten die Unternehmer-
tätigkeit an. Je mehr sich die Geschäftstätigkeit entfaltete, um so
mehr stiegen die Preise auch im inneren Verkehr der Staaten, nach-
dem der zwischenstaatliche damit vorangegangen war. Das Jahr 1854
bringt erhöhten Diskont mit erheblichen Schwankungen als Zeichen
lebhafter Spekulation, unter der die Preise von neuem anziehen. Der
gesteigerte internationale Umsatz erfordert wachsende Goldmengen, so
daß von einem Überangebot an Gold im Verkehr nirgends die Rede
sein konnte. Die auf 12611/2 Millionen Tlr. berechnete Summe euro-
päischen Papiergeldes wurde für den Verkehr durchaus nicht als zu
hoch empfunden, da die geldsparenden Zahlungsmethoden der späteren
Zeit damals höchstens in England in größerem Umfange üblich waren.
in
England
£
1848
2,4
1851
4.4
1852
8,7
1B53
11,9
l6o IV' Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
England benutzte den Goldsegen, um seine Währung zu befestigen
und sie auch in einigen Kolonien einzubürgern. Die sich daraus er-
gebenden Vorteile für seinen internationalen Verkehr blieben den
deutschen Nationalökonomen nicht verborgen, und es fanden sich
schon in den fünfziger Jahren, vor allem in Hamburg und Bremen, ver-
einzelte Stimmen, die das Gold als das künftige deutsche Währungs-
metall empfahlen. Seine verminderte Kaufkraft wird in der Haupt-
sache auf die neuere weltwirtschaftliche Entwicklung, nicht auf die
vergröi3erte Produktion zurückgeführt. Auch in den Silberwährungs-
ländern hatte sich das Preisniveau unter der andauernd guten Kon-
junktur gehoben.
Eine langsame allgemeine Bewegung des Zinsfußes nach oben
hatte schon in der Mitte der vierziger Jahre begonnen, in den beiden
der Revolution war der finanzielle Bedarf der Staaten zur Unter-
drückung der Unruhen groß gewesen, der bei der Zurückhaltung des
Publikums auf dem Geldmarkt nur durch erhöhte Zinsversprechung
befriedigt werden konnte. Nach einem kurzen Rückschlag stieg der
Zins von neuem, als die Neugründungen begannen. Der hypothekarische
wurde ziemlich allgemein 5°/o> und die 5 proz. Pfandbriefe verdrängten
die zu 4Y2- Die 4Y2proz. Staatsanleihen hielten sich bis zum Krim-
kriege auf Pari, um dann erheblich unter dasselbe zu fallen. Im all-
gemeinen blieb diese Konjunktur bis zur Krise von 1857. In der dann
folgenden Niedergangszeit bis in die ersten sechziger Jahre hinein
senkte sich der Zinsfuß wieder etwas, am stärksten für kurzfristige
Anlagen, weiter auch für sichere Effekten, in welche sich das ge-
schädigte Plandels- und industrielle Kapital flüchtete. Der hypothe-
karische blieb ziemlich unverändert. Diese Jahre der Störung halten
das allgemeine Steigen nur auf, von der Mitte der sechziger bis
zur Krise von 1873 wird es von neuem auf allen Gebieten auf-
genommen.
Ist die Aufwärtsbewegung der Preise, Gewinne, Zinsen ein all-
gemeines Symptom volkswirtschaftlich raschen Vordrängens, so gilt
es jetzt, einen Überblick auf die einzelnen Produktionszweige zu
werfen, die, obwohl sie der großen Konjunktur folgten und sich gegen-
wärtig beeinflußten, doch auch ihre besonderen Antriebe zum Vor-
wärtsdrängen besaßen, die über die hier zu besprechende Zeit hinaus-
wirkten.
Die deutsche Landwirtschaft im größeren Betriebe geht seit
1850 nach Überwindung der Kartoffelkrankheit im allgemeinen den
gleichen Weg des Produktionsfortschrittes und der Ertragssteigerung
weiter. Die Bevölkerung auf der Fläche des späteren Reiches ohne
Elsaß-Lothringen betrug 1840 32,7, 1850 35,3, 1860 37,7, 1870 40,8
Millionen. Die Preise erhöhten sich unter der zunehmenden Nach-
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzeugung. i5x
frage, da von einer auswärtigen Konkurrenz kein beachtenswerter
Druck ausgeübt wurde. Nach J. Conrad kostete in Preußen alten
Bestandes vor i866 die Tonne durchschnittlich in Mark für die:
Jahre
Weizen
Roggen
Gerste
Hafer
Erbsen
1821 — 1830
121,4
126,6
13 1.4
129,8
162,4
1831 — 1840
138,4
100,6
76,6
79,8
97>o
1841 — 1850
167,8
123,0
87,6
91,6
107,4
1851— 1860
211,4
165,4
111,2
100,6
130,0
1861— 1870
204,6
154.6
150,2
144,0
176,0
1871— 1875
246,4
179,2
146,0
140.5
168,2
Jahre
Rindfleisch
1831 — 1840
57
1841 — 1850
64
1851— 1860
70
1861— 1870
86
Die Fleischpreise zeigen eine noch gleichmäßigere Erhöhung
gemäß der nachfolgenden Tabelle, die für 10 preußische Städte in kg
und Pfg. berechnet worden ist:
Schweinefleisch
74
86
110
115
Ebenso war die Wollkonjunktur in den fünfziger und sechziger Jahren
noch günstig. Die folgenden drei Jahrzehnte brachten ihr eine
Senkung von mehr als ein Drittel.
Deutschland war in der hier zu besprechenden Periode noch ein
Lebensmittelausfuhrland. Die ausländische Nachfrage war in den
Ostseehäfen seit 1849 gut geblieben. Die Mehrausfuhr an Getreide war
nach Bienengräber 1842 — 1846 durchschnittlich 4187 194 Scheffel,
von 1851 — 1855 6120044, 1855 — 1859 5214469, 1860/1864 4706032.
Für Weizen, Gerste, Hülsenfrüchte, Hafer, Buchweizen, Spelz, Kraft-
mehl, Nudeln war die Handelsbilanz aktiv; nur bei dem Roggen
der im Inlande stark verzehrt wurde, abgesehen von den Jahren
1848 — 1850, war es umgekehrt, jedoch ohne für die Volkswirtschaft
eine Schädigung zu bedeuten. Auch Öl, Wein, Reis, Tabak wurden
mehr ein- als ausgeführt.
J. Conrad versichert, daß damals im allgemeinen die Rein-
erträge stärker gestiegen seien als die Preise der landwirtschaftlichen
Produkte. Der Grund sei die Verbesserung der Technik, die ver-
besserte Organisation der Arbeit und der neugeschaffene Zusammen-
hang der Landwirtschaft mit der Naturwissenschaft gewesen.
Die naturwissenschaftliche Anregung war von Justus Liebig
ausgegangen. Die Agrikulturchemie erkannte unter seiner Anregung
die Zusammensetzung des Bodens an mineralischen Pflanzen nährstoffen
und die mit den Ernten ihm daran entnommenen Mengen. Das prak-
A.Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 1 1
102 IV. Abschnitt. Die deutsche "Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871,
tische Gesetz für den Ackerbau lautete: „Man gebe dem Felde, was
ihm genommen wurde, weder mehr noch weniger, sondern genau so-
viel." Früher war die rationelle Viehdüngerproduktion allein ent-
scheidend, jetzt wurde als einfacher die Zufuhr von Guano, Phosphaten,
Knochenmehl und Asche gepriesen. Wie große neue Wahrheiten
leicht auf den Abweg der Übertreibung gleiten, so auch hier. Die
spätere Landwirtschaftslehre bewies wiederum den besonderen Nutzen
des Stalldüngers, würdigte die Wichtigkeit der physikaHschen Boden-
bedingungen, an die das Gedeihen der Pflanze gebunden ist, als da
sind Wärme, Luft, Feuchtigkeit, Lockerheit des Grundes. Die künst-
lichen Dünger wurden zwar nicht entthront, nach Zahl und Art viel-
mehr vermehrt, aber sie galten nur als Hilfsmittel neben den natür-
lichen. Die Tha er sehen Regeln sind nicht umgestoßen worden, sie
wurden vertieft, korrigiert. Die Landwirtschaftslehre, die die Chemie
in sich aufnahm, wurde keine Naturwissenschaft, sondern blieb eine
praktisch privatwirtschaftliche Gestaltungslehre, die aus zahlreichen
SpezialWissenschaften zu schöpfen hatte, um ihr besonderes Ziel zu
gewinnen. Der landwirtschaftliche Anbau ist immer für einen Ort
geographisch und historisch sozial zu verstehen. Die intensive Boden-
bereicherung, die aus Liebigs Lehre gezogen wurde, setzt Bedin-
gungen voraus, die nicht überall vorhanden sind. Die Thünensche
Theorie der Relativität der Ackerbausysteme bleibt unangetastet für
die Verkehrswirtschaft mit Fernabsatz. Viele Landwirte der fünfziger
Jahre legten sich unter Liebigs froher Botschaft die erforderliche
Mäßigung nicht auf. Der Glaube entstand, daß man, wie in der In-
dustrie, durch den Mehraufwand von umlaufenden Kapital den Rein-
ertrag der Bodenfläche entsprechend steigern könne. Wenn dann ein
schlechter Sommer kam, oder wenn mit der Anwendung des Kunst-
düngers zu schematisch oder zu reichlich verfahren war, so wurden
die schönen Pläne zunichte. Die Reklame der Fabriken künstlichen
Düngers riß manchen Landwirt zu unüberlegten Versuchen hin. Auch
in ernsthaften landwirtschaftlichen Zeitschriften finden wir Zuschriften
von Gutsbesitzern, die allein mit Kunstdünger ihre Äcker befruchten,
alles Produkt verkaufen und ihren Viehbestand auf ein Minimum
herabgesetzt haben.
Da die Produktenpreise stiegen, wurde die Spekulation in dop-
pelter Weise befruchtet. Erstens gingen manche Landwirte zur freien
Wirtschaft gemäß der Konjunktur über, aber nicht bloß dort, wo die
Absatzverhältnisse dazu einluden, zweitens nahm der Güterhandel einen
verderblichen Umfang an, indem die Käufer glaubten, daß die Kennt-
nis der Agrikulturchemie genüge, sie rasch zu reichen Leuten zu
machen. Es bedurfte erst wieder der Erfahrung, um die Einsicht, daß
die Landwirtschaft ein organisches, konservatives Gewerbe sei, zu be-
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzeugung. i5ß
kräftigen. Auch der Arbeiterfrage wurde nicht genug Rücksicht zuteil.
Man zog viele Arbeiter im Sommer heran, um dem intensiveren Betrieb
zu entsprechen, und entließ sie im Winter. Das gefiel den meisten
nicht, und sie zogen es vor, sich der Industrie zuzuwenden, die sie das
ganze Jahr beschäftigte.
Wenn man nun die Großlandwirtschaft als ein kapitalistisches
Unternehmen aufzufassen Neigung hatte, so kam es vor allem darauf
hinaus, das nötige Geldkapital zu beschaffen. Diejenigen, die kauften,
zahlten wenig an, um für den Betrieb möglichst viele Mittel übrig zu
haben, die alten Besitzer suchten ebenfalls Hypotheken, soweit der
persönliche Kredit nicht genügte. Die Verschuldung der großen, auch
der mittleren Güter nimmt von 1850 — 1870 erheblich zu. So nützlich
der Kredit ist, wenn das Geschäft gut geht, so ist doch die Gefahr
immer da, so lange das Kapital gekündigt werden kann. Das Kapital
durch die Rentenverschuldung zu ersetzen, war daher ein Vorschlag,
den Rodbertus-Jagetzow (Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen
Kreditnot des Grundbesitzes 1868) machte. Die Hypothekeninstitute
haben ihn insofern verwirklicht, als sie die Kündigung ihrerseits aus-
schließen, solange der Schuldner regelmäßig Zinsen und Amortisations-
quoten entrichtet. Die privaten Gläubiger pflegen sich hingegen immer
nur auf wenige Jahre zu binden, und wenn nach der Kapitalkündigung
der Schuldner kein neues Darlehen findet, so muß das Gut verkauft
werden. Entgeht er dieser Eventualität, so wird die Zinserhöhung oder
eine sonstige schlechtere Leihbedingung oft nicht ausbleiben.
Rodbertus (1805 — 1875) volkswirtschaftliche Anschauungen be-
ruhen auf dem einheitlichen Gedanken der organischen Staatslehre. Der
Staat ist Selbstzweck, und die Individuen haben sich ihm, wie über-
haupt, so im Wirtschaftlichen einzuordnen. Von den Gesellschafts-
gruppen, Kapitalisten, Arbeitern, Grundeigentümern, soll daher nicht
eine die andere beherrschen, weil dadurch die Gemeinschaft zerstört
werde. Kritisch führt er aus, daß zur Zeit die Übermacht des Kapitals
drohe, daher fordert er, den Einkommensanteil der Arbeiter am Na-
tionalprodukt proportional den Ergebnissen der steigenden Produk-
tivität zu erhöhen und den erweiterten Schutz des Bodeneigentums
gegen die willkürlichen Kapitalkündigungen. Der demokratische Sozia-
lismus ist ihm nur extremer Individualismus, der Glück und Genuß
der größten Menge erstrebt. In dem Rodbertusschen Staat steht die
Pflicht voran, die jeder und jede Berufsgruppe dem Ganzen zu leisten
haben. Die Sozialreform hat vom Staat auszugehen, weshalb die Be-
strebungen der Selbsthilfe, wie die Streiks, gänzlich verworfen werden.
Mit seinen praktischen Vorschlägen der Aufstellung des Normal-
werkes, des Normalarbeitstages, der Lohnerhöhung, wodurch auch die
volkswirtschaftlichen Krisen der Neuzeit beseitigt werden sollen, hat
11*
lÖA ^^- Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
Rodbertus kein Glück gehabt. Sie sind undurchführbar. Es ist oft
die Eigenschaft genialer Theoretiker, daß sie gern an einzelnen ihnen
eingewurzelten Irrtümern festkleben, die für ihr System nicht einmal
eine durchgreifende Bedeutung haben. So blieb Rodbertus in dem
Smith-Ricardoschen Arbeitswert befangen, obwohl man in einer orga-
nisch gedachten Volkswirtschaft die Wertbildung nur innerhalb und
mittels des Ganzen verstehen kann ; ebenso nach der großen Verkehrs-
stockung von 1873 in seiner Krisentheorie der Unterkonsumtion, ob-
gleich die Arbeitslöhne gewaltig gestiegen waren und die Arbeiter
durch ihre starke Nachfrage nach Lebens- und Genußmitteln die Über-
expansion des kapitalistischen Betriebes mit verursacht hatten.
Der Sozialkonservatismus von Rodbertus hat als Grundanschauung
die spätere staatliche Arbeitersozialpolitik des Deutschen Reiches theo-
retisch gestützt und dazu beigetragen, den ökonomischen Liberalismus
auch auf anderen Gebieten zu überwinden, z. B. des Privateisenbahn-
systems und des privaten Geldes der Notenbanken. Damit war jedoch
das von ihm geforderte prinzipielle Ineinandergreifen von Staat und
Wirtschaft noch keineswegs gerechtfertigt.
Soweit sich die Landwirte dem privaten Gläubiger nicht ver-
schuldeten, standen ihnen in Preußen östlich der Elbe die oben ge-
nannten, auf Solidarhaft begründeten Landschaften zu Gebote. In Ost-
und Westpreußen und Schlesien dienten sie allen Gütern größeren
Umfanges, nicht bloß den ritterschaftlichen wie ehedem. 18 18 wurden sie
auch in Mecklenburg, 1825 in Württemberg, 1844 in Sachsen, 1862
in Braunschweig errichtet. In Mittel- und Westdeutschland kamen
zu ihnen staatliche und kommunale Kreditinstitute hinzu, bei denen
die öffentlich rechtliche Garantie die genossenschaftliche ersetzte. So
entstand z. B. 1852 die nassausche Landesbank, 1853 die Landes-
kreditanstalt in Sachsen-Gotha. Die meisten stammen aus einer spä-
teren Zeit, ein guter Anfang war gemacht worden.
Die Tätigkeit der Landschaften hatte sich mit dem Fortschreiten
der Landwirtschaft ausgedehnt. So hatte 18 15 die neumärldsche ritter-
schaftliche Kreditanstalt Pfandbriefe, abzüglich der getilgten, im Be-
trage von 4221800 Tlr. ausgegeben, 1835 11552000, 1865 17 180450.
Dennoch reichten die Summen bei weitem nicht aus. Oft fehlten
ihnen die nötigen Mittel, und sie belehnten nur Grundstücke be-
sonderer Art. Dazu kam, daß die großstädtische Entwicklung ohne
Grundkrediteinrichtungen war, obwohl sie deren dringend benötigte.
Die Idee der Hypotheken- Aktienbanken war schon in den vierziger
Jahren in Preußen erwogen worden, um dem steigenden Bedürfnis
nach Realkredit zu genügen, wurde aber erst verwirklicht, als die
französische Erfahrung des 1852 in Paris gegründeten Credit foncier
dafür sprach. 1858 entstand in Leipzig die Allgemeine Deutsche
IV. Die Fortschritle der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzeugung. i5c
Kreditanstalt, 1862 folgte die Frankfurter Hypothekenbank, 1863 ^i^
Erste Preußische Hypotheken-Aktiengesellschaft, nachdem Dr. Engel
in einem wertvollen Gutachten für sie eingetreten war. 1864 erhielt
die 1834 in München errichtete Bayrische Hypotheken- und Wechsel-
bank das Recht der Pfandbriefausgabe. Eine längere Reihe, darunter
die Preußische Bodenkredit- und die Preußische Zentral-Bodenkredit-
Aktienbank schließen sich bis 1872 an, in welchem Jahre die erste
Gründungsepoche dieser Banken zu Ende geht. Eine zweite haben
wir von 1893 — 1896, nachdem sich die Institute bewährt und die volks-
wirtschaftlichen Krisen wohl überstanden hatten. 1908 war ihre Zahl
auf 38 angewachsen mit einem Aktienkapital von 752 Mill. M. und
einer Pfandbriefausgabe von 9,2 Milliarden.
Die preußischen Banken waren von Anfang an Normativbestim-
mungen unterworfen worden. Sie alle dienten der ländlichen und
städtischen langfristigen Kreditvermittlung und stützten ihre Passiven
außer auf das Grundkapital auf die Emission von Pfandbriefen, d. h.
ihren eigenen börsenmäßig absetzbaren Schuldverschreibungen, denen
als Aktiva die Hypotheken und die Kassenbestände, die sie auch kurz-
fristig benutzen konnten, zur Deckung gegenüberstanden. Die diesen
Banken eigentümlichen Gefahren treten erst später hervor, als eine
ihrem Wesen fremde Spekulation durch leichtfertiges Hypothekengeben
und durch Börsengeschäfte mit den flüssigen Geldern in sie eindrang,
so daß die Gesetzgebung ernste Veranlassung fand, sie unter strengere
Aufsicht zu nehmen.
Als in den fünfziger und sechziger Jahren der Zinsfuß stieg,
wurde die deutsche Landwirtschaft hierdurch ungünstig berührt.
Doch schwand die Gefahr, da die Grundrente weiter anwuchs und
die Belastung mehr als kompensierte. Um eine besondere Schwierigkeit,
auf die Rodbert us aufmerksam gemacht hatte, kümmerte man sich
wenig, obgleich gerade der steigende Zins sie zu überdenken Ver-
anlassung bot. Bei der Erbesteilung nach dem Verkaufsgeldwerte
wurde der Gutsübernehmer überlastet. Er fand seine Geschwister
mit Hypotheken ab, deren Zins sich dem Geldmarkte anpaßte, und
hatte zu zahlen, ob die Ernte gut oder schlecht ausfiel, die Produkten-
preise stiegen oder sanken. Gegen diese Unsicherheit konnte nur
eine Änderung des Erbrechtes helfen, an die damals aber niemand
denken wollte, da man in der weitreichenden Testierfreiheit einen
ausreichenden Schutz zu haben vermeinte.
Bei der Darstellung der industriellen Fortschritte von
1848 — 1870 müssen wir uns auf die wichtigsten Gewerbezweige be-
schränken. Wir beginnen mit einer ihrer Voraussetzungen, dem
Ber orbau.
l66 IV' Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
Steinkohlen wurden in sechs Becken, dem niederrheinischen,
westfälischen, dem Aachener, dem Saarer, dem sächsischen, dem nieder-
und oberschlesischen mit den Ergebnissen gefördert:
Jahre Anzahl der Werke Produktion. Ztr. Arbeiterzahl
591 87671310 35502
1857 636 225585315 77847
1864 670 388170637 99141
Man ersieht hieraus nicht bloß die Vermehrung der Produkten-
menge um mehr als das Vierfache, sondern auch diejenige für ein
Werk von 173599 Ztr. auf 579358, bei gleichzeitiger Erhöhung der
durchschnittlichen Arbeiterzahl von 60 auf 148. Die Braunkohle mit
ihren Hauptlagern in der Provinz Sachsen, um Frankfurt a. O., bei
Aachen und Zittau trat solchen Summen gegenüber zurück. Immerhin
war die Zahl der Werke von 468 auf 868 in der gleichen Periode
gewachsen, und die Produktenmenge erreichte 124048356 Ztr.
Die Zunahme des Kohlenverbrauchs war auf vier Ursachen zu-
rückzuführen: Die Ausdehnung der Eisenbahnen und der Dampfschiff-
fahrt, die steigende Verwendung der Kohle in den Hochöfen, die
Vermehrung der stehenden Dampfmaschinen und den Bedarf nach
Hausbrandkohle, die mit den neuen Bahnen in grubenferne Gegenden
verfrachtet werden konnte. Damit diesen Ansprüchen genügt werden
konnte, war eine Änderung der Technik und der wirtschaftlichen Or-
ganisation des Steinkohlen-Bergwerksbetriebes nötig geworden. Man
hatte gelernt, weite und tiefe Schächte zu bauen und die Dampfma-
schine zum Wasserpumpen, Bohren und zur Hebung des Förderkorbes,
und über Tag zum Aufbereiten und Sortieren zu benutzen. Der ein-
setzende Großbetrieb hatte aus der Landwirtschaft Arbeiter heran-
gezogen, die der einfachen Aufgabe des Steinhauens gewachsen waren.
Er bedurfte überall der Kapitalerhöhung, wobei auch die mit den
neuen Handelsgesetzen erleichterte Aktiengesellschaft dienlich war.
Von den Erzen stehen die Eisenerze an erster Stelle, die in
vielen Teilen Deutschlands, vornehmlich in Westfalen, im Ruhrgebiet,
im Harz, in Thüringen, in Oberschlesien, am Spessart, im oberen Lahn-
tal, gewonnen werden. Im Zollverein gibt es 1848 1974, 1857 3015
Werke. Die Produktion wurde im ersten Jahre auf 13874509 Ztr.,
im zweiten auf 39241087 berechnet, 1864 war sie auf 52400407 an-
gewachsen. Der Bedarf hatte sich gewaltig gehoben, so daß die hei-
mische Erzeugung durch Einfuhr von Roheisen ergänzt werden mußte.
Waren ehemals die Hüttenbesitzer die Besitzer auch der nahen Erz-
gruben gewesen, so bestand diese Verbindung zwar noch fort, wurde
aber im Rheinland, wie K. Wiedenfeld ausführt, in der Weise er-
weitert, daß auch entfernte Hütten sich jetzt Erzgruben zu sichern für
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzetigung. i()n
gut befanden. „Die Qualitätsfrage ist es, die dazu die Ursache abgibt.
Werke wie die Gutehoffnungshütte, Krupp, Phönix und andere müssen
entscheidendes Gewicht darauf legen, daß der Eisenstein in gleich-
mäßiger und von ihnen unmittelbar zu bestimmender Beschaffenheit
ihnen ganz regelmäßig zugeht."
Vi eh bahn berechnet den Wert der ganzen bergwerksmäßigen
Produktion für 1848 und 1857 im Zollverein mit Luxemburg und
weiter den prozentualen Anteil der einzelnen Produkte daran. Der
Wert der Eisenerze war von 1277554 auf 3936722 Tlr. gestiegen.
Aus seinen Tabellen seien die wichtigsten Daten hervorgehoben, denen
die Arbeiterzahl in Prozenten beigefügt worden ist:
Produkte Wertanteile in % Arbeiterzahl in %
1848 1857 1848 1857
Steinkohlen 57,55 60,19 40,22 45,95
Braunkohlen 8,46 8,21 g,86 10,50
Eisenerze 8,58 8,60 ^7,69 18,48
Zinkerze 4,78 9,15 5,22 4,77
Silbererze 6,78 3,26 9,76 5,68
Bleierze 8,75 6,15 8,55 8,44
Kupfererze 2,48 1,60 4,29 2,96
Diese Stoffe fanden zum größten Teil im Zollverein ihre Ver-
arbeitung. 1848 wurden 7,6 Mill. Ztr. Steinkohlen ausgeführt, denen
eine fast gleich hohe Einfuhr englischer Kohle, die zur Leuchtgas-
bereitung besonders brauchbar war, gegenüberstand. 1862 war die
Ausfuhr auf 48,7 Mill. Ztr. gestiegen, womit die Einfuhr um 34,1 über-
schritten wurde. Das deutsche Eisenerz wurde daheim, in Aachen auch
etwas spanisches, verarbeitet. Im nächsten Jahrzehnt nach der Er-
werbung der lothringischen Minettefelder steigen die Ausfuhr und die
Einfuhr zugleich. Bis 1898 ist Mehrausfuhr vorhanden. Die folgende
gewaltige Ausdehnung des deutschen Geschäftes führt zu der gegen-
teiligen Erscheinung der starken Mehreinfuhr.
Nach K. Flegel bringen die sechziger Jahre folgende aufsteigende
Zahlen der deutschen Montanindustrie:
1860 1866 1871
in looo Tonnen
Steinkohlen 12347,8 21629,8 29573,8
Braunkohlen 4382,7 6533,1 8482,8
Eisenerze 1408,8 2996,0 4368,1
Sa. aller Bergwerkspro-
dukte 18853,9 32283,0 43575.7
Roheisen 529,1 i 046,9 1 563,7
Alle Hüttenprodukte . . 622,1 i 161,6 i 744,6
l68 I^- Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
In Preußen sind diese Fortschritte auch auf die wohltätigen Folgen
des Berggesetzes von 1865 mit zu buchen, nach dem unter dem Grund-
satz der Bergbaufreiheit jedem, der erfolgreich geschürft hat, das
Bergwerksei gentum verliehen wird, das ihm der Eigentümer der Erd-
oberfläche nicht streitig machen kann. Damit war das alte Kon-
zessionssystem gefallen, was um so wertvoller war, als auch die über-
triebenen Aufsichtsvorschriften der Geschäftsführung beseitigt wurden,
und die bleibende Berghoheit des Staates sich auf die Prüfung der
Betriebspläne der leitenden Personen, der Sicherung der Oberfläche
und Arbeiter beschränkte.
Die Verarbeitung der gewonnenen Bodenschätze unterstand den
Gewerbeordnungen, deren steigend liberale Grundsätze mit ihren Folgen
für die produktive Erweiterung bereits erwähnt wurden.
Die Verhüttung des Eisens war in dem ersten Jahrzehnt des
Zollvereins, wie oben gezeigt wurde, nicht rasch vorwärts gekommen.
Noch 1847 waren unter den 247 preußischen Hochöfen erst 32, die
Steinkohlenkoks verwendeten. 1870 war die Holzkohle bis auf kleine
Reste verdrängt worden. Die Öfen waren von 10 auf 20 Meter er-
höht, der Durchmesser von 2 — 3 auf 4 — 5 erweitert worden. Durch
Einblasen vorerwärmter Luft wurde die Hitze gesteigert, das alte
Rauhgemäuer fand in Verwendung des Blechmantels, die schiefe
Ebene in dem senkrechten Aufzug einen Ersatz.
Der Puddel- oder Flammofenprozeß, in welchem das eingeschmol-
zene Roheisen durch Einführen von Luft in schmiedebares Eisen und
Stahl umgewandelt und der Brennstoff getrennt vom Eisen auf einem
besonderen Rost verbrannt wird, fing an, sich einzubürgern, um
so schneller dort, wo die Anforderung an die Qualität gesteigert
worden ist.
Die Roheisenerzeugung des Zollvereins wurde im Beginn der
hier geschilderten Periode in bezug auf Menge und Beschaffenheit
von der englischen, französischen, belgischen weit überholt. Jetzt ging
es rasch vorwärts. Von 1848 — 1857 verdreifachte sie sich, bis 1864
hatte sie sich mehr als verfünffacht. 1860 ist die belgische, 1870 die
französische, und das sei hier vorgreifend hinzugefügt, 1903 die eng-
lische eingeholt. Daß die technische Gewinnung ungemein leistungs-
fähig geworden war, zeigt das Verhältnis der Arbeiterzahl zum fertig-
gestellten Produkt. 1860 waren 18232 Personen tätig, um 479000
Tonnen Roheisen zu erzeugen, 1865 21725 für 933000 und 1870
19322 für 1346000 Tonnen.
Gleichzeitig mit diesem Aufschwung zeigt auch die Weiterver-
arbeitung steigende Ziffern, bei Stabeisen, Schienen und anderem ge-
walzten Eisen, bei Eisenblech. Eisendraht, Stahl und Guß. Das Roh-
material reichte nicht aus, so daß 1857 und 1858 eine Einfuhr der
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzeugung. i5q
Hälfte des heimischen Erzeugnisses nötig wurde, in der ersten Hälfte
der sechziger Jahre noch Ys — Va.- Di^ Technik hat sich auch hier bis
1870 erheblich gehoben. 1858 hatte Krupp den ersten Dampfaufwerf-
hammer aufgestellt. 186 1 errichtete er eine Bessemeranlage, 1863 folgt
darin der Hörder Bergwerks- und Hüttenverein, 1868 errichtet die
Maschinenfabrik von A. Bors ig die erste Siemens-Martinanlage, in
der, unter Anwendung großer Hitze einer Regenerativfeuerung, Roh-
eisen und Eisenabfälle zu Flußeisen oder Flußstahl zusammen-
geschmolzen wurden. Diese Firma hatte schon 1847, u'^ ^^^^i Roh-
stoffbedarf ihres in Berlin errichteten Puddel- und Walzwerkes zu
decken, in Schlesien Kohlen- und Erzgruben, Kalk- und Sandstein-
brüche erworben und ging dann dort in den sechziger Jahren zum Bau
von Hochöfen, Puddel- und Walzwerken vor. „Borsig ist", schreibt
1904 H. G. Hey mann, „wohl das einzige Beispiel dafür, daß eine
Maschinenfabrik sich durch systematische Angliederung von Halb-
fabrikat- und Rohstoffbetrieben zu einem großen gemischten Stahl-
werk entwickelt hat."
Das Walzverfahren zur Herstellung von Blechen, Schienen, Trägern
ging unter Beseitigung der alten Hämmer immer mehr zur Massen-
erzeugung über, die Ganzfabrikate, Schlosser waren, Wirtschaftsgeräte,
Messer, Scheren, Waffen werden durch Werkzeugmaschinen billiger,
und ihre Ausfuhr nimmt zu, so daß die Statistik von 1850 — 1870 über-
wiegend eine Mehrausfuhr feststellt, die um so mehr hervortritt, je
feiner das Fabrikat und je mehr gelernte Spezialarbeit aufgenommen
ist. Die großen Betriebe zogen die Handwerksgesellen aus ganz
Deutschland heran. Für völlig neue technische Betriebsweisen, wie
beim Walzen, Puddeln und den Maschinenbau, wurden auch Vorarbeiter
aus England und Belgien zuerst in Dienst genommen, von denen man
sich um 1860 bereits emanzipiert hat. Deutsche Gründlichkeit und
wissenschaftliche Methoden fangen an, die praktischen Erfahrungen in
der Eisen- und Stahlindustrie zu unterstützen. Krupp richtet 1862
seine Probieranstalt ein, und die Maschinenfabriken hatten schon ihre
eigenen Konstruktionsabteilungen. Landwirtschaftliche Maschinen von
Leipzig und Berlin begannen den heimischen Markt zu erobern. Wir
hören schon von Ausstellungen, die mit von Pferde-, Wasser- und Dampf-
kraft betriebenen Häckselschneide-, Säe- und Dreschmaschinen beschickt
werden.
Der Roheisenverbrauch hatte unter allen diesen Fortschritten
der sich ausbildenden Großindustrie rasch zugenommen. 1861 — 1865
ist er durchschnittlich auf 26,5 kg für den Kopf der Bevölkerung be-
rechnet worden, 1866 — 1870 auf 35,4. Doch ist das noch wenig im
Vergleich zu der kommenden Zeit. 1886 — i8go kommen wir auf
89.2, 1895 — 1900 auf 142,5, 1901 — 1905 auf 157,1 kg.
lyo I^' Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Montanindustrie ließ sich
nicht bloß an den Produktions- und Konsumtionsziffern messen; der
Fluß-, Kanal- und Bahnverkehr verdiente durch den Transport von
Kohlen, Erzen, Roheisen, und neue Linien und Verbindungen wurden
dieses Verkehrs wegen eröffnet, die auch anderen Versendungen zu-
gute kamen und den Fernabsatz überhaupt belebten.
Der Standort der Industrie verschiebt sich. Die wachsende Un-
abhängigkeit der Verhüttung vom Holzreichtum und von der Wasser-
kraft hebt mit den Kokshochöfen und den Dampfmaschinen die alte
Zersplitterung auf und schafft neue Mittelpunkte inmitten der Kohlen-
gebiete. Hier entstehen Städte, in denen sich die große Arbeiter-
schaft zusammendrängt. Die Anfertigungsstätten des Halbfabrikates,
Puddelöfen, Stahlwerke, Walzwerke schließen sich örtlich an, weil auch
sie der teuer transportierbaren Kohle bedürfen und das Roheisen zur
Stelle haben. Auch die Zinkwerke ziehen der Kohle nach, die für
das Destillationsverfahren erforderlich wird.
Die Ganzfabrikate, die Kleinwarenindustrie, diejenige für das
vollendete Eisenbahnmaterial behaupten ihren schon früher ein-
genommenen Produktionsort, der durch die althergebrachte Arbeiter-
ansiedlung und durch die Absatzmöglichkeit bestimmt wird. Das
letztere gilt z. B. für Berlin, Kassel, Augsburg, das erstere für Rem-
scheid, Solingen und Aachen. 1861 wurden für den Zollverein an
Grob-, Huf-, Ketten-, Sensenschmieden, an Schlossern, Zeug-, Messer-,
Nagel-, Büchsen- und Waffenschmieden, Schwertfegern und Nadlern
233000 Personen ermittelt. Manche Fabriken erklärten unter dem
Wettbewerb der großen Geschäfte zu leiden, die meisten hatten Vor-
teile von der neuen Technik gehabt, da ihnen billiges, gutes Halb-
fabrikat geliefert und die Werkzeugmaschine zugänglich wurde.
Die deutsche Maschinenindustrie des 19. Jahrhunderts, bemerkt
L. Pohle, ist fast aus dem Nichts geschaffen worden. Das 18. Jahr-
hundert kannte nur die handwerksmäßige Herstellung von Mühlen-
anlagen und Webstühlen, 1861 werden bereits 51000 Maschinen-
bauer in größeren Betrieben beschäftigt. Das erschien aber später um
1907 nur als ein Anfang, als die Statistik von 1 120000 Arbeitern
statt dessen berichtete.
Wir haben im Verlaufe der früheren Darstellung einige Unter-
schiede der west- und ostdeutschen Montanindustrie hervorgehoben.
Die Rohmaterialien, die Lagerungen von Eisen zu Kohlen sind nicht
die gleichen, die sozialrechtlichen Grundlagen haben sich geschichtlich
verschieden entwickelt, Absatzverhältnisse und ausländische Konkur-
renz waren stark voneinander abweichend.
In den fünfziger Jahren fangen die Zustände an, sich in einigen
Richtungen auszugleichen. Die Technik wird denselben zeitgemäßen
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzeugung. i y i
Gesichtspunkten untergeordnet, und die Aktiengesellschaft findet in
Schlesien neben dem Betrieb der Magnaten Eingang, sei es durch
Verkäufe ihrer Werke oder durch solche des Fiskus, hier begünstigt
durch die Hberale theoretische Auffassung der sechziger Jahre, die dem
Staatsbetrieb so abgeneigt war, daß sich ihr die Praxis nicht ent-
ziehen konnte, sei es durch private Gründungen, die sich nach 1871
leider in das Übermaß vermehrten.
Die Eisenbahnen taten das ihrige, den Radius des Absatzes zu
verlängern, wobei es vor allem die Fertigfabrikate waren, die west-
wärts vordrangen, während die Halbfabrikate und noch mehr die Roh-
stoffe ihre Sonderprovinz in der Hauptsache nicht überschritten.
Die rheinischen Werke erhalten, je mehr sie leistungsfähig wer-
den, Zulauf von ausländischem Kapital aus Belgien, Holland, England
und Frankreich, die oberschlesischen blieben auf den deutschen Kapi-
talmarkt angewiesen, so daß es für sie ein Glück ist, daß mit seinem
Kredit der große grundbesitzende Adel an ihnen noch weiter teil-
nimmt, dem Schlesien auch jetzt noch für seine produktiven Fort-
schritte viel zu verdanken hat. Der Name des Grafen Guido Henckel
von Donnersmarck wird in der Folgezeit als erster genannt. War
hier die Eisenindustrie naturgemäß eine durchaus deutsche mit ihrem
kapitalistischen Schwerpunkt Berlin, so wäre es doch verkehrt, das-
selbe von der rheinischen zu leugnen. Das auswärtige Kapital gewann
auf die Führung der Unternehmungen am Rhein keinen Einfluß. Die
Bankverbindungen der Industriellen wurzelten in Köln, und es gab
genug selbständige und bedeutende Unternehmer, — es brauchen nur
von der Ruhr die Namen Stinnes, Haniel, Funke, Krupp,
Lueg, Grillo, Guilleaume, denen sich späterhin Thyssen in
Hamborn anschließt, und am Niederrhein Böcking, Stumm, Röch-
ling an der Saar, Beißel, Guaita, Pastor, Talbot in der
Aachener Gegend, Böcker, Henckels, Mannesmann im bergischen
Land genannt zu werden.
Das Aufsuchen des Absatzgebietes war überall noch fast ganz
dem Handel überlassen, die Kartellierung zur Sicherung der Markt-
stellung war einer späteren Zeit vorbehalten. Einige wenige Ansätze,
wie die Gründung des Weißblechkontors, der Schienengemeinschaft
in Düsseldorf, fanden damals nur geringe Beachtung.
In jeder Textilindustrie sind drei Abschnitte hintereinander
zu unterscheiden. Die Beschaffung des Rohstoffes, die Herstellung
des Garnes und die des Gewebes. Der auswärtige Handel steht mit
jedem in besonderer Verbindung. Die Baumwolle, um mit deren
Industrie zu beginnen, kam aus den Vereinigten Staaten, daher während
172
IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
des Sezessionskrieges große Not in ganz Europa herrschte. Der Zoll-
verein hatte im Durchschnitt der Jahre 1836— 1840 8917 Tonnen ver-
braucht, bis 1870 gelangte er auf das Achtfache. Die Weberei kam
mit dem heimischen Garn nicht aus und bezog 1854/55 aus England
und der Schweiz ebensoviel. In den nächsten 20 Jahren verschob sich
die Proportion zugunsten Deutschlands:
Baumwollengarn Tonnen
Inländische Produktion
Einfuhr in Tonnen netto
1855— 1860 . .
37 223
26 144
I86I— 1865 . .
37465
12330
1866— 1870 . .
54625
148 144
1871— 1875 • •
93 112 (mit Elsaß-
Lothringen)
21 678
Vornehmlich waren es feine Garne, die weiterhin in England ge-
kauft wurden, wo sie zur Spezialität ausgebildet waren.
Die Spinnerei entfaltete sich vor allem in Rheinpreußen, Schlesien,
Sachsen, Bayern, Württemberg und Baden. Auch Hannover und
Oldenburg wurden nach ihrem Eintritt in den Zollverein beachtens-
wert. Die von England übernommenen technischen Verbesserungen
führten dahin, daß 1861 eine Spindel 68,8 Pfd. verarbeitete, gegen
24,9 des Jahres 1836. Neben den großen auf Wasser- und Dampf-
kraft eingestellten Betrieben hatte die von Menschenkraft bewegte
Maschinenspinnerei ein mühseliges Dasein. Im Rheinland und in West-
falen ging die Zahl dieser Kleinbetriebe zwischen 1843 — 1861 von
120 auf 43 zurück, während sich die Gesamtsumme der Spindeln von
1 1 1 799 auf 299413 erhöhte. Die Zahl dieser Kleinspinnereien ist
niemals groß gewesen, und so war auch ihr Verschwinden kein soziales
Unglück, da die Arbeiter bei dem siegreichen Konkurrenten leicht
unterkommen konnten.
Anders die Weberei, mit der von Anfang an im kleinen be-
goimen wurde, da sie sich an die von Leinwand, also in weiter Ver-
breitung anschloß. Sie hatte sich in Schlesien, in Schwaben und im
bergischen Lande unter dem Zollschutz gehoben. Die Statistik unter-
scheidet 1861 gewerbsmäßig betriebene Webstühle und Fabriken.
Im Kleinbetrieb war die Zahl der Stühle 151 451, der Meister
77915, der Gehilfen 80387, in den 940 Fabriken wurden 23491
Maschinenstühle und 13008 Handstühle von 34663 Personen bedient.
Die Mehrausfuhr wurde auf 190580 Ztr. berechnet und hatte sich
seit 1836 verdreifacht. Am dichtesten standen die Webereien in der
Nähe der Spinnereien. Die von den Kaufleuten mit Garn versorgten
Kleinweber waren Lohnweber geworden. Sie konnten die Ware nicht
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzeugung. i y ^
vollenden. Die Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei wurde von
den Arbeitgebern besorgt; ein kompliziertes System, das mit der
Niedrigkeit des Lohnes der Vollfabrik trotzte. Zuweilen kamen bessere
Handelskonjunkturen, die den armen Leuten wieder Mut machten oder
Modewechsel, die ihnen neue Aufgaben stellten, an denen sie sich
zwar meist vergebens versuchten. Nach langwierigem Kampf unter-
lag die Hausweberei. Wäre es schneller geschehen, es würde für die
Arbeiter besser gewesen sein, die in dem fabrikmäßigen Zusammen-
arbeiten mehr Aussicht hatten, ihre Daseinsbedingungen zu heben.
1875 wurden noch 93501 Baumwollwebereien als Hauptbetriebe ge-
zählt, 1882 4894g, 1895 28997 n^^t 147 121 Personen, von denen
108073 in 926 Betrieben tätig waren, die mehr als fünf Gehilfen be-
schäftigten.
Auch die Wollspinnerei und Weberei war im Zollverein er-
starkt. Die Streichgarnspinnerei, die für die Tuchfabrikation lieferte,
war in Preußen und Sachsen vornehmlich vertreten, nach Spindeln
bemessen von 1840 — 61 in jenem Lande um 71, in diesem um 327%
erweitert worden. Die Kammgarnspinnerei, die feinere, weiche Stoffe
herstellte, schritt unter dem Wettbewerb Englands langsamer vorwärts,
wo der Großbetrieb mit technischen Neuerungen zu Hause war. Ob-
wohl die Zahl der Merinoschafe in Deutschland rasch zunahm, war
die sich rasch ausdehnende Industrie überhaupt bald auf die Woll-
einfuhr angewiesen, die schon 1864 Österreich und Rußland bis zur
Hälfte des heimischen Rohstoffes deckten. Die Weberei war noch
schneller als die Spinnerei vorangekommen. Das zeigte sich darin,
daß die Garneinfuhr bedeutend, die Ausfuhr gering war. Von 1842
bis 1864 hatte sich die erstere verneunfacht, bestand fast ganz aus
Kammgarn. Der inländische Bedarf an Webstoffen wurde durch die
heimische Erzeugung zum größten Teil befriedigt. Tuch ging ins Aus-
land bis nach Amerika. Im linksrheinischen Tuchgewerbe waren große
Vermögen erworben worden. Es wird von Abschlüssen in Aachen
bis zu 100 000 Tlr. berichtet, die durch dortige amerikanische Kom-
missionshäuser vermittelt wurden. Die Krisis von 1857 und der
Sezessionskrieg warfen dies Geschäft zurück, das erst in der Hoch-
konjunktur nach 1871 auf den alten Stand zurückkehrte.
1861 wurden 1067 Tuchfabriken mit 2592 Maschinen- und
II 818 Handstühlen, ferner 622 andere Webereien mit 3655 Maschinen-
und 9068 Handstühlen, außerdem 67343 gewerbsmäßig betriebene
Webstühle für Wolle gezählt. Das noch starke Vorhandensein der
handwerksmäßigen und der hausindustriellen Betriebsweise ergibt sich
daraus. In den vierziger Jahren begann der Rückgang der kleinen
Meister, während die Heimarbeit sich noch besser hielt. Als 1839 der
Engländer Bo wring- die deutsche Industrie studierte, war er über die
1^4 IV- Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
sozialen Zustände in der Weberei noch vollen Lobes. Es war weniger
der Wettbewerb der Maschinenstühle gewesen, was dem Kleinbetrieb
gefährlich geworden war, als die neuen Weiterverarbeitungsmethoden, die
von den kapitalarmen Betrieben nicht übernommen werden konnten: die
Anwendung von Wasch-, Rauh-, Borst-, Schermaschinen, Pressen usw.,
die zum Teil mit Dampf bewegt wurden. Ehemals waren die
Zünfte als Ganzes für entsprechende, wenn auch primitivere Einrich-
tungen eingetreten und hatten sich zu einem Gesamtbetrieb insoweit
zusammengeschlossen, später hatten die Landesherren in ähnlicher
Weise Fürsorge geübt. Jetzt, unter der Gewerbefreiheit, gedieh nur
derjenige, der es verstand, so reich zu werden, daß er sich selber
helfen konnte. Damit kam in die veraltete Arbeitsweise ein neuer
Zug und der Fortschritt zum Großen wurde vermittelt. Die Zurück-
bleibenden gerieten inzwischen in eine soziale Katastrophe hinein, von
der sie sich nicht wieder erholten. Im Verlaufe der nächsten Jahr-
zehnte vollzog sich die Zusammenballung der Betriebsmittel unter der
Spezialisierung der Waren und der Vervollkommnung der Technik
weiter. In den drei Jahren 1882, 1895 und 1907 gingen die Gewerbe-
betriebe von 38092 auf 31404 und 16549, und rechnen wir nur die
Hauptbetriebe, von 34656 auf 28569 und 15 131 zurück. Die Arbeiter-
zahl stieg aber gleichzeitig um ^|^, die mechanischen Stühle beherrschten
das Gewerbe, das von 1880 — 1905 seine Ausfuhr von 119,2 Millionen M.
auf 351,2 Millionen M. hinaufsetzte.
Der zunehmende Wohlstand im Zollverein läßt sich an dem als
Luxus geltenden Verbrauch von Seidenware ersehen. Die einge-
führte Rohseide — die im Inland gewonnene war geringfügig — ist
von 1842/46 bis 1860/64 von 12262 Ztr. auf 20619 angewachsen.
Ein mäßiger Anteil des damit hergestellten Erzeugnisses wurde aus-
geführt. Der Mittelpunkt der Industrie war die Rheinprovinz mit
Köln, Mühlheim und vor allem Krefeld. Daneben fing Berlin an, sich
emporzuarbeiten. Die halbseidenen Waren wurden an erster Stelle in
Elberfeld, dann in Sachsen, in Glauchau und Merane angefertigt. Die
Weberei war 1861 noch überwiegend hausindustriell, während die
Zwirnerei in 215 Fabriken stattfand. In der Hausindustrie wurden
32882 Stühle ermittelt, denen in 314 Fabriken 1270 Maschinen- und
5392 Handstühle gegenüberstanden. Auch hier ging die alte Betriebs-
weise rasch zurück, von 1882 — 1907 um 30000 Webstühle und 44000
Arbeiter, während die Zahl der Fabrikarbeiter fünfmal so groß als die
der Hausarbeiter geworden war.
Die revolutionäre Bewegung von 1848 hatte auch die Weber
von Krefeld ergriffen. Abstellung von Mißbräuchen der Werkmeister
und Faktoren, Ankauf sämtlicher Webstühle, eine Weber- und Wirker-
innung wurden ertrotzt, sogar eine Lohnliste vereinbart, die ein gleich-
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzeugung. ij c
mäßigeres Einkommen verbürgen sollte. In den fünfziger Jahren konnten
diese Errungenschaften unter der glänzenden Konjunktur aufrecht-
erhalten bleiben, die Krise von 1857 und die Seidenwurmkrankheit
von 1859 brachten unliebsame Unterbrechungen, von der Mitte der
sechziger folgten zehn gute Jahre, in deren bester Zeit die rheinische
Seiden- und Sammetindustrie 50000 Webstühle und 150000 Personen
beschäftigte.
Im Gegensatz zu den bisher dargestellten Textilindustrien ist das
Leinwandgewerbe aus den oben gegebenen Gründen rückständig
geblieben. Die Revolutionszeit mit ihrer Geschäftsstockung brachte
Arbeitslosigkeit. „10 — 20000 Menschen lägen im Eulengebirge sozu-
sagen in den letzten Zügen", wurde der preußischen Nationalversamm-
lung im September 1848 berichtet. Geldspenden und Notstandsarbeiten
wurden gefordert und gewährt. Die gesamte schlesische Industrie
hatte kurz vorher einen schweren Schlag dadurch erlitten, daß die
Krakauer Republik, die auf Grund der Wiener Verträge von 18 15 ein
Freihandelsgebiet war, in Österreich und damit in dessen Zollinie ein-
verleibt worden war. Am härtesten w^urden damit die Leinwandweber
getroffen, die im Zollverein nirgends einen Ersatz finden konnten.
Ein Ausschuß des neugebildeten Herrenhauses teilte 1850 mit, daß die
Zahl der Weber und Spinner Schlesiens 100 000 betrage. Ein fertiger
Spinner verdiente täglich 6 Pfg. bis 1^/2 Sgr. Nicht viel besser sei die
Lage der Weber. Die besonderen Ursachen des Darniederliegens des
Gewerbes seien die Zunahme des Baumw oll waren Verbrauches, die Ein-
führung des Großmaschinengewerbes in anderen Ländern und der
Mangel an guten Zolleinrichtungen.
Wiederum, wie ehedem, erwartete die Regierung eine Besserung
von der Förderung des Flachsbaues und der Flachsaufbereitung, in-
dem sie Prämien und Zuschüsse bewilligte. 1852 gab es im Regie-
rungsbezirk Oppeln keine mechanische Spinnerei, in den beiden anderen
schlesischen ließ sich in den letzten Jahren keine Zunahme der Spinnerei
nachweisen. Die Zollwünsche wurden auf den Generalzollkonferenzen
nicht berücksichtigt. Im Gegenteil, in dem Handelsvertrag mit Öster-
reich wurde 1853 vereinbart, daß österreichisches Leinenhandgarn zoll-
frei eingehen dürfe und Maschinengarn nur 15 Sgr. Zoll zu entrichten
habe. 1854 gingen 2000 Zentner des letzteren in den Zollverein ein,
1865 81000. Die Weber hatten einigen Vorteil davon, den sie durch
zwei glückliche Zufälle ausnutzen konnten. Der erste war der Krim-
krieg, unter dem die russische Industrie stockte, so daß, da die Grenze
schlecht bewacht wurde, viel schlesische Ware nach Polen geschmug-
gelt werden konnte; der zweite, der amerikanische Bürgerkrieg mit
seinem Baumwollmangel für ganz Europa, wodurch die Leinwand rasch
im Preis stieg, um den Ausfall an baumwollenen Geweben zu decken.
1^5 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
Doch erfolgte jedesmal der Rückschlag schnell, so daß Mitte der sech-
ziger Jahre das gesamte Leinwandgevverbe wieder in schlechter Ver-
fassung lag, die in der kommenden Freihandelsära noch verschlimmert
wurde.
Die Weberei hatte noch immer an erster Stelle in Schlesien und
dort über ganze Distrikte ihren Sitz, daneben steht Westfalen mit
Bielefeld und Umgebung, wo die mechanischen Webstühle allein eine
Bedeutung gewonnen hatten. In Bayern und Baden gab es noch eine
große Zahl von gewerblichen Handwebern, eine geringere finden wir
in allen sonstigen Staaten des Zollvereins.
Die Gewerbestatistik von 1861 gibt einen guten Einblick in die
damaligen Betriebsweisen. Die größte Summe der Webstühle diente
nur der ländHchen Nebenbeschäftigung. Es waren 370970, gegen-
über 12022g, die gewerbsmäßig von Hausindustriellen und Handwerks-
meistern gehalten wurden. Fabriken waren nur 302, welche über
350 Maschinen Stühle, 2678 Handstühle und 4802 Arbeiter verfügten.
Die Leinwandweberei als Nebenbeschäftigung diente dem eigenen
Bedarf der Familie und entzog so den gewerblichen Betrieben den
Absatz. Im Westen Deutschlands ist sie rascher als im Osten rück-
gängig geworden, da sowohl in jenem die Landwirtschaft intensiver
wurde, also mehr Arbeitskraft aufsog, als auch weil die Abwanderung
in die Städte und Industriezentren sich schon früh fühlbar machte,
igöi schätzte G. Schmoller die gewerbsmäßige Herstellung auf
300 Millionen Ellen, die der haushohen Nebenarbeit auf 50 Millionen.
Die Ausfuhr von gebleichter und gefärbter Leinwand war nach
dem Gesagten zeitweise nicht schlecht gewesen. Bei einem Überblick
über einen längeren Zeitraum wird jedoch ihr Rückgang im Ganzen
offenbar. 1842 waren noch 59851 Ztr. ins Ausland geschickt worden,
1861 nur 20057. Am besten hatten sich die feinen Sorten, Damaste,
Drelle und Jacquardgewebe gehalten, die vorzugsweise in Fabriken
hergestellt wurden. Das deutsche Zollparlament hat dann 1868 — 70
den freihändlerischen Anträgen der Regierung zugestimmt, mit denen
die Leinwandindustrie der fremden Konkurrenz aufgeopfert wurde. In
schwerer Not hielt sich die Hausweberei kümmerhch am Leben. Die
Fabriken allein konnten von dem 1879 einsetzenden Zollschutz noch
Nutzen ziehen. Je mehr sie gediehen, um so rascher wurde mit der
Hausindustrie aufgeräumt. Nach der Gewerbezählung von 1882 gab
es noch 29266 Nebenbetriebe und unter 72393 Hauptbetrieben 29054,
die hausindustriell waren. 1895 war die Zahl der Hauptbetriebe auf
34493, die der Nebenbetriebe auf 15960 gesunken, unter ersteren
waren noch 19 157 hausindustrielle. Endlich waren 1907 noch 14720
Hauptbetriebe vorhanden, unter denen sich 9127 Alleinbetriebe be-
fanden. Trotz der Zusammenziehung des Leinwandgewerbes — in der
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzeugung. j-jn
Spinnerei war sie vollkommen durchgeführt — gehört es keineswegs
zu der Gattung der Industrie, die Hervorragendes leistet, was sich aus
der geschilderten historischen Zwiespältigkeit der Arbeitsweise wohl
verstehen läßt. Der Einfuhrwert von Flachs- und Flachswerggarn
betrug igo8 20348000 M., dem eine Ausfuhr von nur 506000 M.
gegenüberstand. Die Ausfuhr von dichten Geweben aus Flachs, Flachs-
werg und Ramie wurde auf 10074000 M. festgestellt neben der Ein-
fuhr von 3932000 M. Was das gegenüber der großen Vergangenheit
des Gewerbes bedeutet, ergibt sich aus der Tatsache, daß am Ende des
18. Jahrhunderts allein aus Schlesien eine Ausfuhr von 45 Millionen M.
in Leinenwaren bestanden hatte.
In dem Zollverein waren zahlreiche Industrien außer den bisher
genannten zur Ausbildung gelangt, auf die einzugehen uns hier zu
weit führen würde. Aus der Handelsbilanz von 1864 sollen nur noch
die herausgegriffen werden, die in der Stärke ihrer Ausfuhr ihre
Herstellungsfähigkeit erwiesen :
Gegenstände
Einfuhr, Wert in Tlr.
Ausfuhr, Wert in Tlr.
Chemische Fabrikate
Feine Holzwaren
Fertige Kleider und Leibwäsche . . .
Kupfer- und Messingwaren
1 587 960
373950
67 600
884 880
474 300
2 1 9 000
475 630
2 852 928
174 150
3 776
6415770
5 128 650
2 821 200
2 287 920
22 196 300
Feine Lederwaren
Branntwein, Arrak, Rum
Mühlenfabrikate
1 819 200
9 446 560
7494952
2 098 950
I 048 512
Fertiges Steingut
Zinkwaren
Die guten Leistungen der deutschen Industrie in den beiden
Jahrzehnten nach 1848 lassen sich auch an den Urteilen messen, die
ihnen auf den internationalen Ausstellungen zuteil geworden sind. Die
Londoner von 1851 erkannte nur England und Frankreich als Staaten
mit neuzeitlicher Technik an. Einige deutsche Spezialitäten, wie der
Kunsteisenguß, feine Tonwaren, Damaste, auch die Telegraphenapparate
von Siemens & Halske wurden höflich ausgezeichnet, und mit einer
Mischung von Wohlwollen und Hohn wurde der wissenschaftliche
Charakter in der Anordnung und Vorführung des Eingesandten kund-
gegeben.
Auf der Weltausstellung Paris 1867 führten die deutschen
Fabrikanten und Künstler mit ihren 2200 Anmeldungen viel Wert-
volles und darunter einzig Dastehendes vor. Der Gußstahlblock
Krupps von 80000 Pfd. und ein Geschützrohr von 10 000 Pfd.
derselben Firma, die 35 Fuß langen Schiffspanzerplatten von Horde,
A. Sartorius v. Waltershausen Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 12
lyg IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
Borsigs 2000. Lokomotive gaben denen etwas zu denken, die der
Gründung des Norddeutschen Bundes mit wenig Freude zugesehen
hatten. Dieses politische Kunstwerk stellte sich in Europa selbst
aus, und niemand konnte behaupten, daß es ein Abklatsch der her-
gebrachten Staatseinrichtungen sei. Ebenso konnte es in den Pa-
riser Räumen der vereinigten preußischen Bergwerksbesitzer nicht
verborgen bleiben, daß hier in origineller Weise das Beste seiner
Art in bezug auf wissenschaftliche Klassifikation, Vollständigkeit
und instruktive Zusammenfassung vorlag. Daß Deutschland in
seiner Wissenschaft ein starkes Hilfsmittel seiner Zukunft besitze,
blieb tiefer blickenden englischen Konkurrenten nicht verborgen,
aber sie glaubten dem Gegner mit überlegener Kapitalmacht,
niedrigem Zinsfuß und überseeischem Absatz, den drei Ge-
waltigen, die ihnen niemand abspenstig machen könne, zu be-
gegnen. Für die technische Fortbildung im Gewerbewesen hatte
sich auch der Staat in der Errichtung von neuen Polytechniken ein-
gesetzt (Neugründungen 1862 Braunschweig, 1869 Darmstadt, 1870
Aachen) und die älteren wurden reformiert. Auch die Anfänge von
niederen Gewerbeschulen, Handwerkerschulen, Sonntagszeichen-
schulen, Spezialschulen für Spinnen, Bauen, Strohflechten, Weben
treffen wir in dieser Zeit schon häufiger an.
Berlins industrielle Entwicklung, die im dritten Abschnitt
bis 1846 kurz erzählt worden ist, zeigt von da bis 1871 zahlreiche,
sehr erhebliche Fortschritte. Auf den fünf in die Stadt einmündenden
Eisenbahnlinien fuhren vor der Revolution 120, vor dem Krieg
mit Frankreich gegen 900 Lokomotiven. Die Zahl der Güterwagen
ist von 869 auf 14425 vermehrt worden, und während 1842 die ein-
geführte Gütermenge 175 617, die ausgeführte 177964 Zentner
betragen hatte, wird sie 1868 auf 35482924 bzw. 16583545 fest-
gestellt. Diese letztere Bilanz bringt das Wesen der Industrie-
stadt, dem Industriestaat entsprechend, zum Ausdruck. Demgemäß
haben wir eine Zunahme der Dampfmaschinen und deren Kräfte
zwischen 1846 — 75 von 75 auf 1034 Stück bzw. 883 auf 13906 PS.
Während in dem Jahrzehnt vor 1850 10 — 20 Genehmigungen für
einen bescheidenen Fabrikbau erteilt werden, sind 1853 134, 1854
88, 1855 132, und in den Jahren der späteren schlechten Kon-
junktur immer noch über 30 weit größere zugelassen worden.
Der gestiegene Geld- und Kreditverkehr läßt sich daran messen,
daß 1849 ein im Bankgewerbe „Selbsttätiger" auf 1286 Einwohner
entfällt, 1861 auf 1080, 1867 auf 562, 1871 auf 196.
Wie ehedem hat auch jetzt Berlin der Tatsache der Residenz-
und Hauptstadt viel zu verdanken. Die Staatsbauten gaben nicht
minder Verdienst wie der Aufbau der neuen Quartiere um die
IV. Die Fortschritte der landwirtschaftlichen und industriellen Gütererzeugung. j^g
Bahnhöfe. B o r s i g liefert dem Staat Lokomotiven, Ludwig
Löwe Waffen, Siemens telegraphische Anlagen. Die staat-
lichen Waffen- und Munitionswerke in Spandau werden erweitert.
Die Regierung ist bemüht, die Universität und andere höhere
Schulen durch berühmte Forscher und Lehrer glänzen zu lassen,
wodurch Tausende von Studenten herangezogen werden. Die neuen
Krankenhäuser genießen eines deutschen Rufes, die Museen und
Theater ziehen schaulustige Fremde herbei. Der königliche Hof
bleibt der Nährboden für mancherlei feine Gewerbe.
Neue Industrien sind entstanden, die chemische und , die
elektrotechnische, die Möbelschreinerei, die Färberei (Spindler an
der Oberspree), die Papierherstellung im großen, die Wäsche-
und Kleiderkonfektion, die Lederverarbeitung, die Anfertigung
künstlicher Mineralwässer. Von den alten Textilindustrien sind
wieder einige emporgekommen. Bei den Nahrungs- und Genuß-
mitteln verdoppelt sich von 1846 — 67 die Zahl der Selbsttätigen,
die Brauereien haben ihre Biermenge verzehnfacht. Im Beklei-
dungs- und Reinigungsgewerbe ist von 1846 — 71 die Summe der
Selbständigen und Abhängigen von 20918 auf 69374 gewachsen,
in der Maschinen-, Werkzeug- und Instrumentenindustrie von 4601
auf 14529, im Baugewerbe von 6021 auf 16 814, in der Industrie
der Holz- und Schnitzstoffe von 8093 auf 21 482, in der Papier-
und Lederindustrie von 3903 auf 9950.
Berlin gleicht, wie uns das Wilhelm Wundt in seiner
Selbstbiographie erzählt, um 1856 einem Komplex zusammen-
gebauter Dörfer und erinnert mit seinen alten Festungstoren an
das Mittelalter. Nach 10 Jahren, bei seinem zweiten Besuch, findet
er die Umwandlung zu einer eleganten imponierenden Großstadt
vor. Die Kommunalverwaltung wird durch Anlage von Wasser-
werken, Pflasterung, Straßenbeleuchtung einer der größten Arbeit-
geber. 1860 wird einer Gesellschaft die Konzession für fünf Om-
nibuslinien erteilt und die tausendste Droschke gefeiert. 181 5
war von Warschau das Droschkenfuhrwesen nach Berlin ge-
kommen. Die russisch-polnische Bespannung wurde beibehalten
wie der Name des Gefährtes, während der Wagen die westeuro-
päische Bauart hatte. Um die Mitte des Jahrhunderts werden die
breiten Schaufenster in den Hauptstraßen zuerst bewundert, bald
wird die Reklamesäule erfunden, und die Anpreisungen in den
Zeitungen erfüllen ganze Bogen. Die Schattenseiten des groß-
städtischen Lebens finden ihre Schriftsteller. Die Wohnungs-
mieten schnellen empor. Wohnungen bis 90 M. machen 1830
noch 250/0 aller, 1875 nur noch i 1/2 0/0 aus, während solche von
300 bis 600 M. von 13 V2 a^uf 31.^/0 steigen. Der Bedürfnisstand
12*
l8o IV- Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
der Bevölkerung hebt sich, zugleich wachsen die Lebensmittel-
preise, über die man sich beunruhigt. Die Löhne schwanken
unter Arbeitslosigkeit und Überarbeit, ein Zeichen der Unfertig-
keit der Industrie und ihres Absatzes. Dem späteren Beobachter
erscheint beides nur als ein Vorspiel der Gründerzeit und der Ver-
kehrsstockung der siebziger Jahre, bei deren Darstellung wir auf
Berlin zurückzukommen haben.
V. Geld- und Bankwesen. Der mit dem Zollverein und
dem. erleichterten Fernverkehr werdende nationale Markt verlangte
gebieterisch die Einheit des Geldwesens. Die lästigen Schwan-
kungen der innerdeutschen Wechselkurse, die unbeholfenen Bar-
zahlungsmethoden von einem Vereinsstaat zum anderen, der schwie-
rige Absatz von Effekten außerhalb ihres Heimatlandes, die
rechtliche Ablehnung des Papiergeldes bei einem Angebot oft in
der Nähe des Ursprungslandes machten den deutschen Kaufleuten
und Bankiers eine Geldeinrichtung erwünscht, auf die sie, als
einen festen Punkt in der Flucht der Konjunkturerscheinungen,
ihre Berechnungen begründen konnten. Da in dem Zollvereins-
vertrag der Artikel aufgenommen worden war: „Es werden die
Vereinsregierungen dahin wirken, daß in ihren Landen ein gleiches
Münzsystem in Anwendung komme", wurden 1838 in Dresden V^er-
handlungen gepflogen, deren Ergebnisse, obwohl sie weit davon
entfernt waren, ein gemeinsames Geldwesen zu bringen, doch
einen Fortschritt bedeuteten. Es wurde für alle Zollvereinsstaaten
einerlei Münzwert festgelegt, die Kölnische Mark = 233,856
Gramm — , aus der 14 Taler oder 24 1/2 Gulden ausgeprägt werden
sollten. Außerdem verpflichteten sich die Länder, die Kurant-
münzen ungekürzt auszubringen und nur die unvermeidbaren ge-
ringen Münzfehler zuzulassen, die im Verkehr abgenutzten Stücke
an ihren Kassen zum vollen Wert anzunehmen und einzuziehen, die
Scheidemünzen nach dem Bedarf zu kontingentieren und ihrem
Wesen gemäß sie der Zahlkraft über eine bestimmte Höhe hinaus
zu entkleiden. Es wurde auch eine Vereinsmünze im Werte von
2 Tlr. = 3 1/2 Gulden geschaffen, die, im Volksmunde Champagner-
taler genannt, im Zahlungsverkehr, der sie nicht ablehnen durfte,
keine größere Bedeutung gewann als das Champagnertrinken in
der damals noch einfachen Lebenshaltung deutscher Lande. Der
Vorschlag der sächsischen Regierung, für den Zollverein das Dezi-
malsystem mit einer Münze von 1/3 Tlr. einzuführen, hat sich erst
33 Jahre später verwirklicht, damals war er nur für das Königreich
ein praktischer, sich bewährender Versuch, dem sich Hannover,
zugleich mit einer Zehnteilung des Groschens, anschloß. In
Preußen zerfiel der Taler in 30 Gr. und 360 Pfg.
V. Geld- und Bankwesen.
Der Haupteinwand gegen die Dresdener Vereinbarung be-
stand gegen den Dualismus von Taler und Gulden. In den süd-
deutschen Staaten, König Ludwig I. voran, war man überzeugt,
daß die Wohlfeilheit in ihren Gebieten durch das Münzwesen be-
stimmt werde, und daß man nach Annahme des Talers in ihnen
so viel zu bezahlen haben werde als in Gulden bisher. Richtig
war, daß in dem engen abgeschlossenen Wirtschaftsleben mancher
süddeutschen Gegenden örtliche, vom Herkommen bedingte
Preise üblich waren, Arbeitslöhne und Kleinverkaufspreise aus
eigenen Rohstoffen hergestellter Waren niedriger als im Rhein-
land oder Berlin standen. Soweit die Fernkonkurrenz wirkte oder
der Weltmarkt mit Baumwolle, Gewürzen, Zucker, Kaffee, Tabak
in Frage stand, überhaupt es sich um Gegenstände handelte, die
in Bayern nicht fabriziert wurden, war die Anschauung falsch,
wie man z. B. in Norden und Süden 2 Tlr. oder 3 1/2 Gulden für
eine Flasche Champagner zu zahlen hatte.
Die Sicherstellung des 14 Talerfußes hatte das günstige Er-
gebnis, daß 1848 die Mecklenburgs, 1856 Lübeck und Hamburg
ihn annahmen mit einer Teilung allerdings in 48 bzw. 40 Schil-
linge. In den übrigen Staaten des Deutschen Bundes blieb alles
beim alten. Österreich und Lichtenstein hatten ihren besonderen
Guldenfuß, Bremen den Goldtaler = 1/5 Pistole, Luxemburg den
holländischen Gulden.
Alle Staaten mit der Bremer Ausnahme hatten die Silber-
währung. Die Handelsstadt, die ihr Gold im Handel mit England
auszunutzen suchte, hatte den Nachteil, daß ihre Münzen im nach-
barlichen Verkehr vom Silberkurs abhängig waren, so daß man
bei etwaigem Kleingeldmangel die 5 und 10 Groschenstücke von
Hannover und Oldenburg nicht gebrauchen konnte. Im Sommer
sammelten die ortsnahen Bauern beider Länder die Bremer Silber-
linge bei der Bezahlung ihrer Produkte auf und brachten sie erst
im Winter zu ihren Einkäufen der Stadt wieder, die inzwischen
unter der Knappheit der kleinen Zahlungsmittel litt. Hamburg
und Lübeck hatten es leichter, indem sie den preußischen und
mecklenburgischen Münzen einen festen Kurs verleihen konnten.
Im Großverkehr bediente sich Hamburg einer auf Feinsilber-
barren begründeten Bankrechnung, der Mark banco, die dem Giro-
verkehr Festigkeit verlieh.
Die umlaufenden Goldmünzen, die Friedrichsdors, Louisdors,
Pistolen, Dukaten schwankten nach ihrem Kurswert zum Silber.
Nur Preußen hatte für die seinigen 1832 einen Kassenkurs von
5 2/3 Tlr. festgelegt, der dem Edelmetallverhältnis von 1:15 ^/is
entsprach. Die Dresdener Vereinbarung änderte an diesem Zu-
l82 IV' Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
Stande nichts. Es gab nirgends eine Doppelwährung, höchstens
konnte von einer beschränkten Parallelwährung gesprochen wer-
den, da gewisse Zahlungen in Gold bedungen und geleistet
wurden.
Daß der 1853 zwischen dem Zollverein und Österreich abge-
schlossene Reziprozitätsvertrag keinen sonderlichen Erfolg zeigte,
hatte in der Währungsverschiedenheit beider Gebiete einen mit-
bestimmenden Grund. Österreich hatte Mitte der fünfziger Jahre
Papiergeld mit starkem Disagio gegen Silber. Jede weitere Ent-
wertung des Papierguldens wirkte wie ein steigender Schutzzoll
des Emissionslandes, und der Wechselkurs zum Zollverein war
im voraus unberechenbar und stark schwankend. Daher wurde
wiederholt der Versuch gemacht, die Barzahlung aufzunehmen und
die Initiative zu einem Münzvertrag ergriffen, der, als er 1857 ab-
geschlossen wurde, auch für die Zollvereinsstaaten bedeutungsvoll
wurde. Die Münzmark wurde jetzt das neuzeitliche metrische Zoll-
pfund, aus dem 30 Tlr. oder 45 österreichische oder 52 1/2 süd-
deutsche Gulden ausgeprägt wurden, was eine Gewichtsminderung
um 0,220/0 brachte. Die Legierung wurde auf die erprobte Rate von
1/10 Kupfer und ^/-^q Silber geregelt. Ein anderes Zugeständnis an
das Dezimalsystem war unter Beseitigung künftiger sonstiger ' Gold-
ausprägung eine Goldmünze von 10 Gramm für alle Vertrag-
schließenden, die als Handelsmünze ohne gesetzliche Zahlungs-
kraft und ohne Annahmezwang bei der Staatskasse für den Aus-
landsverkehr gedacht wurde. Endlich wurden einige Bestim-
mungen über die technische Seite des Münzwesens getroffen und
die Vereinstaler nach dem 30 Talerfuß geschaffen, die mit den
nötigen Bürgschaften für ihren Silbergehalt ausgestaltet worden
waren. Diese vertragsmäßige Währungsmünze neben dem bis-
herigen Geld sowie die neuen Goldkronen hatten keinen prak-
tischen Erfolg. Der Verkehr des Zollvereins mit der Donau-
monarchie wurde nicht gehoben, da der Krieg mit Frankreich
1859 wiederum zur Papiergeldausgabe trieb, und der Krieg von
1866 den Vertrag löste, was 1867 zur besonderen Anerkennung
kam. Der Vereinstaler verdrängte auch im Zollverein die groben
Landessilbermünzen nicht, obwohl er dadurch bevorrechtigt
wurde, daß Verträge, auf Landeswährung lautend, in ihm beglichen
werden konnten, während die auf ihn gestellten allein in ihm er-
füllt werden mußten. Die neuen Kronen waren in ihrer spar-
samen Ausprägung für die künftige Goldwährung kein Vorbild,
da sich der Außenhandel ihrer nicht bediente. Zu überseeischen
Zahlungen war man im Zollverein auf die Vermittlung Englands
angewiesen, in europäischen auch auf die von Paris. Hier war
V. Geld- und Bankwesen. 183
auch der größte Markt für internationale Darlehen, der erst um
1870 von London übernommen worden ist, als Frankreich durch
den Krieg in Währungs- und Finanzschwierigkeiten geraten war.
Im Zollverein verlangte der Geschäftsaufschwung nach 1850
eine steigende Ausprägung von Silberkurantmünzen, der leicht
entsprochen werden konnte. Da diese Vermehrung ihm nicht ge-
nügte, mußten papierene Umlaufsmittel als Kreditscheine den Be-
darf decken.
Das deutsche Wirtschaftsleben hatte es nach 1815 nur in den
größeren Städten wie Berlin, Frankfurt a. M., Nürnberg, Augs-
burg, Hamburg zu einer umfassenderen Kreditorganisation ge-
bracht, die auf Wechselhandel, Girobanken oder einer bescheidenen
Banknotenausgabe beruhte. Das Diskont- und Lombardgeschäft
war ganz rückständig. In einem so agraren Lande, wie es Deutsch-
land damals war, galt der landwirtschaftliche Immobiliarkredit
für das wichtigste, und damit hing es zusammen, daß die mit der
Notenausgabe betrauten Institute Notenkapitalien gegen Verpfän-
dung des Grundbesitzes ausliehen. Nur die Geringfügigkeit des
Geschäftes ließ den hiermit verbundenen Mangel an erforderlicher
Liquidität nicht zu sehr empfinden.
In Preußen war die von Friedrich dem Großen begründete
Königliche Bank eine reine Staatsbank, die nach der Katastrophe
von 1806 reorganisiert, das Privilegium der Notenausgabe allein
besaß. Dazu kam 1823 der Kassenverein in Berlin und die ritter-
schaftliche Privatbank in Stettin, denen ein geringer Betrag noten-
ähnlicher Papiere zugestanden wurde. Der erstere, zum Giro- und
Inkassoverkehr begründet, gab Depositenscheine aus, für die seine
Mitglieder solidarisch hafteten, und die dem Vorzeiger gegen bar
eingelöst wurden.
Bei der Menge des aus der Kriegszeit vorhandenen staat-
lichen Papiergeldes hielt die Regierung in den dreißiger Jahren
die Banknoten für einen schädlichen, überflüssigen Zirkulations-
luxus und ließ sie durch hohe Stempelgebühren und Konzessions-
erschwerungen aus dem Verkehr verschwinden. Die Verschieden-
heit zwischen ihr und dem vorhandenen Papiergeld wurde nicht
erkannt. Denn während dieses eine unveränderliche, von der Zu-
verlässigkeit der Staatsverwaltung im Wert abhängige Summe dar-
stellte, konnte jene, richtig in der Deckung und der Ausgabe ge-
handhabt, eine elastische Menge, die sich dem volkswirtschaft-
lichen Bedarf anpaßt, werden.
In Bayern entstand 1834 die auf einem Aktienkapital be-
ruhende Bayerische Hypotheken- und Wechselbank, die, wie der
Name sagt, den verschiedenen Kreditwünschen des Königreichs
iSa ^^' Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
entsprechen sollte und das Monopol der Notenausgabe erhielt.
1838 folgte für Sachsen die Leipziger Bank mit ebenfalls viel-
seitigen Aufgaben, wenn auch unter Zurücktreten des Hypotheken-
geschäftes. Auch in Lübeck gab die Diskontokasse Kassenan-
weisungen aus, die als Banknoten gelten können.
Als nun die neue Wirtschaftsära mit ihrem konzentrierten
Bedarf nach rasch verlangtem Kapital heraufkam, erhob das Dis-
kont- und Lombardgeschäft seine Ansprüche, denen die Privat-
bankiers und die wenigen Notenbanken nicht genügten. Daneben
drängte die schwerfällige Silberwährung zur Ausgabe bequemerer
Zahlungs- und Tauschmittel für den mittleren und den Reise-
verkehr.
Die private Initiative zur Gründung von Notenbanken er-
schien auf dem Plan, da der Staat sich zurückhielt. Bis 1850
waren nur wenige Anstalten von örtlicher Bedeutung zu den be-
stehenden hinzugekommen.
Die preußische Regierung verstand in dem früheren Präsi-
denten der Königlichen Bank, dem Minister R o t h e r , die Zeichen
der Zeit, und als in Dessau eine Privatbank sich zu bilden an-
schickte, die offenbar mit ihren Notengeschäften auf preußisches
Gebiet überzugreifen trachtete, schritt sie 1846 zur Umbildung
ihres Bankwesens und schuf die Preußische Bank, eine unter
staatlicher Leitung und Aufsicht stehende Aktiengesellschaft. Der
Staat beteiligte sich mit einer Million Tlr. an dem Betriebskapital.
Dem kaufmännischen Einfluß auf die Geschäftsführung wurde
durch den aus Großgewerbetreibenden zusammengesetzten Ge-
schäftsausschuß Rechnung getragen, dem analoge beratende Kol-
legien bei den Zweiganstalten, die durch das ganze Königreich
verteilt wurden, zur Seite standen. Eine Kontinuität mit der
alten Staatsbank war insofern vorhanden, als ihre Beamten über-
nommen wurden, der Effektenbesitz der Vergangenheit behalten
wurde, gerichtliche Depositen auch ihr zuflössen, und sie im
Dienst der staatlichen Kassenverwaltung weiter tätig blieb. Die
Notenausgabe wurde auf 21 Millionen Tlr. als Maximum be-
messen. Ein Drittel mußte bar, das übrige in Wechseln, Lom-
bardforderungen, Staatsschuldscheinen gedeckt sein.
Die weitere Entwicklung des Banknotenwesens in Deutsch-
land ist interessant, weil sie zeigt, wie sich nach mancherlei Ver-
suchen unter Ausscheidung alles Unbrauchbaren das herausge-
bildet hat, was der Volkswirtschaft als einem Ganzen passend
war. Die Staatsverwaltung hat über die private den Sieg davon-
getragen, die Vereinheitlichung über die selbständige Vielheit, die
V. Geld- und Bankwesen. 185
unbeschränkte Notenausgabe mit Kautelen über die direkte Kon-
tingentierung.
Was sich schon während der fünfziger Jahre in der Haupt-
sache durchsetzte, war die Abscheidung des Immobiliarkredits von
der Notenausgabe. Außerdem wurde damals von den größeren
Banken dem Bedürfnis nach der allgemeinen Verbreitung der
Banknote durch Zweiganstalten entsprochen.
Das Jahr 1848 hat in zweifacher Weise auf das Banknoten-
wesen eingewirkt. Unter der Unsicherheit der Revolutionszeit
war ein Mangel an Zahlungsmitteln entstanden. In Preußen half
man sich mit staatlichen Darlehnskassen, die gegen Pfandsicher-
heit Staatspapiergeld ausgaben. Nur in Breslau gelang es, für
eine städtische Bank der Regierung das Notenausgaberecht abzu-
trotzen, und auch der Chemnitzer Stadtbank war ähnlich von
Sachsen willfahrt worden. Man schloß irrigerweise aus dem vor-
übergehenden Nutzen dieser Institute in der Notlage auf die
Zweckmäßigkeit solcher Einrichtungen überhaupt.
Das Prinzip der freien Notenbankgründung — das war das
zweite — wurde in manchen Kreisen während der fünfziger Jahre
als eine Forderung des liberalen Bürgertums aufgefaßt, die 1848
eigentlich schon hätte bewilligt werden müssen. Die Parteigegen-
sätze prallten auch auf diesem Gebiete hart aufeinander. Im
preußischen Abgeordnetenhause folgten die städtischen Liberalen
dem Abgeordneten H a r k o r t , die ländlichen dem Verteidiger
des erleichterten Kredits der Grundbesitzer v. Lavergne-
Peguilhen. Literarisch war der Statistiker und Nationalökonom
Otto Hübner für die Notenfreiheit tätig. Lavergne empfahl
zuerst 1851, dann 1857 die Errichtung von Hypotheken-, Spar-
und Leihbanken in den einzelnen Regierungsbezirken mit der Be-
fugnis, Noten gegen Verpfändung von Pfandbriefen auszugeben.
Das Wesen der Banknote wurde auch jetzt noch nur unvoll-
kommen erkannt. Da sie als allgemeines Tausch- und Zahlungs-
mittel verwendet werden sollte, so mußte der Grundsatz des
Geldes, die staatliche Ordnung und Zuverlässigkeit, in ihre Aus-
gabe aufgenommen werden, und ebenso, wie man die Einheit des
Geldes für den ganzen Zollverein forderte, mußte die Logik auch
zu einer einheitlichen Banknote führen. Bei der Notenfreiheit
stand beides nicht zu erwarten. So kam es zum Schaden des
deutschen Wirtschaftslebens zunächst zu unfruchtbaren Experi-
menten, teils auf Antreiben des Doktrinarismus, teils aus Profit-
sucht der nach 1850 erstarkten Geldmächte, teils aus Eigenwillig-
keit der Kleinstaaten. Berliner, Frankfurter, Kölner Bankhäuser,
die Bleichröder, Hansemann, Erlanger, Mewissen, Oppenheim
l86 ^^- Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
traten an die Regierung mit ihren Vorschlägen heran. Zunächst
ohne Erfolg in Preußen. Die Kleinstaaten waren nachgiebiger. Es
entstanden als Aktienbanken mit Notenausgaberecht die Rostocker,
die Bank für Süddeutschland in Darmstadt, die Frankfurter,
Geraer, Gothaer, Weimarer, thüringische in Sondershausen,
niedersächsische in Bückeburg, mitteldeutsche in Meiningen,
braunschweigische, hannoversche, Lübecker und Bremer. Manche
waren für ihr Landesgebiet zu groß, suchten daher bei den großen
Nachbarn, Preußen, Bayern, Sachsen ihre Zettel zu vertreiben. Hier
erwehrte man sich zuerst der Überschwemmung mit „wilden
Scheinen" dadurch, daß man den Umlauf der kleinen Abschnitte
verbot, dann, als nun um so mehr größere hereinströmten, auch
diese ausschloß. So entstand ein Kampf aller gegen alle, der den
eigentlichen Zweck der Einrichtung, den Verkehr zu erleichtern,
aufhob.
In Preußen waren schon 1846, dann wiederum 1848 Nor-
mativbestimmungen für Privatnotenbanken erlassen, doch war nur
eine Konzession in Köln erteilt worden. Die preußische Bank be-
währte sich, was auch ihre Gegner zugaben, obwohl sie sich von
dem Privatsystem mehr versprachen. Als nun 1856 der Minister
V. d. H e y d t für sie einen Gesetzentwurf des unbeschränkten
Notenausgaberechts und eine Erhöhung des Aktienkapitals vor-
legte und eine erweiterte Tätigkeit in Aussicht nahm, die mit der
Einziehung etwa der Hälfte des zirkulierenden Papiergeldes im
Interesse des Staatskredits begründet wurde, konnte dies die Re-
gierung ohne Verständigung mit dem Notenliberalismus nicht
durchsetzen. So wurden die Magdeburger Privatbank, die Königs-
berger, die Danziger und die des Großherzogtums Polen zuge-
lassen, denen weiterhin eine Milderung der bestehenden gesetz-
lichen Vorschriften zuteil wurde. Jede war an das Emissions-
maximum von einer Million Tlr. gebunden, die Annahme verzins-
licher Depositen wurde gestattet.
Zu den bisher genannten Privatbanken sind in den sechziger
und am Anfang der siebziger Jahre noch einige wenige hinzuge-
kommen, wie die sächsische Bank in Dresden, der Leipziger
Kassenverein, die württembergische, oldenburgische, badische.
Im allgemeinen schlug nach 1857 die Stimmung zu einer
Gegnerschaft gegen die privaten Zettelbanken um. Die Banken
konnten teilweise ihrer Einlösungspflicht in der Krise dieses
Jahres nicht genügen, da sie Geschäfte betrieben hatten, die eine
Liquidität nicht verbürgten und sich sogar auf die Effekttenspeku-
lation eingelassen hatten. Aus Mangel an Mitteln stellten viele
die Diskontierung ein, gerade als sie am wichtigsten war. Mehrere
VI. Die Wirtschaftskrise von 1857. 187
kamen um Staatshilfe ein, die ihnen nicht versagt wurde. Das
alles sprach zugunsten der Staatsverwaltung. Andererseits hatte
die preußische Bank die erste große kapitalistische Katastrophe
des deutschen Wirtschaftslebens gut überstanden. Abgesehen von
ihrer vorsichtigen Verwaltung und der Unterlassung jeder Speku-
lation, verdankte sie es dem bei ihr eingeführten „Prinzip der
bankmäßigen Deckung". Sie hatte 1/3 bar zu halten und die üb-
rigen Noten nur in guten Wechseln anzulegen, die bei ihrer kurzen
Verfallzeit und bei der Möglichkeit der Rediskontierung am leich-
testen unter den sonstigen privaten Kreditpapieren sich in Geld
zurückverwandeln lassen. Der Notenumlauf war in der Periode
der Hochkonjunktur von 19 V2 auf 74 Millionen Tlr. gestiegen
und hatte dem Bedürfnis der Zeit entsprochen. Es vollzog sich
ohne Schwierigkeit, daß die Ziffer in den Jahren des Niederganges
entsprechend einschrumpfte.
Es war also bewiesen worden, daß die Zentralbank die Fähig-
keit besaß, sich den Phasen des Wirtschaftslebens, die unabhängig
von ihr vorhanden sind, anzupassen. Die moderne Notenbank hat
die Aufgabe, die in den Verkehr eingegangenen, noch nicht fäl-
ligen Wechselforderungen in Banknoten umzuwandeln, soweit sie
als Zahlungsmittel nötig werden. Ein Kreditmittel wird also durch
ein anderes ersetzt, das die Tausch- und Zahlungsmitteleigenschaft
vollkommener besitzt. Die Bankgesetzgebung hat dafür zu sorgen,
daß dies geschieht, ohne daß der Wert der Noten im Verkehr an-
gezweifelt wird.
VI. Die Wirtschaftskrise von 1857. Den industriellen
Kreislauf, in dem sich England bis in die Mitte des 19. Jahrhun-
derts wiederholt bewegt hatte: Geschäftsauf schwung, Hochkon-
junktur, Überspekulation, Krise, Geschäftsniedergang bis zu einem
Tiefpunkt, kannte Deutschland bisher nicht. Die Stockung, die
1847 in England so tief eingriff, zog wohl kauf männische Geschäfte
in einer Anzahl deutscher Städte in den Strudel hinein, die
Effektenmärkte verzeichneten Kursverluste, und einige Fabriken
wurden fallit. Aber damit hatte die Störung ihr Bewenden, die ,nur
ein fester Anstoß von außen gewesen war, nicht eine Explosion
aus eigener, innerer Spannung. In dem folgenden Jahrzehnt war
die industriell kapitalistische Kraftentfaltung, besonders in
Kohlen, Eisen und Stahl eine ganz andere geworden, die Erspar-
nisse und Verwendungen zu produktiven Zwecken waren ins Große
gegangen, der Kredit war in neuen Formen auf dem Markt er-
schienen, so daß Deutschland aus sich heraus eine Hochkonjunktur
gebar, deren Übertreibung zu einem jähen Umschlag führte.
l88 IV. Absclinitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
Die agrarischen Teile des Landes verheerte die Krise weniger
als die industriellen, und erstere waren 1857 zahlreicher und aus-
gedehnter als bei der nächsten von 1873. Bayern wurde weniger
betroffen als das Rheinland und Westfalen, Sachsen und Berlin
mehr als die östlichen Provinzen Preußens, wo allerdings das
Spiritusgeschäft direkt, mittelbar auch die Getreideausfuhr nicht
unbehelligt blieben. Überall litten die Mittelpunkte des Handels,
Hamburg, Frankfurt, Leipzig, ebenso alle Börsenplätze. Die In-
tensität der Bewegung äußerte sich darin, daß der Übergriff in
das Handwerk und den Kleinhandel nicht ausblieb, daß vielerorts
Arbeiter und Gesellen entlassen wurden, daß die Verbraucher all-
gemein sich einschränken mußten, wo das verkehrsmäßige Wirt-
techaftsleben vorherrschte.
Die Phase des Aufschwunges beginnt ein bis zwei Jahre nach
der Revolution, die lebhafte Tätigkeit dauert bis 1857, der Nieder-
gang nach der Krise dieses Jahres ist am Anfang der sechziger
Jahre überwunden, worauf ein neuer Kreislauf, erst accelerando,
dann rallentando, und wenn auch nicht mit denselben Zeiträumen,
so doch in den gleichen Rhythmen: Andante, Allegro, Prestissimo,
Adagio, Largo einsetzt. Die ganze Bewegung kann man auch mit
einem kunstvoll aufgebauten Drama und seiner Peripetie ver-
gleichen, das dem individuellen oder dem Völkerleben nachge-
bildet, also etwas allgemein Menschliches ist.
Der Zusammenhang mit den Auslandsstockungen wurde
durch den Großhandel vermittelt, der im Zollverein erstarkt war.
1834 hatte die verzollte Einfuhr 105 Millionen Tlr., die Ausfuhr
143 betragen. 1857 waren die entsprechenden Zahlen 354 und 353
»geworden.
Die deutschen Kapitalien strömen nach der Beendigung der
Revolution unter der neugewonnenen politischen Sicherheit leb-
haft dem Eisenbahnbau zu. Von diesem Mittelpunkte aus belebt
sich die Nachfrage nach allen Betrieben hin, die mit ihm auch
noch so mittelbar zu tun haben und bei dem allgemein steigenden
Einkommen auch nach solchen, die dem menschlichen Verbrauch
an Lebens- und Genußmitteln dienen. Der Preisstand wird ge-
hoben, und die Aussicht auf Gewinn zieht das spekulative Kredi-
tieren, erst in besonnener, dann in lebhaft leichtfertiger Weise in
bisher ungeübten Formen in den volkswirtschaftlichen Kreislauf
hinein, um es zu einem neuen Schwungrad werden zu lassen. Der
Zins geht als Warnung in die Höhe, man glaubt ihn aus steigenden
Einnahmen befriedigen zu können. Schließlich gerät die über-
hastete Maschinerie aus den Bändern, Achsen und Fugen. In den
führenden Industrien kommt es zur Überkapitalisation, da der
VI. Die Wirtschaftskrise von 1857, ign
künftige Gesamtbedarf überschätzt wird, die Überproduktion an
Waren ist plötzlich da, die Nachfrage seitens der betroffenen
Geschäfte setzt aus, und der Ausfall wälzt sich wellenförmig fort.
Die Preise sinken, die fälligen Wechsel und Zinsen können nicht
bezahlt werden, Bankerotte schließen sich an. Der Großhandel
sieht ein unrealisierbares Kapital entwertet und vermag seine Außen-
stände nicht einzuziehen. Unternehmungen, selbst gesicherter Art,
erhalten nirgends Geld, da jedermann das seinige in die Kasse
einschließt, um bevorstehenden Ansprüchen zu genügen.
Damit die Ausdehnung der Geschäfte hatte Platz greifen
können, waren ihr entsprechende kapitalistische Formen die Vor-
aussetzung gewesen, Aktien- und ähnliche Gesellschaften, der Bank-
kredit im großen, die Effektenemission. In den vier Jahren 1853
bis 1857 entfiel nach M. Wirth auf die in deutschen Landen ge-
gründeten Bankaktiengesellschaften ein Kapital von über 200 Mil-
lionen Tlr., auf die Eisenbahnen von 140 und auf Bergwerks-,
Hütten-, Dampfschiffahrts- und Maschinenbaugesellschaften,
Zuckersiedereien und Spinnereien ein solches von über 130
Millionen. Dazu kamen 206 Millionen Tlr. Prioritäts-Obli-
gationen für die gesamten fünfziger Jahre. 1856 wurden
in Preußen allein Gesellschaften mit einem Betrage von
150 Millionen konzessioniert. Der Gründungsparoxismus wird da-
durch in das rechte Licht gestellt, daß in dem Königreich von
1850 — 1870 800 Millionen in neuen Aktien ausgegeben wurden, die
Hälfte davon allein von 1853 — 1857. In Baden gab es um die
Mitte der dreißiger Jahre nur ganz vereinzelte kleine Aktiengesell-
schaften, im Verlaufe der fünfziger Jahre meldet ein zuverlässiger
Beobachter, daß sie als größere wie Pilze aus dem Boden ge-
schossen seien. In Sachsen kannte man 1850 nur 10, 3 davon in
Leipzig, von 1851 — 1870 wurden 57 mit 90 Millionen M. zugelassen.
Man zog damals den eilfertigen Schluß, daß die Krise der Tatsache
der Aktiengesellschaft entsprungen sei. Man übersah, daß diese
Kapitalassoziation nur eine Form der neuen Unternehmungen war,
und daß sie für den Großhandel keine Bedeutung hatte. Ihre
Zurückschraubung würde nur zu formell sie umgehenden neuen
Einrichtungen geführt haben, da das Bedürfnis zur Kapitalanlage
fortbestand.
Die Zunahme des Reichtums in der deutschen Volkswirtschaft
läßt sich auch aus der Gründung der Versicherungsgesellschaften
ersehen, von denen zwischen 1850 und 60 an 50 mit 60 Millionen
Tlr. entstanden. Da dieser Geschäftszweig unter dem Prinzip
„der großen Zahl" steht, mußte er von Anfang an auf bedeu-
tenden Kapitalien aufgebaut werden. In dem Maße, als die Nation
IQO IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
wohlhabender wurde, schwollen die Aktiva und Passiva der Lebens-,
Feuer-, Unfall- und Haftpflicht-, der landwirtschaftlichen usw. Ver-
sicherungsanstalten, auf Aktien und auf Gegenseitigkeit errichtet,
an, die man 191 1 auf 6 1/2 Milliarden M. berechnete. Das Ge-
schäft war so umfangreich geworden, daß im gleichen Jahr allein
30 Rückversicherungsgesellschaften nötig wurden, um die einge-
tretenen Schäden möglichst zu verteilen.
Es wurde auch die Banknote angeklagt, daß sie die Ver-
kehrsstockung durch zu leichten Wechselkredit verursacht hätte.
Man verwechselte die mißbräuchliche Anwendung eines an sich
wertvollen Mittels des wirtschaftlichen Fortschrittes mit dem all-
gemeinen Vorwärtsdrängen, das sich aus zahlreichen inneren An-
regungen Kraft gesogen hatte. Die Klagen über die Massen-
haftigkeit der Gefälligkeitswechsel, der Wechselreiterei trafen zu-
dem die Notenbanken weniger als gewissenlose Privatbankiers
und Kaufleute. Der Kreditmißbrauch hatte die Spannung ver-
stärkt, aber keineswegs geschaffen. Industrie und Handel hatten
Banken verschiedener Art nötig, um diejenige Elastizität zu ge-
winnen, die die große nationale und internationale Geschäftslage
erforderte. Die Gründung von industriellen und Bahn-Aktiengesell-
schaften konnte nur gelingen, wenn die Kapitalien rasch und sicher
zusammengebracht wurden, die tätigen Unternehmungen bedurften
der Diskontierung und Lombardierung, des Depositenverkehrs, des
Kontokorrentkredits, der erleichterten Zahlungsmethoden, um in
Bewegung zu bleiben.
Der Privatbankier, dessen Geschäft der zwanziger Jahre wir
kennen gelernt haben, hatte zwar die neue Zeit verstanden und
mit dem Eisenbahnbau sein Emissionsgeschäft von den staatlichen
Fonds auf die Aktien übertragen, insbesondere in Berlin, wo die
Firmen S. Bleichröder und Mendelson & Co. hervorragen,
in Köln mit dem Haus A. Oppenheim und A. Schaaf-
hausen, weniger in Frankfurt a. M. Hier brachte der Kurszettel
1847 nur 12 Bahnaktien, während in Berlin 33 notiert wurden.
Man glaubte mit den Staatsobligationen ein solideres Geschäft zu
pflegen, hielt auch deshalb so zähe an ihnen fest, weil man sich
Weltbörse nannte, auf der, wie in London, Paris und Wien, die
geldbedürftigen Staatsregierungen zusammenkamen. Nach der
Revolution von 1848 meinte man durchaus das Richtige getroffen
zu haben, da in Berlin die Aktienspekulation zusammengebrochen
war, die einige Jahre lang hier floriert hatte. Bis 1866/70 blieb
Frankfurt der erste deutsche Platz für Staatspapiere unter der
Ägide des Hauses Rothschild, unter die die Aktien nicht unterzu-
schlüpfen vermochten.
VI. Die "Wirtschaftskrise von 1857. igi
Die Mittel der Privatbankiers reichten für das vergrößerte
Geschäft einerseits jetzt nicht mehr aus, andererseits war ihnen
gegenüber das Publikum skeptisch geworden, da auffallende Zah-
lungseinstellungen die Sparer ihnen entfremdet hatten. Dem neuen
Bedürfnis haben die nicht ganz richtig so benannten Effekte n-
banken entsprochen, allerdings zunächst mit einem Geschäfts-
gebahren, das ihre großen Gewinne mit ihren volkswirtschaft-
lichen Pflichten nicht in Übereinstimmung brachte. Die uner-
fahrenen Aktienzeichner waren ebenso wie die späteren Aktien-
käufer die Leidtragenden, als die Banken dem volkswirtschaft-
lichen Bedarf nicht mehr dienten, sondern nur der Agiotage, um
verfügbare Gelder zu beschäftigen. Es bedurfte erst der Erfah-
rung der Kapitalisten und des geschärften Verantwortlichkeits-
gefühls der Direktoren und Aufsichtsräte, bis leidlich planmäßige
Ordnung in die Gründungen der Banken und deren Verwaltung
hineinkam, die in den ersten 25 Jahren des deutschen großen
Aktienwesens nur unvollkommen erreicht wurde.
Von den Effektenbanken der fünfziger Jahre ist die 1853
errichtete Bank für Handel und Industrie, kurz die ' D a r m -
Städter Bank genannt, in gutem und schlechtem Sinne die be-
kannteste geworden. Allerdings waren bereits 1 848 der A. S c h a a f -
hausen sehe Bankverein in Köln und 185 1 die Diskonto -
gesellschaft in Berlin entstanden, letztere trat erst 1856 aus
dem engeren Rahmen der reinen Kreditbank für geringere An-
sprüche heraus, während der erstere, der, aus der falliten Firma
des Gründers hervorgegangen, eine Reihe von Jahren gebrauchte,
um größeren Geschäften gewachsen zu sein. Die Mittel-
deutsche Kreditbank und die Berliner Handels-
gesellschaft blieben nach ihrer Gründung 1856 zunächst auf
zu mäßige Kapitalien beschränkt, um damals die genannte wirt-
schaftliche Entwicklung entscheidend mitbestimmen zu können.
Das Kapital der Darmstädter Bank war für die damalige Zeit
hoch, 25 Millionen Gulden, unter auf das Doppelte geplanter Er-
höhung, durch welche jedoch die Krise von 1857 einen Strich zog.
Das Vorbild, hieß es, sei der Credit mobilier der Gebrüder Pereire
gewesen. Eine genaue historische Untersuchung hat ergeben, daß
nur die Anregung zur Aktienbankgründung aus Paris gekommen
ist. Denn die französische Bank verwirklichte nicht einmal ihre
vorgenommenen Zwecke. Der auf Saint Simonistischen Einfluß
zurückgreifende Gedanke, Effekten verschiedener Art und wech-
selnder Einnahmen in der Bank zu zentralisieren, die Privat-
kapitalisten durch kurz- und langfristige Obligationen zu be-
teiligen und ihnen das Risiko der Dividendenschwankung abzu-
IQ2 IV- Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
nehmen, wurde von der Napoleonischen Regierung nicht gestattet.
Der Credit mobilier wurde ein Aktienemissionshaus größeren Stils,
die Darmstädter Bank pflegte das reguläre Bankgeschäft von An-
fang an mit gutem Erfolge und diente neben dem Vertrieb von
Aktien auch dem der staatlichen und kommunalen Obligationen.
Als den Ort des Hauptsitzes wählte sie das kleine Darm-
stadt, weil die Frankfurter Staatsverwaltung die Konzession nicht
erteilen wollte. Dennoch wurde die Frankfurter Börse ihr haupt-
sächliches Arbeitsgebiet. Als der Mann, der das Unternehmen ge-
schaffen hat, wird M. v. Haber bezeichnet, seine Geldgeber
waren die Kölner W. L. Deichmann, G. Mevissen, W.
Wendelstadt und Abraham Oppenheim. Der Kurs der
Bankaktie wurde bald über den Ertragswert hinausgetrieben, wo-
für durch nicht ganz lautere Reklame hinlänglich gesorgt wurde.
Das kaufende Publikum war auch nicht ohne Schuld, das nur zu
gern bezog, um bald mit Gewinn wieder abzustoßen. Am 14.
Januar 1856 war der Kurs 284, am 2. Juni 438. In der Krise ging
er unter Pari zurück, zu welchem Stande die Gründer sich
wiederum in ihren ziemlich ausverkauften Besitz setzten. Kleinere
neue Bankunternehmen wurden noch härter betroffen, die nach
1857 nicht einmal wußten, wie sie das zurückgeflossene ausge-
liehene Kapital anlegen sollten. Sie kauften billige Effekten auf
und untergruben damit die Flüssigkeit ihres Bankgeschäfts, so
daß mehrere von ihnen sich nicht halten konnten.
Das Haus Rothschild hatte bei seinem Handel mit Staats-
papieren verharrt, deren europäischer Stand für damals auf 20 Mil-
liarden M. berechnet worden ist. Die Gründung der Darmstädter
Bank war gegen diese berühmte Firma gerichtet, um den neuen
Werten einen größeren Markt zu schaffen. Der deutsche Ef-
fektenmarkt wurde seit 1854 auch durch die Aktien des rheinisch-
westfälischen Montangebietes bereichert. Es entstanden der
Bochumer Gußstahl-Verein, die Hörder-, Eschweiler-, Harpener-,
Phönix-, Stolberger-Gesellschaften, meist Umwandlungen älterer
Privatwerke. Die Hauptspielpapiere an der Börse waren außer
den neuen Bankaktien die österreichischen Kreditaktien, die Aktien
der österreichisch-französischen Staatsbahn und einige deutsche
Eisenbahnpapiere. Das Kursniveau war allgemein von 1851 — 1854
gehoben, der Krimkrieg drückte es zeitweise herab, nach dem Pa-
riser Frieden wurden die Spielpapiere in wenigen Monaten um
30 — 40 0/0 erhöht.
Die Börsenspekulation war keineswegs nur auf Personen der
Börsenplätze beschränkt. Der Telegraph war durch den Morse-
Schreibapparat mit schmalen langen Papierstreifen praktisch ge-
VI. Die Wirtschaftskrise von 1857. ig^
worden, anfangs in den Dienst der Eisenbahnen und der Militärver-
waltung, bald in den des Handels gestellt worden. 1844 läuft er
zuerst die Eisenbahnlinie von Kastei — Wiesbaden entlang, 1846
die von Berlin— Potsdam, 1847/48 Frankfurt a. M. — Berlin. Im
folgenden Jahre gestattet Preußen die Benutzung durch das Pub-
likum unter dem Zonentarif. Die Einrichtung bürgert sich an-
fangs auf weite Strecken nur langsam ein, da die Verschiedenheit
der Leitungen und der Apparate die Landesgrenze sperren. 1850
war der schlimmste Partikularismus durch den Telegraphenverein
überwunden, den Preußen, Österreich, Bayern und Sachsen zu
Dresden unterzeichneten. Die übrigen deutschen Staaten schlössen
sich ihm im folgenden Jahre an. Der Einheitstarif wurde erst
1879 eingeführt.
In der Haussezeit der fünfziger Jahre bemächtigte sich des
Telegramms auch das Börsengeschäft. Das Wolffsche Tele-
graphenbureau mit seinen Kursberichten wurde eröffnet. Bald
darauf, 1860, hat der Deutsche Ph. Reis das Telephon erfunden,
das aber unbeachtet blieb, bis es der Schotte Bell 1877 praktisch
gestaltete, so daß es auch bald für den Börsenverkehr dienlich
wurde. Es erschien in den Zeitungen die Wiedergabe, die die Kon-
junktur in Groß- und Kleinstadt bekannt machte. Nachschlage-
werke wie „Mosers Handbuch für Kapitalisten" und „Benders
Verkehr mit Staatspapieren" fanden Verbreitung. Die Wertpapier-
börsen wurden insofern zu nationalen Einrichtungen, als ihnen
das Kapital aus allen Teilen der Volkswirtschaft zuströmte und
Gewinn und Verlust nicht mehr örtlich gebunden waren. Eine
Unabhängigkeit vom Ausland mußte erst schrittweise erkämpft
werden. Bereits in den sechziger Jahren ist der Einfluß von
Paris und London bei einigen Effekten, die dort gehandelt wur-
den, geschwunden, im folgenden Jahrzehnt haben wichtige Werte
der nordischen Staaten, Österreichs, des Balkans, Rußlands in
Berlin und Frankfurt ihren Hauptmarkt.
Der Anstoß zum Konjunkturumschlag, den Deutschland für
sich und aus sich vorbereitet hatte, ebenso wie andere wirtschaft-
lich fortgeschrittene Länder, war von Nordamerika ausgegangen,
London war bald in Mitleidenschaft gezogen, und nun konnte sich
im Sommer 1857 auch Hamburg nicht halten. Die Panik war hier
ungeheuer. Ein Garantie-Diskontoverein und Staatsvorschüsse bis
zu 15 Millionen M. banco vermochten sie nicht zu beschwören.
Das Unheil ging monatelang seinen vernichtenden Weg. Von hier
aus sprang es auf Deutschlands Großindustrie, Börsen, Großhandel
und Banken über. Die Engrospreise sanken bis 30 0/0, Börsen-
papiere bis auf den halben Nominalkurs. Die Preußische Bank
10
194 ^^" ■^t)schnUt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
setzte ihren Diskont auf 71/2 ^/o, kleinere Notenbanken gingen noch
höher. Überall suchten Schutzgesellschaften, Warenvorschußvereine,
Staats- und Privathilfe zu retten, was noch möglich war. Die Er-
fahrung, wie man einzugreifen habe, fehlte. Erst im Dezember
war die Hauptgefahr für Hamburg, Berlin, Mittel- und Süddeutsch-
land beseitigt. Große englische Getreidekäufe brachten im Osten
die erste Erleichterung. Die meisten Geschäftsleute, die im großen
Verkehr zu tun hatten, waren zunächst ärmer geworden, und ihre
geschwächte Kaufkraft wirkte auf kleine und mittlere Firmen zu-
rück. Reicher wurden nach der Krise nur die, die rechtzeitig an
der Börse verkauft hatten. Einige wurden auch reicher an Ein-
sicht, wenn auch der Zusammenhang der Dinge noch nicht recht
begriffen wurde.
Die Verluste wurden als Wertminderung privatwirtschaftlich
empfunden. Allein die meisten Unternehmungen wurden weiter-
geführt. Die ökonomischen Kapitale, wie Eisenbahnen, Maschinen,
Schiffe, Bergwerke, Fabriken, standen für neue Betätigung bereit,
und die geistig ökonomischen Kräfte waren nicht vernichtet. Der
industrielle kapitalistische Kreislauf ist nicht nur privatökono-
misch, wie es von der damals herrschenden individualistischen Auf-
fassung des Wirtschaftslebens geschah, sondern auch volkswirt-
schaftlich zu denken. Man summierte damals, wenn auch ohne sta-
tistische Genauigkeit, die erlittenen Werteinbußen und zog das
Ergebnis von dem Reichtum der Haussezeit ab und behauptete,
das Land sei um 1/4 oder 1/3 ärmer geworden. Es hieß, die National-
ökonomie habe anzugeben, wie die Krisen aus der Welt zu schaffen
seien, und an Vorschlägen fehlte es nicht.
Nun wäre es ganz schön vielleicht, wenn man dem Ziele der
Reichtumsvermehrung, schrittweise besonnen, ohne Unterbrechung
nachgehen könnte, nach dem Prinzip der Alpenreisebücher: „chi
va piano va sano, chi va sano va lontano". Der begeisterte Alpi-
nist weiß auch den Reiz einer anderen Bewegung zu schätzen und
hält es für seine schönsten Augenblicke, den unbezwomgenen Gipfel
jauchzend im Ansturm zu nehmen. Auch in dem Erklimmen neuer
Wirtschaftsstufen ist das lebhafte Temperament der führenden
Persönlichkeiten ein wertvoller Bestandteil des Vorwärtskommens.
Er gibt die Richtung an, und Tausende folgen, bleiben auch
manche zurück und sinken andere erschöpft zu Boden. Wie in der
organischen Naturwissenschaft Mutationen, sprunghafte .Neue-
rungen für die Entwicklung glaubhaft gemacht worden sind, so
hat sich im letzten Jahrhundert durch die großen Aufschwungs-
zeiten das Niveau der Volkswirtschaften gehoben. Es wurde nach
dem Umschlag in der Hauptsache behauptet, und jeder folgende
VI. Die Wirtschaftskrise von 1857. ig 5
Kreislauf setzte ungefähr auf der vorher gewonnenen Höhe ein.
Nur nach der Krise von 1873 kann dies nicht voll gelten, da die
Niedergangsperiode zu lange, mehr als 6 Jahre, andauerte.
Die kapitalistisch-industriellen Zyklen in dem angegebenen
Sinne lassen sich an der Steinkohlenerzeugung mit Genauigkeit
verfolgen. Die Durchschnittswerte sinken, nach K. Fle-
gel, von der Krise bis zum Anfang der sechziger Jahre, dann
folgt ein erstes Steigen bis 1868, im Anschluß daran ein zweites
rascheres bis 1873. Nun ein jäher Sturz bis zum Tiefpunkt von
1879. Der Niedergang ist zu Ende, ein Zustand der gleichmäßigen
Ruhe reicht bis 1888. Jetzt ein Steigen bis 1890, ein neuer Rück-
gang bis 1894. Eine starke Erhöhung vollzieht sich weiter bis
1901, dann ein Umschwung bis 1904, ein Emporschnellen bis 1908,
weiter eine gegenteilige Bewegung, endlich von 19 10 — 191 2
wiederum die nach oben gerichtete Tendenz. Die Konjunktur der
ganzen Volkswirtschaft findet in diesen Jahreszahlen der Kohlen-
werte einen zutreffenden Ausdruck, da sich die Kohle mit allem
Produzieren solidarisch unter Voraussetzung des Eisenbahn-, Dampf-
schiff- und Dampfmaschinenwesens verhält. Der höchste Stand
ist 1873 nach 10 jähriger Aufwärtsbewegung. Nach dem tiefen
Punkt von 1879 setzt ein stufenmäßiges Steigen mit nicht zu be-
deutenden Rückschlägen ein, bis 191 2 fast die Preishöhe von 1873
wieder gewonnen ist. Anders ist es mit den Produktions-
ziffern. Diese zeigen durch alle Konjunkturschwankungen hin-
durch eine Zunahme, die nur einmal nach der Krise von 1873
unterbrochen wird:
Tausend Tonnen
1860 12347,8 1880 46973.6 1900 109225,0
1865 21794,7 1885 58320,4 1905 121298,6
1870 26397,8 1890 78237,8 1910 152827,8
1875 37436,4 1895 79169,2 1912 174875.3
Die Konjunktur spielt sich in der Bewegung der Preise ab,
die produktive Bewegung des Ganzen veranschaulichen die Tonnen-
zahlen. Die privatwirtschaftlichen Schäden mit ihrem großen Ge-
schrei übertönen die Produktivzahlen der Volkswirtschaft, die dem
sozialen Ganzen das Wichtigste sind.
Plat auch die deutsche Industrie in der hier geschilderten
Periode noch manche ihrer Einrichtungen und Methoden aus dem
Auslande bezogen, kein Zweifel, sie konnte sich weit mehr als in
der vorausgehenden auf technische Neuerungen stützen, die im
eigenen Lande gemacht worden waren. Ein Stand tüchtiger Unter-
nehmer, die Erfinder oder Organisatoren waren, erglänzt in be-
Iq6 IV- Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848— 187 1.
rühmten Namen. Borsigs Lokomotivenfabrik galt 1859 als die
größte der Erde. 1837 beschäftigte sie 50, 1866 1600 Personen
und fertigte auch Dampfmaschinen zu anderen Zwecken als für
die Bahnen an. Richard Hartmann wanderte als beschei-
dener Zeugschmiedgeselle am Anfang der dreißiger Jahre in
Chemnitz mit zwei Talern in der Tasche ein. Nach einigen Jahren
begann er dort ein Geschäft, das sich in weiteren zwanzig über
2000 Arbeiter und 40 Gebäude erstreckte. Lokomotiv- und Tender-
bau war seine Hauptaufgabe, mit der er ein Nebenbuhler Borsigs
wurde. 1858 war die 100. Lokomotive fertiggestellt. Maschinen
der verschiedensten Art gingen in der Folgezeit aus den Werken
hervor, 1866 wurde für sie eine Fabrik mit dem Aufwände von
3 Millionen M. gebaut, die vor allem der Textilindustrie lieferte.
Alfred Krupp hat 185 1 704 Angestellte und Arbeiter im
Dienst, 1861 2000, 1873 16000. In den fünfziger Jahren erfolgte
die Erweiterung der Fabrikanlagen durch das große Walzwerk,
das neue Hammerwerk, die Puddel- und Schweißwerke, die me-
chanische Werkstatt, 1861 schließen sich das Bessemerwerk und
die Geschützfabrikation im großen, 1869 das Martinwerk an.
1864/65 werden Eisengruben angekauft und eigene Hochöfen auf-
geführt. Die soziale Fürsorge verbindet sich mit dem finanziellen
Erfolg. 1861 errichtet die Firma die ersten Meisterwohnungen,
1863 die Arbeiterkolonie Altwestend mit 160 Wohnungen, 1874 sind
bereits 3270 Familienwohnungen bezogen.
Andere bekannte Großindustrielle sind Friedrich Har-
kort in Wetter (Kupfer-, Leder-, Maschinenwerke), N. Dreyse
in Sömmerda (Gewehrfabrik), Ludwig Löwe in Berlin (Waffen-,,
Munitions-, Werkzeugfabriken), Ch. Zimmermann in Apolda
(Wollfabrik), A. Lange in Glashütte, Sachsen (Uhrenfabrik),
K. B. Sondermann und K. H. Stier in Chemnitz (Werkzeug-
maschinen), Georg Egestorff in Hannover (Zuckerraffinerie,
Eisengießerei, Zündhütchenfabrik, chemische Produkte), J. L.
Faber in Nürnberg (Bleistifte), G. E. K eßler in Eßlingen und
Burgeff & Co. in Hochheim (Schaumweine), G. Sedlmayer
und Pschorr in München (Bier), Thorbecke in Mannheim
(Zigarren), Flinsch in Blankenburg und C. Fr. Fischer in
Bautzen (Papier).
Es sind dies nur einige Beispiele, von denen galt, was
Werner v. Siemens über die damalige Zeit später nieder-
schrieb, „daß ein junger Mann auch ohne ererbte Mittel und ein-
flußreiche Gönner, ja sogar ohne richtige Vorbildung, allein durch
eigene Arbeit sich emporschwingen und Nützliches leisten kann".
VI. Die Wirtschaftskrise von 1857. igy
Die Firma Siemens & Halske in Berlin wurde eine Groß-
unternehmung mit Filialen in London und Petersburg, die später
selbständig gemacht wurden, um das Risiko zu teilen, ferner in
Tiflis und Wien. Die fünf Brüder, von denen Werner in Berlin,
Carl in Rußland, Wilhelm in England lebten, wurden durch die
Anlage von Landtelegraphen und Seekabeln, durch die Anferti-
gung elektrischer Apparate zu einer internationalen Berühmtheit.
Sie ergänzen sich in wissenschaftlicher, technischer und kaufmän-
nischer Begabung und waren darin einig, die zahlreichen Ange-
stellten durch Tantiemen an den Ergebnissen des Geschäfts zu
interessieren und auch mit den Arbeitern durch Alters-, Invaliden-,
Witwen- und Waisenkassen ein gutes Verhältnis anzubahnen.
Werner Siemens bemerkt in seiner Biographie, wie der in allen
Teilnehmern und Mitarbeitern erzeugte Korpsgeist einen großen
Teil der geschäftlichen Erfolge erkläre, setzt indessen hinzu, daß
die persönliche Initiative bei allen Neuerungen der nervus rerum
gewesen sei. Wie unwahr erscheint uns, wenn wir die Lebensläufe
solcher Männer kennen lernen, die öde Wert- und Mehrwerttheorie,
nach der die Schöpfer allen Reichtums die Handarbeiter allein
sein sollen. Wie eng ist die Wirtschaftsgeschichte eines Volkes
mit der Befähigung führender Männer verknüpft, und wie ver-
mittelt die persönliche Auslese des Geistes und des Charakters
den dauernden Erfolg!
Die erste große Krise, die Deutschland heimsuchte, hatte frei-
lich auch erwiesen, daß da, wo viel Licht ist, auch die tiefen
Schatten nicht fehlen. In großen, mittleren und kleineren Unter-
nehmen gab es Leute, die im Strome mitzuschwimmen verstanden
und. rücksichtslos nur ihren Gewinn ergatterten. Agiotagebetriebe,
Erregung zum Börsenspiel, unlauterer Wettbewerb, gewandter
Massenbetrug beim Effektenhandel werden genannt, um die Zeit
des gewaltigen Vordringens herabzusetzen. Die Schuldigen waren
eine ganz andere Klasse von Menschen als jene genialen Schöpfer
neuer Produktionszweige. Es waren Werte und Ideen vertreibende
und verteilende Spekulanten, schnell rechnende, auf den eigenen
Vorteil allein eingestellte Köpfe. Auch sie versuchten an der
Drehung des großen volkswirtschaftlichen Schwungrades mitzu-
helfen, durch rasche Kapitalverschiebungen, Neugründungen, Auf-
lösung veralteter Einrichtungen und ökonomischer Anschauungen
und taten es zuweilen auch mit Erfolg. Hätten sie mehr Gewissen,
mehr Takt besessen, sie würden sich den Namen der Profitmacher
um jeden Preis haben ersparen können.
Deutschland war bis zur Mitte des Jahrhunderts hinter Eng-
land und Frankreich im inneren und äußeren Verkehr weit zu-
igS IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
rückgeblieben. Jetzt hatte es angefangen, seine starken Glieder
machtvoll zu recken. Ungelenk war es in der Bewegung, und die
Nachbarn unterschätzten es daher. Es hatte noch zu lernen, wie
man im Auslande sich zu verhalten habe, wie im Inlande der er-
worbene Reichtum in den Dienst der Gesamtheit zu stellen und
wie dem Leben Eleganz und Vertiefung beizulegen sei. Die künst-
lerische und sozialwissenschaftliche Literatur jener Tage brachte
die Mängel der Zeit höchst bescheiden zum Ausdruck, und wenn
es geschah, so fand sie nur wenig Beachtung.
VII. Arbeiterfrage und Sozialdemokratie. Die
neue Industrie hatte große Menschenmengen zusammengezogen,
eine neue Klasse nur von ihrer Handarbeit lebender Leute, die
Proletarier, mit ihrem damals großen Familiennachwuchs und mit
einem ihr ergebenen Anhang von Wirten, Saalbesitzern, Klein-
kaufleuten und Wohnungs Vermietern. Ihr Hauptsitz waren die
rasch anschwellenden Großstädte, in denen sich die nach Rassen
und Volksstämmen bunte Masse zusammendrängte und durch
Heirat untereinander eine Mischbevölkerung bildete, die ihrer
Natur nach dem Gleichheitsideal außerordentlich zugänglich war.
Die Arbeiter wurden durchschnittlich nicht gut und dazu der
Konjunktur gemäß ungleichmäßig bezahlt, die Arbeitszeit war lang,
für Kranke und Invalide wurde in der Regel schlecht gesorgt, in-
dem sie der kümmerlichen und entwürdigenden Armenunter-
stützung anheimfielen, die Wohnungen waren eng und unsauber
und leisteten jeder Art der Unsittlichkeit Vorschub. Sobald diese
Masse Verständnis für ihre Lage und Gesamtempfinden gewann,
konnte sie daher zunächst nicht anders als rein materielle Lebens-
ziele anstreben, so daß den Zeitgenossen diese soziale Frage allein
als „eine Magenfrage" erschien.
Von den mittleren Arbeitgebern — auf die genialen Spitzen
der Klasse ist im vorigen Abschnitt hingewiesen — waren manche
aus dem Handwerkerstande hervorgegangen, weshalb in Frankreich
Lamartine die gleiche Spezies Amphibien zwischen Proletariat
und Bourgeoisie genannt hatte. Sie blieben in Manieren und
Sitten ungehobelt, in der Lebensanschauung der Pflichtenlehre
beschränkt und glaubten von jedem ihrer Leute so viel erlangen zu
können, als sie selbst als Ausnahme- und Kraftnaturen geleistet
hatten. Der Emporkömmling dieser Art ist ein unduldsamer Herr,
aber der soziale Fortschritt muß ihn als positiven Bestandteil der
Auslese mit in den Kauf nehmen. In den industriellen Kapitalge-
sellschaften schalteten und walteten damals solche Direktoren, die
fast ausschließlich nach ihrem technischen Können ausgewählt
waren. Eine charaktervoll gebildete, pflichtbewußte Schicht dieser
VII. Arbeiterfrage und Sozialdemokratie. Igg
Leute bestand noch nicht. Der Verkehr mit den Arbeitern war oft
gewissenlosen Werkstättenvorstehern, Meistern anvertraut, die nur
auf Zufriedenstellung nach oben hinschielten, die Unterstellten
schikanierten und nach Belieben fortjagten. Unter den Arbeitern
gibt es viel rohe Elemente, Schlägerei ist an der Tagesordnung;^
Bier und Schnaps lassen den Verdienst der guten Zeiten rasch
hinschwinden. Die Obrigkeit hat kein anderes Bedürfnis, als Ruhe
im Lande. Wer nicht pariert, wird vom Gendarm gefaßt, ins Loch
gesteckt, wo er sich mit Ungeziefer und Verbrechern herumplagen
mag, bis er abgeschoben wird.
Die Zeiten der werdenden Großindustrie zeigen keine freund-
lichen Seiten. Die Gebräuche, Feste und Aufzüge, die den Zünften
ehemals Glanz verliehen hatten, waren weggefegt, höchstens blie-
ben noch inhaltslose Formalitäten bei den wandernden Gesellen
und in dem Herbergswesen übrig. Die patriarchalischen Bezie-
hungen in der Heimarbeit waren aufgelöst, die brutale Konkurrenz
tritt den zu Boden, der sich nicht zu behaupten vermag.
Doch soll man diese Periode deutscher Sozialgeschichte nicht
schlechter machen als sie war. Man lese die Denkwürdigkeiten
und Erinnerungen des Arbeiters Carl Fischer, wenn man sich
ein objektives Bild ohne gewollte Schwarzmalerei späterer sozia-
listischer Agitatoren machen will. In dem deutschen Volke steckt
ein guter Kern, der eine Gewähr für eine bessere Zukunft dar-
bietet. Der gesunde Menschenverstand kommt immer wieder oben
auf, Gutmütigkeit und Kameradschaftlichkeit sind nicht ausge-
storben. Fleißig muß man sein, und für Nachlässigkeit gibt es
keine Entschuldigung, weder bei Vorgesetzten noch bei Gleichge-
stellten. Die Leute, die technisch etwas verstehen, werden ebenso
geachtet als die, die auf stramme Disziplin halten. Was billig und
recht ist, wird aus der Lage der Verhältnisse beurteilt, noch nicht
aus einem abstrakten Dogma einer unwahren Ausbeutungstheorie.
Es sind die Anfänge der Arbeiterbewegung aus dem Jahre
1848 erzählt worden. Einige zunächst noch fortbestehende Hand-
werker- und Bildungsvereine, die gewerkschaftliche Ziele ver-
folgten, wurden aufgelöst. Die Politik mußte der Arbeiterschaft
um so ferner liegen, als das radikale Bürgertum sich auch von ihr
ganz zurückgezogen hatte. Die Geschäftsstockung von 1857 mit
ihrer Arbeitslosigkeit hat höchstens in der Theorie die kommenden
Arbeiterforderungen beeinflußt, die erst in der Zeit des belebten
Geschäfts erhoben wurden, als der Niedergang schon in der Praxis
vergessen war, und idealistischen Motiven entsprungen waren, die
sich aus dem allgemeinen sozialen Milieu der letzten Jahrzehnte,
nicht aus dem Notstand einiger Monate, ableiten ließen.
200 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
Die Arbeiterbewegung der sechziger Jahre knüpft sich an
Ferdinand Lassalle an, geboren 1825 als Sohn eines wohl-
habenden jüdischen Handelsmannes zu Breslau. Er hatte sich in
der gebildeten Welt als Historiker der Philosophie (Philosophie
Herakleitos des Dunkeln 1857) und Rechtsphilosoph (System der
erworbenen Rechte 1861) einen Namen gemacht und durch sein
extravagantes Leben seit 1848 Stoff zu Kommentaren und Klatsch
geliefert: den Scheidungsprozeß der Gräfin Sofie vonHatz-
feld, den er 8 Jahre mit Erfolg führte, die Anklage wegen eines
Kassettendiebstahls in der gleichen Sache, von der er freige-
sprochen wurde, die Aufreizung der Düsseldorfer Bürger zu be-
waffnetem Widerstand gegen den Staat, die Widersetzlichkeit gegen
Beamte im Revolutionsjahr, die ihm 6 Monate Gefängnis brachte,
nachdem er gegen die Begnadigung, die A. v. Humboldt ver-
mitteln wollte, protestiert hatte.
Als Anhänger Hegels sieht er in allen Rechtseinrichtungen
geschichtliche Verwirklichungen von Geistesbegriffen. Da diese in
der ewigen dialektischen Bewegung sich ändern, so sind auch
jene relative Kategorien, die abzutreten haben, wenn sie der Idee
der Zeit nicht mehr entsprechen. In einem Vortrag „Über den
besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode
mit der Idee des Arbeiterstandes" sucht er im Anschluß an seine
Grundauffassung den Nachweis zu führen, daß die Revolution von
1789 die Bourgeoisie, die von 1848 den vierten Stand zur herr-
schenden Stellung im Staate berufen habe, der jetzt zu vollenden
habe, was durch die Natur der Geschichte bereits gegeben sei.
In Konflikt mit der preußischen Regierung gebracht, veröffentlicht
er zwei Verteidigungsreden über „Die indirekte Steuer" und „Die
Wissenschaft und die Arbeiter". Hier soll nachgewiesen werden,
daß die Steuerlast von den kleinen Leuten wesentlich getragen
werde, und daß nur zwei Kräfte in der modernen Gesellschaft
frisch und gesund geblieben seien, die Wissenschaft und die Ar-
beiter, die eine Verbindung untereinander eingehen sollen, um das
europäische Leben zu reformieren. In Deutschland will Lassalle
das Bindeglied zwischen beiden sein.
Es blieb ihm kein anderer Weg als der agitatorische Radika-
lismus, wenn er zu Ansehen gelangen wollte, nachdem ihn die
preußische Fortschrittspartei, deren Führer mit ihrem demokra-
tischen Herdeninstinkt seine überlegene Persönlichkeit abgelehnt
hatten, und da er im damaligen Staatsdienst als Jude keine her-
vorragende Rolle spielen konnte.
Von einem Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen
deutschen Arbeiterkongresses aufgefordert, sich darüber auszu-
VII. Arbeiterfrage und Sozialdemokratie. 20I
sprechen, wie dem Arbeiterstande zu helfen sei, gab er mit einem
„Offenen Antwortschreiben", in dessen Veröffentlichung die
Sozialdemokratie in Deutschland ihre Geburtsstunde feiert, Be-
scheid. Die wissenschafthche und praktisch-ökonomische Voraus-
setzung des Programms, das sogenannte eherne Lohngesetz und
die geplante Reform, die Produktivgenossenschaft mit Staatskredit,,
waren zwei Schlagworte, die den Arbeitern leicht verständlich
waren. Das historisch Dauerhafte des Programms war der Hin-
weis der Arbeiter auf die Erkämpfung der poHtischen Macht im
bestehenden Staate mittels des allgemeinen und gleichen Wahl-
rechts. Eine demokratische Staatsverfassung sollte der Arbeiter-
schaft die Möglichkeit geben, in friedhcher und legaler Weise
soziale Änderungen zu ihren Gunsten durchzusetzen. Die Arbeiter
fingen damals an, je mehr sie das Andenken an frühere, anders-
artige Beschäftigung vergaßen, gemeinsame soziale Bedürfnisse
zu fühlen, zuerst in derselben Fabrik, dann am selben Ort, dann
im Staate, so daß ein leicht faßbares, zielbewußtes Wort auf
fruchtbaren Boden fiel. Daß Lassalle auf den bestehenden
Staat hinwies, entsprach seiner Hegel sehen Geschichtsauffas-
sung. Zugleich war der Gedanke für Deutschland passend. Der
Staat hatte als absolute Monarchie und bei der Durchführung der
liberalen Ordnung Hervorragendes geleistet, und die Kleinstaaterei
brachte den gewöhnlichen Mann mit der Beamtenschaft in persön-
liche Berührung, so daß er sich etwas Reales unter dem Staats-
begriff vorstellen konnte. In England und Nordamerika fand die
Arbeiterbewegung von Anfang an ihren Schwerpunkt im Vereins-
wesen. Man hat es auch nach Deutschland verpflanzt, und es mag
später den Arbeitern manches genützt haben. Die Staatshilfe ist
aber leistungsfähiger als die Selbsthilfe geblieben, weil sie eine
tiefe historische Wurzel hatte, wenn auch erst noch zwei Jahr-
zehnte vergehen sollten, bis die richtigen Formen gefunden wurden.
Die nächste Folge des Antwortschreibens war die Gründung
des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins am 13.
Mai 1863 mit dem Sitz in Leipzig, eines Werbeverbandes zur Er-
strebung des genannten Wahlrechts. Lassalle wurde zum Präsi-
denten gewählt. Er hatte gehofft, in kurzer Zeit über 100 000 An-
hänger zu verfügen, aber bei seinem Tode, der infolge einer Liebes-
affäre im Duell schon 1864 erfolgte, zählte der Verein erst 4610
eingeschriebene MitgHeder. Dennoch hatte die Sache ungeheures-
Aufsehen gemacht, da ihr Führer der Mann gewesen war, sie und
sich durch Reden und Schriften stets von neuem in Erinnerung zu
bringen. In den nächsten Jahren machte der Verein infolge innerer
Streitigkeiten und bei unfähiger Leitung nur wenig Fortschritte,,
202 rV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
erst unter von Schweitzers gewandter Politik ging es vor-
wärts, 1867 hatte die Sozialdemokratie zwei Vertreter in ' den
Reichstag des Norddeutschen Bundes entsandt. Der Krieg von
1870 — 1871 und die nationale Begeisterung nahmen zeitweise dem
Klassenkampf den Wind aus den Segeln. Die 1873 einsetzende
Wirtschaftsstockung führte dem Verein zwar wieder neue Mit-
glieder zu, und 1874 gewannen die Lassallener drei Reichstags-
sitze, aber bei dem damaligen Mangel an tüchtiger Führung und
bei der Unfähigkeit, das Programm fortzubilden, unterlag die
ganze Richtung der zielbewußten Tätigkeit des Marxismus und
wurde 1875 i^i Gotha auf dem Einigungskongreß von der hier be-
gründeten sozialistischen Arbeiterpartei aufgesogen.
Nach alledem, was wir über die Persönlichkeit Lassalles
aus reicher Literatur zuverlässig wissen, war er ein politischer
Kopf, der eine demokratische Arbeiterbewegung in großem Stile
zu entflammen imstande gewesen wäre, wenn dabei seine Eitelkeit
ihre Rechnung gefunden hätte. Es fehlte ihm der innere Zwang
der Genialität, der ein großes Werk, das ihr alles ist, schaffen
will, losgelöst von persönlichen Wünschen des Ehrgeizes. Von
seiner mit orientalischem bunten Luxus ausstaffierten Berliner
Wohnung aus, in der Bellevuestraße, diktierte er, in materieller
Üppigkeit dahinlebend, ein Dekadent und geistiger Roue, den Ar-
beitern mit schwieligen Fäusten und den hungernden Proletariern
die Parolen, um den Reichtum zu zerstören, den er nicht missen
konnte und wollte. Doch bleibt sein Verdienst um die deutsche
Arbeitersache bestehen, so sehr seine theoretischen Stützpunkte
auch hinfällig wurden, weil sie an inneren Widersprüchen krankten.
Die wachsende Partei der Lohnempfänger mußte die Aufmerksam-
keit der Nation immer von neuem auf deren soziale Ansprüche
lenken, die vom Standpunkt des Ganzen von den leitenden Staats-
männern jedenfalls als teilweise berechtigt anerkannt wurden.
Von Schweitzer hatte im August 1868 in der Generalver-
sammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Hamburg
die Gründung von Gewerkschaften durchgesetzt, die, wenn auch
nur von geringer Mitgliederzahl, in einen Bund zusammengefaßt
wurden. Auch die Fortschrittspartei, die damals noch die Arbeiter
zu sich heranzuziehen hoffte, war konkurrierend hervorgetreten
und schuf die Hirsch-Duncker sehen Gewerkvereine, die den
englischen nachgebildet werden sollten, sich aber von ihnen inso-
weit unterschieden, als sie in politischer Abhängigkeit verharrten,
was auch von den christlich-sozialen Arbeitervereinen galt, die von
den Ultramontanen der Richtung von Ketteier 1869 ins Leben
gerufen wurden. Auch die deutschen Anhänger der sogleich zu
VII. Arbeiterfrage und Sozialdemokratie. 203
besprechenden Internationalen Arbeiter-Assoziation
beteiligten sich an der Gewerkschaftsgründung. Sie wollten eben-
falls in ihr keinen Selbstzweck sehen, von dem sie fürchteten, daß
er in seiner Verwirklichung zu einer konservativen Arbeiter-
bewegung führen würde.
Diese Gewerkschaften waren an erster Stelle als Agitations-
vereine des kommunistischen Radikalismus gedacht und wurden
es auch, bis sie das Sozialistengesetz auflöste.
Wir sind K. Marx schon 1848 begegnet. Aus Deutschland
vertrieben, hielt er in London den Bund der Kommunisten noch
einige Zeit zusammen, der sich durch Adressen und Flugblätter
für die baldigst zu erwartende neue Revolution vorbereitete und,
als diese nicht kam, in Kliquen zerfiel. Marx vertiefte sich ganz
in die nationalökonomische Literatur aller Länder und Zeiten, die
in der reichen Bibliothek des britischen Museums angehäuft ist.
Die erste Frucht war das 1859 erscheinende Heft „Zur Kritik der
politischen Ökonomie", eine Wert- und Geldlehre, die eine Vor-
arbeit des 1867 veröffentlichten ersten Bandes „Das Kapital", der
theoretischen Hauptleistung seines Lebens, war. Die beiden fol-
genden Bände, zu deren Fertigstellung die erschöpfte Arbeitskraft
nicht ausreichte, sind als Torso 1885 und 1894 von Engels aus
dem Nachlaß herausgegeben worden.
1864 tritt Marx als Propagandist des Kommunismus wieder
in das öffentliche Leben, als auf sein Betreiben die Internationale
Arbeiter-Assoziation begründet wurde, die alle fortgeschrittenen
Länder Europas und Amerikas umfassen sollte. Ihr Sinn war, die
Köpfe der Proletarier zu revolutionieren, die „kapitalistische" Ge-
sellschaft kritisch zu vernichten, Staat und Nation in eine inter-
nationale Gesellschaft aufzulösen und den Glauben an eine künftige
gemeinsame Verwaltung aller Produktionsmittel durch die Arbeiter
und an die Verteilung des Arbeitsertrags nach einem gerechten
Maßstab zu erwecken. Obwohl der Verband nicht viele Mitglieder
gezählt hat und schon 1872 an den nationalen Tatsachen der Länder
und den Sonderauffassungen ihrer revolutionären Führer scheiterte,
so hat er doch den Erfolg gehabt, daß der Marxismus überall dort
eingezogen ist, wo eine unzufriedene industrielle Arbeiterschaft
fähig war, in die Opposition gegen die bestehenden Zustände ein-
zutreten. Marx war kein Politiker wie Lassalle, und der Auf-
bau der sozialdemokratischen Parteien in den verschiedenen Län-
dern ist das Werk anderer positiv organisierenden Personen ge-
wesen. Ein herostratischer Zug ist ihm eigen, da es ihm gleich-
gültig ist, ob das „erbärmliche Europa" früher oder später zu-
grunde geht. Er hat die Petarden geliefert, die von anderen gelegt
20A IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
wurden. Seinen Mißerfolg in politischer Hinsicht mochte er um so
schwerer verwinden, als „der gefährlichste persönlichste Ehrgeiz,
der in ihm alles Gute zerfressen hatte", wie sich 1850 ein Anhänger
seiner Sache, der Offizier von Techow, ausdrückte, nicht auf
seine Rechnung gekommen war. Seine herrschsüchtige Gehässig-
keit, mit der andere revolutionäre Größen von ihm verspottet und
beschimpft wurden, wie Weitling, Sigel, Mazzini, Baku-
nin. Lassalle, scheint diesem Urteil recht zu geben. Der
letzerte war schon in einer Anmerkung des Vorworts des „Kapitals"
wegwerfend abgekanzelt und in einer Kritik des Gothaer Pro-
gramms der deutschen Sozialisten später wiederum lächerlich ge-
macht worden, obwohl damit dem eigenen Lebenswerk mehr ge-
schadet als genützt werden mußte.
Die Marxsche Lebensarbeit ist in der Hauptsache Negation
gewesen. Wird doch „Das Kapital" als Kritik der politischen
Ökonomie bezeichnet, und kam es darauf an, neben der bestehenden
Wirtschaftsordnung die geltenden Kulturwerte Staat, Nation,
Kirche, Ehe zu durchlöchern, um die historisch gewordene Gesell-
schaft über den Haufen werfen zu können. Unfruchtbarkeit im
Positiven, internationales Gefühl, Aufwiegelung der Massen lassen
Eigenschaften eines Geistes erkennen, die unter den Intellektuellen
des unter den Völkern der Erde versprengten, in der Abwehr be-
griffenen, unterdrückten und zugleich machthungerigen Judentums
angetroffen werden. Das „Kapital" ist jedem, der dem Buche
objektiv gegenübersteht, trotz aller seiner einseitigen Abstraktionen.
eine Fundgrube wertvoller Erörterungen, die der nationalökono-
mischen Wissenschaft von dauerndem Nutzen gewesen sind. Den-
noch muß man sagen, daß das System als Ganzes verfehlt ,ist.
Es ist auch keine historische Leistung im eigentlichen Sinne. Viel-
mehr liegen ihm erdachte Formeln zugrunde, denen die Wirklich-
keiten der Geschichte wohl oder übel angepaßt werden. Es ent-
hält Nachklänge der Hegeischen Philosophie, deren Mecha-
nismus unzart von dem ideellen auf das materielle Gebiet über-
tragen worden ist. Aber während Hegel hoch über den Interessen
des Tages stehen wollte und daher von allen Parteien reklamiert
wurde, ist das Marx sehe Werk von einem glühenden Haß durch-
tränkt gegen alles, was in seiner Zeit Macht und Ansehen besaß.
Dazu kommt, daß seine Gedankenwelt in eine Wertlehre einge-
zwängt ist, die den subjektiven Tatsachen der ökonomischen
Realität nicht entspricht, sondern im günstigsten Falle als ein
vorläufiges Schema zur Erläuterung von Einzelerscheinungen
gelten kann. So gleicht die Marx sehe Wissenschaft einer
auf schwachem Untergrund stehenden, weiträumigen, provisori-
VII. Arbeiterfrage und Sozialdemokratie. 20^
sehen, von außen mit massiven Formen übermalten Halle, in der
manche schöne Sachen ausgestellt worden sind. Nach dem Aus-
stellungsjahr wird sie abgerissen, und die Kunstgegenstände ver-
teilen sich über alle Welt. Das schließt aber nicht aus, daß man-
cher, der sich die Einzelheiten angesehen hat, befriedigt nach Hause
gegangen ist und wirksame Anregungen mitgenommen hat.
Die Theorie des Werts, des Mehrwerts, des Lohns, der zu-
nehmenden Verelendung der Massen, die Konzentration des Eigen-
tums in wenigen Händen haben die Probe auf die Geschichte der
folgenden 50 Jahre nicht bestanden. Die Arbeiterklasse ist viel-
mehr als ganze gehoben, die Arbeitszeit ist abgekürzt worden, die
Löhne sind gestiegen. Das Kapital hat sich nicht in den Händen
weniger zusammengeballt, sondern ist als Eigentumsgröße verteilt
geblieben, wenn auch die industriellen Betriebe stark gewachsen
sind. Die Wirtschaftskrisen sind durch Planmäßigkeit der Kartell-
produktion, durch Handeln nach der Erfahrung früherer Vorgänge,
durch staatliches Eingreifen gemildert worden. Von einem Ab-
sterben des Staates, das Engels prophezeite, ist nichts zu merken.
Vielmehr sind dem Staate immer neue Aufgaben des menschlichen
Zusammenlebens zugewiesen worden. Der Entwicklungsgang der
„Emanzipation des vierten Standes" hat sich im demokratischen
Staate vollzogen, wie es Lassalle sich gedacht hatte. Es hat
sich ereignet, was in der Geschichte schon oft erlebt worden ist:
Zuerst wird eine aufstrebende, unterworfene Klasse sich ihrer
Zusammengehörigkeit bewußt, dann fordert sie gleiche Rechte, und
sind diese gewährt, Vorrechte, auf denen sie die alleinige Macht
aufzubauen gedenkt.
„Gebt Freiheit, nifen die Partei'n,
Mit was für Farben sie sich schmücken:
Das heißt: Gebt uns das Reich allein,
Daß wir die andern unterdrücken.
So ist es, war's und wird es sein." (E. Geibel.)
Wie das siegreiche Christentum in der antiken, das Bürgertum
in der feudalen Gesellschaft sich mäßigen mußten, um das Er-
kämpfte zu behaupten, so wird auch ein zur Macht gelangter Sozia-
lismus die Prinzipien preisgeben, um die persönliche Gegenwart zu
retten. Das Christentum hat Staat, Gericht, Krieg, Priestertum,
Theologie, Künste, Weltlichkeit gutgeheißen, die es anfangs voll-
ständig verurteilt hatte, das Bürgertum, den Staatsbetrieb, die
Finanzmonopole, den Schutzzoll, die Zwangsgenossenschaft und
andere Freiheitsbeschränkungen, die ehedem verfehmt waren. So
wird auch eine herrschende Sozialdemokratie nimmer den Marx-
schen Kommunismus verwirklichen, sondern Armut und Reichtum,
206 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
Eigentum und Rente, Herrschaft und Luxus als etwas Notwendiges
zu behaupten wissen.
Die Betonung der wirtschaftlichen Ursächlichkeit in den ge-
schichtlichen Zuständen und Ereignissen ist ein Verdienst von
Marx, da diese Richtung bisher kaum gewürdigt war. Allein
diese sogenannte materialistische, richtiger ökonomische Ge-
schichtsauffassung zum Schlüssel von allem Geschehen zu machen,
woran sich auch eifrige Marxisten wiederholt versucht haben, blieb
eine Einseitigkeit, die man höchstens zu den praktischen Zwecken
der Parteipolitik festhalten konnte. Auch der aufgestellte Gegen-
satz der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu derjenigen, , in
welcher das Produzieren und Austauschen unmittelbar dem Ver-
brauch dient, also nicht durch die Durchgangsstufe des Gewinns
vermittelt wird, hat neue Einsichten in die Gegenwart und Ver-
gangenheit gewährt, solange man sich dessen eingedenk bleibt,
daß dieser Kapitalismus nicht eine allbeherrschende Naturgewalt
ist, sondern ein Werkzeug des ökonomischen Vorankommens, das
die Menschen je nach ihrer Beschaffenheit zu handhaben ver-
mögen, die das eigentliche Aktive in der Geschichte ist.
Anders als vom Standpunkt der Wissenschaft hat das
„Kapital' ' als eindringliches Werbebuch der Sozialdemo-
kratie gewirkt. Der kampfbegeisterten Führerschaft war es eine
Bibel, aus der sie alle Sätze und Wendungen herausholte, die im
Klassenkampf brauchbar waren. Es ist besonders für die siebziger
und achtziger Jahre ein gewaltiges Arsenal geschärfter und ver-
gifteter Waffen gewesen, das schier unerschöpflich war, eine
Mobilmachungsvorbereitung zielbewußtester Art.
Vermittelt und mundgerecht gemacht wurde der agitatorische
Marxismus den deutschen Arbeitern durch zwei Männer, W. Lieb-
knecht und A. B e b e 1. Der erstere war ein Fanatiker des
Kommunismus, sein Leben war ein gutgläubiger, haßerfüllter
Kampf gegen die vorhandenen Mächte in Staat und Gesellschaft.
Der andere, aus dem Handwerkerstand hervorgegangen, fand
immer für die Massen das richtige Wort, er wußte, wo dem ge-
wöhnlichen Mann der Schuh drückt. Fähig, Organisationen zu
schaffen, parlamentarisch begabt, blieb er eine geistig freie Per-
sönlichkeit, an die Doktrin nicht so gefesselt wie sein in Leiden-
schaft aufbegehrender Mitarbeiter. Den Verband deutscher Ar-
beitervereine, der 1863 von dem Liberalismus gegen Lassalle
geschaffen wurde, zog Bebel ganz in das sozialistische Netz.
1869 wurde auf dem Kongreß zu Eisenach aus diesem Verband die
sozialdemokratische Arbeiterpartei, die die Internationale aner-
kannte, einen demokratischen Volksstaat verlangte, der an Stelle
VII. Arbeiterfrage uud Sozialdemokratie. 207
der Lohnarbeit „die genossenschaftliche Arbeit mit dem vollen
Arbeitsertrag für jeden Arbeiter" setzen soll. 1871 wurden 120 108
Stimmen für den Sozialismus überhaupt abgegeben, 1874 beinahe
400000 und 10 Abgeordnete gewählt, darunter die genannten
Führer der extremen Richtung. Im folgenden Jahre brachte der
schon erwähnte Einigungskongreß mit den Lassalleanern zu Gotha
ein Programm, das bis 1891 seine Gültigkeit bewahrt hat. Der
Ausgleich beider Gruppen wurde darin gefunden, erstens, daß als
letztes Ziel die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut .der
Gesellschaft, als näheres hingegen Produktivgenossenschaften für
Industrie und Ackerbau mit Staatshilfe unter demokratischer Kon-
trolle des Volkes verlangt werden; zweitens, daß die sozialistische
Gesellschaft mit allen gesetzlichen Mitteln erkämpft werden soll,
also auch mit Gewerkschaften, daß jedoch auf die politische Tätig-
keit das Hauptgewicht gelegt wird.
Marx hat dieses Programm aufs schärfste gegeißelt und
bewies damit, daß ihm die Politik als die Kunst des möglichst Er-
reichbaren nicht lag. Das Gothaer Programm erschien seiner
abstrakten Denkweise als ein Wirrwarr, mit dem seine Schüler ;der
Praxis, die an kleine Interessen, hergebrachte Meinungen und
Personen gebunden sind, ohne Bedenken fertig wurden. Keiner
von ihnen hat die Theorie nur um einen Schritt weiter gebracht,,
aber viele haben mit ihren Reden die Arbeiterstimmen für den
Reichstag vermehrt. Die gemäßigten sozialistischen Schriftsteller
der nächsten Generation, die sich Revisionisten nannten, haben das
Unrealistische des Marxismus, indem sie sich der Argumente der
verhaßten bürgerlichen Nationalökonomen bedienten, sanft bei-
seite geschoben, um den Sozialismus als Theorie zu retten. Dabei
wurden sie theoretische Führer der Arbeiterdemokratie, die die
Arbeiter aufzureizen hatten und ihnen den Sozialismus als etwas
Selbstverständliches hinstellten, den man nicht mehr ökonomisch
zu rechtfertigen habe. Auch der Hunger konnte bald nicht mehr
als Triebfeder zum Umsturz in der Presse gebraucht werden, seit-
dem die Löhne in der erstarkten deutschen Volkswirtschaft rasch
stiegen. Da nun aber die Lebensbedürfnisse der Arbeiter sich
noch schneller ausweiteten, hatte der Volksredner immer ein dank-
bares Publikum, wenn er „der größten Menge das größte Glück",
bei dem sich jeder Zuhörer ein reichlicheres Genießen dachte, als
ihm gerade beschert war, versprach. So kam es, daß die M a r x -
sehe Ausbeutungstheorie ihre Gläubigen nicht verlor, obwohl die
reicher gewordene besitzende Klasse den steigenden Bedürfnis-
stand der nicht besitzenden volkswirtschaftlich anerkannte, wie ein
wohlhabendes Haus die Dienstboten besser leben läßt als ein armes.
2o8 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
Zu dieser allgemeinen Verbesserung der Lage der Lohn-
arbeiter hat die nationale Wirtschaftspolitik der achtziger Jahre
beigetragen. Aber ehe sie einsetzen konnte, hat das deutsche Volk
erst die Möglichkeit der gegenteiligen politischen Praxis an sich
erproben wollen. Das führt uns zu der Handelspolitik des Zoll-
vereins zurück, wie sie sich, in den sechziger Jahren einsetzend,
vollzogen hat. Der Lebenshaltung der Arbeiterklasse ist sie ab-
träglich gewesen, und die schlimmsten Jahre der Arbeiterbewegung
fallen mit den Folgen der verfehlten Wirtschaftspolitik in den
siebziger Jahren zusammen.
VIII. Die Freihandelsära des Zollvereins. Auf
den Generalzollkonferenzen in der zweiten Hälfte der fünfziger
Jahre standen keine umgestaltenden Dinge zur Beratung. Der
Zolltarif blieb derselbe, nur einige Verbrauchsabgaben wurden neu
geordnet. 1856 trat die freie Hansestadt Bremen mit einem Teil
ihres Gebiets dem Verein bei.
Der Verkehr mit dem Ausland war durch Bahnanschlüsse er-
leichtert worden. Das Bahnnetz zählte 1855 auf dem Gebiete des
späteren Reichs, ohne Elsaß-Lothringen, 7826 km, 1865 13900.
Die Tragfähigkeit der deutschen Handelsflotte war an Segel-
schiffen nach W. Vogel 1825 300000 Tonnen zu 1000 kg, 1850
750000 und 1875 I 650000. Die Dampfschiffe machten 1850 erst
10 000 Tonnen aus und stiegen in den nächsten 25 Jahren auf
333 000. Freilich war England gewaltig überlegen, das nach der
Aufhebung der Navigationsakte der Stapelplatz Europas geworden
war und den Seeverkehr mit Massenartikeln, wie Getreide,
Kohlen, Eisen, Baumwolle, Salpeter, an sich gezogen hatte. Nur
in der Südsee war die Hamburger Firma J. C. Godeffroy,
& Sohn bei weitem die erste Reederei und das erste Handelshaus.
Man nannte ihren Inhaber den Fürsten der Südsee, der mit kleinen
Schiffen die Verbindung unter den Inseln herstellte, mit den
größeren Asien und Amerika anlief und sie beladen nach Europa
zurückführte. 1850 verkehrten in Hongkong 10 Hamburger Schiffe
mit 4500 Tonnen, 1864 315 mit 94000.
Wie ein Krieg für Jahrzehnte wirtschaftliche Tätigkeiten
zerstören kann, hat der amerikanische im Anfang der sechziger
Jahre gezeigt. Durch Kaperei und Stillegen verschwanden die
Schiffe der Nord- und Südstaaten auf dem Ozean, und die ver-
lorene Position ist bis 19 14 nicht eingeholt worden. Die Hanse-
städte nutzten die Gelegenheit aus. Von 1860 — 70 verdreifachte
sich ihr Anteil an dem Seeverkehr mit den Vereinigten Staaten.
In Hamburg war 1847 zu diesem Zweck die Hamburg-
Amerikanische Paketfahrt-Aktiengesellschaft mit
VIII. Die Freihandelsära des Zollvereins.
209
300000 M. Grundkapital durch die Initiative des Schiffsmaklers
August Bolten und der Kauf leute und Reeder Adolf
Godeffroy, der 33 Jahre ihr Direktor gewesen ist, E. Merck,
C. Woermann und F. Laeiß errichtet worden. Die Schiffe
waren in England gebaut, 4 Segelschiffe und 2 Dampfschiffe
aus den Jahren 1848 und 1855. Der deutsche Schiffsbau folgt aber
der Flagge auf dem Meere bald nach. 1858 war das erste große
Segelschiff auf Reihersteigs Werft in Hamburg vom Stapel
gelaufen. In Bremen genießt die Schiffsbaugesellschaft von H. F.
Ulrichs nach 1870 eines begründeten Ansehens. Hier ist 1857
für den transatlantischen Verkehr der Norddeutsche Lloyd
aus der Zusammenlegung mehrerer kleiner Gesellschaften hervor-
gegangen. Dem schon erwähnten H. H.Meier, dem Vorsitzenden
des Aufsichtsrats, ist das Hauptverdienst um diese Gründung zuzu-
schreiben, und bis 1877 trägt die Gesellschaft den Stempel dieses
Mannes. Die Fäden zu erweitern, welche die Nationen überall ver-
knüpfen, war ihm ebenso am Herzen gelegen, wie daheim die
Kräfte zu beleben, die für ausländische Beziehungen von grund-
legender Bedeutung sind, sei es im Waren-, sei es im Passagier-
verkehr. Der erste langjährige Direktor war Crüsemann. Der
Lloyd brachte es 1866 auf 20000 Brutto-Registertonnen, 1875 ^^f
looooo. Hamburger Seeschiffe hatte es 1841 — 45 211 mit 39570
Brutto-Registertonnen, 1867 487 mit 183000 gegeben. Hamburg
war damals an eigenem Schiffsraum Bremen schon überlegen.
Die beiden genannten Dampferlinien nach Amerika, die uns
weiter unten noch beschäftigen werden, sind groß geworden durch
rastlose Einstellung neuer Strecken, durch technische Verbesse-
rungen des Transports, durch die Qualitätsleistung für Passagiere,
durch die Liniendampfer mit festen Routen und Ausfahrttagen
was alles in den Köpfen tatkräftiger und weitschauender Männer
zusammengefaßt wurde.
Über den Außenhandel des Zollvereins hat H. Rau folgende
Angaben gemacht:
Jahr
Wert der Einfuhr
Auf den Kopf
Wert der Ausfuhr
Auf den Kopf
in Mill. Tlr.
der Bevölkerung
in MiU. Tlr.
der Bevölkerung
1834
105,94
4.5
143.62
6,1
1842
188,67
6,7
162,94
5.8
1854
269,12
8,2
334.19
10,3
1857
354.31
10,7
354.31
10,6
1860
365,06
10,9
465,39
13.8
A.Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 14
2IO
IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
Seit 1854 ist die Steigerung der absoluten Zahl stark. Über
die Zusammensetzung des Handels gibt für 1864 Bienengräber
diese Auskunft:
Gegenstände
Einfuhr
in Vo
Ausfuhr
in7„
Verbrauchsgegenstände
Rohstoffe
26,66
38.12
22,58
9,17
1,27
22,94
15,12
9,00
51.55
1.39
Halbfabrikate und Fabrikmaterialien
Ind. Ganzfabrikate
Andere Gegenstände
Von den Verzehrungsgegenständen waren die hauptsäch-
lichsten Ausfuhrprodukte Getreide, Branntwein, Wein, Mühlen-
fabrikate; von den Fabrikaten baumwollene, wollene, seidene und
leinene W^aren, dann chemische, Eisen-, Stahl-, Holz-, Kurz- und
Glaswaren, Instrumente, fertige Kleider, Kupfer- und Messing-,
gegenstände, Papier, Steingut und Porzellan.
Diese P'ortschritte machten den damaligen Nationalökonomen
und Politikern gewaltigen Eindruck, so daß sie andauernd eine
größere Freiheit des Außenhandels befürworteten. Der Schutzzoll
habe erzieherisch seine Schuldigkeit getan, die Industrie sei der
frischen Luft des Weltverkehrs gewachsen und werde erst recht
vorankommen, wenn man zum Freihandel übergehe. England mit
seinen P^abriken, Maschinen, Verbesserungen der Lage der ge-
lernten Industriearbeitern wurde als Vorbild und seine Wirtschafts-
politik als das Ergebnis seiner weisen Theorien gepriesen. In den
zwanziger Jahren hatte die liberale Politik mit den Gesetzen
Cannings und Huskissons begonnen, wohlüberlegt war sie
von Peel von 1842 — 46 fortgesetzt und durch die Tarife Glad-
stones 1853 und 1860 vollendet worden. Man hatte zuerst die
Einfuhrverbote und die Ausfuhrzölle, dann die Rohstoff- und Lebens-
mittel-, endlich die industriellen Einfuhrzölle beseitigt. Es blieben
nur die reinen Finanzzölle, die auf wenige Hauptartikel von großer
Einträglichkeit beschränkt waren.
England im Besitz seiner Weltindustrie, seiner Welthandels-
flotte und seiner Kapital- und Geldmacht konnte eine solche Politik
wohl wagen, obwohl man es nach sechzigjähriger Erfahrung, dahin-
gestellt sein lassen mag, ob sie die richtige gewesen ist. Das
System zeichnete sich jedenfalls durch einfache und billige Ver-
waltung aus und führte zu einer weiteren Erstarkung der Industrie
durch die Verbilligung der Rohstoffe und Nahrungsmittel. Es
mußte um so erfolgreicher sein, wenn in der Konkurrenz schwächere
VIII. Die Freihandelsära des Zollvereins. 2 1 1
Länder es wiederholten, was man mittels einer logisch durch-
gebildeten Theorie und einer gewandten Diplomatie zu erreichen
suchte. Als Hauptbeweisgrund betonte man die internationale
Arbeitsteilung, indem man den Nutzen der Spezialisierung für die
Verbraucher, den A. Smith für die Nadelfabrik erkannt hatte,
auf große Reiche übertrug, das Nebeneinander von agraren und
industriellen Staaten in diesem Sinne interpretierte und jedem
Lande großmütig, aber gut berechnend, diejenige Industrie in dem
freien Weltwettbewerb auszubilden empfahl, für die es aus natür-
lichen Gründen am besten geeignet sei, obwohl für jede Industrie
die geschichtlich gegebene Entwicklungsmöglichkeit das eigentlich
Entscheidende ist. Das letzte Ziel bestand darin, den Inselstaat
als eine industrielle Stadt zu denken, die von einem agraren
Länderkreis umgeben sein sollte. Unter steter Konkurrenz aller
ihrer Bewohner hatte die agrare Zone Rohstoffe und Lebensmittel
zu liefern und als Gegengabe Fabrikate aller Art, d. h. von jener
allein, also unter Monopolpreisen zu empfangen.
Die volle Einsicht in diesen raffinierten Egoismus hatte F r.
List bereits besessen, war aber den meisten deutschen Volkswirten
verloren gegangen. Warum sollte man, so fragten sie sich, der
Lockung nicht folgen, da Agrarländer wie Rußland, Italien, Däne-
mark, die Vereinigten Staaten, um ihre Überschüsse los zu werden,
dem internationalen freien Verkehr Zugeständnisse zu machen sich
anschickten und Norddeutschland noch in der Lage war, Getreide
und Vieh auszuführen?
Welche Handelspolitik ein Land wählen soll, entscheiden in
konstitutionellen, noch mehr in parlamentarisch regierten Staaten
die Parteien und die Berufsgruppen für sich nach ihrem Interesse
daran, wobei sie stets behaupten, daß sich ihr Wohl mit dem der
Volksgesamtheit decke. Für einen über beiden stehenden Staats-
mann erwächst dann die schwierige Frage, wie diese Ansprüche
gegeneinander abzuwägen sind, wobei er sich von mechanischen
Majoritätsergebnissen um so weniger wird leiten lassen, als er ein
. festes politisches Ziel verfolgt, das nicht oft ein ausschließlich
wirtschaftliches sein wird. Irrtümlich ist es zu glauben, daß die
Engländer mit ihrem Freihandel nur naheliegende wirtschaftliche
Wünsche haben befriedigen wollen. Ihre vom stärksten Herr-
schaftswillen getragene Politik hat immer in die Zukunft geschaut,
und immer haben sie andere Völker umnebelnde humanitäre Wen-
dungen gefunden, um ihre Machtgier zu verhüllen. Das wurde,
ihnen dadurch so erleichtert, daß für solche Pläne seiner Führer
das ganze Volk immer ein instinktives Mitempfinden gehabt hat,
während in Deutschland große patriotische Ziele seiner Staats-
14*
212 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848' — 1871.
männer regelmäßig die heftigste Gegnerschaft haben erdulden
müssen. Zu diesen Zielen gehörte der Freihandel der sechziger
Jahre nicht.
Die Stellung der deutschen Erwerbsgruppen zu der äußeren
Handelspolitik war diese: Den Freihandel forderte der Handels-
stand der Seestädte an der Nord- und Ostsee mit seinem binnen-
ländischen Gefolge, da er ihm nur größere Umsätze bringen konnte.
Ihm stimmte die ausführende Landwirtschaft zu, die durch stei-
genden Absatz von Getreide, Vieh, Branntwein, neuerdings auch
Zucker, Vorteile erwartete und sich bei der Einfuhr von Maschinen,
Werkzeugen, Kunstdünger billiger zu versorgen hoffte. Das
Bankiergewerbe, soweit es sich vernehmen ließ, hatte sich dem
Großhandel angeschlossen. Die Lohnarbeiter hatten politisch
nichts zu sagen und besaßen als Klasse keine Organe, um sich
äußern zu können. Sie waren auch direkt wenig interessiert, da
die Lebensmittelzölle nicht zur Diskussion standen. Die liberalen
Politiker behaupteten zudem, daß der Freihandel einer Erhöhung
des Sachlohns gleichkäme. Nun trat für die Aufhebung der Schutz-
zölle noch eine große Zahl von Berufsparlamentariern, Publizisten,
Nationalökonomen ein, die sich für die Verteidiger der Konsu-
menten ausgaben. Konsument sei jeder, und da der Freihandel
die Waren verbillige, so müßten alle durch ihn gewinnen. Die
Frage nach dem Gesamtinteresse schien daher spielend gelöst zu
sein. Indessen ist es schwer, zu glauben, daß die Advokaten,
Ärzte, Kreisrichter, Professoren und Rentiers, die in den Volks-
vertretungen saßen und den Freihandel am lebhaftesten priesen,
deshalb so für ihn begeistert waren, weil sie unter ihm vielleicht
einen billigeren Anzug oder einen billigeren Hut hätten kaufen
können. Das ungeheure, andauernde Geschrei, das in ihrer Presse
erhoben wurde, ist nur zu begreifen, wenn Wichtigeres auf dem
Spiele stand, das man mit dem Verbraucherwohl zu verschleiern
Veranlassung hatte. Schon Saint Simon hatte in seiner histo-
rischen Klassenbetrachtung darauf hingewiesen, daß das arbei-
tende Volk, das er die Industriellen nennt, von einer kleinen
Schicht der Legistes, Rechtsanwälte, Schriftsteller und anderen
sogenannten Intellektuellen am Gängelband geführt werde, deren
es sich zu er\Vfehren habe. Sie mache sich zum Selbstzweck, indem
sie die politische Macht an sich risse, die sie für ihre persönliche
Befriedigung auszunutzen verstände. Diese Gruppe von Leuten
war auch in Deutschland vorhanden, und die handelspolitische
Streitfrage war ihr eine erwünschte Gelegenheit, ihre Fähigkeiten
zur Herrschaft zu erproben und die wirtschaftlich produktiven
Klassen an die Wand zu drücken.
VIII. Die Freihandelsära des Zollvereins. 2I3
Auf der anderen Seite finden wir die großen und mittleren
Fabrikanten im Eisen- und Textilgeschäft, die Besitzer von Kohlen-
und Eisengruben, die Maschinenfabrikanten, die Anfertiger von
Eisenbahnmaterial, zahlreiche Schichten des Handwerks. Die
industriellen Großproduzenten waren es in England gewesen, die
sich für den Freihandel eingesetzt hatten, die Manchesterleute, in
Deutschland war es umgekehrt, und das hätte schon darauf auf-
merksam machen können, wie falsch es war, die fremde Politik
nachzuahmen. Mochte auch noch so oft die Behauptung auf-
gestellt werden, die ganze deutsche Industrie sei bereits auf dem
Weltmarkt konkurrenzfähig, viele ihr Angehörige wußten es
besser, weshalb sie politisch ihre englischen Kollegen nicht nach-
ahmen wollten.
Die Freihandelsbewegung würde nun am Anfang der sech-
ziger Jahre diesen Umfang nicht angenommen haben, wenn sich
für sie der politische Liberalismus mit den eben genannten Wort-
führern nicht eingemischt hätte. Er hatte die Niederlage von
1848 nicht vergessen und wollte sein Bedürfnis an der Verwirk-,
lichung der Doktrin, das er auf politischem Gebiete damals aus
Frankreich zu decken vergeblich gehofft hatte, nun mit einem
englischen Import decken. In Preußen war es namentlich die
Fortschrittspartei, welche das ganze Wirtschaftsleben individuali-
sieren wollte und um so eifriger darauf bestand, weil sie sich in
einem Konflikt mit dem leitenden Staatsmann um die Heeres-
reorganisation befand.
Die liberalen Nationalökonomen tagten jährlich auf den
volkswirtschaftlichen Kongressen, wo Freihandel, Gewerbefreiheit,
freie Notenemission, freie Konkurrenz für Privatbahnen und Ver-
sicherungsgesellschaften verherrlicht wurden. Die Hauptwort-
iührer waren O. Michaelis, Redakteur der Nationalzeitung,
K. Braun, O. Hübner und der gemäßigte , B enni g s en.
Eifrige Berater in Wirtschaftsdingen waren diesen Politikern die
Ausländer J. Faucher und John Prince Smith, letzterer
ein naturalisierter Engländer, ganz befangen in dem Handelsgeist
seiner Heimat, in seiner Beschränktheit fest überzeugt, daß billig
einkaufen das Glück der Menschen, der Freihandel den ewigen
Frieden der Völker verbürge. Seine Lehre war ein Auszug der
englischen Vulgärökonomie, wie sie C o b d e n und B r i g h t ver-
flacht hatten, um den Freihandel der Masse mundgerecht zu
machen, und aus B a s t i a t s geistreichen, aber grundverkehrten
„Ökonomische Harmonien". Alle sozialen Fragen lösen
sich diesen Lehren gemäß in der freien Konkurrenz von selbst,
der Besitz von Kapital ist der Hauptgrund des Abstandes von
214 ^^' Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
Kultur und Unkultur, der freie Verkehr bringt die „wirtschaft-
liche Weltgemeinde", auf die ihr Wunsch gerichtet war. Es kann
kein Monopol an Naturkräften und Kapital geben, also auch keine
Arbeiterfrage, wenn nur der freie Wettbewerb aufrecht erhalten
wird. Diese „Manchesterlehre" war eine Folgerung der englischen
Nutzenphilosophie, die bei Jeremias Bentham einen extremen
Ausdruck gefunden hatte und dem englischen Geiste, damals, wie
noch heute, angepaßt war. Jeder habe so viele Glücksgüter zu
erstreben als nur möglich sei, und sein egoistisches Begehren nur
so weit einzudämmen, als er dazu durch die Rücksicht auf andere
Menschen genötigt sei, die von demselben Willen geleitet werden.
Da nun der Reichtum das wesentliche Gut ist, das der einzelne
sich erwerben und erhalten kann, so steht er im Vordergrund allejr
Betrachtung. Die Nationalökonomie setzte hinzu, daß das wirt-
schaftliche Wohl einer Gesamtheit das summierte aller Einzel-
personen sei und daß, wenn jedem die volle Freiheit des Wirt-^
schaftens gegeben sei, wenn der Staat sich nicht in die Angelegen-
heiten der Erwerbszweige einmische, der Egoismus durch einen
natürlichen Mechanismus die Kostenherabsetzung aller Waren
herbeiführe und somit den Verbrauch aller verbillige. Dieser
Utilitarismus ist so undeutsch wie möglich, und jeder, der je einen
Einblick in die deutsche idealistische Philosophie getan hatte,
wußte, daß dieser seichte Eudämonismus niemals mit der Pflichten-
lehre gegen die Mitmenschen und gegen den Staat in Einklang
gebracht werden konnte. Nach deutscher Auffassung steht das
Individuum um so höher, je mehr es sich seiner Aufgaben gegen
die Gemeinsamkeit bewußt ist, und der Staat, je mehr er Pflichten
gegen seine Bürger anerkennt. Die deutsche Nationalökonomie
hat denn auch entschieden Stellung gegen die Manchesterlehre
genommen. Schon A. Müller, Fr. List, Thünen, Rod-
bert u s , W. Röscher hatten anders gedacht, der ; späteren
sozialpolitischen oder ethischen Richtung blieb es vorbehalten, in
der praktischen Nationalökonomie die Staats- und Pflichtenlehre
tiefer historisch zu begründen. Das Staatsideal der Manchester-
schule ist der Nachtwächter, der an vorsichtige Behandlung ;des
Feuers jund des Lichts mahnt und Frieden .gebietet, wenn es Krakehl
gibt. Sind aber der Unruhestifter zu viele, so zieht er sich vorsichtig
zurück, bis die Machtfrage entschieden ist, unbekümmert darum,
wer im Rechte ist.
Zu dem Kreis der liberalen Nationalökonomen gehörte auch
F. H. Schulze (geb. 1808 in Delitzsch), der sich schon i848,iher-
vorgetan hatte, als er als Mitglied der preußischen Nationalver-
sammlung den Vorsitz in der Kommission zur Prüfung des Not-
VIII. Die Freihandelsära des Zollvereins.
215
Standes im Arbeiter- und Handwerkerstände führte. 1849 begrün-
dete er eine Kranken- und Sterbekasse und 1850 den ersten auf
dem Prinzip der Solidarhaft ruhenden Vorschußverein. Seitdem
hat er unermüdHch für das nach ihm benannte, auf Selbsthilfe
gestellte Genossenschaftswesen gewirkt und Großes zuwege ge-
bracht. Sein Jahresbericht von 1881 meldet 3481 Erwerbs- und
Wirtschafts-, Kredit- und Konsumvereine, die sich derart bewährt
hatten, daß sie auch in anderen Ländern, wie Frankreich und
Italien, Nachahmung fanden. Lassalle hatte Schulze, den
Abgeordneten der Fortschrittspartei, in einer Broschüre angepöbelt
(Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian oder
Kapitalund Arbeit, 1864) und die freien Genossenschaf ten lächerlich
zu machen gesucht. Gewiß, es konnte die Lohnarbeiterfrage mit
diesem Mittel nicht gelöst werden, aber Schulze hat viel für den
Kleingewerbetreibenden geleistet und manchen vor dem Herab-
sinken in das Proletariat gerettet. Da er die Staatshilfe für seine
Schützlinge nicht direkt in Anspruch nahm, haben ihn die Liberalen
sich immer zugerechnet. In Wahrheit vertritt seine Schöpfung die
soziale Ordnung, „die Haftung aller für einen, einer für alle",
statt den Individualismus. Eben darum ist sie groß geworden.
Sie hat auch des Staates nicht entraten können, der ihr durch
Gesetzgebung eine wertvolle Rechtsgrundlage verliehen hat.
Die freihändlerische Richtung wurde von der preußischen
Regierung bei der Verfolgung allgemeiner politischer Ziele unter-
stützt. Die Ermäßigung der Schutzzölle, die Vereinfachung des
Tarifs, die Beseitigung des allgemeinen Eingangs- und jeder un-
erheblichen Finanzabgabe waren jedoch bei der bestehenden Zoll-
vereinsverfassung schwerlich durchzusetzen. Hatte doch die Publi-
zistik daher den Gedanken vertreten, daß die Mehrheit der Staaten
zu einer Entscheidung genügend sein und ein öffentlich tagendes
Parlament die nichtöffentlichen Zollkonferenzen ersetzen sollte,
um den nationalen Erwerbsinteressen einen unmittelbaren Einfluß
einzuräumen.
Darauf war nun freilich nicht zu rechnen, und es würde auch
zu einer Änderung der Handelspolitik nicht sobald gekommen sein,
wenn nicht von außen her sich etwas ereignet hätte, das von
Preußen geschickt aufgegriffen wurde. Dies war der Wechsel
der französischen Zollpolitik seitens Napoleons III. In den
fünfziger Jahren gab es keinen Staat in Westeuropa, dessen Gesetz-
gebung den Verkehr mit dem Ausland ungünstiger behandelte |als
Frankreich. Neben Einfuhrverboten, prohibitiven und Ausfuhr-
zöllen war bei der Einfuhr zur See die französische Flagge be-
günstigt. Mit diesem System brach der Kaiser zuerst durch den
2l6 IV. Abschnitt. Die deutsche "Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
Abschluß eines Handelsvertrags mit England 1860, dem Cobden-
vertrag, der nach dieser freihändlerischen Berühmtheit, die an
dem Zustandekommen des Vertrags einen selbständigen Anteil ge-
habt hatte, benannt wird. Napoleon hatte keine durchgreifenden
wirtschaftlichen Gründe für ein besonderes Entgegenkommen gegen
England, sondern politische, um eine Annäherung an Gladstone
zu gewinnen, der ihn mißtrauisch beobachtete. Die französischen
Industriellen unter T h i e r s Führung opponierten zwar heftig,
allein der Vertrag wurde, ohne den Kammern Einfluß zu ge-
statten, abgeschlossen und ausgeführt.
Nachdem nun einmal das bestehende Zollwesen durchbrochen
worden war, das zum Teil noch auf das erste Kaiserreich zurück-
ging, war es nur logisch, auch mit den übrigen Nachbarn zu Ver-
kehrserleichterungen überzugehen, da man unter den fremden
Staaten England kein Monopol auf dem französischen Markt zu
geben gesonnen war. So kam es zu Verhandlungen mit Belgien
und dem Zollverein. Preußen trat nach Benachrichtigung der
Vereinsmitglieder in Verhandlungen ein und schloß, zunächst sich
allein bindend, am 29. März 1862 einen Handels- und Schiffahrts-
vertrag ab, dem eine Übereinkunft betreffs Zollabfertigung des
internationalen Verkehrs auf den Eisenbahnen und gegenseitigen
Schutzes der Rechte an literarischen Erzeugnissen und Werken der
Kunst hinzugefügt wurde. Es suchte die- Vergünstigungen zu er-
langen, die an England und Belgien gewährt waren, dafür waren
Zugeständnisse zu machen in der Herabsetzung von Einfuhrzöllen,
Beseitigung der Durchfuhr- und Ausfuhrzölle, Behandlung auf dem
Fuße der meistbegünstigten Nation.
Das Protokoll wurde den deutschen Staaten von Preußen zur
Annahme empfohlen, und alsbald begannen schwierige Ausein-
andersetzungen unter den Vereinsmitgliedern. Es zeigte sich, daß
Sachsen mit seiner leistungsfähigen Ausfuhrindustrie bald zu-
stimmte, dann folgten dem Beispiele Baden, Oldenburg und die
thüringischen Staaten. Die übrigen äußerten starke Bedenken,
die im Grunde mehr politischer als wirtschaftlicher Art waren.
Wie während der letzten Zollvereinskrise, so stand auch jetzt
wieder das Verhältnis zu Österreich bei den Erwägungen an der
Spitze. Der Unionsgedanke war immer noch nicht begraben.
Bayern, Württemberg, die beiden Hessen neigten ihm zu, Preußen
war mehr denn je entschlossen, ihn zu Fall zu bringen. Der fran-
zösische Handelsvertrag war ihm dafür das geeignetste Mittel, wie
dies der damalige Leiter der Handelspolitik, R. von Delbrück,
in seinen Lebenserinnerungen ausdrücklich bestätigt hat: „Wir
wußten recht gut, daß ein Vertrag mit Frankreich die deutsch-
VIII. Die Freihandelsära des Zollvereins. zZ"]
Österreichische Zolleinigung in eine absolute Ferne rücken, der so-
genannten Parifizierung der Tarife schwer zu überwindende
Hindernisse bereiten und überhaupt die weitere Ausbildung des
Februarvertrags von 1853 erschweren werde, aber wir wollten
keine deutsch-österreichische Zolleinigung". Österreich stand vor
der Wahl, den Unionsplan aufzugeben oder den französischen Ver-
tragstarif in der Hauptsache auch anzunehmen. Das letztere ver-
bot der Stand seiner Industrie, die in dem letzten Jahrzehnt einen
langsamen Gang eingeschlagen hatte. Es versuchte daher \diploma-
tisch, die Vereinsstaaten einzuschüchtern, daß sie Preußen wider-
strebten. Anfangs schien es zu glücken, bis dessen Regierung er-
klärte, nachdem beide Kammern zugestimmt hatten, von dem Ab-
kommen mit Frankreich unter keinen Umständen zurücktreten zu
wollen bzw. entschlossen zu sein, den Zollverein nicht wieder zu
erneuern. So zogen sich die Verhandlungen durch 1863 und 1864
hin, unterbrochen durch den dänischen Krieg. Die politische Lage
im deutschen Bunde veränderte sich, und Österreich mußte mit
seinen handelspolitischen Ansprüchen zurückhalten. Kurhessen und
Hannover traten jetzt Preußen bei. Dann überzeugten sich auch die
übrigen Staaten, daß sie weder allein, noch mit Österreich gemein-
sam auf ihre wirtschaftliche und finanzielle Rechnung kommen
würden. Sie gaben nach, der Handelsvertrag wurde angenommen
und der Zollverein auf 12 Jahre erneuert.
Die freihändlerische Strömung hatte in hohem Maße mit-
geholfen, das Abkommen mit Frankreich populär zu machen. Den
preußischen Räten wurde es nicht schwer, diese Bundesgenossen-
schaft anzunehmen, da sie mit der Volksstimmung harmonierten. 'So
sagte Bis mar ck 1879 in seiner berühmten Rede zur Begründung
der Tarifvorlage über jene Zeit: „Die Überzeugung von der Zu-
kunft des Freihandelsideals war eine so starke, daß jeder Versuch
der Regierung, damals ihr entgegenzutreten, mißlungen wäre. Wir
wären in keinem Parlament damit durchgekommen, wenn wir eine
Schützzollpolitik, eine mehr schützende als die damalige, hätten
betreiben wollen".
Frankreich hatte den preußischen Standpunkt von Anfang an
durchschaut und stellte daher die Forderungen hoch, ohne sich zu
rechten Gegengaben zu verstehen. Es blieb trotz der Konzessionen
noch reichlich geschützt, da es relativ bei seinem hohen Tarif weit
weniger als der Verein preisgab, der zudem in der Herabsetzung
von Luxus- und Finanzzöllen auf hochfeine Seidenware, künstliche
Blumen, wertvolle Putzware, Olivenöl und Wein seine Einnahmen
noch schädigte. Dazu kam, daß der veraltete deutsche Tarif kein
2l8 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
geeignetes Verhandlungsinstrument war, so daß bei mangelnder
Spezialisierung der Warensätze wiederholt fehlgegriffen wurde.
Die Eisen- und Baumwollfabrikanten fühlten sich am meisten
betroffen. Auch die von Leder- und Glaswaren klagten. Einigen
inländischen Produzentengruppen waren Versöhnungsgaben ge-
boten worden. Die innere geringe Weinsteuer in Preußen wurde
aufgehoben, eine Ermäßigung des Salzpreises den Sodafabriken
zugestanden, der Eisenindustrie der Ausbau des staatlichen Eisen-
bahnnetzes versprochen.
Die vollen W^irkungen des Vertrags traten erst dadurch her-
vor, daß 1865 auch in den Handelsverträgen mit Belgien, Groß-
britannien und Österreich die Meistbegünstigung ausgesprochen
wurde. Dem ersteren wurden zudem noch einige Zölle gebunden,
die wiederum den anderen meistbegünstigten Staaten von Nutzen
waren. Das zweite hatte vermöge seines Freihandels dem Zoll-
verein nichts in Europa zu bieten. Um nun anderen Ländern
gleichgestellt zu sein, gewährte es die Meistbegünstigung auch für
seine Kolonien, so daß dort die deutsche Ware nicht anders als
die des Mutterlandes eingelassen wurde. Mit Österreich war das
Differentialabkommen von 1853 abgelaufen und wurde nicht wieder
erneuert. Nach Festlegung der gegenseitigen Meistbegünstigung
stand es dem Zollverein nicht anders als die übrigen Vertrags-
staaten gegenüber. Es hatte seinen Generaltarif erhöht, und wenn
es bei der jetzigen Zollbindung auch einen Teil aufgeben mußte,
so war doch in bezug auf BaumwoU- und Wollgewebe, Baumwoll-
garn, Stabeisen, Blech, leinene Maschinengarne, Lederwaren die
Einfuhr aus dem Verein gegen früher erschwert worden. Getreide,
Mehl und zum Teil Vieh konnte es jedoch jetzt zollfrei in ihm ein-
führen. Da der österreichische Vertragssatz bald zum allgemeinen
Tarif erhoben wurde, so verschwinden jetzt die AgrarzöUe aus
der deutschen Handelspolitik. Damit waren zwar die ungarischen
Verkäufer der überseeischen und russischen Konkurrenz auf
dem deutschen Markt ausgesetzt, sie schätzten sie damals aber
nicht hoch ein. So glaubte die österreichische Regierung doch
noch ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Im ganzen steht sie
geschlagen da, da die Zollunionsidee aufgegeben worden war, ein
Vorspiel zu den Vorgängen von 1866, mit denen der Dualismus der
Großmächte im Deutschen Bund beseitigt wurde.
Der Zollverein verabredete auch mit Italien einen Meistbe-
günstigungsvertrag, mit dem auch die deutschen Mittelstaaten die
neugewonnene Einheit jenes Landes anerkannten, was für die
preußische auswärtige Politik des nächsten Jahres nicht ohne Be-
VIII. Die Freihandelsära des Zollvereins. 2I9
lang war, da das junge Königreich zu Dank verpflichtet wurde —
ferner mit der Türkei und einer Reihe überseeischer Staaten.
Als Ergebnis dieser handelspolitischen Vorgänge des Zoll-
vereins haben wir festzustellen, daß auswärtigpolitische Gesichts-
punkte stark in sie hineingespielt haben. Das läßt sich um so
sicherer nachweisen, seitdem Herr von Bismarck an die
Spitze des preußischen Staatsministeriums getreten war, ein Er-
eignis, das für Deutschland jahrzehntelang ausschlaggebend und
für ganz Europa von Bedeutung wurde. Schon als Gesandter in
Paris hatte er die Napoleonische Handelspolitik Preußen gegen-
über eifrigst unterstützt. Er war stets ein Gegner der Zollunion
mit Österreich gewesen, und im Sommer 1862, kurz vor seinem
Eintritt in die Regierung, hatte er erklärt: „In der Tat scheint es
auch, daß es schwer sein würde, unseren finanziellen und poli-
tischen Interessen einen härteren Schlag beizubringen als durch
die Verschmelzung Preußens und Österreichs zu einem Zollverein",
und im Herrenhause verlangte er (Oktober 1862) das Festhalte^n
am französischen Vertrag: „Gefährlich für die Dauer des Zoll-
vereins sind alle Zweifel, die bei den übrigen Zollvereinsregierungen
an den Ernst der Entschließung Preußens auftauchen könnten,
das Rechnen auf eine Nachgiebigkeit im letzten Augenblick, die,
solange die gegenwärtige Regierung am Ruder bleibt, nicht er-
folgen wird".
Ein Gegner des Freihandels war Bismarck damals nicht.
Als ehemaliger Konservativer verstand er genau die Vorteile, die
die ausführende Landwirtschaft des Ostens davon erwartete, und
da er das Wohl der Landwirtschaft stets als die gesicherte Grund-
lage des Staates betrachtet hat, war er um so mehr geneigt, der
handelspolitischen Einsicht seiner Räte, insbesondere ^Del-
brücks, zu vertrauen. Außerdem war ja gerade ihm das Wich-
tigste für Deutschlands staatsrechtliche Einheit das Zurückdrängen
österreichischer Ansprüche, wozu die Freihandelspolitik, wie ge-
zeigt wurde, ein brauchbares Mittel war. Insofern ist die frei-
händlerische Politik die richtige gewesen. Vom rein wirtschaft-
lichen Standpunkt war sie verfehlt, wie sich das nach einigen
Jahren herausstellen sollte. Allerdings waren ihre Mängel von der
Mitte der sechziger Jahre bis zu der Krise von 1873 nicht so ein-
fach zu durchschauen, da die volks- und weltwirtschaftliche Kon-
junktur mit ihren überall steigenden Preisen die Gefahr des über-
starken ausländischen Konkurrenzdrucks für Industrie und Land-
wirtschaft verschleierte.
Trotz der vielen produktiven Fortschritte im Zollverein würde
man ein unrichtiges Urteil aussprechen, wenn man das Gedeihen
220 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
aller Art Wirtschaft in den deutschen Ländern hätte behaupten
wollen. Es ist nicht alles Gold, was gleißt. Die hohen Zahlen des
Außenhandels, der neugebildeten Kapitalgesellschaften, der in der
Großindustrie tätigen Arbeiter schlössen keineswegs das Wohl-
befinden aller Kleinbetriebe in Landwirtschaft, Handwerk und
Verkehr, auch nicht aller ländlichen und städtischen Lohnarbeiter
in sich ein. Als Beweis dafür wird man die Auswanderungsziffern
heranziehen dürfen, die in den dreißig Jahren vor der Reichs-
gründung zeitweise erschreckenden Umfang angenommen hatten.
Im zweiten Abschnitt haben wir auf die deutsche Aus-
wanderung zwischen 1815 und 1830 einen Blick geworfen. Sie
war in ihren Schwankungen durch die heimischen Ernteergebnisse
stark bestimmt worden, in den Hunger jähren 18 16/17 besonders
groß gewesen, dann unter den niedrigen Lebensmittelpreisen der
Agrarkrise von 1820 — 1830 auf einige hundert Personen jährlich
zusammengeschrumpft.
Wenn wir die Auswanderungstabellen der nächsten Jahrzehnte
als einen Barometerstand des volkswirtschaftlichen guten und
schlechten Wetters gelten lassen wollten, so ist eine solche Auf-
fassung jedoch nur mit starken Korrekturen zuzulassen. Es ist
richtig, daß schlechte Erntejahre, allgemeine Handelskrisen, Um-
wälzungen der agraren und gewerblichen Verfassung auffallende
Beweggründe zur Auswanderung gewesen sind und umgekehrt
günstige Konjunkturen die Leute in der Heimat zurückgehalten
haben, aber es gibt daneben die politischen höchst wirksamen
Motive der Unzufriedenheit mit der Regierung für den Fortzug.
So war es in der Mitte der dreißiger Jahre nach der Julirevolution,
so in den fünf Jahren nach 1849, so von 1866 — 1868.
Die sozialökonomischen Zustände wirken mehr in großer
Linie durch ganze Perioden hindurch und können als eine grund-
legende Kausalität der ganzen Bewegung gelten. Wenn wir aus
den Nachweisungen der Vereinigten Staaten erfahren, daß von
1830 — 1840 152454 Deutsche (ohne Österreicher) anlangten, 1840
bis 1850 434626, so ist dieser Unterschied, da die Hauptmasse .aus
wenig bemittelten Familien besteht, aus den steigenden Preisen der
Lebensmittel nach 1840 infolge des Aufschwungs der Volkswirt-
schaft durch den Zollverein und die Eisenbahnen bei gleichzeitiger
Notlage des Handwerks, der Hausindustrie und der technisch und
ökonomisch zurückbleibenden Kleinlandwirtschaft, die unter Boden-
zersplitterung und Verschuldung litt, zu begreifen. Die Not- und
Hungerjahre vor 1848 sind nur das Tüpfchen auf dem i. Umge-
kehrt können wir, unserer geschichtlichen Darstellung vorgreifend,
sagen, daß der glänzende Aufschwung der deutschen VolksAvirt-
VIII. Die Freihandelsära des Zollvereins. 221
Schaft von 1895 — 191 4, ^^^ sich auf alle Klassen der Bevölkerung
erstreckte, dafür entscheidend gewesen ist, daß die Auswanderung
auf geringfügige Ziffern zusammensank.
Nun ist zur Beurteilung einer internationalen Wanderbewegung
noch ein anderer sehr wichtiger Beweggrund nicht zu vergessen:
die Zustände im Einwanderungsland, deren anziehende und ab-
stoßende Kraft. Die deutschen Abwanderer von 18 15— 1835 scheinen
sich zwar nicht viel darum gekümmert zu haben, sie zogen ziemlich
planlos auf allgemeine Erzählungen des Wohlstands und Gerüchte
billigen Landerwerbs in die Vereinigten Staaten leichten Sinnes
fort und sind dann oft genug von dem Regen in die Traufe ge-
kommen. Das wird aber anders, als Hunderttausende von Deut-
schen in der Union angesiedelt sind und in regelmäßigen Korre-
spondenzen in ihre ehemalige Heimat über die neue Welt genau
berichten. Man muß allerdings zugeben, daß in diesen Briefen gar
gern zu rosige, interessierte Schilderungen des transatlantischen
Lebens mit unterliefen, und die deutschen Gesellschaften in New-
York, Philadelphia, Maryland u. a. m. lassen es in deutschen Zei-
tungen und in Flugschriften an ihrer warnenden Stimme nicht
fehlen, wie schwer es ganz vermögenslose Leute, wenig ausgebil-
dete Handwerker und alle Kopfarbeiter treffen werde, wenn ihnen
keine feste Stellung vor der Ankunft zugesichert sei. Jedoch im
großen ganzen gibt diese briefliche Auswanderungsagentur doch
ein Bild von der Arbeitsnachfrage in der Union. Wir haben oben
erwähnt, wie durch die Entdeckung der Goldfunde in Kalifornien
die amerikanische Volkswirtschaft einen lebhaften Anstoß zum
Voraneilen empfing. Die großen Auswanderungszahlen von 1850
bis 1854 finden darin einen Ausdruck, wenn sie auch, wie gesagt,
ohne die politischen Flüchtlinge und die vielen politisch Ent-
täuschten nicht ganz zu verstehen sind, die nach 1850 dem reaktio-
nären Vaterland den Rücken zu kehren. Am Ende der fünfziger
Jahre wirft der amerikanische Bürgerkrieg seine Schatten voraus,
und mit seinem Ausbruch läßt die Zuwanderungslust gewaltig
nach, freilich ohne ganz zu erlöschen. Die Auswanderung über
Hamburg und Bremen, die 1857 81 014 Personen betragen
hatte, senkt sich 1858 auf 42976, 1859 auf 35235, 1860 — 1863
durchschnittlich auf 38 880. Nach dem Siege des Nordens werden
die Bedingungen für das freie Bauerntum zu Ansiedelungen im
Westen günstiger als je zuvor, zumal der Eisenbahnbau dorthin
verstärkt aufgenommen worden ist. Die amerikanische Statistik,
die auch die deutschen Ankömmlinge über Belgien, Holland,
Frankreich und England umfaßt, meldet für das Fiskaljahr (i.Ok-
222 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
tober bis 30. September) 1866 115 892, 1867 133426, 1868 123070,
1869 124788 Personen.
Allerdings hatten die deutschen Zustände an dieser Steige-
rung auch ihren Anteil. Die Einführung der dreijährigen Dienst-
pflicht in Preußens neuerworbenen Provinzen veranlaßte manchen
zu dem Unternehmen, in der amerikanischen Freiheit sich wohl
fühlen zu wollen. Wichtiger war, daß die Erwerbszustände durch-
aus nicht so gefestigt waren, als die manchesterlichen Zeitungen
sie verherrlichten. Im Handwerk und der Heimarbeit gab es
ebensoviel Mißvergnügte als in der Lohnarbeit der Großindustrie
und in den landwirtschaftlichen zersplitterten Kleinbetrieben.
Hatten auch die Gewinne in der Großindustrie und Großlandwirt-
schaft die nationale Sparkraft verstärkt, so war das Kapital doch
noch nicht so in alle Kanäle des Erwerbs eingedrungen, daß die
unteren Klassen wesentlich besser lebten als 10 oder 15 Jahre
vorher.
Daß sich der Staat um die Beseitigung des sozialen Übels
der Auswanderung durch innere Reformen zu kümmern habe, lag
der Politik ganz fern. Man hielt die Auswanderungsfreiheit für
die einzige Maßnahme erleuchteter Staatskunst, um die „natür-
liche" Übervölkerung zu beseitigen, und für die Auswanderungs-
Vermittlung glaubte man am besten gesorgt zu haben, wenn man
sie der „einsichtigen" priVaten Spekulation überließ. Der natio-
nalen Seite des Volksverlustes stand man ganz kalt gegenüber,
wenn aus Nordamerika die verbürgte Nachricht über die dortigen
Deutschen einlief, daß die erste Generation der Auswanderer noch
deutsch spricht, die zweite es noch gerade versteht, und daß die
Enkel zu Stockamerikanern geworden sind. Dabei konnte es auch
national empfindenden Männern nur ein schwacher Trost sein, daß
nach 1848 die Deutschamerikaner, die sich bisher nur aus wenig
gebildeten Schichten zusammengesetzt hatten, in den poHtischen
Flüchtlingen eine bescheidene Führung erhalten hatten, daß es
eine deutschsprachige Presse gab, und die großen Städte des
Westens deutsche Vereine zu geselligen Zwecken besaßen. Denn
die „Pressionspolitik", die die Deutschen auf die großen Parteien
des Landes auszuüben versuchten, kam über ephemere Erfolge
niemals hinaus. Einsichtige Amerikaner erkannten zwar an, daß
das sehr umfangreiche Ingredienz an Sparsamkeit, Fleiß und
Talent, das die deutsche Zuwanderung in den großen Schmelz-
tiegel der nordamerikanischen Nation geworfen hatte, wertvoll
sei, da es ohne Beschwerde mittels der Maxime „ubi bene ibi
patria" dem hergebrachten Volkstum assimiliert wurde. Schrieben
wir hier statt deutscher Wirtschaftsgeschichte diejenige der Erde,
IX. Der Norddeutsche Bund. 223
SO würden wir den „Kulturdünger", der mit der deutschen Volks-
kraft überseeischen Ländern einverleibt wurde, freilich als einen
höchst produktiven Faktor nicht zu übersehen haben.
IX. Der Norddeutsche Bund. Der Zollverein, der von
1865 — 1877 von neuem verabredet worden war, wurde völkerrecht-
lich durch den Krieg von 1866 aufgelöst. Tatsächlich blieb er
fortbestehen, da während des kurzen Kampfes zwischen Preußen
und den deutschen Staaten die Zölle für die gemeinsame Rechnung
weiter erhoben wurden. Nach dem Friedensschluß setzte man
die Verträge, und zwar nur unter kurzer Kündigungsfrist, wiederi
in Kraft, um einer bald zu erwartenden Neuordnung nicht vorzu-
greifen.
Der Norddeutsche Bund unterstellte das Zoll- und Handels-
wesen sowie die für ihn erforderlichen Steuern seiner Gesetz-
gebung und machte damit für die Bundesglieder die vertrags-
mäßige Zolleinigung überflüssig. In dem nun folgenden neuen
Zollverein ist er nur eines der Mitglieder, die anderen sind Bayern,
Württemberg, Baden, Hessen südlich des Mains. Der Anschluß
Luxemburgs wurde gewahrt. Von den Staaten des Norddeutschen
Bundes waren zunächst die Hansestädte und die Mecklenburgs
außerhalb der Zollgrenze geblieben. Hamburg und Bremen ver-
harrten in ihrem Reservatrecht bis 1888. Die beiden Mecklenburg
und Lübeck wurden 1868 aufgenommen, nachdem das Hindernis
bei de?i ersteren, ihr Sondervertrag mit Frankreich, der für den
Zollverein des niedrigen Weinzolls wegen als nicht übernehmbar
galt, nach mühsamen Verhandlungen beseitigt worden war.
Der neue Verein besaß eine von dem alten wesentlich ab-
weichende Verfassung. Der Majoritätsbeschluß wurde entschei-
dend. An die Stelle der Generalzollkonferenzen trat der Zoll-
bundesrat mit 58 Stimmen, von denen Preußen 17 führte. Es
hatte die Präsidialmacht und ein Veto, wenn es sich um die Auf-
hebung bestehender Einrichtungen handelte, es berief, vertagte
und schloß das Zollparlament, das die Teilnahme der Bevölkerung
an der Zoll- und Steuergesetzgebung durch Abgeordnete, das sind
die Mitglieder des deutschen Reichstags und Vertreter der süd-
deutschen Staaten, die nach gleichen Grundsätzen wie jene ge-
wählt wurden, verbürgte. Jetzt war der Weiterentwicklung der
Handelspolitik nach den Bedürfnissen der Volkswirtschaft größerer
Spielraum gegeben. Es konnten notwendige Beschlüsse nicht mehr
durch die Eigenbrödelei kleinstaatlicher Sonderwünsche durch-
kreuzt werden.
2 24 ^^' -Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
Obgleich schon die ersten Verhandlungen eine versöhnende
und einigende Kraft bewiesen, und der Bundeskanzler mit den
wirtschaftlich tonangebenden Liberalen Fühlung nahm, leistete der
neue Verein für die Handels- und Finanzpolitik nur wenig, für die
erstere war kaum eine Gelegenheit, da die freihändlerischen
Handelsverträge mit gebundenen Zöllen weiterliefen — neu abge-
schlossen wurden daneben solche mit Liberia 1868, mit Japan,
Hawaii, Mexiko, der Schweiz 1869 — , die zweite hatte in der
neuen Organisation selbst eine innere Hemmung. Die Zölle, die
Salz-, Zucker- und Tabaksteuer wurden für Rechnung des Vereins
erhoben. Da er aber außer seinen geringen Verwaltungskosten
keine Ausgaben hatte, wurde der Ertrag, wie ehedem, an die
Einzelstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerung, jedoch jetzt ohne
jedes Präzipuum, verteilt. Das hatte das Mißliche, daß er über
Art und Höhe wichtiger Einnahmen beschloß, während seine
Glieder ihre öffentlichen Ausgaben feststellten. Die Einheitlichkeit
der Finanzwirtschaft war nicht gegeben, und ein systematischer
Ausbau der einzelstaatlichen Verwaltungszwecke damit erschwert.
Die ganze Einrichtung machte den Eindruck des Provisori-
schen, man hoffte, wie man sich damals ausdrückte, aus dem Zoll-
ein Vollparlament hervorgehen zu lassen.
Mit dem Krieg von 1866 war auch der Handelsvertrag mit
Österreich aufgehoben worden. Im Prager Frieden wurde er
widerruflich mit dem Bemerken aufgenommen, daß man sich im
Sinne größerer Verkehrserleichterung eine Revision vorbehalte.
1868 erhielt Deutschland Zugeständnisse für seine Papier-, Glas-,
Ton-, Metall-, Leder- und Färberei-Industrie, gewährte dafür Er-
mäßigungen und Freiheiten für Erzeugnisse der Landwirtschaft.
Daß man in Österreich jetzt zu einer liberaleren Handelspolitik
hinneigte, hatte zunächst darin seinen allgemeinen Grund, daß man
dem eigenen bisherigen Verwaltungssystem nicht traute und ihm
die Mitschuld an dem Unterliegen von 1866 beimaß. Der Minister
von Beust, der in seiner früheren sächsischen Stellung schon
dem Freihandel zugetan war, glaubte ihn auch als das zukünftige,
allgemein übliche europäische System in seinem neuen Amte
empfehlen zu müssen und unterstützte damit den Reformeifer, mit
dem man preußische Einrichtungen kopieren wollte. Besondere
Motive der freiheitlichen Richtung waren ein Entgegenkommen
gegen England und Frankreich, auf deren Geldmarkt man An-
leihen unterzubringen hoffte, und die Beeinflussung der Gesamt-
politik durch das Agrarprodukte ausfuhrbedürftige Ungarn, das
1867 seine staatsrechtliche Selbständigkeit gewonnen hatte.
IX. Der Norddeutsche Bund. 225
Der neue Vertragstarif wurde im Zollverein als allgemeiner
anerkannt, nur Portugal wurde des erniedrigten Weinzolles nicht
teilhaftig, da die auf eine Gegengabe gerichteten Verhandlungen
zu keinem Abschluß geführt hatten.
Die Generalisierungen der Vertragstarife beweisen die an-
dauernd freihändlerische Neigung des Zollparlaments und Bundes-
rats. Man ging sogar noch weiter und setzte autonom die Zölle
herab, geriet damit in den passiven Freihandel hinein, bei dem
man dem Ausland Vorteile hingab, ohne etwas dafür zu bean-
spruchen. So sehr war man von der Vortrefflichkeit der Doktrin
überzeugt, daß man die Konsequenz zog, daß Handelsverträge ein
Hindernis für die Handelsfreiheit bildeten, die man vollkommen
nur durch die eigene Gesetzgebung gewinnen könne. Die auto-
nome Reform von 1868 — 1870 ließ sich bei einigen Zollsätzen
damit rechtfertigen, daß in dem System der Handelsverträge
Lücken beständen, wie z. B. Ganz- und Halbfabrikate eine Ab-
gabeermäßigung erfahren hätten, während ihre Roh- und Hilfs-
stoffe nicht entsprechend entlastet worden wären. Aber die Re-
gierung ging darüber mit dem Programm hinaus, daß man den
Schutzzoll schließlich ganz aufgeben und nur Finanzzölle behalten
wollte. Diesem englischen Vorbilde nachzueifern klang der Mehr-
heit des Zollparlaments zwar verlockend, doch war sie nicht ge-
neigt, den Petroleumzoll als Ersatz für die Ausfälle zu bewilligen,
da sie eine größere Einnahme fürchtete als zur Deckung der Aus-
gaben nötig sei. Nach längeren Verschleppungen und kleinlichem
Feilschen kam es zu einem Ausgleich zwischen den beiden Seelen,
die in der Brust des damaligen Liberalismus wohnten, der
städtischen und ländlichen Freihandelsschwärmerei und dem ängst-
lichen Mißtrauen, daß die Regierung einen Groschen zuviel
unbewilligten Geldes in die Hand bekäme, — derart daß der
Kaffeezoll erhöht, der Zoll auf Roheisen und Eisenfabrikate herab-
gesetzt wurde. Den süddeutschen Baumwollspinnern gelang es,
ihren geringen Schutz zu behaupten.
Das wenig erfreuliche Bild, das die letzten Jahre des Zoll-
vereins bieten, ist glücklicherweise nicht eindrucksvoll genug ge-
wesen, seine großen wirtschaftlichen Verdienste der Vergangen-
heit herabzuwürdigen. Der Norddeutsche Bund war eine Periode
der politischen Spannung und des Überganges, die Nation stand
unter dem Druck des großen Zieles der politischen Einheit.
So war es verständlich, daß die wirtschaftlichen Angelegenheiten,
so manches es auch zu ordnen galt, nicht mit der Intensität
behandelt wurden, als sie sie aus sich heraus forderten.
A.Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. ^ j^
226 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871,
Auf die volkswirtschaftliche Vereinheitlichung, der noch so
manches mangelte, wies die gesetzliche Kompetenz des neuen
Nordbundes hin. Ihr sind unterstellt die Bestimmungen über die
Freizügigkeit, die Heimats- und Niederlassungsverhältnisse, den
Gewerbebetrieb, das Münz-, Maß- und Gewichtswesen, das Papier-
geld und die Banken, die Erfindungspatente, Eisenbahnen, Wasser-
straßen, Post und Telegraphie. Das in der Verfassung aus-
gesprochene Bundesindigenat, nach dem ein Bundesstaat die An-
gehörigen eines anderen nicht mehr als Ausländer behandeln
durfte, führte zu dem Gesetz über die Freizügigkeit im ganzen
Gebiete. Im Zollverein hatte es die freie Bewegung von Waren,
doch nicht von Personen gegeben. Jedem Bundesangehörigen,
imd zwar ohne Rücksicht auf Konfession und Religion, wird jetzt der
Aufenthalt und die Niederlassung an jedem Orte des Bundes,
ferner der Erwerb von Grundbesitz und der Betrieb eines Ge-
werbes unter gleichem Recht, wie es die Einheimischen besitzen,
gestattet, während die Ordnung des Ortsbürgerrechts, der Armen-
pflege und der Teilnahme an den Gemeindenutzungen nicht be-
rührt wird.
Für die örtliche Arbeitsspezialisierung erwartete man bedeut-
same Folgen aus diesen Bestimmungen, zumal auch der Paß-
zwang, die Plage der Reisenden, und die Wanderbücher, die die
Arbeiter in eine ewige Fehde mit der Polizei verwickelten, be-
seitigt wurden. Die Industrie konnte sich jetzt in erleichterter
Weise mit Hilfskräften versorgen, also dort erblühen, wo die
besten Bedingungen geboten waren. Die Wendung zum ein-
seitigen Industriestaat mußte sich um so schneller vollziehen, je
mehr in den Großstädten die Bevölkerung anschwoll und sich
der Abstrom vom Lande, über den schon in den fünfziger Jahren
geklagt wurde, in ein breites Flußbett ergießen konnte.
Zunächst trat nur das günstige Ergebnis der industriellen
Zusammenballung in Erscheinung. Daß sich unter der Freizügig-
keit überall die Bevölkerung auf das zweckmäßigste für das Ganze
von selbst gruppieren würde, war damals die allgemeine An-
schauung, und man zögerte nicht, die Folgerung für die Gewerbe-
freiheit zu ziehen. Denn man sagte sich, daß dem Zuwanderer
die freie Niederlassung nichts wert sei, wenn es ihm irgendwie
noch verboten sei, sich durch ein Gewerbe den Unterhalt zu
verdienen. Freizügigkeit ohne Gewerbefreiheit, sagte der Ab-
geordnete Braun, heißt ein Gehen, bei dem ein Bein gebunden,
eins entfesselt ist. Verkehrt war es, die Freiheit im Sinne ab-
soluter wirtschaftlicher Willkür als endgültiges Ziel zu setzen,
was der extreme Liberalismus zu betonen nicht müde wurde.
IX. Der Norddeutsche Bund.
227
Prince-Smith ging so weit, daß er meinte, jede Gewerbe-
regulierung sei von Übel, da sie sich dem volkswirtschaftlichen
Naturgesetz entgegenstemme.
Die Regierung legte 1868 ein großes Gesetz vor, das in
seiner äußeren Fassung sich an die preußische Gewerbeordnung
anlehnte, materiell die Freiheit verkündete. Es enthielt noch eine
Summe von Vorbehalten, von denen mehrere in der Reichstags-
kommission angefochten wurden, insbesondere auf dem Gebiete
des Konzessions Wesens. Da eine Einigung zunächst nicht zu er-
zielen war, machten die Abgeordneten M i q u e 1 und L a s k e r '
den Vorschlag eines Provisoriums, das nur allgemeine Sätze ent-
hielt und die Einzelheiten der Zukunft überließ.
So entstand das Notgewerbegesetz mit dem Inhalt, daß die
Zünfte keinem Nichtzünftigen die Ausübung des Gewerbes ver-
bieten durften, daß niemand gehindert werden konnte, mehrere
Lehrlinge nach Belieben anzunehmen, und daß ein Unterschied
Gewerbe nebeneinander zu betreiben oder Gesellen, Arbeiter und
zwischen Stadt und Land für die gewerbliche Tätigkeit nicht
mehr sein sollte. Es waren dies Grundsätze, die für die
Praxis auch kürzerer Zeit nicht ausreichten. Der Bundesrat
legte daher im nächsten Jahre einen neuen Entwurf vor, der
die beanstandete Beschränkung der Kolportage von Druckschriften,
an der den zielbewußten liberalen Volksboten so viel gelegen
war, beseitigte und die Aufhebung und Ablösung von ausschließ-
lichen Gewerbeberechtigungen, Zwangs- und Bannrechten zuließ.
Nachdem der Reichstag noch einige Freiheitsrechte erredet hatte,
entstand die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869, die später auf
das Reich übergegangen ist und die Grundlage des Gewerberechts
bis zur Gegenwart bildet, wenn auch zahlreiche Novellen, bis 1896
allein 23, erforderlich wurden.
Als Leitsatz wurde aufgestellt, daß der Betrieb eines Ge-
werbes jedermann gestattet ist, falls nicht durch das Gesetz Aus-
nahrnen vorgeschrieben oder zugelassen sind. Demnach ist die
Gewerbefreiheit die Beseitigung einer Reihe von polizeilichen Be-
schränkungen, soweit sie ohne unmittelbare Benachteiligung von
Staat und Gesellschaft als möglich gedacht wurde. Weder die
Staats- noch Ortsangehörigkeit, noch das Geschlecht begründen
das besondere Recht, einen Betrieb zu errichten. Die Linien des
Notgesetzes werden aufrecht erhalten. Ein Befähigungsnachweis
ist nur in wenigen, gesetzlich bestimmten Fällen zu erbringen,
wie von Seeschiffern, Seesteuerleuten, Maschinisten für Seedampf-
schiffe und Lootsen, Hufschmieden, Apothekern und Ärzten. Der
Konzession bedürfen die Unternehmer von Privatkranken-, Ent-
]5*
2 28 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
bindungs- und Irrenanstalten, die Schauspieler, Gast- und Schank-
wirte, Pfandleiher und Stellenvermittler.
Die P'reiheit besteht hinsichtlich der Zulassung zum Gewerbe;
für die Art der Ausübung gelten mancherlei Vorschriften, wie die
Anzeigepflicht des Betriebsbeginnes, die Auslegung von Taxen in
Gasthäusern, der Schutz der gewerblichen Arbeiter, die Sonntags-
ruhe, der Ladenschluß, das Anlageverbot gewisser Betriebe an
bestimmten Orten, damit die benachbarten Grundstücke und das
Publikum nicht belästigt werden. Speziell geregelt ist der Ge-
werbebetrieb im Umherziehen und der Marktverkehr.
Die Vereinigung von Einzelpersonen zur Verfolgung wirt-
schaftlicher und sozialer Zwecke wurde als ein weiteres Recht
anerkannt. Für die Handels-, Aktien- und ähnliche Gesellschaften
schloß bereits das Handelsgesetzbuch mancherlei V^-^illkür aus,
für die Kredit-, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften diente
ein besonderes Gesetz vom 4. Juli 1868, das ihnen die gewünschte
Rechtsfähigkeit verlieh, sie von der Überwachung und Leitung
der Staats- und Kommunalverwaltung lossprach und die ordent-
lichen Gerichte allein als die Behörde zuließ, die bei der Bildung
und Auflösung einzugreifen hat. Die vorhandenen Innungen selb-
ständiger Meister dürfen als freie Privatvereine fortbestehen, und
neue können als solche geschaffen werden, wenn sie sich den
gesetzlichen Normativen unterwerfen. Die Gewerbefreiheit wurde
durch sie nicht angetastet, und alle öffentlich rechtlichen Be-
fugnisse wurden ihnen entzogen. Der Eintritt konnte niemanden
versagt werden, es sei denn, daß er sich nicht in dem Besitz
der bürgerlichen Ehrenrechte befand und nicht infolge gericht-
licher Anordnung in der Verfügung über sein Vermögen be-
schränkt war. Ebenso war das Ausscheiden jedem vorbehaltlich
der Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen gestattet.
Die Koalitionsverbote der Arbeiter, die in den Einzelstaaten
galten, waren bereits in den ersten Monaten des Norddeutschen
Bundes Gegenstand der Reichstagsberatung gewesen. Ein Antrag
von Schultze-Delitzsch und Becker-Dortmund, sie zu
beseitigen, wurde damals angenommen, erhielt aber die Zustimmung
des Bundesrates nicht. Er war ihm in § i zu allgemein gefaßt ge-
wesen, bezog sich auch auf die Landwirtschaft und das Dienst-
botenverhältnis. Man wird nicht behaupten können, daß die An-
tragsteller die künftige Entwicklung der Gewerkvereine und Un-
ternehmerverbände vorausgesehen haben. Sie glaubten ein Grund-
recht zu verteidigen, dessen Anwendung sich, wie jede soziale
Freiheit, selbst regulieren würde, und konnten sich nicht vor-
stellen, daß eine Assoziation ihre Genossen ebenso zu tyrannisieren
IX. Der Norddeutsche Bund.
229
vermöge wie die Polizei die Untertanen in einem despotischen
Staate.
Die Gewerbeordnung regelt nur die Koalitionen der gewerb-
lichen Arbeiter, jedoch mit dem Zusatz, daß jedem Teilnehmer
der Rücktritt freisteht, und daß aus diesem weder Klage noch
Einrede stattfindet. Damit war der Schutz einer etwaigen Minori-
tät, die sich nicht beteiligen will, rechtlich gewährleistet, wenn
er auch in der Praxis oft bedeutungslos sein mochte. Um ihm
einen weiteren Nachdruck zu geben, ist der Strafparagraph 153
hinzugefügt : „Wer andere durch Anwendung körperlichen Zwanges,
durch Drohungen, durch Ehrverletzung oder Verrufserklärung be-
stimmt oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen
teilzunehmen, oder andere durch gleiche Mittel hindert oder zu
hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird
mit Gefängnis bis zu 3 Monaten bestraft, sofern nach dem all-
gemeinen Strafgesetz nicht härtere Strafe eintritt."
Hiermit war den Arbeitswilligen bei einem Streik die Freiheit
ihrer individuellen Entscheidung gegenüber einer Verbands-
herrschaft erleichtert, was dem Gedanken der Gewerbeordnung
durchaus entspricht. Ein ganz konsequenter Liberaler, J.G. Hoff-
mann, wollte 1841 den Gesellen nicht einmal die Bildung von
Hilfskassen gestatten, da diese sich zu Körperschaften auswachsen
könnten, in denen die Mitglieder unter sich selbst Polizei hand-
haben und ihre Rechte gemeinsam gegen die Arbeitgeber ver-
teidigen würden. Die Gewerbeordnung hat dem Produktions-
prozeß unter der freien Konkurrenz Gefahren ersparen und den
Arbeiterverbänden einen Selbstzweck in der Volkswirtschaft nicht
einräumen wollen.
Es ist verkehrt, die Arbeitseinstellungen allein vom Stand-
punkt der Arbeitgeber und Arbeiter zu erfassen. Sie sowohl wie
die Aussperrungen, welche die Koalitionen im Gefolge haben
können, sind Störungen der Gütererzeugung, ein Ausfall an Ein-
kommen, eine Schädigung der Verbraucher, leicht eine Veran-
lassung sozialer und politischer Verärgerung. Sie sollten daher
möglichst durch Ausgleiche beseitigt werden, wenn man sie nicht
aus der W^elt schaffen kann. Die Gewerbeordnung hat die Er-
richtung eines Einigungsamtes nicht vorgesehen und war insofern
lückenhaft.
In dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sind die Streiks
eine häufige Erscheinung gewesen, ein Zeugnis dafür, daß die
Konsolidierung der Volkswirtschaft auf dem gewerblich-sozialen
Gebiete unfertig geblieben ist. Einer der ersten größeren war
der der Leipziger Buchdrucker von 1865, der sich unter der
230 IV. Abschnitt. Die deutsche "Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 1871.
damals schon gewährten sächsischen Koalitionsfreiheit vollzog und
mit einer Lohnerhöhung der Gehilfen endete. Alsbald nach der
Einführung der Gewerbeordnung bricht in Berlin das Streikfieber
aus, vornehmlich im Baugewerbe. Hamburg folgte. Der erste
große Kohlenarbeiterausstand war im schlesischen Waldenburger
Revier und ging für die Bergleute verloren. Der deutsch-fran-
zösische Krieg unterbrach die begonnene Reihe, aber bald nach
dem Frieden setzte die Bewegung als Massenerscheinung und oft
in gewalttätiger Weise ein. Das Leben war teuerer geworden,
und diese Tatsache begründete die Forderung höheren Lohnes.
Die starke Nachfrage nach Arbeit in der günstigen volkswirt-
schaftlichen Konjunktur machte die Bewegung von vornherein
erfolgreich. Hunderte gewonnene Ausstände wurden der Schrecken
der Unternehmer, die sich zu Gegenverbänden einigten und mit
Aussperrungen, schwarzen Listen und Entlassungsscheinen fochten,
bis die Krise von 1873 ihnen zu Hilfe kam. Die Abhängigkeit
der Streikfolge vom Auf- und Niedergang des Geschäftes ist
seitdem geblieben. Der Höhepunkt der Ziffern fällt in die
Hausseperioden 187 i — 1874, 1888 — 1800, 1895 — igoo, 1905 — 1908,
1910 — 1912.
Das Bewußtsein eigener Macht in der Arbeitsklasse war
durch das im Norddeutschen Bunde eingeführte allgemeine
gleiche Stimmrecht gehoben worden und bedurfte nur noch
einer geringen Zeitspanne, um seine Ansprüche in der politischen
Arena anzumelden. Das neue Wahlsystem ist nicht etwa unter
dem Druck der Arbeitermassen gewährt worden, wie es die so-
zialistisch-ökonomische Geschichtskonstruktion ihnen gern vorreden
möchte. Sollte auch damals Bismarck, wie von Sybel
meint, die Hoffnung gehabt haben, „größeren Respekt vor den
Wünschen des Königs bei den Volksmassen als bei dem mittleren
und höheren Bürgertum zu finden", so hat er doch in seinen
Gedanken und Erinnerungen sich deutlich genug ausgesprochen,
weshalb er vor der radikalen Maßregel nicht zurückgeschreckt
ist: „Die Annahme des allgemeinen Wahlrechtes war eine Waffe
im Kampf gegen Österreich und weiteres Ausland, im Kampfe
für die deutsche Einheit, zugleich eine Drohung mit letzten
Mitteln im Kampfe gegen Koalitionen." Man erinnere sich, daß
am 8. April 1866 Preußen beim deutschen Bunde einen Antrag
auf Berufung eines deutschen Parlamentes auf Grund des all-
gemeinen gleichen und direkten Wahlrechtes unter Ausschluß
Österreichs gestellt hatte.
Ebenso wie die auswärtige Politik das entscheidende Motiv
für den Freihandel der sechziger Jahre gewesen ist, so war die
IX. Der Norddeutsche Bund.
231
„Rettung der Unabhängigkeit nach außen" auch jetzt ausschlag-
gebend. „Die Liquidation und Aufbesserung der angerichteten
Schäden" sollte später erfolgen, wie es denn mit der Wirtschafts-
politik von 1879 im ersteren Falle geschehen ist. Im zweiten
kam es zu einer Abänderung nicht, vielmehr bemächtigte sich die
Arbeiterschaft des gebotenen Kampfmittels, um schließlich in der
Revolution das Bismarcksche Lebenswerk zu zerstören.
Der Norddeutsche Bund hat noch eine Anzahl anderer Ge-
setze mit direkter oder indirekter wirtschaftlicher Wirkung ge-
bracht, 1867 über die Aufhebung der gesetzlichen Zinsbeschrän-
kungen, entsprechend der Anschauung, daß in der heutigen Volks-
wirtschaft der sich ändernde Gewinn den Zins an erster Stelle
bestimmt; über die Organisation der Berufskonsulate, die Na-
tionalität der Kauffahrteischiffe, womit das Recht der Reeder
und Befrachter festgelegt wurde, 1868 über die Beseitigung poli-
zeilicher Beschränkungen bei der Eheschließung, die Bayern, wenn
auch Milderungen kamen, nicht annahm, über die Aufhebung
der Schuldhaft, als eines für den Gläubiger nichtssagenden Schutz-
mittels, für die übrigens später in der Konkursordnung von 1879
eine straffere Handhabung der Realexekution als Kompensation
verliehen wurde, über die Gleichberechtigung der Konfessionen.
1869 folgte das Vereinszollgesetz, das die Verwaltung des Zoll-
wesens bei dem Niederlage wesen, in den Grenzbezirken, bei De-
frauden und Zollstreitigkeiten regelte, das Gesetz über Maßregeln
gegen die Rinderpest, über die Beschlagnahme des Arbeits- und
Dienstbotenlohnes; 1870 dasjenige über den Unterstützungs-
wohnsitz in der Gemeinde, über die Vermeidung der Doppel-
besteuerung in den einzelnen Staaten, über das Urheberrecht an
Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dra-
matischen Werken, über die Flößereiabgaben, über den Erwerb
und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit, die Ehe-
schließung und die Beurkundung des Personenstandes.
Diese Gesetze sind in der Hauptsache dann später vom
Reiche übernommen worden. Die Armenunterstützung der Ge-
meinde, die 1870 nach zweijährigem Aufenthalte in derselben be-
gründet wurde, wurde 1898 schon nach einem Jahre einem jeden
gewährt, der das 16. Lebensjahr zurückgelegt hatte.
Tief eingreifend in den gesamten Verkehr wurde die M a ß -
und Gewichtsordnung vom 17. August 1868, die schon 1861
von einer Sachverständigen-Kommission des deutschen Bundes aus-
gearbeitet und 1865 bestätigt worden, aber nur eine schöne Idee
geblieben war. Jetzt wurde die Einheit festgelegt, die weiterhin
auch auf Süddeutschland Anwendung fand. Die Grundlage des
232 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
Maßes und Gewichtes wird das Meter oder der Stab mit dezi-
maler Teilung und Vervielfachung.
Die bestehenden Zustände waren mit der vergrößerten Ver-
kehrsentwicklung unerträglich geworden, da sie eine Vielartig-
keit der Einrichtungen einschlössen, von denen einige Beispiele
gegeben sein mögen: Hessen hatte einen kleinen Fuß, Frank-
furt a. M. die kleine Elle, Nassau den größten Fuß, den eine's
Riesen, von 1/2 Meter. In Preußen hatte ein Pfund 30 Loth
zu 15 Quentchen, in den nordwestdeutschen Staaten 10 Loth und
100 Quint, in den südwestdeutschen 32 zu 4 Quentchen. Das
Pfund als solches war wenigstens durch Vermittelung des Zoll-
vereins 1837 ein einheitliches geworden, das zunächst als Zoll-
pfund = 500 Gramm in Zollsachen, später, mit Ausnahme von
Bayern, zum allgemeinen Gewicht erhoben wurde. In Kassel galt
übrigens noch daneben i Zentner Schwergewicht zu 100 Pfd., in
Frankfurt a. M. 108, in Königsberg 128. In Preußen maß man das
Land nach Morgen, in Bayern nach Tagewerk, in Württemberg
nach Jauchert, Größen, die voneinander stark abwichen, in Baden
das Getreide nach Zuber, Malter, Sester, Mäßlein und Becher,
die Flüssigkeiten nach Fuder, Ohm, Stützen, Maß und Glas.
Innerhalb Preußens gab es verschiedene Großhandelsmaße. Das
Getreide wurde in Königsberg zu 85 Pfd. -Gewicht, in Danzig
nach Last, in Stettin nach Scheffel, in Köln nach Malter notiert;
In Elbing und Stralsund galten Amsterdamer Pfunde. In Danzig
bedeutete die Last 561/2, in Stralsund 72 Scheffel. Der Wispel
wurde in Preußen offiziell zu 24 Scheffel gerechnet, im Ver-
kehr bei Hafer zu 26, bei Weizen, Roggen, Gerste und Erbsen
gleich 25. Bei der Schiffsbelastung rechnete man die gewöhn-
liche Last zu 4000 Pfd., die Kommerzlast zu 6000.
Anders als das Eisenbahn- hat das Postnetz seinen histo-
rischen Aufbau gefunden. Während jenes ein staatlich-privates,
ein gemischtes war, ist dieses mit Ausnahme der Thurn- und
Taxisschen Post ein ausschließlich staatliches gewesen. Es wurde
nach den Bedürfnissen des Staatswesens und des Wirtschafts-
lebens erweitert, wobei das Finanzielle, wenn es auch beachtet
wurde, durchaus an zweiter Stelle stand. Die Privatbahnen folgten
den Dividendenerwägungen bei ihrer Gründung und Verwaltung,
so daß sich in der Volkswirtschaft eine Differentialdividende ähn-
lich der Ricardo sehen Fruchtbarkeitsrente der Grundstücke
herausbildete, bestimmt wesentlich durch die Größe des Bahn-
betriebes. Bei der Post wurden die guten und schlecht brin-
genden Strecken ineinander zu einem Einheitsertrage für die
Staatskasse verrechnet, der freilich größer gewesen sein würde,
IX. Der Norddeutsche Bund. 233
wenn sich die Kleinstaaterei mit i6 Postverwaltungen und 31
Postgebieten ihm mit ihren Sonderwünschen und Kontrollen
nicht widersetzt hätte.
Während des Krieges von 1866 hatte die preußische Re-
gierung auf Anregung des Geheimrates Stephan, des späteren
hochverdienten Leiters des deutschen Reichspostwesens, die
Thurn und Taxis sehe Postverwaltung, die sich über 21 Klein-
und Mittelstaaten erstreckte, mit Beschlag belegt und unter Ver-
waltung genommen. Nach dem Frieden wurde der Fürst von
Taxis mit 3 Millionen Tlr. abgefunden und verzichtete damit
auf das alte kaiserliche Regal, mit dem sein Vorfahr 1520 von
Karl V. belehnt worden war. Die Einrichtung, die sich in einem
wohlgeordneten Betrieb bewegte, hatte bei der deutschen Klein-
staaterei viel Gutes geleistet, jetzt mußte sie als überlebt gelten,
da eine postalische Einheit für den Norddeutschen Bund nicht
hinauszuschieben war. Die großstaatlichen und volkswirtschaft-
lichen Zwecke der Post mußten anerkannt werden, die finanziellen,
die bei der Thurn und Taxisschen Verwaltung in dem Vordergrund
standen und die notwendigen Ausgaben für die Bequemlichkeit
des Publikums beschränkt hatten, an zweite Stelle treten.
Schon die Frankfurter Reichsverfassung hatte für das Post-
wesen die Reichshoheit und den Reichsbetrieb gefordert. Ver-
waltungsverbesserungen brachten im Anschluß der Dresdener Kon-
greßverhandlungen der deutschen Postverwaltungen von 1847 und
an die Postverträge zwischen Österreich, Bayern, Baden, Sachsen,
Preußen, Thurn und Taxis von 1843/44 der preußisch-öster-
reichische Postvertrag von 185 1 und die Postkonferenzen der
deutschen Staaten in den folgenden Jahren. Mit § 48 der Ver-
fassung des Norddeutschen Bundes wurden die längst gehegten
Wünsche der Einheitspost wenigstens für Norddeutschland erfüllt.
Die Staaten südlich der Mainlinie blieben abseits, wenn sie auch
die praktischen Grundsätze des Nordens im inneren Verkehr nach-
ahmten.
Der Bund übernahm nach preußischem Muster die Ver-
waltung, deren Einnahmen und Ausgaben in den Etat eingesetzt
wurden. Das Postregal wurde über das notwendige Maß nicht
ausgedehnt, so daß der Verkehr mit Paketen, Geld- und W^ert-
sendungen frei blieb, obwohl er bald faktisch auf die Staats-
anstalt überging. Von den Tarifreformen war die wichtigste das
einstufige Briefporto, das die Zonensätze beseitigte, so daß jetzt,
nachdem mit Süddeutschland und Österreich Verträge vereinbart
worden waren, der Brief von einem Loth — später 15 Gramm —
für einen Groschen von Memel bis Konstanz oder von Haders-
234 ^^' -A^bschnitt. Die deutsche "Wirtschaftsgeschichte von 1848 — 187 1.
leben nach Triest befördert wurde, wobei die Postverwaltung
unter rascher Ausdehnung des Verkehrs keine schlechten Ge-
schäfte machte.
Die großstaatliche Postverwaltung war für den Abschluß
internationaler Postverträge ganz anders geeignet als die ehe-
malige Summe der vielen deutschen Partikularposten. Ein großer
Erfolg war aber hier erst dem Reich beschieden. Schon 1863
hatten die Vereinigten Staaten eine zwischenstaatliche Post-
konferenz veranlaßt, die nur zu Beratungen, aber zu keinem Er-
gebnis geführt hat. Erst 1874 war es dem Ingenium des deutschen
Generalpostmeisters Stephan beschieden, den allgemeinen
Postverein zu Bern zustande zu bringen, eine Dauer-
einrichtung mit niedrigen Einheitstarifen für alle
sich anschließenden Länder. Bald nach seiner Gründung umfaßte
er 300 Millionen Menschen und 700 000 Quadratmeilen Landes.
Der dann folgende, nur dem Namen nach veränderte „W e 1 1 -
postverein" hielt an dem leitenden Grundsatze fest, wurde zu
einer den V^^eltverkehr mächtig fördernden Einrichtung unter
Aufnahme immer weiterstrebender Verbesserungen.
Mit der Begründung des Norddeutschen Bundes haben wir
von der hundertjährigen Geschichte, in der wir die deutsche
Volkswirtschaft verfolgen, die Mitte erreicht. In der ersten Hälfte
entwickelt sich dieser Zusammenhang des Ganzen aus dem Vor-
gehen der Privatwirtschaften und Einzelstaaten — man denke
an die Eisenbahnen — heraus, oft ohne genügenden Plan und
daher unter steten Korrekturen, und völkerrechtliche Abmachungen
unter den Bundesstaaten bringen eine nur zweifelhafte Festigung,
weil sie zu oft gefährdet ist, wie das z. B. der Zollverein be-
wiesen hat. In der zweiten Hälfte bleibt in der auf dem Indi-
vidualismus fußenden Volkswirtschaft den einzelnen Wirtschaften
noch Spielraum genug zur verkehrsmäßigen Gliederung des wirt-
schaftenden Volkes, allein die Politik organisiert zielbewußt und
verleiht damit der Gesamtheit vergleichsweise zur vorangehenden
Periode ein rascheres Vorwärtsschreiten, das im Nordbunde durch
dessen räumliche Beschränkung und Unvollkommenheit in der
Kompetenz noch zurückgehalten wird, im Reich rasch ins Große
wächst.
Literatur.
I. Bremer Handelsblatt, herausg. von A. Lammers, 1851 — 1870.
Otto Hübner, Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik, 1856 — 1861.
H. von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reichs durch Wilhelm I., 1901,
Bd. n und ni.
Literatur. 235
II. A. Judeich, Die Grundentlastung in Deutschland, 1863.
W. Bios, Die deutsche Revolution, 1893.
B. Becker, Die Reaktion in Deutschland, 1869,
F. Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, 1897.
F. Goldschmidt, Die deutsche Handwerkerbewegung bis zum Siege der Gewerbe
freiheit, mit Literaturangabe, 19 16.
G. Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, 1870.
K. F. Eheberg, Die industrielle Entwicklung Bayerns seit 1800, 1879.
J. Kaizl, Der Kampf um Gewerbereform und Gewerbefreiheit in Bayern 1799 bis
1868, 1879.
V. Böhmert, Freiheit der Arbeit, Beiträge zur Reform der Gewerbegesetze, 1858.
G. Schönberg, Gewerbe I. im Handbuch der politischen Ökonomie, 1882.
W. Köhler, Die deutsche Nähmaschinenindustrie, 191 2.
E. Kaier, Wilhelm Weitling, Seine Agitation und Lehre, 1887.
Fr. Engels, K. F. Marx, Hw. d. Stw. IIL Aufl. Bd. VL
G. Adler, Grundlagen der K. Marxschen Kritik der bestehenden Volkswirtschaft, 1887.
III. Außer der bereits angeführten Zollvereinsliteratur:
Der Handelsvertrag zwischen Preußen und Hannover, Deutsche Vierteljahrsschrift, 1852.
Asher, Handelsvertrag zwischen Preußen und Hannover, 1862.
A, Beer, Geschichte der österreichischen Handelspolitik im 19. Jahrhundert, 1891.
A. Bienengräber, Statistik des Verkehrs und Verbrauchs im Zollverein, 1868.
Viehbahn, Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, 1862.
IV. J. Conrad, Art. Getreidepreise, Hw. d. Stw. III. Aufl.
*K. Flegel, Montanstatistik des Deutschen Reiches, 1915.
Handw. d. Stw., Art. Baumwollindustrie, Wolle und Wollindustrie, Seide und
Seidenindustrie, Leinenindustrie. III. Aufl.
G. Schmoller, Entwicklung und Krise der deutschen Weberei, 1873.
E. Schmidt-Weißenfels, Geschichte des modernen Reichtums, 1893.
Deutsches Museum, Führer durch die Sammlungen, 1916.
*K. Karmarsch, Geschichte der Technologie, 1872.
Die Pariser Internationale Ausstellung, Blätter für Industrie, Kunst und Gewerbe 1867.
Volz, Großbritannien und Deutschland auf der Industrieausstellung zu London, Zeitschr.
für St.-Wiss. 1851.
A. Ebeling, Die Wunder der Pariser Ausstellung, 1867,
Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erkanntes, 1920.
V. Helferich, Die Einheit im deutschen Münzwesen, Zeitschr. für St.-Wiss. 1850.
*A. Soetbeer, Deutsche Münzverfassung, 1874.
Derselbe, Die Goldwährung in Deutschland, Preuß. Jahrb. B.I. XLIV.
Karl Helfferich, Die Folgen des deutsch-österreichischen Münzvereins von 185 1, 1894.
11. von Poschinger, Bankwesen und Bankpolitik in Preußen 1878/79.
Die Bank des Berliner Kaagenvereins, Denkschrift, 1900.
O. Hübner, Die Banken, 1853/54.
F. Hecht, Bankwesen und Bankpolitik in den süddeutschen Staaten, 1880.
W. Lotz, Geschichte der deutschen Notenbanken bis zum Jahre 1857, 1888.
"Dr. Rießer, Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Großbanken, 1905.
*G. Obst, Das Bankgeschäft, Bd. H, 1914.
*0. Wormser, Die Frankfurter Börse, ihre Besonderheiten and ihre Bedeutung, 19 19.
F. Dannenbaum, Deutsche Hypothekenbanken, 191 1.
H. Rau, Vergleichende Statistik des Handels der deutschen Staaten, 1863.
VI. *Max Wirth, Geschichte der Handelskrisen, 1874.
Derselbe, Illustrierter deutscher Gewerbekalender, 1866 — 187 1,
2X6 IV. Abschnitt. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1848— 1871.
Otto Michaelis, Volkswirtschaftliche Schriften II, Handelskrisis von 1857.
Ph. Bauer, Die Aktiengesellschaften in Baden, 1903.
R. Steine rt, Kapitalbewegung und Rentabilität der Leipziger Aktiengesellschaften, 191 2.
Paul Model, Die großen Berliner Effektenbanken, 1896.
F. L. Knips, Entwicklung und Tätigkeit der Bank für Handel und Industrie, 1912.
VII. *K. Diehl, Über Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus, 191 1.
C. Fischer, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters, Leben und Wissen,
Bd. II und IV.
F. A. Lange, Die Arbeiterfrage. IV. Aufl., 1879.
V. Plener, F. Lassalle, 1884.
Brandes, F. Lassalle, ein literarisches Charakterbild, 1877.
B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation F. Lassalles, 1874/75.
Hw. für St.-Wiss., Art. Lassalle mit Literaturangabe. III. Aufl.
K. Marx, Das Kapital, 1867— 1893.
R. Meyer, Der Emanzipationskampf des vierten Standes, 1882.
*Ludwig Bamberger, Deutschland und der Sozialismus, 1878.
W. Böhm er t. Die Hamburg- Amerika-Linie und der Norddeutsche Lloyd, 1909.
P, Neubaur, Der Norddeutsche Lloyd. 50 Jahre der Entwicklung 1857 — 1907, 1907.
VIII. *John Prince Smith, Gesammelte Schriften, 1877.
W. Wundt, Die Nationen und ihre Philosophie, 19 15.
*Die Handelspolitik des Deutschen Reichs vom Frankfurter Frieden bis zur Gegen-
wart, 1899.
Oswald Schneider, Bismarck und die deutsche Freihandelspolitik, 19 10.
W. Mönckmeyer, Die überseeische Auswanderung, 1912.
E. V. Philippovich, Auswanderung, Hw. d. Stw., III. Aufl.
H. Blum, Auf dem Wege zur deutschen Einheit, 1893.
K. Maß, 25 Jahre deutsche Reichsgesetzgebung, 1892, Denkschrift der national-
liberalen Partei.
*H. von Poschinger, Bismarck als Volkswirt, 1889 — 1891.
L, Bamberger, Vertrauliche Briefe aus dem Zollparlament, 1870.
A. von Matlekovitz, Die Zollpolitik der Österreich-ungarischen Monarchie von
1850 bis zur Gegenwart, 1877.
L. JoUy, Maß und Gewicht im Handbuch der politischen Ökonomie, 1882.
IX. R. von Landmann, Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich, 1884.
Das Gewerbewesen im Königreich Bayern, 1859.
Hw. d. Stw., Art, Koalition und Koalitionsrecht und Arbeitseinstellungen in Deutsch-
land von W. Stieda und K. Oldenberg. III. Aufl.
R. V. d. Borght, Die Weiterbildung des Koalitionsrechts der gewerblichen Arbeiter, 1899.
H. Herkner, Die Arbeiterfrage. III. Aufl., 1897.
*Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs seit 1876.
Dietrich Schäfer, Deutsche Geschichte 192 1.
V. Abschnitt.
Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — i8go.
I. Vorbemerkung. Die Beeinflussung" der Volkswirtschaft
durch eine neue politische Verfassung und Verwaltung ist schwer-
lich jemals deutlicher als mit der Reichsgründung hervorgetreten.
Die überwiegend negative wirtschaftliche Gesetzgebung des Nord-
deutschen Bundes, entsprechend der manchesterlichen Periode des
freien Gehenlassens, wurde bald durch die Neugestaltung des Geld-
und Bankwesens, der nationalen Handels-, Finanz- und Sozial-
politik an Bedeutung überholt, außerdem erwies sich die ge-
wonnene Kraft des Einheitsstaats im Völkerverkehr als eine starke
Quelle neuen Wohlstandes.
Es war das Staatsgebiet des Nordens um die süddeutschen
Länder und um Elsaß-Lothringen vergrößert worden. Es stand
im Herzen Europas ein kaiserliches Reich, das alle wirtschaft-
lichen Angelegenheiten seiner Bürger im Auslande mit seiner
Wehrmacht zu schützen willens war, das seinen diplomatischen
Vertretern und Konsuln eine Achtung zu schaffen verstand, wie
sie die Einzelstaaten der Vergangenheit niemals zur Aufrecht-
erhaltung und Neuordnung völkerrechtlicher Abmachungen be-
sessen hatten.
Die Deutschen im Auslande haben von jeher die Eigenschaft
gehabt, sich bei der Verfolgung ihrer persönlichen Angelegen-
heiten der fremden Sprache und Sitte vortrefflich anzupassen,
wobei ihnen der Vorwurf nicht erspart bleiben konnte, daß sie
ihr Volkstum zu leicht preisgaben. Die Klagen über mangelnden
nationalen Stolz sind auch nach 1871 nicht verstummt. Waren sie
schon früher zu sehr verallgemeinert worden, da z. B. das, was
für Nordamerika galt, für Mittel- und Südamerika nicht paßte,
der gebildete Großkaufmann in der Fremde anders empfand als
der ausgewanderte Handwerker und Landarbeiter, so war mit
dem neuen Reich das Nationalbewußtsein der Auslandsdeutschen
doch gehoben worden, wenigstens so lange, als Bismarck die
Zügel der auswärtigen Politik in der Hand hielt oder sein Befehl
noch im Herzen vieler nachklang.
Wegen ihrer wirtschaftlichen Tüchtigkeit haben die Auslands-
deutschen sich den Haß ihrer andersstaatlichen Mitbewerber zu-
228 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
gezogen. War sie mit der vaterländischen Hingebung gepaart,
so wurde sie noch schwerer verziehen. Dem Einzelnen wurden
nationale Lächerlichkeiten nachgesagt, und der Gruppe Eigen-
schaften irgendeiner Person angedichtet. Nach des Kanzlers Ent-
lassung wurden die Deutschen auch außerhalb des Reiches wieder
Nur-Parteileute und beurteilten ihr Vaterland nach der Presse,
die sie lasen. Manche Dinge daheim vermochten sie rich-
tiger abzuschätzen, als es zu Hause geschah, für vieles ver-
loren sie das Augenmaß, da sich hier so schnell alles veränderte.
Wenn sie trotz dieser ihr fehlenden Geschlossenheit von ihren
Gegnern nicht weniger angefeindet wurden als ehedem, so lag
das darin, daß ihre technische und ökonomische Überlegenheit
wuchs, die nur ein Reflex des vaterländischen Fortschrittes war,
und daß Deutschland geschäftlich jetzt mehr in der Weltwirt-
schaft zu sagen hatte, als früher seine Einzelstaaten zusammen
auf dem europäischen Kontinent.
Man hat sich oft bei uns, besonders in den Jahren vor dem
Weltkrieg, die Frage vorgelegt, warum auch die Deutschen daheim
von allen ihren Nachbarn so angefeindet worden sind, was doch
50 Jahre früher noch keineswegs der Fall gewesen war. Der
Grund ist derselbe, der für die Auslandsdeutschen soeben genannt
wurde: die Überlegenheit an Arbeitsfähigkeit, Ordnungssinn im
Wirtschaftsleben, Erfindungs- und Organisationstalent. Der Unter-
offizierston in gewissen Kreisen, die Vorliebe für das Jägerhemd,
das Biertrinken oder andere gern genannte, angeblich nationale
Eigentümlichkeiten konnten wohl Spott, aber niemals wilden Haß
erregen. Fehler, auch moralischer Art, werden leicht verziehen,
niemals aber Überlegenheiten — ebenso wenig wie im indivi-
duellen so im völkischen Leben; daher denn Fr. Nietzsche
mit Recht bemerkt: „Worin eine gegnerische Rasse oder ein
gegnerischer Stand seine Stärke hat, das wird ihm als sein
Bösestes, Schlimmstes ausgelegt: denn damit schadet er uns
(seine „Tugenden" werden verleumdet und umgetauft)." Aus Dis-
ziplin wurde Mihtarismus, aus Fleiß Konkurrenzwut, aus wissen-
schaftlicher Kraft Hinterlist gemacht. Daß das deutsche Volk
diese Täuschung nicht erkannte, ja selbst schließlich daran glaubte,
was ihm seine Feinde vorredeten, gehört zu den dunkelsten
Punkten seiner neueren Geschichte und ist auch wirtschaftlich
verderblich geworden.
Das Deutsche Reich macht den Zollverein überflüssig. Es
bildet verfassungsmäßig ein einheitliches Handels- und Zollgebiet.
Die Zolleinnahmen und wichtige Verbrauchssteuern fließen in die
Reichskasse und dienen zur Deckung der öffentlichen Ausgaben.
I. Vorbemerkung. 23Q
Der Dualismus im Finanzwesen, wie ihn der Norddeutsche Bund
im Zollverein kannte, ist beseitigt worden. Die Erhebung und
Verwaltung der Zölle bleibt dem föderativen Wesen der
neuen Schöpfung gemäß den Bundesstaaten wie bisher, der
Kaiser überwacht die Einhaltung des gesetzlichen Verfahrens durch
Reichsbeamte. Die äußere Handelspolitik wird im Wege der Ge-
setzgebung unter Übereinstimmung von Bundesrat und Reichs-
tag festgestellt. Die Handelsverträge werden vom Kaiser unter
Genehmigung des Bundesrates abgeschlossen und bedürfen zu
ihrer Gültigkeit der Genehmigung der Volksvertretung. Die
Reichskompetenz für das innere Wirtschaftsleben schließt sich den
Regeln des Norddeutschen Bundes an. Die Bundesgesetze werden
auf das Reich übertragen, soweit keine Reservatrechte des Südens
in Frage stehen.
Wir haben oben bei der Periode von 1833—1848 bemerkt,
wie damals Südwestdeutschland mit seinem lebhaften demokrati-
schen Gewoge die gesamte deutsche innere Politik der Landtage
ins Schlepptau nahm. Noch in der Frankfurter Nationalversamm-
lung diktierte es dem ganzen Volk Gesetze. Es war dieser Vor-
gang nur aus der geschichtlichen Vergangenheit zu begreifen.
Denn nirgends war ehemals ein Gebiet so in eine Unzahl reichs-
ritterschaftlicher und anderer kleiner Besitzungen mit partikula-
ristischen Tendenzen zersplittert gewesen, und nirgends hatten
sich die Abgrenzungen der Konfession so ineinander verwickelt, als
hier in Baden, Württemberg, Rheinbayern, Hessen und Nassau.
War damit schon der Nährboden für individualistische Gleichheits-
bestrebungen gegeben, die sich von Frankreich über den Rhein
ergossen hatten, so wurde er noch andauernd durch die viel-
artigen wirtschaftlichen Interessen, die sich als agrare, gewerb-
liche und kommerzielle in der geographischen Enge berührten,
befruchtet. Mit der Reichsgründung verschob sich der politische
Schwerpunkt nach Preußen, als der Vormacht im Bundesrat, und
in die großen nationalen Berufsstände, die im Reichstage ihre
parlamentarischen Kämpfe ausfochten. Die Parteien kommen neben
den Ländern zu Wort und die politische Wirklichkeit ist oft eine
Resultante aus dem Willen beider.
Die politische Begeisterung, die das deutsche Volk 1870/71
in heftigster Erregung gehalten hatte, konnte, als das Reich nun
gefestigt dastand, unter der natürlichen Reaktion der Dinge in
ihrer hohen Spannung nicht verbleiben. Der Sinn richtete sich
auf Lebensgenuß und Erwerb, zumal aus der Volkswirtschaft
heraus anspornende Kräfte tätig waren. Viel Kapital zu neuen
Unternehmungen war in den letzten Jahren angesammelt worden,
240 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
5 Milliarden Franken französischer Kriegsentschädigung er-
gossen sich in die deutsche Volkswirtschaft. Technische Erfin-
dungen, besonders in der chemischen Industrie, waren gemacht
worden und harrten der Ausbeute. Die liberale Wirtschaftsgesetz-
gebung und Verwaltung drängte zu Gesellschaftsgründungen, Zu-
sammenziehung von Arbeitskräften und großstädtischer Menschen-
anhäufung.
Die Übertreibung der spekulativen Neubildung, der Schwindel,
den Banken, Börsen und Publikum betrieben, endigte mit der
stärksten Krise, die das Jahrhundert gekannt hat. Die Aufwärts-
bewegung war nicht allein deutschen Ursprungs gewesen, sie trug
einen internationalen Charakter. Daher war auch der Rückschlag
überall. Er setzt dem vierzigjährigen Vordringen des Erwerbslebens
einen Höhepunkt in Preisen, Gewinnen, Zinsfuß und Löhnen.
Nachdem das Hinabgleiten endlich aufgehalten worden ist, kommt
eine längere Periode der Sammlung, der Erholung, ehe die scharfe
Richtung nach oben wieder eingeschlagen werden kann.
In Deutschland brach sich gleichzeitig die Erkenntnis Bahn,
daß die manchesterliche Wirtschaftspolitik den von ihr behaup-
teten Segen nicht gebracht habe. Tief prägten sich die furcht-
baren Wunden dem Volke ein, die die Orgien der wirtschaftlichen
Willkü}- geschlagen hatten. Eine tiefe Mißstimmung wurde die
Voraussetzung für Reformen, die in dem Zugreifen des Reichs-
kanzlers eine glückliche Linie erhielten. Eine neue Wirtschafts-,
Finanz- und Sozialpolitik kommt herauf, die die Kräfte der Nation
verständiger gliedert und einheitlicher als bisher zusammenfaßt.
Eine starke Anregung erhält das nationalwirtschaftliche Empfin-
den durch den Erwerb von Kolonien und das verstärkte Ein-
greifen in die Weltwirtschaft. Materielle und Wissensschätze
werden aufgespeichert, deren volle Nutzbarmachung dem folgenden
Zeitraum des deutschen Wirtschaftslebens vorbehalten bleibt.
Wenn man unter Kultur den engeren Begriff Nietzsches
verstehen will, „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebens-
äußerungen des Volkes", so wird man dem Philosophen
zustimmen, als er in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen" den
Nachweis zu führen unternimmt, daß es im neuen Reich mit ihr
nicht zum guten bestellt sei. Aber die zehn Jahre vorher war es
auch nicht viel anders gewesen. Es ist nun einmal so, daß eine
Nation, die sich nach einer Seite hin gewaltig ausgibt, der Fähig-
keit, nach einer anderen hinzuwirken, ermangelt. Wie kann man
vom Reich, das seine politischen Grundlagen erst zu erproben hat,
wie von einer atomistisch zersplitterten, erwerbshungrigen Gesell-
schaft erwarten, daß sie positiv kulturell etwas leisten. Immer-
Vorbemerkung, 2 4 1
hin bleibt die Tatsache der Reichsgründung nicht ganz ohne Ein-
fluß auf den künstlerischen Gedanken. Die Historienmalerei, er-
zählt uns R. Muther in seiner Geschichte der Malerei im 19.
Jahrhundert, erhält durch 1870 den Todesstoß, da Deutschland
keine Veranlassung mehr hat, sich über sein politisches Elend
durch Vorführung von Staatsaktionen früherer Zeiten trösten zu
lassen. „Germania", schreibt er, „die noch Kaulbach im
Treppenhaus des Berliner Museums darstellte, wie ihr, während
sie über die Lektüre eines alten Buches vertieft ist, unversehens
die Krone vom Haupte rutscht, hatte mit starker Hand das
Zepter ergriffen." Man erinnert sich auch der großen deutschen
Kunst der Vergangenheit, und glaubt es ihr gleichtun zu müssen,
und etwas Neues, Nationales hervorzubringen. Das mißglückt
zwar, da man, statt sich entschlossen in die Gegenwart zu stürzen,
an „altdeutsch und stilvoll" hängen bleibt. Das Kunstwerk reißt
man aus der Lethargie des verflachten Biedermeier allerdings
heraus. Man trägt zur Verfeinerung des modernen Damenkostüms
etwas bei und findet wieder Freude an der Farbenpracht der Öl-
gemälde. Die nachgeahmten alten strengen Formen der Archi-
tektur hat man indessen bald satt, fühlt sich durch den Ersatz
des Barocks am Ende der siebziger Jahre auch nur wenig be-
friedigt. Der anschwellende Reichtum gibt der Richtung zum
Prunkvollen Nahrung, Renaissancepaläste der Banken und Ver-
gnügungslokale durchbrechen die großstädtischen Straßenfassaden,
die Privatwohnungen füllen sich mit schweren Eichenholzbuffets
und Truhen an, und altdeutsche Kneipzimmer und Restaurants
verdrängen die nüchternen Bierhäuser und Weinstuben mit ihrem
gelbbraunen Ölfarbenanstrich und weißer Gardine. Indem
man das Klein- und Spießbürgerliche durch den Aufwand von
Millionen abstreifen will, übersieht man, daß man, um sich von
einer eklektischen Tradition loszumachen, doch mehr nötig hat,
als sein gutes Deutschtum zu betonen.
Was die Musik angeht, so sind während des Krieges von
1870 keine neuen Lieder, in die die deutsche Seele so gern aus-
strömt, ertönt, wie einst in der Leidens- und Sturmzeit von 18 13.
Auch spielt man wieder den Pariser Einzugsmarsch, nach dem
man schon 18 14 marschiert war. Wenn Brahms mit seinem
Triumphlied und Wagner mit dem Kaisermarsch hervortreten,
so sind das mehr Gelegenheitsschöpfungen als spezielle Ausdrucks-
weisen eines allgemeinen nationalen Empfindens gewesen.
Die L es sing sehe Mahnung, daß wir ein Nationaltheater
haben sollen auch ohne ein politisch geschlossenes Vaterland, ist
seit seiner Zeit ebenso oft ausgesprochen, wie nicht ausgeführt
A.Sartorius v. Waltershausen Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 16
242 V. Abschnitt. Dis Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
worden, und mit dem gesprochenen Drama ist es nach 1870 nicht
anders als vorher bestellt. Das Musikdrama Wagners hin-
gegen erregt durch seine Stoffe, wenn auch zunächst nur in
engeren Kreisen, eine Begeisterung, die sich in den „Meister-
singern von Nürnberg" am reinsten auslöst. Vor allem ist der
äußere Höhepunkt des Wagner sehen Lebenswerkes, die erste
Aufführung der Nibelungen-Trilogie in dem neuen Festspielhaus
1876, der der Kaiser und der König von Bayern beiwohnen,
ein nationales Ereignis, von dem her für die Operndarstellung
eine neue feste Stillinie datiert. Bayreuth ist hernach eine euro-
päische Angelegenheit geworden, nicht bloß aus dem Grunde der
allgemeinen Rückwirkung, sondern auch, weil die Musik aus italie-
nischen, französischen und deutschen Wurzeln zugleich ent-
sprossen war.
Für die Aufführungen ist der moderne Reichtum eine ihrer
Voraussetzungen geworden. Die kostbaren Ausstattungen können
bald alle großen deutschen Theater auTbringen, und der goldene
Reisestrom der reichen Schaulustigen ergießt sich als Aktivum
der deutschen Zahlungsbilanz vom Ausland nach München und
anderen Städten, wenn eine Reihenfolge der Werke des Meisters
zur Musterdarstellung gelangt.
Die Oper bleibt in der Folgezeit der wirtschaftHchen Ent-
wicklung des Reichs der Schwerpunkt der theatralischen Lei-
tungen. In ihren Klängen suchen die vom Hasten und Drängen
des Erwerbs und der Politik Ermüdeten am Abend Erholung und
Vergessenheit, in einem Kunstwerk, das das verstandesmäßige,
aufmerksame Durchdringen der Vorgänge, so wie beim Schau-
spiel, nicht erfordert. Hinter den Kulissen und in der Kritik
der Tageszeitungen sieht die Sache nicht ganz so gefühlvoll aus.
Hier herrscht die Geschäfts-, die Reklame- und Konkurrenzwut
des Zeitalters und das Agentenunwesen in ebensolcher brutalen
Weise als an der Börse von Wertpapieren und Produkten.
Richard Wagner hat in seinem Aufsatz „Deutsche Kunst
und deutsche Politik" den Vorstoß der sogenannten französischen
Zivilisation gegen das deutsche Theater bekämpft und sucht nach
Mitteln und Wegen für eine höhere Kunstpflege, als sie Ballett, Ver-
ballhornung von Faust und Teil und frivoles Lustspiel und
Operette zu bieten vermögen. Er hofft, daß die deutschen Fürsten
sich seines Ideals annehmen würden, wobei er sich in König
Ludwig II. von Bayern nicht getäuscht hat. Er erkennt richtig,
daß der moderne Staat als abstrakte Zweckmäßigkeitseinrichtung
mit seinem demokratischen Einschlag weniger geeignet ist, der
Kunst ein Förderer zu sein als die Fürsten mit ihren menschlich-
n. Der Frankfurter Friede. Elsaß- Lothringen und seine Eingliederung usw. 243
persönlichen Eigenschaften. Die Staaten mit parlamentarischer
Regierung, wie England, Frankreich, Belgien, Italien, Nord-
amerika, haben als solche für Kunst und Künstler wenig getan.
Da die verfassungsmäßige Aufgabe des Reichs, „die Pflege der
Wohlfahrt des deutschen Volkes", vornehmlich wirtschaftlich ver-
standen wird, bleibt den Einzelstaaten die Kulturpflege mit den
nötigen finanziellen Aufwendungen vorbehalten. Sie sind auch
dazu bereit gewesen, und wenn sie für kostbare Akademie- und
Museumsbauten im hergebrachten Stil mehr Verständnis haben
als für die Ausbildung und Verwirklichung des künstlerischen
Geschmackes, wie etwa in Denkmälern und Straßenbild, so wird
man mehr den Zeitgeist als die Entschlüsse der Minister dafür
verantwortlich machen müssen.
II. Der Frankfurter Friede. Elsaß-Lothringen
und seine Eingliederung in das deutsche Wirt-
schaftsleben. Der Krieg von 1870/71 hatte für die deutsche
Volkswirtschaft zwei unmittelbar tiefeingreifende Folgen: die Be-
seitigung des Handelsvertrages mit Frankreich und den Erwerb
von Elsaß und Lothringen.
Die freihändlerische Stimmung im siegreichen Deutschland
brachte den Wunsch, den vertragsmäßigen Zustand des deutsch-
französischen Handels wieder in Kraft zu setzen. Allein auf fran-
zösischer Seite war man nicht gewillt, darauf einzugehen, weil
T h i e r s , der Präsident der Republik, und sein Finanzminister
Pouyer-Quertier dem Schutzzoll zuneigten und erklärten, daß
ohne erhöhte Zölle die Zinsen der Kriegs- und Kriegsentschädi-
gungsanleihen nicht aufzubringen seien. Der Reichskanzler, der
zuerst die Wiederaufnahme des bisherigen Vertragsverhältnisses
für angemessen gehalten hatte, gab den französischen Unter-
händlern nach und begründete dies am 12. Mai 1871 im Reichs-
tage mit der Erklärung, der man eine prinzipielle Bedeutung nicht
absprechen kann: „Es ist meines Erachtens nicht tunlich, im inter-
nationalen Verkehr zwischen großen Völkern einen Handelsvertrag
zu einer durch den Krieg erkämpften Bedingung zu machen, die
der Souveränität eines großen Volkes in der Beschränkung seines
Gesetzgebungsrechtes aufgelegt würde. Ich habe deshalb auch
nicht darauf bestanden und glaube nicht, daß die Maßregel zweck-
mäßig gewesen wäre. Namentlich habe ich befürchtet, daß sie
eine so starke Verletzung des Nationalgefühls enthielte, daß sie
später den Frieden beeinträchtigen würde."
Man hat sich in dem § 1 1 des Frankfurter Friedens, ohne eine
Zollbildung anzunehmen, auf die gegenseitige Meistbegünsti-
gung geeinigt, die die Besonderheiten besaß, daß sie nicht all-
244 ^" Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
gemein galt, sondern sich auf die 6 Staaten England, Belgien,
Holland, Österreich-Ungarn, Schweiz und Rußland beschränkte,
und daß sie unkündbar war. Das Abkommen entsprach insofern
den französischen Wünschen, als die damaligen Führer der Nation
einer autonomen Zollpolitik zustrebten, die sie bei einer nur teil-
weisen Meistbegünstigung leichter als bei einer vollen wahren
zu können meinten, während man sich auf deutscher Seite gegen
eine Verdrängung der eigenen Fabrikate vom französischen Markte
ausreichend geschützt erachtete, da die wichtigsten Industrie-
ausfuhrstaaten auf ihm keinen Vorzug erlangen konnten, und die
landwirtschaftliche Ausfuhr aus Deutschland nach Frankreich
wenig besagte, man also gegen die französische Begünstigung
überseeischer Länder oder auch Spaniens und Italiens keine Vor-
kehrungen für nötig hielt.
Daß eine dauernde statt einer lo- oder 15jährigen Bindung
beider Länder abgemacht worden ist, wurde von den Franzosen
deshalb nicht hoch bewertet, weil sie an kein langes Bestehen
des Friedens glauben wollten, wohingegen B i s m a r c k , um seinem
großen Ziel, das Deutsche Reich im Innern auszubauen, nach-
gehen zu können, alle wirtschaftlichen Erregungen, Zollkriege und
Mißstimmungen vermeiden wollte, die jeder Abschluß eines neuen
Vertrages mit einem von der Revancheidee beseelten Frankreich
in Zukunft heraufbeschwören konnte. Ein Tarifvertrag wäre übri-
gens schwerlich 1880 oder 1885 zustande gekommen. Vermutlich
hätte man die gegenseitige Meistbegünstigung von neuem verein-
bart, die man sowieso hatte.
Die praktischen Folgen im einzelnen für das Auslandsgeschäft
ließen sich allerdings nicht voraussehen. Der Reichskanzler als
Meister der Diplomatie fühlte sich jedenfalls als der Mann, im
Besitze seines Vertrages alle Gefahren von Deutschland ab-
wenden zu können. Das hat er auch wiederholt durch die Tat
bewiesen, und solange die deutsche Politik in seiner kräftigen
Hand ruhte, sind auch gegen den § 1 1 berechtigte Klagen
deutscher Gewerbe nicht laut geworden.
Der Erwerb Elsaß-Lothringens, industriereicher De-
partements von Frankreich, mit einer Bevölkerung von i 549 738
Seelen, erscheint zunächst als eine Verstärkung der deutschen
Produktivkraft und als Erweiterung des deutschen Binnenmarktes.
Diese rein additionelle Auffassung bedarf einer Ergänzung durch
die organische. Die Volkswirtschaft besaß im Zollverein eine
historisch eingelebte Gliederung, die in sich einen solchen Zu-
wachs nicht ohne weiteres aufnehmen konnte, wie auch umgekehrt
das Reichsland sich noch weniger rasch in die neuen Verhältnisse
II. Der Frankfurter Friede. Elsaß-Lothringen und seine Eingliederung usw. 245
ZU finden vermochte. Eine längere Übergangszeit ist daher er-
forderlich gewesen. Sie wurde durch die Einwanderung aus Alt-
deutschland und vor allem dadurch vermittelt, daß das neue
Gebiet die wirtschaftliche und soziale Gesetzgebung des Reiches
in diesem und mit diesem zusammen erlebte, also in einer Zeit
deutsch wurde, in der aus der bisher noch nicht voll gefestigten
Verkehrswirtschaft eine starke Einheit wurde.
Wenn auf anderen Lebensgebieten Elsaß-Lothringen nicht in
dem gleichen Maße deutsch wurde, so hat dies, soweit wirt-
schaftliche Ursachen in Frage standen, an der Gegnerschaft
derjenigen gelegen, die ihr Kapital oder mancherlei Erwerb in
Frankreich hatten, oder derer, die durch Familien- und äußerlich
kulturelle Einflüsse davon abgehalten wurden, mit den Altdeutschen
zusammenzuarbeiten und die gebotenen Vorteile der neuen Verwal-
tung zu ergreifen, oder derjenigen, die mit dem hergebrachten
wirtschaftlichen Schlendrian nicht aufräumen wollten und den über
den Rhein gekommenen tatkräftigen Konkurrenten mit Abneigung
begegneten. Das Fehlen einer einheitlichen Gemeinschaft natio-
naler Art im Reichslande schädigte das V^irtschaftsleben, weil
sich die Angelegenheiten der Gütererzeugung und des Verkehrs
nicht allein nach eigenen Bedürfnissen vollziehen konnten.
Die starke Abwanderung nach Frankreich mußte den pro-
duktiven Fortschritt aufhalten, und sie war um so fühlbarer, als
der Geburtenüberschuß unter dem vom Westen her übergreifenden
Zweikindersystem, vornehmlich im Oberelsaß, gering war. Die
Bevölkerung hat von 187 1 — 19 13 nur um 21 0/0 zugenommen,
während das Reich 63 0/0 verzeichnete. Wenn das Reichsland
besser steht als Frankreich mit seinen 11 0/0, so ist dies der
deutschen Zuwanderung mit ihrem Kindersegen sowohl zu ver-
danken als auch der Abnahme der Sterblichkeit, infolge der mit
der neuen Verwaltung durchgeführten sozialen und der hygie-
nischen Politik, unter der, wie auch französische Elsässer immer
zugegeben haben, ihr Ländle sauber gemacht worden sei. Die
langsame Vermehrung der Menschenzahl hielt die gewerbliche,
arbeitsteilige Zusammenfassung zurück — 1871 wie 19 10 gab es
nur vier Städte mit über 20000 Einwohnern — und brachte
der Landwirtschaft trotz mancher Fortschritte nicht diejenige
volle preissteigernde Nachfrage, die erforderlich war, sie zu
raschen Betriebsänderungen, wie im Reiche sonst, zu veranlassen.
Das Aufsaugen der Elsässer durch Frankreich, insbesondere
durch Paris, war schon vor 1871 eine bekannte Erscheinung und
hat weiterhin angehalten. Oft waren es die tüchtigen, unter-
nehmenden Köpfe, die das Land verlor. Ebenso steckte in dem
246 V- Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Massenabzug der Optanten viel gebildetes Bürgertum. Die an-
dauernde Auslese konnte auf die Zurückbleibenden nicht ohne
Einfluß bleiben, so daß die Tatsache, daß die eingeborenen
Reichsländer verhältnismäßig wenig ökonomisches und technisches
Talent hervorgebracht haben, von hieraus begreiflich gemacht
werden kann.
Die beiden wichtigsten Großgewerbe, die Deutschland mit
der Übernahme des Landes einzugliedern hatte, waren die B a u m -
Wollindustrie des Oberelsaß und das Montangewerbe
von Lothringen. Die erstere brachte ein Mehr von 56 0/0 an
Spindeln, 88 0/0 an mechanischen Webstühlen und 100 0/0 an Druck-
maschinen für Baumwollstoffe. Bis 1873 empfand man weder im
Oberelsaß noch in Altdeutschland die großen Marktverschiebungen
in Baumwollwaren, teils weil dem Friedensschlüsse gemäß, wenn
auch unter abbauenden Staffelungen, Frankreich noch offen stand,
teils weil die allgemeine weltwirtschaftliche Hausse den Verkäufen
ungemein günstig war. In der Verkehrsstockung bis 1879 wurden
die Spinnerei und Weberei in Mülhausen, Colmar mit ihren Um-
gebungen an den Rand des Verderbens gedrängt, nur die Kattun-
druckerei konnte sich gut halten, da sie in Deutschland und
Frankreich fast konkurrenzlos dastand, und ist weiterhin eine der
ersten geblieben. Der Schwerpunkt der Spinnerei lag in den
feinen Garnen, deren Bedarf in Deutschland bisher aus England
gedeckt wurde. Daher wurden nur die deutschen Spinner, die
gröbere Sorten produzierten, durch die elsässische Konkurrenz
betroffen. Und das bedeutete anfangs nicht viel. Andererseits
profitierten die Weber, soweit sie die feineren Sorten gebrauchten,
von dem Preisdruck bei der elsässisch-englischen Unterbietung. Der
Zuwachs an Feinspinnereien war an sich eine Vervollständi-
gung der deutschen Volkswirtschaft. Allein die damalige Frei-
handelspolitik wollte diesen Vorteil nicht einsehen. Hätte man
damals für feine Garne einen ausreichend hohen, gestaffelten
Zolltarif eingeführt, so würde die Krisis im Oberelsaß vermieden
worden sein, und Deutschland sich unter der binnenländischen
Arbeitsteilung von der englischen Einfuhr größtenteils befreit
haben. Die Bismarcksche Zollpolitik von 1879 und 1885 suchte
den Fehler wieder gut zu machen, der günstige Zeitpunkt war in-
zwischen verpaßt worden.
Die reichsländische Industrie war daher auf die Selbsthilfe
angewiesen. Einerseits verlegte sie durch Auswanderung des Ka-
pitals, der Geschäftsführer, Unternehmer und Arbeiter einen Teil
ihrer Kraft in das zollgeschützte Departement des Vosges, wo
schon bedeutende Anfänge des gleichen Gewerbes vorhanden
II. Der Frankfurter Friede, Elsaß- Lothringen und seine Eingliederung usw. 247
waren, so daß Frankreich dort einen Ersatz für den erlittenen
Verlust gefunden hat. Andererseits sah sie sich genötigt, sich
dem deutschen Markt durch Übergang zur Grobspinnerei anzu-
passen. Das hatte den Nachteil der jahrelangen Überproduktion,
unter der die Elsässer Kapitalverluste hatten, und zugleich viele
Arbeiter unter Senkung der Löhne ihrer gelernten Fähigkeiten
entkleidet wurden. Die politische Abneigung der Oberelsässer
gegen das Deutschtum hat aus jener Epoche der wirtschaftlichen
Unzufriedenheit Nahrung gesogen.
Nach 1880 hat sich die Textilindustrie des Reichslandes in-
dessen in die deutsche Volkswirtschaft eingelebt. Die englische
Konkurrenz wurde abgeschwächt und ein Rest der Feingarn-
Spinnerei erhalten.
Die örtliche Konzentrierung brachte jetzt die Vorteile des
großen Betriebes. 1882 lebte nur ein Drittel der Spinner in
Mülhausen und Umgebung, 1895 f^st die Hälfte, während die
Kreise Thann und Colmar eine Abnahme aufwiesen. Auch die
Weberei, die sich mehr über das Land zerstreute, wenn sie auch
überall in Fabriken vereinigt war, zeigte in Mülhausen und Colmar
eine Vermehrung, in Rappoltsweiler und Thann eine Minderung.
Die Spezialisierung hat sich als zweckmäßig erwiesen.
Spinnerei, Weberei und Druckerei haben sich in der Hauptsache
in Sonderunternehmungen zerlegt. Das ehemals kombinierte, be-
rühmte Werk von DoUfus-Mieg z. B. ist eine der größten Näh-
fadenfabriken der Welt geworden.
Die Baumwollverarbeitung hat sich ferner mehrfach in Wolle-
industrie umgeformt. Von Wollwebereien, von denen 1882 762
bestanden, wurden 1907 1368, darunter 37 Großbetriebe mit über
50 Arbeitern, statistisch ermittelt. Die Kammgarnspinnerei ver-
mehrte in 30 Jahren bis 1900 ihre Arbeiterzahl um das Drei-
fache und verfünffachte ihr Produkt. Jute- und Filzfabriken sind
ganz neu entstanden.
Entsprechend der Umgestaltung im Reiche überhaupt wurden
die maschinellen Kräfte ungemein gesteigert und die Arbeits-
maschinen vielseitig. Seit 1875 hat die Textilindustrie 55900
Pferdekräfte und 7500 Kilowatt elektrischer Energie gewonnen.
Zu dem Kattundruck, der in dem Musterschutzgesetz von 1876
einen festen Halt erhielt, und den Veredelungs verkehr der
deutschen Handelspolitik ausnutzen konnte, ist als Sonderprodukt
des Landes die Kunstseide, die aus Abfällen der Baumwoll-
fabriken erzeugt wird, hinzugekommen. Spezialschulen, für deren
Einrichtung und Erhaltung z. B. die Industrielle Gesellschaft von
Mülhausen viel geleistet hat, wie die Kunstgewerbeschule für
248 V- Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Mädchen, die höhere Schule für technische Chemie, die Spinn- und
Webschule, die Zeichenschule hoben das Können der Arbeiter
ebenso wie die Volksschule, die der französischen in den an-
grenzenden Departements weit überlegen ist. Endlich haben auch
Arbeiterschutz und die Versicherung dazu beigetragen, die
Leistungskraft der Textilarbeiter zu erhöhen, wovon die Arbeit-
geber trotz steigender Löhne Gewinn gezogen haben.
Sobald eine Industrie einen hohen Stand erreicht hat, pflegt
ihre prozentuale Zunahme nicht mehr so bedeutend zu sein. Wenn
daher die elsässischen Baumwollfabriken weniger rasch der Ar-
beiterzahl nach seit 1872 angewachsen sind als diejenigen in
manchen deutschen Einzelstaaten, so ist das begreiflich. Immer-
hin ist die geringe Zunahme der Spindelzahl von 1869 bis 1900
von 947000 auf 959000 und der Gespinste von 21,2 auf 27,4
Millionen Kilogramm damit nicht erklärt. Auch die Tatsache,
daß die Zahl der in elsässischen Spinnereien beschäftigten Ar-
beiter 1882 28,8 0/0 des Reiches ausmachte, 1895 ^^Jy ^9^7 ^"^^
14,1, während in der Weberei der Anteil von 13,7 auf 11,7 und
11,40/0 zurückging, gibt zu denken. Die geschilderte Schwierig-
keit der Übergangszeit darf als einer der Gründe angegeben
werdeij, das zeigte die größere Widerstandskraft in der Zähl-
periode 1895 — 1907 i"^ Vergleich mit der vorhergehenden. Immer-
hin schien in der Organisation der gesamten Baumwollindustrie
doch etwas Fehlerhaftes zu liegen. Das hatte seine Ursache in
der Eigenart der altelsässischen Werke, die auch die Tatsache
nicht verwischen konnte, daß einige Textilunternehmungen ganz
deutsch waren.
Man kann darauf hinweisen, daß eine Anzahl privater Fa-
briken zu Aktiengesellschaften geworden ist. Das würde an sich
kaum ein Grund des Zurückbleibens sein, wenn die ehemaligen
Besitzer, die hauptsächlich über die Aktien verfügten, zu tätigen
Direktoren geworden wären. Das war nicht immer der Fall.
Infolge ihrer nach Frankreich gerichteten Lebenskultur und der
Heiraten mit Französinnen, vielleicht auch einer gewissen Er-
müdung, der Unternehmerfamilien in späteren Generationen nicht
selten verfallen, haben es manche vorgezogen, nach dem ver-
gnügungsreichen Paris überzusiedeln und sich mit der Stelle eines
Aufsichtsrates daheim zu begnügen. Der Absentismus ist, wie in
der Landwirtschaft, so auch in der Industrie, dem produktiven
Schaffen nachteilig.
Der nationale Gegensatz hat sich auch in anderer Weise
gezeigt. Die Geschäftsführer erwiesen ihren Abnehmern in Alt-
deutschland nicht immer das nötige Entgegenkommen, wenn sie
II. Der Frankfurter Friede. Elsaß-Lothringen und seine Eingliederung usw. 24g
z. B. bei der französischen Korrespondenz beharrten, woraus sich
dann Auseinandersetzungen und Geschäftsabbruch ergeben konnten.
Als noch wichtiger wurde in der neueren Zeit hervorgehoben,
daß man keine Altdeutschen als technische Betriebsleiter anzu-
stellen Neigung hatte, sondern vorwiegend Elsässer und Schweizer
wählte. Nun hat die deutsche maschinelle, elektrische und che-
mische Technik in den letzten 20 Jahren außerordentlich viel
Unerwartetes hervorgebracht, nachdem sich die Wissenschaft mit
aller Energie als angewandte auf die Industrie warf. So blieb
die persönliche Übermittelung des Neuesten und Besten nicht
immer gewahrt, und die Betriebe bewegten sich länger im Her-
gebrachten, als in der Zeit des allgemeinen Fortschrittes er-
wünscht war.
In der lothringischen Eisenindustrie hat sich der
Vorgang der Eingliederung schneller und gründlicher vollzogen.
Sie wurde bis 191 4 die wichtigste Industrie des Reichslandes und
für die Entfaltung Deutschlands zu einem der ersten Industrie-
staaten der Erde unentbehrlich.
Bei den Friedensverhandlungen wurden große Minetteerz-
felder an Deutschland abgetreten, deren Wert hier richtig erkannt,
von T h i e r s nicht hoch eingeschätzt wurde. Die Eisenindustriellen
hatten bis 1873 noch mit guten Weltmarktpreisen zu rechnen.
Nach der Krise zeigten die Werke bei dem im Vergleich zu Frank-
reich niedrigen Zoll bald einen Stillstand in den Produktions-
zahlen, im weiteren Verlauf der Jahre bis 1879 einen Rückgang.
Nur der Eisenguß konnte sich leidlich behaupten.
Was der Eisenbesitz Lothringens für die Zukunft Deutsch-
lands bedeuten mußte, ist daraus abzumessen, daß er auf 700
Millionen Tonnen metallischen Eisens veranschlagt worden ist,
dem das übrige Reichsgebiet nur 300 gegenüberzustellen hatte.
Wie er für die ganze Volkswirtschaft nutzbar gemacht worden ist,
ergibt sich aus folgenden, untereinander verschlungenen, jedoch
wohl zu unterscheidenden Richtungen, bei deren Darstellung wir
unserer allgemeinen geschichtlichen Darstellung in einigen
Punkten vorgreifen müssen:
I. Die Verarbeitung der Minette zu Roheisen bedarf der
Kohlen und des Koks, die an Ort und Stelle nicht vorhanden sind.
Vor 1871 war die damals geringe lothringische Eisenindustrie
auf die Saarkohle, seit 1880 die große neue vor allem auf den
Koksbezug von dem 350 Eisenbahnkilometer entfernten Ruhr-
gebiet angewiesen. Lothringen ist selbst in dem Besitz von Kohlen,
deren Gruben sich an das Saarbecken westwärts anschließen, die
250 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
jedoch für die Industrie, soweit sie Koks nötig hat, wenig in
Betracht kommen.
Es liegt daher die Sache so, daß die Minette entweder nach
dem Rhein geführt werden muß, um dort verhüttet zu werden,
oder die Koks müssen von dort herbeigeschafft werden. Beide
Wege sind beschritten worden, zeitHch zuerst überwiegend der
erstere, in dem letzten Jahrzehnt überwiegend der zweite. Bedenkt
man, daß zur Herstellung von einer Tonne Roheisen drei Tonnen
Minetteerz und eine Tonne Koks gehören, so muß es vorteilhafter
sein, die Hochöfen in Lothringen als in Westfalen und im Rhein-
land anzublasen. 191 2 wurde dementsprechend von dem lothrin-
gischen Eisenerz nur 150/0 nach dem Osten verschickt, das übrige
wurde, nachdem große Werke aufgestellt worden waren, woran
es ehedem fehlte, im Lande verhüttet.
2. Die technischen Vervollkommnungen der Eisen- und Stahl-
industrie, die Deutschland die Überlegenheit über England und
Frankreich gebracht haben, flössen auch der lothringischen In-
dustrie zu und belebten sie rasch, zumal die führenden Männer
am Rhein auch in ihr tätig waren. Die Minette war erst ein
brauchbares Material geworden, als durch das Thomas-Gilch-
richsche Verfahren die Entphosphorung im Bessemerprozeß 1879
gelungen war. Die neue Erfindung machte Lothringen bald kon-
kurrenzfähig. Das Thomas-Roheisen, das 1882 nur 1,3 0/0 aus-
gemacht hatte, war 191 1 zu 82,20/0 an der Roheisenerzeugung
beteiligt.
Zwei andere in Deutschland schon angewandte Erfindungen
brachten weitere gewaltige Vorteile. Die aus den Hochöfen stei-
genden Gase wurden durch die Gasmotoren so nutzbar gemacht,
daß sie nicht nur die Maschinen des Hochofenwerkes selbst, son-
dern auch die der angeschlossenen Stahl- und Walzwerke be-
treiben konnten. Außerdem lernte man das flüssige Roheisen
aus dem Hochofen in das Stahlwerk zur Verarbeitung zu leiten
und den Rohstahl zu Schienen und Trägern in der vorhandenen
Hitze umzuformen, während man es früher erkalten ließ und in
dem Stahlwerk wieder erhitzte. Bis etwa 1900 wurde das lothrin-
gische Roheisen zu den fernen Verarbeitungsstätten versandt. Nun
war es nicht mehr nötig. Es entstand im Lande eine Vollindustrie,
die eine aussichtsreiche Zukunft haben mußte, wenn Lothringen
in engster Verbindung mit der deutschen Volkswirtschaft weiter-
arbeitete.
3. Eine fernere Vereinigung zwischen Alt- und Neudeutsch-
land bringt die kapitalistische Ausweitung und Zusammenballung
der letzten Jahrzehnte. Die vorherrschende Firma war im Be-
II. Der Frankfurter Friede. Elsaß-Lothringen und seine Eingliederung usw. 25 1
ginn der deutschen Zeit die der Familie de Wendel in Hayingen,
Moyeuvre und Stryingen. Von 1874— 1878 erscheinen altdeutsche
Unternehmer, die gegen 100 Bergwerkskonzessionen erwerben.
Neue leistungsfähige Hochöfen erbauen nach 1879 die großen
Hüttenbesitzer des Saargebietes und andere deutsche Aktien-
gesellschaften, Burbach, die Dillingerhütte, Röchling und Stumm,
der Aachener „Rote Hütte"-Verein, die alle das lothringische Roh-
eisen in ihre heimatlichen Werke leiten. Dann nach 1895 mit
dem Aufschwung der deutschen Volkswirtschaft und der Welt-
konjunktur folgen die großen einheitlichen Eisen- und Stahl-
werke, abgesehen von dem de Wendeischen, mit deutscher Fi-
nanzierung: Die Rombacher Hütte, Aumetz-Friede, die Deutsch-
luxemburgische Bergwerks- und Hüttengesellschaft. Die jenseits
des Rheins erprobte Kartellform wird nach Lothringen verpflanzt,
und weiterhin schließen sich dortige große Werke dem deutschen
Stahlwerkverband an. Hatte das System der gemischten Werke,
die Kohlen-, Eisen- und Stahlproduktion in sich zu vereinigen,
schon in der Weise Platz gegriffen, daß die Lothringer im Ruhr-,
Saar- und lothringischen Lande Kohlengruben erwarben, wird
schließlich das gleiche auch zwischen 1905 und 191 3 in um-
gekehrter Weise erreicht, daß die großen Kohlenfirmen Gelsen-
kirchen, Thyssen und Stinnes ihrerseits im Moselgebiet sich mit
neuen Stahlwerken festsetzen.
4. Die hier kurz angeführten Kapitalanlagen, Kartellierungen
und Neugründungen konnten nur gewahrt werden unter dem wirk-
samen Schutzzoll, der seit 1879 dem deutschen inneren Markte
eine gewaltige Belebung verlieh und der Eisen- und Stahlindustrie
eine Weltmarktstellung sicherte. In der vorhergehenden Frei-
handelsperiode war die schlimmste Zeit für das lothringer Eisen,
so daß sich große Kapitalien unter den französischen Zollschutz
flüchteten, die der deutschen Volkswirtschaft verloren gingen. Wie
sich die Wirtschaftspolitik seit 1879 für das ganze Reich durch
Erzeugung zahlreicher ökonomischer Wechselwirkungen segens-
reich erwies, so hat sie auch die wirtschaftliche Eingliederung
des Reichslandes mächtig gefördert, und innerhalb desselben enge
Beziehungen zwischen Industrie, Landwirtschaft, Handel und
Transport vermittelt.
1872 waren erst 684600 Tonnen Eisenerz gefördert worden,
1882 schon 1859 141, 1892 3571462, 1902 8793496, 1912 20083238.
Die Zahl der immer leistungsfähiger werdenden Hochöfen betrug
1872 30, 1911 58, die mittlere tägliche Belegschaft im Hüttenwesen
vervierfachte sich, das verarbeitete Material, ohne Brennstoffe,
stieg von 637595 Tonnen auf 9758571. Die Kohlenzufuhr war
2i;2 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
1883 816000 Tonnen, 1912 2457000, die Stahlproduktion 1872
185000, 40 Jahre später i 444950 Tonnen.
Im Jahre 1904 wurde in Witteisheim, nordwestlich von Mül-
hausen, Kalisalz entdeckt, und weitere Bohrungen gestatteten
eine zusammenhängende Oberfläche von 200 Quadratkilometern
zu umgrenzen. Die Eingliederung dieser wertvollen Produktion
in die deutsche Volkswirtschaft vollzog sich unter einer Förderung
von 350000 Tonnen im Jahre 1913 nicht allein dadurch, daß
eine Versorgung der transportnahen Bundesstaaten ins Auge ge-
faßt wurde, sondern daß auch ein Anschluß an das deutsche Kali-
syndikat stattfand, in dem 191 2 die Gewerkschaft Amelie die dritte
Stelle mit einem Kontingent von i ,4 3/4 % einnahm, und daß das
Kapital vorzugsweise in Altdeutschland aufgebracht wurde. Somit
gaben das Elsaß den Standort, den Naturstoff und die Hand-
arbeiterschaft, das übrige Deutschland die Kapitalkraft und die
kaufmännische und technische Leitung, um das Einheitsgebilde,
die Unternehmung, zusammenzuschweißen, die auf dem nationalen
und auf dem Weltmarkte Ansehen und Gewinn suchte.
Andere natürliche Bodenschätze sind die Steinsalzlager in
Lothringen und die Petroleumquellen des Unterelsaß. Auch sie
zeigen wachsende Produktionszahlen. Die letzteren haben sich
in 40 Jahren verzwölffacht, die ersteren verdreifacht. Das Vor-
dringen des deutschen Kapitals im Bergbaubetrieb wurde von
den reichsländischen Politikern freilich mit Mißvergnügen auf-
genommen, so daß die partikularistische Majorität in dem Parla-
ment übertrieben hohe und unbillig verteilte Bergwerkssteuern
den Betrieben wiederholt auflegte.
Von anderen beachtenswerten verörtlichten Industrien seien
noch erwähnt die der Konserven-, Nahrungs- und G e -
nußmittel, die Leder- und Maschinenindustrie, die
Getreidekunstmüllerei in Straßburg und L^mgebung, die
Glasindustrie im östlichen Lothringen, die Fayenceindu-
strie bei Saargemünd, die Töpferei bei Sufflenheim (U.-E.),
die Strohhutflechterei in den Kreisen Forbach und Chäteau-
Salins, die Steinbruch- und Zementindustrie in den
nördlichen Vogesen, die Hilfsindustrien der Montan- und
Textilindustrie in deren Gebieten, — die alle nicht nur im Lande,^
sondern auch im weiten deutschen Wirtschaftsgebiet Kunden in
\vachsender Zahl gewonnen haben.
Vergleichen wir die Ergebnisse der gewerblichen Betriebe-
zählungen von 1895 und 1907, so hat sich die Zahl der Be-
triebe in der gesamten Industrie des Reichslandes um 3,7 0/0,
die Zahl der beschäftigten Personen um 33,3 0/0 gesteigert. Eine
II. Der Frankfurter Friede. Elsaß-Lothringen und seine Eingliederung usw. 253
Zunahme der Betriebsgröße wird damit erwiesen, ein Vorgang,
wie er im Reiche auch sonst sichtbar ist, und mit dem sich
ein verstärkter volkswirtschaftlicher Austausch unter dem Prinzip
der Aussonderung verbindet. Die Tierzucht und Fischerei,
das Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe, das künst-
lerische Gewerbe zeigen eine Abnahme an beschäftigten Personen,
andere Einzelindustrien einen Stillstand, wie die Brauerei, wo-
hingegen die oben genannten Gewerbe in günstiger Lage eine
Zunahme an Geschäftsleitern und Gehilfen zwischen 30 und 50 0/0
kenntlich macht. Die lokalisierte Arbeitsteilung, soweit sie sich
im Binnenfreihandel des Reiches ausgebildet hat, hat auch das
Reichsland in ihren Kreis eingeschlossen und eine vertiefte Ver-
kehrswirtschaft mit Steigerungen einerseits, Einschrumpfungen an-
dererseits entstehen lassen.
Weniger ist die Landwirtschaft des Reichslandes durch
deren Angliederung an Deutschland berührt worden, weil sie mehr
als das verarbeitende Gewerbe auf die Bedarfsdeckung der Familie
des Bauern und des Gutsbesitzers und, soweit sie verkehrsmäßig
tätig ist, auf den Nahabsatz der vielen nicht haltbaren oder der
versendungsschwierigen Waren bedacht war. Dieser Zustand
wurde noch dadurch befestigt, daß sich der Klein- und Mittel-
betrieb, der 1871 die entscheidende Betriebsform war, nicht nur
gehalten, sondern noch verstärkt hat, da der größere, über 20
Hektar, in der Zeit zwischen den Aufnahmen von 1882 und 1907
zurückgegangen ist. 1907 gab es nur drei Großbetriebe über
500 Hektar und 349 von 100 — 500. Die bäuerlichen Betriebe
(5—100 Hektar) umfassen 57,98, die Kleinbetriebe 34,73 der be-
nutzten Bodenfläche. Die letzteren waren der Zahl nach 206295,
alle übrigen Betriebe nur 38 658. Die Landwirte sind durch den
Anschluß an das Reich in ihrer sozialen Gliederung weder durch
die Handelspolitik noch durch den Konkurrenzdruck des ost-
deutschen Großbetriebes beunruhigt worden.
Vom Standpunkt der Betriebstechnik aus gesehen, hat die
Landwirtschaft in Elsaß-Lothringen in den letzten 40 Jahren
manche Umwandlung durchgemacht, die sowohl auf die neue
staatliche Zugehörigkeit, als auch auf weltwirtschaftliche Vorgänge
zurückgeht und es mit sich brachte, daß einzelne Erzeugnisse
rückgängige, andere aufsteigende Anbauzahlen haben.
Die Umformung hat sich in der Weise vollzogen, daß der
Getreidebau im ganzen weniger Land beanspruchte, und daß
Handelsgewächse Flanf, Hopfen, Tabak, Flachs, Krapp, Raps,
Rübsen und andere Ölfrüchte Schwankungen und Rückgängen der
Anbaufläche unterworfen waren, wohingegen der Kartoffel- und
21:4 ^- Abschnitt Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
Hackfruchtbau — neu ist die Zuckerrübe — , die Wiesen, die
Gemüsefelder und der Viehstand über einen beachtenswerten Zu-
wachs verfügten. Die Durchschnittserträge auf den Hektar sind
in den letzten lo Jahren, wie in Deutschland überall, erhöht
worden, am auffallendsten bei den Kartoffeln, Luzernen, dem
Wiesenheu und dem Tabak. Gemüse und Hackfrüchte haben
31 500 Hektar auf Kosten der Brache und des Klees gewonnen.
Der landwirtschaftliche Anbau richtet sich im großen ganzen
seiner Art nach den Marktpreisen, deren Erhöhung bei den gegen
früher mehr hergestellten Erzeugnissen den Landwirten in Elsaß-
Lothringen gute Gelderträge gesichert hat. Allerdings in ungleicher
Weise je nach der Lage und Beschaffenheit der Güter und dem
Grad der Preissteigerung. Der günstige Preisstand ist zunächst
der deutschen Handelspolitik zu verdanken, besonders dem seit
1906 in Kraft stehenden Zolltarif; dann der zunehmenden In-
dustrialisierung des Landes und des Reiches. Die quantitativ und
qualitativ in den Städten und Industriegegenden veränderte Ver-
brauchsrichtung einer immer zahlungsfähiger werdenden Bevölke-
rung hob die Nachfrage nach Fleisch, Milch, Butter, Gemüse,
Kartoffeln, Geflügel, Obst und Wein rasch. In den warmen, frucht-
baren Niederungen von Metz und Straßburg, bei Hördt, unweit
Erstein, bei Schlettstadt, Colmar und Neudorf bei Basel entstand
ein ausgedehnter Feldgemüsebau, der nicht bloß die naheliegenden
Städte versorgte, sondern auch auf größere Entfernungen zum
Versand schritt. Für eine Reihe von Spezialitäten ist Altdeutsch-
land der Abnehmer geworden.
Der Weinbau ist, wie überall, eine schwere Sorge der
Landwirtschaft. Seit 1876 haben die Reblaus und weiterhin die
Peronospora und das Oidium unermeßlichen Schaden angerichtet,
und, soviel auch zur Bekämpfung getan worden ist, bisher konnte
man der Schädlinge nicht Herr werden. Das Rebland, das sich
an der Hügelregion der Vogesen von Thann bis Weißenburg
hinzieht und in Lothringen im Moseltale liegt, hat sich in seinem
Umfange seit 100 Jahren kaum verändert. Als vor der franzö-
sischen Revolution das Reichsland außerhalb der alten Colbert-
schen ZoUinie lag, gingen die Qualitätsweine bis tief in das Reich
hinein. Die folgenden Jahrzehnte setzten sie im Lande selbst dem
Wettbewerb Südfrankreichs aus, der um so gefährlicher wurde,
als die Eisenbahnen und die Kanäle die Zufuhr von dort er-
leichterten und der Zollverein Zölle am Rhein erhob. Die Bauern
warfen sich auf die billigere Massenproduktion, die zu weichendem
Preise im engeren Wirtschaftsgebiet abgesetzt wurde. Nach der
Wiedereinverleibung des Elsaß konnte alsbald die Ausfuhr nach
II. Der Frankfurter Friede. Elsaß-Lothringen und seine Eingliederung usw. 255
Osten aufgenommen werden. Sie betrug 1873 überhaupt 130600
Hektoliter und steigerte sich in guten Jahren auf mehr als das
Doppelte, wovon nur wenig in das Zollausland verschickt wurde.
Der Anbau edler Sorten wurde wieder mehr gepflegt und die
Kellerei auf einen höheren Stand gehoben. Dazu kam, vornehm-
lich in Lothringen, die Bereitung des Schaumweines, 191 2 in 30
Fabriken, die allerdings unter Zuhilfenahme französischer Trauben
über 2 Millionen Flaschen in den Verkehr, auch nach Altdeutsch-
land, brachten.
In ganz besonderer Weise und mit glücklicher Hand hat sich
die deutsche Regierung der Landwirtschaftspflege zugewandt, so
daß sich einer ihrer besten einheimischen Kenner vor dem Kriege
von 19 14 so aussprach, „daß unter dem wohltätigen Einfluß ge-
setzlicher und sonstiger öffentlicher Maßregeln die elsaß-lothrin-
gische Landwirtschaft einen Stand der Entwicklung erreicht hat,
wie er in der Vergangenheit noch nicht vorhanden war".
Das Reich hat in den Grenzen seiner Kompetenz eingegriffen.
Die Zölle sind schon genannt worden. Es sei ferner erinnert an
die Viehseuchenpolizei, das Gesetz zur Bekämpfung der Reblaus,
das Vogelschutzgesetz, die Wucherparagraphen des Strafgesetzes,
die Gesetze über die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften.
Die Landesgesetzgebung erstreckte sich u. a. auf die Neu-
ordnung der Jagd und Fischerei, den Viehwucher, der mit der
Viehverstellung verbunden war, die Körordnung für Zuchtstiere und
Hengste, das Gesindewesen, die Feldwege und Flurbereinigung,
die Einführung des Befähigungsnachweises beim Hufbeschlag, auf
Maßregeln gegen die Weinverfälschung und auf die gerechtere
Verteilung der Grundsteuer und deren Herabsetzung. -
Zur Unterstützung der vom Ministerium ausgeübten landwirt-
schaftlichen Verwaltung wurde 1888 als beratende Körperschaft
der Landwirtschaftsrat von Elsaß-Lothringen eingesetzt und das
Vereinswesen gefördert. 1869 zählten die landwirtschaftlichen
Vereine des Landes 2000 Mitglieder, 1910 allein 39020 die in
einen Landverband verbundenen landwirtschaftlichen Kreisvereine,
neben denen noch über 300 Spezialvereine, z. B. für Bienenzucht,
Obst- und Gartenbau, die Versicherungsvereine und die Genossen-
schaften stehen, von denen 1909 451 Raiffeisenkassen in einem Ver-
band zentralisiert waren, und die in dem „Revisions verband" sich
eine zweite Organisation geschaffen hatten. Zu ihnen kommen
noch 668 Meliorationsgenossenschaften, die zusammen mit dem
Staat, den Syndikaten, Korporationen und Gemeinden seit 1877
64,7 Millionen Mark für Fluß- und Bachkorrektionen, Wasser-
leitungen und Stauweiher ausgegeben hatten, die Feldweg- und
256 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Flurbereinigungsgenossenschaften, deren Zahl bis 191 3 auf 734
angewachsen war. Die 1872 gegründete, unter Aufsicht des Mi-
nisteriums stehende Aktiengesellschaft für Boden- und Kommunal-
kredit gab den großen und kleinen Landwirten Darlehen gegen
hypothekarische Sicherheit.
Obwohl ein landwirtschaftliches Vereins- und Genossenschafts-
wesen und der Landwirtschaftsrat von Elsaß-Lothringen geschaffen,
für das Bildungswesen erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt
wurden, ein regelmäßiger Reblausdienst entstand, Viehprämi-
ierungen die Aufzucht ermunterten und die Regierungsvertreter
überall persönlich fördernd und belehrend eingriffen, hatten es
viele, namentlich stadtferne Bauern, an sich, an dem Alther-
gebrachten mehr als erwünscht festzuhalten, so daß das reiche
und gesegnete Land im ganzen nicht auf der Höhe der land-
wirtschaftlichen Kultur des neuzeitlichen Deutschlands stand. Der
größte Teil von Lothringen und der Südzipfel des Elsaß verharren
noch dauernd bei der Dreifelderwirtschaft, in den Vogesen war
die aus alten Zeiten stammende Brandwirtschaft noch verbreitet,
der Fruchtwechsel war nur nördlich von Straßburg bis zur
Pfälzer Grenze und südlich von Saarbrücken üblich. Große, über
das ganze Land zerstreute Güter als Vermittler des landwirt-
schaftlichen Fortschrittes gab es nicht. Diejenigen in den Kreisen
Chäteau-Salins, Metz-Land und Bolchen waren verpachtet, ge-
hörten zum großen Teil Franzosen, welche die Renten, die sie
von extensiv wirtschaftenden Pächtern bezogen, in Nancy und
Paris verzehrten. Während in Handel und Industrie eingewanderte
Deutsche zahlreich tätig waren, sind in die Landwirtschaft nur
wenige eingedrungen, so daß die unmittelbare nachbarliche An-
regung durch neue ostrheinische Fortschritte fehlte.
Die Wirtschaft des Waldes hängt insofern mit dem
Landbau zusammen, als sie, richtig geführt, den Schutz des
Quellengebietes und damit die Bewässerung sichert und Über-
schwemmungen auf Wiesen und Äckern vorbeugt. Zu dem Zweck
soll sie über weite zusammenhängende Flächen verfügen, die auch
im Verhältnis zum gesamten Nutzboden des Landes groß sein
müssen. Beides ist in Elsaß-Lothringen seines gebirgigen Teiles
wegen der Fall. Der Wald umfaßte 1871 30,60/0 des ganzen
Landes und 78,8 0/0 von ihm gehörten dem Staat, der Gemeinde
und Anstalten, die überall einen einheitlichen Großbetrieb aus-
übten. Unter deutscher Verwaltung ist die Waldfläche um 3000
Hektar vergrößert, und in ihr der Privatwald um 8,2 0/0 ver-
kleinert worden, so daß jene volkswirtschaftlichen Ziele noch
ausdrücklicher verfolgt werden konnten.
II. Der Frankfurter Friede. Elsaß-Lothringen und seine Eingliederung usw. 257
Der Wald spielt zudem in der Ertragswirtschaft eines Landes
eine große Rolle, und auch hier konnte die Forstverwaltung,
die fast ganz von deutschen Beamten übernommen wurde, mit
günstigen Zahlen aufwarten. In den Staats- und in den vom
Staat mit den Gemeinden ungeteilt besessenen Waldungen ist von
1873 bis 19 12 die Holzeinschlagsmasse um die Hälfte, auf den
Hektar der durchschnittliche Ertrag um 1/3, um ebensoviel die Nutz-
holzgewinnung innerhalb des gesamten Produktes gesteigert worden,
wobei das Holzkapital zugleich angewachsen ist. Unter dieser
intensiveren Betriebsweise bei gleichzeitig eingetretener Preis-
erhöhung infolge des allgemeinen volkswirtschaftlichen Erblühens
sind höhere Gelderträge für das Staatsbudget möglich geworden.
Unter Übernahme der bewährten Grundsätze des preußischen
Forstwesens wurde der im Argen liegende Wegbau umgestaltet,
wurden Waldbahnen, breite Forststraßen, Erd- und Schlittenwege
angelegt, Ödländereien aufgeforstet, die Hochwaldkulturen aus-
gedehnt. Auch durch die vollständige Regiewirtschaft gestaltete
sich der Betrieb billiger und den Wald schützend. Für einen
festen Stamm Waldarbeiter wurde gesorgt, der Holzverkauf neu
geregelt und die auf dem Staatswald ruhende Holzabgabelast teil-
weise abgelöst. Die Aufsicht der Behörde erstreckte sich auch
auf den Gemeindewald, der Betriebsplänen unterstellt wurde, und
auf die Privatbesitzungen, auf denen das willkürliche Abholzen
'eingeschränkt wurde.
Die Tätigkeit, welche die Waren der geschilderten Produk-
tionen den Verbrauchern zu übermitteln hatte, bedurfte in dem
Maße, als sie anwuchs, der geeigneten Transportmittel. Um-
gekehrt mußte jede Verbesserung derselben auf die Stärke der
Gütererzeugung zurückwirken. Die Reichseisenbahnen hatten 1871
eine Linienlänge von 768, nach 40 Jahren von 192 1 Kilometern,
die neue Ortsverbindungen schafften und in die Gebirgstäler
hoch hinaufliefen. Das Reich hat in ihnen ein Kapital von 879
Millionen Mark zur Anlage gebracht und steigerte von 1875 bis
191 2 die Zahl der Personenkilometer von 228 auf 510, der Tonnen-
kilometer von 1374 auf 3251 Millionen.
Die Eisenbahnen sind nur ein Stück Verkehrsnetz, das durch
Anpassung an die Kanäle, Flüsse und durch Anschluß der Land-
straßen, elektrischer Trambahnen und Automobilrouten erst zu
einem Ganzen wird, dessen Leistungsfähigkeit sich in dem zu-
nehmenden Gebrauch der einzelnen Einrichtungen kundgibt. Gute
Straßen und Kanäle gab es schon zur französischen Zeit. Wäh-
rend jene sich unter deutscher Herrschaft um 11 60 Kilometer
in 40 Jahren vermehrten, lag der Schwerpunkt der Veränderung
A. Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 1 '
258 V. Abschnitt Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
dieser darin, daß sie für 300 Tonnen-Schiffe fahrbar gemacht
wurden, womit der doppelte Verkehr bewältigt wurde. Von den
Flüssen sind die Mosel und vor allem der Rhein die belebenden
Schlagadern des volkswirtschaftlichen Kreislaufes. Die Kanali-
sierung der ersteren wurde von der lothringischen Montanindustrie
seit Jahrzehnten dringend, jedoch vergeblich gewünscht, um den
Austausch von Kohlen und Erz zu erleichtern. Der Rhein von
Lauterburg bis Basel war ehemals die Landesgrenze und mit
Zollwächtern besetzt, die jeden hinüberfahrenden Kahn visitierten,
dann wurde er ein Großverkehrsmittel ersten Ranges. Durch
zwei Häfen, den geringeren bei Lauterburg, den großen bei
Straßburg, erschloß er das Elsässer Wirtschaftsleben nach außen
hin und dies in um so besserer Weise, als das Rheinkorrektions-
werk und die Herstellung von Hochwasserdämmen vollendet
wurden. Ein- und Ausfuhr aus dem Straßburger Hafen schwollen
von 1894 bis 191 2 von 317000 auf 1655793 Tonnen an; dieser
Rekord gilt für den Rheinverkehr talwärts, oberhalb Kehl beweg-
ten sich nur 12700 Tonnen. Straßburg war um 1914 die End-
station der Rheinschiffahrt. Hier stauten sich die Mengen auf, um
nach allen Seiten in Abzugsröhren geleitet zu werden. Mehr als
die Hälfte der Einfuhr kam auf Kohlen und Koks, dann folgte
das Getreide, das vorzugsweise im Rheinhafen vermählen woirde,
mit gut 1/4, weiter das Petroleum und die gemischte Masse der
weniger umfangreichen Güter.
Die wirtschaftliche Entwicklung der Landeshauptstadt
wird mit Recht auf die günstige geographische Lage am Rhein
zurückgeführt, doch ist mancher andere treibende Faktor daneben
zu nennen gewesen. Straßburg ist ein Zentralpunkt der Eisen-
bahnen, und bei ihr begrüßen sich die Endpunkte des Rhein-Rhone-
und des Rhein-Marne-Kanals. Beide Kanäle dienten vorzugsweise
dem deutschen Binnenverkehr. Der Umsatz mit Frankreich auf
der Wasserstraße war nur mäßig und abnehmend, seitdem dieses
Land sich mit dem hohen Minimalzoll gegen Deutschland ab-
geschlossen hatte. Ein Blick auf die mitteleuropäische Karte zeigt,
daß Elsaß-Lothringen, als Mittelpunkt gedacht, die Peripherie
seiner Warenbewegung in Frankreich, in der Schweiz und Deutsch-
land haben könnte, aber nur das letztere Land stand vornehmlich
in Frage, da es jeden Verkehr zu sich erleichterte und keine
Kosten scheute, um dies Ziel zu erreichen. Das beweisen die
Millionen, die die Uferstaaten für die Rheinkorrektion aufbrachten,
die für die Bauten der Post- und Telegraphenanstalten, die von
1874 bis 191 2 von 146 bzw. 74 auf die Höhe von 1580 und 1398
gelangten, die Erweiterung der schon genannten Bahnlinien, die
U. Der Frankfurter Friede. Elsaß-Lothringen und seine Eingliederung usw. 259
Errichtung der Reichsbankstellen, deren Umsatz von 841 Millionen
Mark um 1876 sich bis 19 12 verzehnfacht hat.
Wer Straßburg, ehemals „un sale trou de province", 191 3
nach 46 Jahren zuerst wieder erblickt hätte, würde es kaum
wieder erkannt haben, wenn das Münster seinen Finger nicht
reckte, als ein altes Wahrzeichen deutscher Kunst und Kultur.
Zweimal ist die Stadt durch Niederlegung alter Festungswälle
erweitert worden. Sie umgibt ein Kranz von Villenquartieren und
gewerblichen Vororten, der die bebaute Fläche von ehemals mehr
als verdoppelte. In vielen Städten des 19 14 besetzten Frankreichs
ruhte seit Jahrzehnten die Bautätigkeit. Besuchern während des
Weltkrieges, die den Feldzug 1870 mitgemacht haben, ist das
gänzlich unveränderte Stadtbild aufgefallen, in dem noch Ruinen
an den damaligen Krieg erinnerten.
Von der Beschießung Straßburgs war nach wenigen Jahren
nichts mehr zu bemerken; die Spekulation schuf seit den acht-
ziger Jahren zuerst die Neustadt und begann dann den Umbau
der Altstadt. Daß hier der Sitz der Landesverwaltung, der Reichs-
universität und einer großen Garnison war, belebte die öffentliche
Bautätigkeit, aber auch der Handel und die Industrie bedurften
zahlreicher Großhäuser, die das enge, winkelige Straßengewirr
der alten Reichsstadt durchbrachen, um aus Jungdeutschlands öko-
nomischer Kraft heraus etwas Neues anzubahnen.
Straßburg, 1871 mit 85654 Einwohnern, besaß einige Nah-
rungsmittelindustrien, und sein Handel hielt Beziehungen zu den
Südstaaten des Zollvereins. Die reichen Pariser des zweiten Kaiser-
reichs nächtigten hier auf ihrer Reise nach Baden-Baden, dem
damaligen internationalen Vergnügungsmittelpunkt der vornehmen
Welt in Süddeutschland. Straßburg war für Waren ein Durch-
fuhr- und geringer Umschlagsort, 1914 was es mit 180000 Ein-
wohnern ein industriell selbstschaffender Kraftpunkt mit Leder-
großwerken und Getreidekunstmühlen, mit Fabriken für Papier,
Maschinen, Korb- und Schuhwaren, Schirme, Möbel, musikalische
Instrumente, Seife, Tabak und zahlreiche Nahrungs- und Ge-
nußmittel.
Die staatsrechtliche Sonderstellung des Reichslandes hat sich
auf -wirtschaftlichem Gebiete nicht bewährt gehabt. Die Nachteile
der kleinstaatlichen Finanzwirtschaft traten in den ersten beiden
Jahrzehnten nach 1871 nicht so auffällig hervor als in den beiden
folgenden. Die Staats- und Gemeindeausgaben blieben zuerst
niedrig, so daß mit dem übernommenen französischen Finanz-
system leidlich auszukommen war. Es wurde aber auch kul-
turell und sozial nicht viel geleistet. Sobald unter dem Eindruck
17*
2 6o V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890
der ostnachbarstaatlichen Verwaltung dieser Zustand nicht mehr
haltbar blieb, wurden die staatlichen Steuern nebst Bezirks- und
Gemeindezuschlägen erhöht, ohne zu genügen, so daß bei der
Etatsausgleichung zum Schuldenmachen gegriffen werden mußte.
Es fehlten die einträglichen Erwerbseinkünfte. Die Eisenbahnen
gehörten dem Reich, das Kali, an dem sich der Staat beteiligte,
brachte ihm in den Jahren der Überproduktion vor dem Kriege
nicht viel ein, die Tabakmanufaktur ergab rund 175000 Mark,
der Wald 4 1/2 Millionen, alles dies bei 78 Millionen Staatsausgaben.
So haben die Ertrag-, Verkehr- und Verbrauchsteuern, von denen
die ersteren zwar im Sinne der Billigkeit umgestaltet wurden,
aber doch vom Standpunkt der Belastung nach der Leistungs-
kraft noch viel zu wünschen übrig ließen, die Verwaltungslast
fast ganz zu tragen gehabt, die bei den verhältnismäßig hohen
Ausgaben für die Zentrale und gemeinsamen Angelegenheiten recht
teuer war.
Die Aufteilung des 1871 wiedergewonnenen deutschen Landes
unter Preußen, Bayern, Baden würde dessen wirtschaftliche Ent-
wicklung im ganzen nicht beeinträchtigt haben, wenn sie auch
anders verlaufen wäre. Was das Reich ihm geboten hat," wäre
ihm auch so zugefallen. Lothringen als Teil von Preußen würde
mehr gewonnen haben, Elsaß vielleicht etwas weniger. Indem
der Reichslandpartikularismus sich weniger aufdringlich geltend
gemacht hätte, würde der wirtschaftlichen Entfaltung mehr Spiel-
»raurn gegeben gewesen sein.
Sagt man heute, die ganze deutsche Anstrengung, die neuen
Gebiete wirtschaftlich und sozial zu heben, seien vergeblich ge-
wesen, da man nur für Frankreich gearbeitet hätte, so kann ein
solcher Vorwurf der Kurzsichtigkeit der Reichsleitung von 1871
nicht gemacht werden. Denn die Annexion war eine Notwendigkeit
zum Schutze des Rheins im Südwesten. Hatten die Franzosen
schon von 1866 bis 1870 immerfort eine Revanche für Sadowa
ausposaunt, nicht um Österreich wieder zu erheben, sondern um
den ihnen unerträglichen Gedanken aus der Welt zu schaffen,
daß sie nicht die erste, glorreiche Militärnation der Erde seien,
so würden sie, auch wenn sie Elsaß-Lothringen nicht verloren
hätten, ihr Rachegefühl nach ihrer Niederlage nicht um einen
Grad herabgesetzt haben.
War 1871 ihnen der östliche, politisch zur Einheit erstarkende
Nachbar ein ewiger Stein des Anstoßes bei ihrer beanspruchten
Vormachtstellung im westlichen Europa, deren Idee den Krieg
von 1870 als letzte Ursache hatte, so mußte diese grollende Forde-
rung erst recht erhoben werden, nachdem Deutschland in den
III. Die Reichsgesetze über das Geld- und Bankwesen. 26I
folgenden 40 Jahren daran ging, wirtschaftlich zur ersten Kon-
tinentalmacht zu erstarken.
III. Die Reichs ge setze über das Geld- und Bank-
wesen. Bald nach dem Frankfurter Frieden gelangten die Vor-
arbeiten über das Geldwesen zum Abschluß, die im Reichskanzler-
amt vor dem Ausbruch des Krieges begonnen hatten. Am 4. De-
zember 1871 wurde das Gesetz betreffend die Ausprägung von
Reichsgoldmünzen und im Anschluß daran am 9. Juni 1873 das
Reichsmünzgesetz erlassen.
In den sechziger Jahren setzten sich die deutschen Flandels-
tage als Vertreter der Handelskammern und verschiedener kauf-
männischer Verbände, ferner die Kongresse deutscher Volkswirte
streng liberaler Richtung für die Reform des Geldwesens ein. Sie
verlangten eine allgemeine deutsche Münzeinheit, die Rechnungs-
größe von 1/3 Tlr. mit dezimaler Einteilung und, im Verlaufe der
Jahre mehr und mehr, die Goldwährung.
Der starke Silberabfluß nach Ostasien, der von 1861 — 1864
stattgefunden hatte, schien die Gefahr des Silbermangels herauf-
beschworen zu haben. Die aus Kalifornien und Australien stam-
menden Goldschätze erfüllten den europäischen Umlauf immer
stärker. Man sah daher in dem Goldverkehr eine durch die
Funde gegebene natürlich - wirtschaftliche Notwendigkeit. Der
deutsche Handelsstand, besonders soweit er mit dem Auslande
zu tun hatte, war der Ansicht, daß Gold für den internationalen
Verkehr, in dem es seit langem die erste Rolle gespielt habe,
das geeignetste Zahlungsmittel sei. Jetzt sei Deutschland im Be-
griff, ein Industrie- und Handelsstaat zu werden wie England
und habe von dem Rivalen im Geldwesen zu lernen. Die Gold-
währung entsprach somit als englische Einrichtung dem Glauben
der herrschenden Freihandelsschule, die die Klinke der Gesetz-
gebung in der Hand hatte. Nicht unvorbereitet ist sie eingeführt
worden. Ein Jahrzehnt hatte die Theorie gearbeitet, für die
Adolf Soetbeer in Hamburg, dessen Verdienste für die Kennt-
nis der Geschichte der Edelmetallproduktion anerkannt sind, das
Gründlichste geleistet hatte. Die französische Kriegsentschädigung
von 5 Milliarden Franken enthielt große Goldbestände, so daß
die praktische Durchführung des als richtig Angenommenen ge-
sichert war.
Nach dem erstgenannten Gesetz wurde die Auspräg-ung von
genau umschriebenen Goldmünzen angeordnet, und zwar zu 139V2
Stück aus einem Pfunde fein, den Zehnmarkstücken, und zu 693/4
Stück, den Zwanzigmarkstücken. Da nach dem bestehenden nord-
deutschen Münzfuß 30 Tlr. aus einem Pfund Silber geprägt
202 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
worden waren, und im Verkehr ein Pfd. Gold = 151/2 Pfd. Silber
gerechnet wurde, dem durchschnittlichen Wertverhältnis einer län-
geren Vergangenheit und der Zeit der Gesetzgebung entsprechend,
setzte man den Taler gleich 3 Goldmark und fand einen be-
quemen Anschluß des alten zu dem neuen Geldsystem in etwa
2/3 des Reichsgebietes, während die Guldenländer mit 7 Gulden
gleich 12 Mark es schwieriger hatten. Die vorhandenen Gold-
münzen der Vergangenheit woirden eingezogen, die Ausprägung
bisheriger Silberkurantmünzen eingestellt, und der Reichskanzler
erhielt die Ermächtigung, die letzteren aus dem Verkehr zu ziehen
und durch neue goldene zu ersetzen, denen die gesetzliche Zah-
lungskraft beigelegt wurde. Es war für die Übergangszeit inso-
fern eine Doppelwährung vorhanden, als jede Schuld sowohl in
der alten Silber-, als auch in der neuen Goldwährung geleistet
werden konnte.
Das Reichsmünzgesetz proklamiert die Goldwährung grund-
sätzlich, ordnet einheitlich die Scheidemünzen von Silber, Nickel
und Kupfer, und beseitigt im Prinzip alle Münzen aus der früheren
Zeit. Privatpersonen erhalten das Recht, für ihre Rechnung
20-Markstücke ausbringen zu lassen, damit der Münzwert dem
des Barrengoldes möglichst nahe steht. Als Vermittlerin trat hier-
für mit dem späteren Bankgesetz dife Reichsbank ein, die für
das Pfund feinen Goldes 1392 Mark in gegen Goldgeld einlösbare
Noten verabfolgte, womit der Schlagschatz auf 3 Mark dauernd
festgelegt worden war.
Die deutschen Reichsgesetze treffen ferner genaue Be-
stimmungen über die Mischungsverhältnisse, über das Remedium
oder den gesetzlich gestatteten, unvermeidlichen Münzfehler und
das Passiergewicht, d. h. die Einziehung der im Verkehr abge-
nutzten Stücke, die für Rechnung des Reiches geschehen soll.
In den nächsten Jahren wurde die neue Währung durch-
geführt. Bis zum Jahre 1879 waren 1080486138,38 Mark zur
Herstellung von Silberbarren, d.h. zum Verkauf, und 382 784841,28
Mark als Prägesilber für Scheidemünzen und zur Deckung des
Prägeabganges eingezogen worden. Da nun in der Zwischenzeit
der Silberpreis auf dem Weltmarkte stark gesunken war, sowohl
durch das Angebot der deutschen Silberbestände und die man-
gelnde Aufnahme des Metalles durch die Münzstätten der la-
teinischen Münzkonvention, als auch durch die vermehrte nord-
amerikanische Silberproduktion, wurde mit der Beseitigung des
Restes der noch vorhandenen Silbertaler — man schätzte den
Betrag auf 400 — 450 Millionen Mark — zunächst Halt gemacht,
so daß der Taler noch als Währungsgeld fortbestand. Erst 1907
III. Die Reichsgesetze über das Geld- und Bankwesen. 26^
hat seine Todesstunde geschlagen, nachdem etwa die Hälfte des
noch vorhandenen Bestandes zum erweiterten Kontingent der
Reichssilbermünzen — darunter auch Dreimarkstücke — unter
der gesetzlichen Ausbringung von loo Mark aus einem Pfd. feinen
Silbers, Verwendung gefunden hatte.
Die Neuordnung des Geldwesens im Sinne der Einheitlich-
keit war notwendig geworden. Indem die Goldwährung mit der
Vielseitigkeit der Vergangenheit aufräumte, glaubte man ihr schon
dadurch ein besonderes Verdienst einräumen zu können. Die
Gründe, warum man vom weißen zum gelben Metall überging,
werden in den Erläuterungen der Gesetzvorlagen kaum berührt.
Die Silberwährung bringe viel Unbequemlichkeit beim Reise-
verkehr und in der Versendung und führe zu einer übertriebenen
Anwendung papierener Umlaufsmittel. Die Doppelwährung sei
beim Sinken des Goldwertes gegen Silber den Schuldnern eine
nicht zu rechtfertigende Entlastung oder im umgekehrten Falle
der Silberentwertung eine Illusion, da in Silber weitergezahlt
werde. Der eigentliche Grund für die Einführung der Gold-
währung ist die Erleichterung und Sicherung des internationalen
Geschäftes gewesen. Die Vereinigten Staaten und Frankreich
hatten viel Gold ausgeprägt. Man glaubte, sie würden zur Gold-
währung übergehen. Man wollte nicht zu kurz und zu spät
kommen. Auch Japan hatte sich für das Gold entschieden. Eng-
land besaß es schon lange und hatte aus der Währung große
Vorteile gezogen, durch den indirekten Wechselverkehr, den Welt-
handel, den Seetransport, die ausländische Kapitalanlage, wobei
stets in Gold gezahlt werden mußte. Deutschland gewann mit der
neuen Währung ein festes Wechselpari mit England. Die Schwan-
kungen der englischen Devise wurden eingeschränkt, dem Waren-
handel wurde die Differenzschwankung zwischen teuerem und
billigem Weltgeld teilweise genommen.
Die folgenden 40 Jahre haben den Beweis gebracht, daß
die Wahl der neuen Währung für sie das richtige gewesen ist,
und man wird dem wirtschaftlichen Liberalismus es zuzugestehen
haben, daß er kräftig die Initiative ergriffen hat. Im inneren
Verkehr hat die Goldmenge genügt und war allen wirtschaft-
lichen und politischen Krisen gewachsen. Im auswärtigen wurde
die zweckmäßige Wahl des Systems schon dadurch erwiesen, daß
auch andere Länder, wie Österreich-Ungarn und die Vereinigten
Staaten, zu ihm übergingen, und daß die Doppelwährungsländer
die Silberausprägung einstellten oder stark verminderten. Die
Zunahme des deutschen Außenhandels auf das Fünffache, des
Auslandskapitals auf 25 — 30 Milliarden, des direkten Wechsel-
264 ^" Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
Verkehrs mit überseeischen Ländern, genoß in der gesicherten
Valuta eine wertvolle Unterstützung. Bedenken waren nur von
der Mitte der siebziger bis Ende der achtziger Jahre aufgestiegen,
als die Weltgoldproduktion gegenüber den vorausgehenden 25
Jahren einen Rückgang erlebte. Damals trat der Bimetallismus
agitatorisch hervor. Die Reichsregierung traf die glückliche Ent-
scheidung, sich auf die Änderung der Währung nicht einzulassen,
und als dann die großen Funde in Transvaal und anderen Ländern
kamen, mußte die Gefahr des absoluten Ungenügens an Gold für
absehbare Zeiten als gebannt gelten.
Die Goldwährung wurde weiterhin mit der relativen Wert-
beständigkeit des Goldes unter den gegebenen Zuständen durch
die Wissenschaft gestützt. Die Kaufkraft des Goldgeldes sei zwar
eine örtliche und zeitlich schwankende, folge aber aus der Kon-
junktur der Waren, Nutzungen und Leistungen. Von der Gold-
seite her sei eine Preisbeeinflussung ausgeschlossen. Werde das
Goldangebot durch Funde vergrößert, so verteile es sich rasch
auf die Goldwährungsländer der Weltwirtschaft und könne das
Niveau des großen internationalen Reservoirs nicht sichtbar ver-
ändern, zumal immer Länder bereit seien, ihre Goldrechnung mit
tarifierten Silbermünzen zur Goldwährung zu machen. Ebenso-
wenig, wie man von einer neuen eingeschobenen Kaufkraft des
Geldes sprechen könne, wie sie etwa in der Renaissancezeit beim
Silber bestanden habe, sei auch bei dem Reichtum vorhandenen
Goldes ein Mangel an Zahlungsmitteln infolge der vermehrten
Nachfrage nach solchem nicht zu befürchten, zumal die Umlaufs-
geschwindigkeit des Goldes bei den bestehenden Spar-Depositen-
banken ungemein elastisch gestaltet werden könne, im übrigen die
ausgebildeten Kreditzahlungsmittel und Giroeinrichtungen allen
Ansprüchen genügen würden, da ihre Goldunterlage aus-
reichend sei.
Ebenso wie das Geld- und Münz-, war das Notenbank-
wesen der Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes unterstellt
worden und wurde nun Reichssache. Noch in höherem Maße
wie bei jenem waren hier Untersuchungen und Vorbereitungen
nötig, um das volkswirtschaftlich Richtige zu finden. Zunächst
kam es darauf an, die Notenbanken nicht noch weiter zu ver-
mehren. Dem entsprach das Bundesgesetz vom 27. März 1870,
nach dem eine neue Befugnis zur Ausgabe von Banknoten nur auf
Grund eines Bundesgesetzes erworben werden konnte, und Banken
mit einem bestimmten Notenausgaberecht dasselbe nur mit Ge-
nehmigung des Bundes erweitern durften. Diese Banknotensperre
wurde durch das Reich wiederholt und auch auf Süddeutschland
III. Die Reichsgesetze über das Geld- und Bankwesen. 265
ausgedehnt. Ebenso wurde die Ausgabe von Papiergeld den Bun-
desstaaten verboten, damit dieses nicht an die Stelle der verhin-
derten Noten trete. Auch das Reichsmünzgesetz griff in das
Notenwesen und das Papiergeld mit der Vorschrift ein, daß sämt-
liche nicht auf Reichswährung lautenden Noten einzuziehen seien,
und nur solche von loo Mark an in den Verkehr gebracht werden
dürfen, daß das einzelstaatliche Papiergeld zu beseitigen und nur
das des Reiches auszugeben sei. Dieses neue Papiergeld waren
die Reichskassenscheine, deren dauernder Bestand auf 120 Millio-
nen Mark festgesetzt wurde. Sie besaßen keinen Zwangskurs und
waren einlösbar, obwohl kein eigentlicher Einlösungsfonds für sie
bestand. Man rechnete bei ihrer geringen Menge und ihrer
Stückelung in 5, 20 und 50 Mark, daß sie als bequemes und
erwünschtes Umlaufsmittel im Verkehr gebunden sein würden, und
daß der zur Einlösung verpflichteten Reichskasse aus disponiblen
Reichsmitteln keine Beschwerde erwachsen würde. Darin hat man
sich auch nicht getäuscht.
Der gesamte Notenumlauf betrug am 31. Dezember 1874
I 325 441 699 Mark. Die Vielartigkeit vor der Neuregelung wird
durch die Statistik beleuchtet, daß 350555 Abschnitte zu einem
Taler, 421 iio Gulden in Fünf guldenscheinen, 751 150 Tlr. in
Fünf talerscheinen, i 498 000 Mark zu 20 Mark, 40 439 200 Gulden
zu 10 Gulden, 57440600 Tlr. zu 10 Tlr., 5532725 Gulden zu
25 Gulden vorhanden waren; unter 50 Mark, 19,40/0 des ganzen
Umlaufes, von 50 — 100 Mark 21,20/0 und darüber 59,40/0. Das
Papiergeld hatte 1873 i^o Millionen Mark überschritten, die Zahl
der verschiedenen Arten von Noten und Staatspapiergeld zu-
sammen betrug 140. Im Reichsgebiet gab es 33 Banken, die
mit einem Notenausgaberecht privilegiert waren, die Größe des
Grundkapitals war höchst ungleich, schwankte zwischen i und 60
Millionen Mark. Sechs Banken hatten ein unbegrenztes Noten-
ausgaberecht, andere ein solches bis zur Höhe des Stammkapitals
ohne oder mit Einrechnung des Reservefonds, andere wiederum
bis zur zwei- oder dreifachen des Vermögens. Die Dauer der
Konzession war unbeschränkt oder auf 50 oder 100 Jahre bemessen.
Die geographische Verteilung der Banken und die Höhe des wirk-
lichen Notenumlaufes waren willkürlich, dem Bedürfnis nicht an-
gemessen. In Bayern bestand nur ein Institut mit einer ge-
statteten Menge von 21 Millionen Mark, in Sachsen waren fünf
mit 120; Schaumburg-Lippe mit 32000 Einwohnern und Reußj.L.
mit 89 000 hatten in ihren Städtchen Bückeburg und Gera Noten-
banken mit unbegrenztem Notenausgaberecht und mit einem tat-
sächlichen von 10 — 12 Millionen Mark. Lübeck hatte zwei Noten-
266 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
banken, Hamburg keine. Dazu kam, daß die Stellung des Staates
zu den Banken ganz verschieden aufgefaßt war. Einige waren
von ihm ganz losgelöst oder nur seiner höchst zweifelhaften Auf-
sicht unterworfen, andere hatten Verpflichtungen übernommen zu-
gunsten des Fiskus oder der Volkswirtschaft, die preußische Bank
wurde von Staatsbeamten verwaltet und stand unter Staatsaufsicht
(vgl. A. Soetbeer, Kommentar zur Bankverfassung).
Dies alles bereitete der Reichsgesetzgebung Schwierigkeiten
genug, zu denen das schwankende Urteil der Sachverständigen
über das Verhalten der Notenbanken bei der Überspekulation und
der Krise von 1873 hinzukam. Die föderative Natur des Reiches
verlangte Rücksichtnahme, die Gesamtwirtschaft Einheitlichkeit
schon im Hinblick auf die geschaffene Goldwährung.
Der erste, 1874 vorgelegte, Entwurf fand im Reichstage
keine Billigung, weil die politische Dezentralisation und die wirt-
schaftliche Zentralisation unbeachtet geblieben waren. Aus einem
zweiten ist das Bankgesetz vom 14. März 1875 hervorgegangen.
Als Verfasser desselben gilt der Regierungsvertreter O. Michaelis,
in der Reichstagskommission war L. Bamberger, im Bundesrat
der bayerische Bevollmächtigte von Riedel ausschlaggebend.
Das Werk war diesmal gelungen. Es werden die 32 Privatnoten-
banken erhalten, aus der preußischen Bank geht die Reichsbank
hervor. Sie erstreckt ihre Wirksamkeit über das ganze Reichs-
gebiet, während die anderen auf den Partikularstaat beschränkt
bleiben, der ihnen Konzession verliehen hat. Im Verlaufe der
Jahre haben die meisten von ihnen die Notenausgabe unter der
Konkurrenz der ihnen gegenüber gesetzlich begünstigten Reichs-
bank eingestellt. 1890 waren noch 13 im Betrieb, 191 4 noch 4,
die bayerische, württembergische, sächsische und badische. Sie
dürfen nur bestimmte Geschäfte betreiben, haben hohe Reserve-
fonds anzusammeln, für die Deckung und Einlösung der Noten
Vorschriften zu erfüllen, wenn sie das Recht gewinnen wollen,
daß ihre Noten außerhalb des Ausgabestaates bei Zahlungen ver-
wendet werden dürfen. Sie stehen unter Aufsicht des Reiches.
Zu den allgemeinen Bestimmungen der Bankverfassung ge-
hört die gesetzliche Einlösung in Geld, zu dem auch bis 1907
die Taler zu rechnen waren, das Verbot gefahrbringender Ge-
schäfte, die wöchentliche Veröffentlichung der Aktiva und Passiva.
Die Ausgabe der Notenmenge ist unbeschränkt, aber es besteht
die indirekte Kontingentierung, nach der eine fünfprozentige Steuer
erhoben wird über jeden ihnen zugewiesenen Betrag und über
ihren Barvorrat hinaus. Zu dem Barvorrat werden auch die Reichs-
kassenscheine gerechnet, was aus der Bankverfassung nicht zu
III. Die Reichsgesetze über das Geld- und Bankwesen. 207
begründen ist, wohl hingegen bei einer Geldnot unter starkem
Bedarf nach Noten Nutzen bringen konnte, da sich dies Papiergeld
durch Reichsgesetz vermehren ließ, was tatsächlich auch später
eingetreten ist.
Mit der indirekten Kontingentierung sollte die mechanische
direkte, die in England gilt, und bei den großen Wirtschaftskrisen
von 1847, 1857 und 1866 versagt hatte, durch eine elastische
Maßregel ersetzt werden. Man wollte damit ein zu umfangreiches
Kreditgeben verhindern, nicht etwa ein leichtfertiges, gegen das
andere Bürgschaften in den Wechselvorschriften und der Lom-
bardfähigkeit gegeben waren. Die Einrichtung ist für die Privat-
banken nicht unzweckmäßig gewesen, bei denen der Gewinnanreiz
in den Spekulationsperioden abgeschwächt wurde, für die Reichs-
bank dürfte sie überflüssig gewesen sein, da sich diese stets an
erster Stelle von volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten hat leiten
lassen. Die Besteuerung trägt zugleich einen finanziellen
Charakter, der darin begründet ist, daß der Vorteil der zinsfreien
Notenausgabe, der sich aus dem Gesamtumlauf ergibt, auch dem
Ganzen durch das Reichsbudget dienstbar gemacht wird.
Die Reichsbank ist der preußischen insofern nachgebildet,
als sie eine Aktiengesellschaft unter Leitung und Aufsicht des
Staates ist, und als ein Zentralausschuß der Aktieneigner gut-
achtlich zu hören ist. Sie hat ihren Hauptsitz in Berlin und ver-
breitet ihre Filialen über das ganze Reich. 1906 bestanden neben
den 19 Hauptstellen 70 Bankstellen und 358 Nebenstellen, 1911
hatte sie im ganzen 488 Niederlassungen. Sie genießt besondere
Vorteile gegenüber den anderen Notenbanken. Ihre Noten dürfen
im ganzen Reichsgebiet zur Zahlung verwendet werden. Sie darf
nach ihrem Ermessen überall Filialen errichten. Durch Verord-
nung sind die Reichs- und Landeskassen angewiesen worden, ihre
Noten anzunehmen. Sie ist befreit von staatlichen Einkommen-
und Gewerbesteuern. Ihr sind Erleichterungen im Lombardverkehr
zugestanden. Ein steuerfreies Notenkontingent wächst ihr zu, wenn
Privatbanken auf ihre Ausgabe von Noten Verzicht leisten.
Die Geschäfte, die sie betreiben darf, sind im Gesetz ge-
nannt. Wechseldiskont, Lombardgeschäft, Gold- und Silberhandel
und Giroverkehr sind die wichtigsten. Sie hat die allgemeinen
Aufgaben, den Geldumlauf im ganzen Reich zu regeln, die
Zahlungsausgleichungen zu erleichtern und für die Nutzbar-
machung verfügbaren Kapitals zu sorgen. Besondere Verpflich-
tungen sind ihr aufgelegt: Barrengold gegen Noten einzuwechseln,
ihren Diskont regelmäßig bekannt zu geben, die Noten zu 1/3 in
bar, zu 2/3 in diskontierten Wechseln, die eine Verfallzeit von
208 V- Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890,
höchstens 3 Monaten haben und aus denen drei, mindestens aber
zwei als zahlungsfähig bekannte Personen haften, zu decken. Sie
hat sich der Finanz Verwaltung des Reiches zur Verfügung zu
stellen und kann auch Geschäfte der Bundesstaaten übernehmen.
Die Bankverfassung ist im Verlaufe der nächsten Jahrzehnte
durch Novellen nur in einzelnen Punkten abgeändert worden. Das
Grundkapital der Reichsbank wurde 1899 von 120 auf 180 Mil-
lionen Mark, das steuerfreie Notenkontingent 1905 von ursprüng-
lich 250000 auf 550, für das Quartalsende auf 750 Millionen Mark
erhöht. Der Gewinnbezug der Aktionäre wurde wegen der vollen
Sicherheit seines Einganges mehrfach herabgesetzt. Die Noten-
abschnitte der Reichsbank, die anfangs auf 100, 500, 1000 Mark
gelautet hatten, wurden, nachdem sich die zu 500 nicht bewährt
hatten und beseitigt worden waren, von 1906 an auch als solche
von 20 und 50 Mark in den Verkehr gebracht, in der richtigen
Voraussetzung, daß die kleinen Noten in ihm fester gehalten
werden, als die großen, was der Stärke des Goldbestandes zu-
gute kommen müsse. Alle Reichsbanknoten erhielten die Eigen-
schaft eines gesetzlichen Zahlungsmittels, eine bisher ausge-
schlossene Bestimmung, die in England und Frankreich bestand,
und im Hinblick auf einen zukünftigen Krieg angewöhnt werden
sollte, in dem der Zwangskurs für unvermeidlich galt. Den Ver-
such der Privatnotenbanken, durch Unterbieten des Diskonts einen
Teil des Reichsbankgeschäftes an sich zu ziehen, beseitigte die No-
velle von 1899, nach der jene an den offiziellen Satz des Zentral-
instituts gebunden werden.
Auffällig ist, daß unter der Herrschaft der liberalen Wirt-
schaftsidee eine zentralisierte Bankverfassung geschaffen wurde,
die dem Staat so viel Einfluß einräumte. Waren zwar die schlech-
ten Erfahrungen, die mit den privaten kleinen Notenbanken, und
die guten, die mit der preußischen großen gemacht worden waren,
keineswegs vergessen, so dürfte doch der Hauptgrund für die
Errichtung einer solchen Reichsbank die Erhaltung der Gold-
währung gewesen sein. Denn nur eine starke Zentralbank, wie
sie in England und Frankreich bestand, konnte eine durchgreifende
Diskontopolitik führen, durch die der Abstrom des Goldes bei
passiver Zahlungsbilanz verhindert wird. Sie wurde dem Staat,
dem in Deutschland der Manchestermann zwar kein verstandes-
mäßig begründetes, aber unbewußt instruktives Vertrauen trotz-
alledem entgegenbrachte, unterstellt, um ein gefährliches privates
Monopol auszuschließen, und dies war um so mehr geboten, als
sie in kritischen Zeiten der öffentlichen Verwaltung unschätzbare
III. Die Reichsgesetze über das Geld- und Bankwesen. 269
Dienste leisten konnte, wie das ebenfalls bei dem ausländischen
Vorbild erprobt worden war.
Daß sich die deutsche Bankverfassung vom ersten Tage an
bewährt hat, wird nicht bezweifelt. Die Privatbanken erfüllten
mit ihrer Tätigkeit nur einen beschränkten Wirkungskreis, wäh-
rend die Hauptbank durch immer weitere Ausdehnung ihrer Mittel
und Stellen die Bank aller Arten von Banken und ihren gesamten
Aufgaben völlig gerecht wurde. Erstens wurde der Geldumlauf
im Reichsgebiet von ihr sowohl dadurch geregelt, daß Noten und
Geld in den Verkehr überall dorthin gelangten, wo das Bedürfnis
dazu vorhanden war, als auch durch den Ankauf von Barrengold.
In der von der Reichsbank 1900 herausgegebenen Denkschrift
heißt es: „Sie war bei ihrer Begründung gedacht als Vermittlerin
des Goldzuflusses und der Goldprägungen und hat diese Ver-
mittlung so vollständig übernommen, daß sie alles vom Ausland
und für den deutschen Geldumlauf bestimmte Gold in Barren
und fremden Sorten an sich zieht, und daß sie tatsächlich der
einzige Private ist, der von dem Rechte der freien Goldaus-
prägung Gebrauch macht. Auf diesem Felde war es ihre Auf-
gabe, durch ihre Diskontopolitik den notwendigen Zufluß von
Gold zu befördern. Der Gesamtbetrag der Goldeingänge stellte
sich von 1876 bis 1900 auf 2629 Millionen Mark, davon sind
ihr 315,5 von 1876 bis 1879 zur Durchführung der Münzreform
überwiesen, den ganzen Rest hat sie von Privaten aufgekauft.
Das meiste davon ist ausgeprägt worden. Der eigene Goldbestand
hat sich von 341 Millionen Mark 1876 auf 501 um 1900 vermehrt,
die Maximalziffer war 800". 1906 stieg er, der durch Giro-
einzahlungen wirksam zudem verstärkt v^oirde, auf 891 und 191 3
auf 1350 durchschnittlich im Jahre. Im ganzen wurde von 1871
bis Ende März 19 14 die Summe von 4515 I39 900 Mark Doppel-
kronen und 772276600 Mark Kronen ausgeprägt, von denen
102387600 Mark bzw. 65604200 wieder eingezogen worden sind.
Die zweite Hauptaufgabe der Reichsbank ist, die Zahlungs-
ausgleichungen zu erleichtern. Das hat sie vor allem durch ihren
Giroverkehr getan. Während sie am i. Januar 1876 einen ein-
gezahlten Girobestand von 16 Millionen Mark aufwies, wurde er
1877 178, 1887 352, i8q7 471, 1907 579, 1913 605. Die Zahl der
Girokonten ist vom i. Januar 1877 bis Ende 1913 von 3245 auf
26148 gestiegen, deren Tätigkeit sich ungezählte Personen be-
dienen, die geschäftlich hinter ihnen stehen. Der ganze Umsatz
belief sich 1876 auf 16,7 MilHarden, 191 3 auf 19,7 Milliarden
Barzahlungen, 50,5 Verrechnungen mit Konteninhabern, 66,7 Über-
tragungen am Platze und 52,4 von anderen Bankstellen, alles auf
2 70 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
der Einnahmeseite zusammen 189,6, denen 189,5 ^^^ ^^^ Aus-
gabeseite entsprachen. Zu looooo Mark Umsatz war 1876 ein
Guthaben von 430 Mark, 1908 von 140 erforderhch. Die Über-
tragung ist kostenfrei, die Girobestände werden nicht verzinst.
Der Giroverkehr auf edelmetallischer Grundlage bestand ehedem
in Hamburg mittels der dort üblichen Mark-Bankorechnung, d. h.
eines Depots in Barrenfeinsilber. 1875 fragte der Senat in Berlin
an, ob die Reichsbank diese Einrichtung auf sich unter der Gold-
währung übertragen wolle. Dem wurde zugestimmt, doch derart,
daß eine Ausdehnung auf das Reich beschlossen wurde, womit
zwischenörtliche Übertragungen ebenso wie die am Platze Erledi-
gung fanden.
Die dritte Aufgabe der Reichsbank ist, für die Nutzbar-
machung verfügbaren Kapitals zu sorgen. Es geschieht dies durch
die erwähnten Geschäfte der Diskontierung und der vor allem auf
Effekten beruhenden Lombardierung. Das Aktivum an Wechseln
war 1913 1135,9 Millionen Mark, an Lombardforderungen 85,4, in
denen stets erhebliche Teile des Grundkapitals angelegt werden.
Der Notenumlauf aller deutschen Banken war gleichzeitig 2107
Millionen Mark, davon der der Zentralbank 1958, woraus deren
volle Überlegenheit hervorgeht.
Indem sie den Ansprüchen des Wirtschaftslebens in Hoch-
konjunkturen und Krisen genügte, genoß sie volles Vertrauen
in der ganzen deutschen industriellen und kaufmännischen Ge-
schäftswelt, ebenso wie im Ausland. Sie war durch ausgezeichnete
Präsidenten, zuerst von Dechend, dann seit 1890 von Koch,
der die Goldwährung gegen alle bimetallischen Anstürme erfolg-
reich verteidigt hat, als Urheber des deutschen Scheckgesetzes
gilt, und auch als Jurist und Nationalökonom schriftstellerisch
fruchtbar war, und zuletzt von Havenstein, der sie durch die
schwierigen Kriegs- und Nachkriegsjahre hindurchgeführt hat, ge-
leitet. Obwohl sie eine Aktiengesellschaft ist, ist sie ihrer Ver-
waltung wegen vom Publikum doch stets als Staatseinrichtung
bewertet worden. Sie hat die Überlieferung des zuverlässigen und
den Zeitansprüchen Rechnung tragenden preußischen Beamten-
tums in sich aufgenommen und Staat und Volkswirtschaft in dem
Umkreis ihrer Tätigkeit derart zu einem Ganzen verknüpft, daß
die wirtschaftliche Gesamtkraft des Volkes gehoben wurde.
Indem wir diesen ersten Abschnitt über die wirtschaftliche
Reichsgesetzgebung zum Abschluß bringen, erwähnen wir noch
das Markenschutzgesetz von 1874, nach dem Gewerbe-
betreibende, deren Firma in das Handelsregister eingetragen ist,
Zeichen, welche zur Unterscheidung ihrer Waren von denjenigen
IV. Hochkonjuktur, GründungsschwLndel und Wirtschaftskrise 1871 — 1873. 271
anderer Gewerbebetreibenden auf den Waren oder deren Verpackung
angebracht sind, bei dem Handelsregister anzumelden befugt sind,
und demgemäß geschützt werden. Es hat im ganzen seinen Zweck
erfüllt und wurde 1894 durch dasjenige „zum Schutze der Waren-
bezeichnungen" ergänzt. 1876 folgte das Gesetz über das Ur-
heberrecht und 1 877 das Patentgesetz, das an die Stelle
von 29 einzelstaatlichen Gesetzen trat und dadurch schon eine
Wohltat wurde. Der einzelstaatliche Schutz war wegen der Viel-
heit der Anträge für den Erfinder mit hohen Kosten verknüpft
und schützte doch nicht zuverlässig. Das Ausland, namentlich
England, war mit seiner großstaatlichen Organisation so über-
legen, daß nicht wenige deutsche Erfinder sich dorthin wandten,
um die Früchte ihres Talents zu ernten. Durch solche Vorgänge
wurde die auswärtige Konkurrenz aus dem technischen Können
der Deutschen gespeist.
Die Fanatiker der Gewerbefreiheit wollten ursprünglich nichts
von einer Belebung des erfinderischen Geistes durch staatlichen
Eingriff wissen. In den Notjahren der großen Geschäftsstockung
nach 1873 lernte man anders denken. Die wachsende Regsamkeit
der Erfinder in der hier beschriebenen Epoche wird dadurch
zur Anschauung gebracht, daß 1878 5949 Anmeldungen, 1890
11882 stattfanden. Die Hochflut verdoppelte sich zweimal in den
nächsten zwei Jahrzehnten. 1900 bringt 21925, 1909 45000 An-
meldungen. Die Gesetzgebung wurde 1887 und 1891 in Einzel-
heiten revidiert, ohne daß die Grundlagen des Verfahrens we-
sentlich abgeändert wurden.
IV. Hochkonjunktur, Gründungsschwindel und
Wirtschaftskrise 1871 — 1873. Wir schicken ein Wort Wil-
helm Raabes unserer Darstellung voraus: „Die Wunden der
Helden waren noch nicht verharscht, die Tränen der Kinder und
Mütter, der Gattinnen und Bräute und Schwestern noch nicht
getrocknet, die Gräber der Gefallenen noch nicht übergrünt: aber
in Deutschland ging's schon — so früh nach dem furchtbaren Kriege
und schweren Siege — recht wunderlich her, wie während oder
nach einer großen Feuersbrunst in der Gosse ein Sirupfaß platzt
und der Pöbel und die Buben anfangen zu lecken, so war im
deutschen Volke der Geldsack aufgegangen, und die Taler rollten
auch in den Gossen und nur zu viele Hände griffen auch dort
danach. Es hatte fast den Anschein, als sollte dieses der größte
Gewinn sein, den das geeinigte Vaterland aus seinem großen
Erfolge in der Weltgeschichte hervorholen könnte."
Am Anfang der sechziger Jahre ist der volkswirtschaftliche
Niedergang nach der Krise von 1857 überwunden. Die Unter-
2 72 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890
nehmungen, die den Sturm ausgehalten hatten, setzten auf brei-
terer, festerer Grundlage zu frischen Taten ein. Auch neue er-
scheinen auf dem Plane, wenn auch nicht in so großer Zahl wie
vor 10 Jahren. Wir haben eine Periode des stetigen, produktiven
Anschwellens, die von Übertreibung und Ausartung frei bleibt,
weil die Sorgen der auswärtigen Politik hemmend eingreifen.
Die Schleswig-Holsteinische Frage, die Kriege von 1864 und 1866
mahnen die Kapitalgeber und Börsen zur Vorsicht, weiterhin auch
die Luxemburger Angelegenheit, als Vorbote des Krieges mit
Frankreich, und dieser selbst erst recht. Die Geldkrise in London
1866 und die Börsenpanik am „Schwarzen Freitag" in New York
tun Deutschland nicht viel an, weil sich seine Kapitalisten auf
Effekten- und Wechselspekulationen an beiden Plätzen kaum ein-
gelassen hatten, und heimische Spekulationen nicht zusammen-
brechen konnten, da sie nicht da waren.
Ein Symptom des volkswirtschaftlichen Aufstieges bringt der
Zinsfuß, der als hypothekarischer zunächst auf seiner Höhe be-
harrt, bei den Effekten sogar anfangs etwas sinkt, dann, angeregt
durch steigende Gewinne, später auch durch den Geldbedarf in
Österreich und den Vereinigten Staaten, den Durchschnittssatz von
50/0 für sichere Anlagen annimmt. Die Kriegsanleihen von 1870
treiben ihn noch darüber hinaus.
Diese zehnjährige, im ganzen günstige Konjunktur, wenn auch
nur mittlerer Intensität, war die Fortsetzung der großen ge-
schilderten Vorwärtsbewegung seit den vierziger Jahren. Es be-
durfte nur noch eines energischen Antriebes nach oben, um die
Höchstschwellung einzuleiten.
Kaum ist der Feldzug von 1870/71 zu Ende, bricht sich die
lange zurückgehaltene Unternehmungslust freie Bahn. Explosiv-
stoffe zur Überspekulation liegen in Europa und Amerika aufge-
häuft, nur nicht in dem finanziell blutleeren Frankreich. Die
Eisenbahnen sind in ihren wichtigsten Linien innerhalb der Staaten
zwar vollendet, aber der auf ihnen gewonnene Verkehr bringt
starke Wünsche zum Ausbau der Netze, der doppelten Geleise,
der Bahnhöfe und Güterhallen. Nach Kolbs Statistik ist die Kilo-
meterlänge auf der Erde von 1860 — 1871 von 106886 auf
'^33 988 gewachsen, auf eine so imposante ungeahnte Ziffer, daß
man später, wenn auch mit Übertreibung, die internationale Krise
von 1873 die der Eisenbahnen genannt hat.
Von großen neuen Plänen auf dem europäischen Festlande
ist der berühmteste die Gotthardlinie, die mit Unterstützung
des Reichs, der Schweiz und Italiens als kunstvolle, sichere Tunnel-
und Viadukt-Gebirgsbahn 1882 nach zehnjähriger Bauzeit eröffnet
IV. Hochkonjunktur, Gründungsschwindel und Wirtschaftskrise 1871 — 1873. 273
wurde. Politisch war sie wertvoll für Deutschland und Italien,
die jetzt durch die neutrale Schweiz, unabhängig von Österreich
und Frankreich, miteinander in rascher postalischer Verbindung
bleiben konnten. Wirtschaftlich erwartete Italien von dem neuen
Weg das meiste dadurch, daß Genua als Welthafen seinen alten
Ruhm wiedergewinnen werde. Obwohl 1877 der Hafen erweitert
wurde, blieb das erwünschte Ziel bei dem damals langsamen Vor-
ankommen der italienischen Volkswirtschaft in der Ferne. Erst um
1900 fing man an, die Früchte zu ernten. Für den deutschen
Warenexport und die Auswanderung ist der Transport über die
Gotthardbahn nicht billig. Deutsche Kohlen können in Genua,
selbst in Mailand nicht mit den englischen konkurrieren. Auf
das Geschäft der deutschen Nordseehäfen hat der südliche Han-
delsplatz keinen nachteiligen Einfluß ausgeübt.
1869 wurde der Suezkanal feierlich dem Verkehr über-
geben. Die Fahrt von der Nordsee und englischen Westküste
nach Indien, Ostasien, Australien wurde um 20 — 40 Tage ver-
kürzt. Auch er mußte dem Genuaer Hafen nutzbar werden. Den
größten Vorteil haben die Engländer mit ihrer überlegenen Marine
gehabt, die den Erbauer Lesepps, da dieser ihnen zuvorgekommen
war, als einen luftigen Projektenmacher anfangs verhöhnt hatten.
1876 war Englands Anteil an den passierten Schiffen 70 0/0.
die Mehrzahl der Aktien kam bald in seine Hand und seiner .Diplo-
matie in Kairo und Konstantinopel gelang es weiterhin, das Unter-
nehmen unter seine Kontrolle zu bringen. Als die deutsche Ree-
derei regelmäßige Fahrten nach Ostasien, Australien und Ost-
afrika aufnahm, kam der Kanal auch ihr zu statten. 1905 durch-
fuhren ihn 41 15 englische, 601 deutsche und 91 italienische
Schiffe, und 1909 war die englische Br.-Rg.-Tonnage 13242000,
die deutsche 3373600, die italienische 209358.
Aus der im Frankfurter Frieden abgetretenen Ostbahn, die
mit 325 Millionen Franken auf die Kriegsentschädigung ange-
rechnet wTirde, entstand die Reichseisenbahn, die auch Luxem-
burger Linien in ihre Verwaltung einbezog. Der Hauptbetrag
der französischen Zahlung erfolgte in 4248 Millionen Franken
Wechseln, der Rest wurde in französischem Golde und Silber
mit 273 bzw. 239,2 Millionen Franken geleistet und 105 Millionen
in deutschem Geld, das während der Okkupation in Frankreich
von deutschen Truppen ausgegeben worden war. Die Millionen-
werte strömten in der Weise in die deutsche Volkswirtschaft, daß
die Anleihen des Norddeutschen Bundes und der süddeutschen
Staaten im Betrage von 805 Millionen Mark zurückgezahlt wurden,
und daß das Reich zur Reorganisation des Landheeres, zum
A.Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 18
274 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
Festungsbau, zu Dotationen, zum Reichsinvalidenfonds große
Summen verausgabte, und einen Kriegsschatz von 120 Millionen
Mark in Spandau, um die Mobilmachung erleichtern zu können,
hinterlegte. Der Wunsch, das neue Reich schuldenfrei antreten
zu sehen, hatte die Finanzverwaltung bestimmt, die Verpflich-
tungen sofort im Ganzen zu tilgen. Auf dem Effektenmarkt ent-
stand augenblicklich Hausse, da die bisherigen Besitzer der Kriegs-
anleihen zu Neuanlagen schritten, auch die Dotationen verzinsbar
gemacht wurden und das Reich als Käufer auftrat, um disponible
Gelder und den Invalidenfonds verzinsbar anzulegen. Alle diese
Käufer erwarben vornehmlich sichere Werte, einzelstaatliche und
Eisenbahnobligationen, Pfandbriefe und dergleichen. Die Ver-
käufer mußten sich schon an andere Effekten, wie Stammaktien,
Prioritätsaktien halten. Auch die zweiten Verkäufer mußten neu
anlegen, und so ging es weiter, bis schließlich die freien Beträge
auf dem Geldmarkte zu produktiven Darlehen und Aktiengrün-
dungen erschienen.
Die Schuldtilgung wurde zu schnell vorgenommen. Wäre sie
über einige Jahre verteilt worden, es wäre besser gewesen. So
mußte sich die Reichsregierung sagen lassen, daß sie eine starke
Anreizung zur Börsenspekulation gegeben habe. Andere wichtige
Antriebe aus der deutschen Volkswirtschaft und der Weltwirtschaft
heraus haben neben der Milliardeneinfuhr die Spekulation an-
geregt. Es ist daher die französische Behauptung nicht richtig,
die Kriegsentschädigung habe ihre Revanche in sich getragen
und Deutschland mehr geschädigt als genützt. Das Reich konnte
sorgenfrei seine Etats der nächsten Jahre antreten, die Kriegs-
schäden wurden beseitigt, während Frankreich einen Aderlaß von
mehr als lo Milliarden Franken allein in wirtschaftlich unproduk-
tiven Anleihen erlitten und hohe Zinsen für sie zu zahlen hatte.
Von übertriebenen Neugründungen blieb es daher für Jahre be-
freit, dann wurde es jedoch auch in einen Bankschwindel ver-
wickelt (Bontoux Krach), und als der europäische Geschäftsnieder-
gang so lange anhielt, wurde seine Exportfähigkeit auch betroffen,
die vor allem im Süden in der Seidenindustrie stark empfunden
wurde.
Die Hochkonjunktur konnte in Deutschland nicht ausbleiben,
nachdem so lange Ruhe gewesen war. Sie war für das Fort-
schreiten der Volkswirtschaft erwünscht, nicht erwünscht war der
beispiellose Gründungs- und Bankschwindel und die moralische
Geschäftsverwilderung in vielen Kreisen, die den Vorgang be-
.gleiteten.
IV. Hochkonjunktur, Gründungsschwindel und Wirtschaftskrise 1871 — 1873. 21')
Für das Übermaß schamloser Ereignisse, das jahrzehntelang
im Gedächtnisse der Nation bitter empfunden wurde, haben be-
sondere Veranlassungen vorgelegen. Bis 1870 bedurften die Aktien-
gesellschaften in den deutschen Einzelstaaten der Konzession.
Diese Vorsicht war den Enthusiasten der Gewerbefreiheit ein Dorn
im Auge und wurde durch das Bundesgesetz vom 11. Juni .1870
beseitigt und durch allgemeine Normen ersetzt. Das Prinzip war
durchaus diskutabel, was aber nicht zu billigen war, war, daß
das Gesetz in 4 Tagen durch die Reichstagsverhandlungen durch-
gepeitscht wurde, infolgedessen die Sicherungen für Gläubiger
und Aktionäre nicht kritisiert wurden und ungenügend ausfielen.
Die Fehlerhaftigkeit des Gesetzes wurde in dem Verein für Sozial-
politik nach einem Referat von Ad. Wagner schon 1873 richtig
erkannt, und Vorschläge zur Reform wurden hier ähnlichen In-
halts, wie sie schon der deutsche Juristentag formuliert hatte, be-
raten. Die Rechtsabänderung, die erst 1884 kam, kehrte zu der
Konzessionspflicht nicht zurück, machte aber die Gründer in eini-
gen Richtungen haftbar, verlangte ausreichende Einzahlungen,
während man sich bisher nicht selten mit 10 0/0 begnügt hatte, und
grenzte die Tätigkeit der Organe der Gesellschaft streng von-
einander ab. Die Aktionäre sind oft genug geschäftsunkundig,
die Gründer sind nur zu sehr geschäftskundig, so daß jenen gegen
diese ein besonderer Rechtsschutz zugebilligt werden muß. Pro-
spektzwang und Haftung nach dem Prospekt der Gründung brachte
erst das Börsengesetz von 1896. Vollkommene Sicherheit für die
Aktionäre der anonymen Gesellschaft zu bringen ist keine Gesetz-
gebung imstande. Die Inhaber der Dividendenpapiere müssen
auf ihrer eigenen Hut sein und nie vergessen, daß, wie hinter der
Presse, so hinter dem Abstraktum der Gesellschaft Menschen
stehen, über die sie ihr Urteil haben sollten.
Die Ausartung zur Gründungsmanie ist ohne die psycholo-
gischen Eigenarten der damaligen Geschäftswelt nicht zu ver-
stehen. Das Manchestertum, das in der Bereicherung des Ein-
zelnen ein Stück Gesamtwohl behauptete, erhob die Rücksichts-
losigkeit zur Maxime und bekannte jede wirtschaftliche Handlung
als zulässig, wenn nur der Zusammenstoß mit dem Staatsanwalt
vermieden wurde. Gar manchem, „der mit dem Ärmel das Zucht-
haus gestreift hatte", wurde durch die Finger gesehen. So wurde
die Hintansetzung der Moral in Geschäftssachen ein soziales Übel,
Die Gewissenlosigkeit des einen steckte den anderen an, der sich
damit entschuldigte, daß, wenn er nicht mitmache, er unter die
Räder kommen müsse. Die biologische, damals in weitere Kreise
eingedrungene Daseinskampftheorie, wurde als etwas Absolutes
18*
27 0 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
für die Menschheit hingestellt^ als ob die Jahrtausende alte Rechts-
idee gar nicht bestände.
Die Städte waren rasch angewachsen. Die Zuwanderung
brachte ihnen manches zweifelhafte Geschäftstalent, vor allem
Berlin, darunter zahlreiche kulturlose Juden aus dem Osten, die
ihre Wucher- und Schieberkniffe in die Wechselstuben, Winkel-
banken und an die Börse verpflanzten. Das städtische Leben
büßte seine erhaltenden Sitten und Überlieferungen ein, die Be-
wohner kannten sich größtenteils nicht mehr untereinander. Jeder
dachte nur an sich, was kümmerte ihn der andere, zu dem er
weder verwandtschaftliche noch gesellige Beziehungen hatte.
Dazu kam die politische Unreife bei der Ordnung der staat-
lichen und städtischen Angelegenheiten. Der aus der Konflikts-
zeit verärgerte Liberalismus hatte sich zwar mit dem Reichs-
kanzler ausgesöhnt, meinte aber, die Regierungen hätten mit der
Reichsgründung genug getan und sollten sich in die Angelegen-
heiten der Bürger nicht weiter einmischen. Man wollte sich selbst
modernisieren, Berlin sollte anderen Weltstädten es an Ausdehnung
und Einrichtungen gleichtun. War es da nicht erwünscht, wenn
Tausende sich der Bodenspekulation zuwandten, die die Tempel-
hofer Bauern erfolgreich zu verkaufen animierten, oder wenn
Aktiengesellschaften Straßen, Passagen, Parks, Galerien, Bäder
errichteten ?
Die Tatsache, daß die Hochkonjunktur international war,
mußte durch die Vermittlung des Außenhandels und den Kauf
und Verkauf ausländischer Effekten anregend wirken. Schon am
Ende des Krieges von 1871 wurden die deutschen Börsen mit
amerikanischen Eisenbahnpapieren überschwemmt, von denen viele
nach wenigen Jahren notleidend woirden. Dann kamen die öster-
reichischen Bahnaktien, mit denen es nicht besser ging. Die über-
tölpelten Besitzer sollten offenbar den Satz verstehen lernen, daß
das Kapital kein Vaterland habe, und daß sich darum der Staat
um dessen Markt nicht kümmern könne und nicht dürfe. Die
Vorstellung von einer goldenen, pflichtlosen Internationale sickerte
bis in den örtlichen Kleinhandel oder die Sparkasse durch.
Nach dem Moniteur des Interets industriels wurde 1872 dem
Nominalwert nach, ohne das oft gezahlte Aufgeld, der Betrag von
12,64 Milliarden Franken in Effekten an europäische und ameri-
kanische Börsen gebracht, davon für Kreditinstitute 1,95, für Eisen-
bahnen und Industrie 5,20. Für 1871 war die Summe auf 15,6
berechnet worden, von denen indessen 11,7 auf Staatsschulden ent-
fielen. Auf Deutschland allein kamen 1872 1372 Millionen. Man
hat berechnet, daß in Preußen von 1790 bis Juni 1870 276 Aktien-
IV. Hochkonjunktur; Gründungsschwindel und Wirtschaftskrise 187 1 — 1873. 277
gesellschaften errichtet wurden, in den folgenden 21 Monaten 726.
Nach Aufstellung Berliner Zeitungen wurden während des ersten
Semesters 1873 196 Gesellschaften mit 166 Millionen Tlr. No-
minalkapital neu geschaffen, darunter 23 Banken mit 31,3, 45
Bergwerksgesellschaften mit 77,2, 22 Baugesellschaften mit 16,5
und 12 Maschinen- und Waggonfabriken mit 8,1. Für ganz
Deutschland gibt der Deutsche Ökonomist von 1 871 — 1873 928
Gesellschaften mit 2781 Millionen Mark Kapital an. Wer über
einzelne Gründungen Bescheid wissen will, findet viel Material
in O. Glagau's Büchern über den „Börsen- und Gründungs-
schwindel in Berlin und Deutschland". Die Beurteilung der Vor-
gänge ist bisweilen einseitig, die Schlußfolgerung oft gewagt.
Doch hat man den Eindruck, daß der Verfasser tief hinter die
Kulissen geblickt hat, und seine Schilderung gibt ein anschau-
liches Bild jener Tage.
Der Bau der Privatbahnen war durch die ganzen sechziger
Jahre stark gewesen, am Ende derselben ging er noch weiter in
die Höhe. Von 1865— 1869 wurden durchschnittlich 115 Meilen
dem deutschen Verkehr neu hinzugefügt, von 1869— 1873 222.
Die meisten Privatlinien stammen aus der sogenannten Strousberg-
Periode von 1862 — 1870 und spielten an der Börse eine große
Rolle. Dr. Strousberg, den man als Kulturheros, Wohltäter
der Menschheit, Eisenbahnkönig und Wunderdoktor verherrlichte,
der sein Gefolge von Herzögen und Grafen in Aufsichtsräten unter-
brachte, ist als Schwindler, nachdem es ihm schließlich schlecht
gegangen war, heftig angegriffen worden, am schärfsten post
festum von dem Abgeordneten Dr. Lasker 1873. ^^^^ brauchte
einen Sündenbock, um die Gründermasse rein zu waschen. Wenn
ein extravaganter Mensch Pech hat, wird er am heftigsten ge-
schmäht. Daher verlangt die Billigkeit, daß man auch Strous-
bergs Autobiographie heranzieht, um in seine Pläne und Taten
eingeweiht zu werden. Auf jeden Fall wird man ihn den talent-
vollen Schöpfer zahlreicher Bahnen nennen dürfen, dessen Ver-
dienste für dort anzuerkennen sind, wo der Bau rückständig ge-
blieben war. Denn der preußische Staat ging in jenen Jahren
unglaublich langsam voran, was der damalige Handelsminister
Graf Itzenplitz, ein wirtschaftlich Liberaler der konservativen
Partei, damit entschuldigte, daß es nur darauf ankomme, daß
Bahnen gebaut würden, nicht darauf, wer sie baue. Die erste
Strousberg-Bahn war die 1862 konzessionierte Tilsit-Insterburger,
in der Heimat des Unternehmers, seit 1863 folgten andere im
Osten der Monarchie gelegene. Auch in ihrem Westen, im König-
reich Sachsen, in Thüringen entstanden damals, auch durch andere
278 V. Abschnitt. Die Volksgeschichte des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Gründer, neue private Linien. Eine größere Anzahl bewährte sich
alsbald, wie die Berlin — Dresdner, die Harburg-Cuxhavener, die
Berlin — Warschauer, die Berliner Nordbahn. Eine ökonomische
Erfindung Strousbergs war, das Kapital der mittleren und kleinen
Sparer zur Anlage in Bahnaktien zu bewegen, was durch die Ein-
richtung der mit besonderer Sicherheit ausgestatteten Prioritäts-
aktien glückte, die teilweise an Stelle der in Nordamerika üblichen
Obligationen traten. Eine zweite Neuerung ging darauf hinaus,
die Lieferer von Bahnmaterial zu bestimmen, Aktien in Zahlung
zu nehmen. Es wurde die „Generalentreprise" eingeführt, in die
die Gründer den Bau ausgeben. Der Entrepreneur bekommt neben
bar Aktien in die Hand, die er an den Material liefernden Fabri-
kanten weitergibt. Das System hatte den Vorzug der raschen
Kapitalaufbringung, aber die Gefahr für das große Publikum,
daß diese Aktienbesitzer, um ihr Kapital rasch frei zu bekommen,
sich aller dazu erdenklichen Börsenmanöver bedienten. Wieviel
Schuld auf Strousberg, wieviel auf die oft selbständigen Vermittler
entfallen ist, kann nicht aufgehellt werden. Die geschädigten Leute
halten sich gern an einen geläufigen Namen. Als sein Träger
später in Konkurs kam, ging es ihm schlecht genug, und das
historische Odium blieb daher auf ihm haften.
Das wenig saubere Bahnaktiengeschäft wurde so gemacht
— wurde in mancher Hinsicht ein Vorbild für Gründungen anderer
Art — : Zuerst wurde die Konzession erworben, die mit Gewinn
verkauft wurde. Die Erwerber gründeten die Gesellschaft und sie,
bzw. die genannten „Entrepreneure", brachten mit Aufgeld die
Aktien an die Börse. Dann setzte eine mit Aktien bestochene
Presse ein und lobte die künftige Rentabilität über die Hutschnur.
War der Kurs hochgetrieben, so verkauften die Gründer aus und
überließen den Dummen die Zukunft. „Während der Gründer-
epoche", bemerkte v. Treitschke, „schien es wirklich, als ob
die Grenzen der menschlichen Dummheit ins Unermeßliche sich
erweitert hätten". Es herrschte eine Epidemie entfesselter Geld-
gier. Ohne Massensuggestion sind die Jahre 1872 — 1873 nicht
zu verstehen. Nicht wenige Bahnen waren, wie gesagt, an sich
gut, die meisten wurden im Vergleich zu der möglichen Dividende
im Kurs überwertet. Oft war die Herstellung zu teuer. Man mußte
mit hohen Preisen die Materiallieferer willfährig machen, Aktien
zu nehmen. Die Gründer bewilligten daher die übertriebenen For-
derungen anstandslos, die bei der steigenden Konjunktur überall
die allgemeine Preissteigerung zum Vorwand nahmen.
Als nun später die verhießenen Reinerträge nicht einkamen,
und die Dinge nicht mehr durch Bauzinsen, d. h. Kapitalzurück-
IV. Hochkonjunktur, Gründungsschwindel und Wirtschaftskrise 1871 — 1873. 279
zahlungeil im kleinen, oder kunstvolle Bilanzen zu verschleiern
waren, blieb der Börsensturz nicht aus, und eine Anzahl Gesell-
schaften stellte die Zahlung ein oder kam dem nahe. Doch ging
das sachliche Kapital nicht zugrunde. Einige Linien kämpften
sich durch die schwere Zeit hindurch unter Aufrechterhaltung des
Betriebes, andere wurden vom Staat gehalten oder von ihm er-
worben, wieder andere wurden von alten gesicherten Gesellschaften
übernommen oder als Anschlußlinien ausgebaut oder unterstützt.
Das Kapital von Aktiengesellschaften und der Kommandit-
gesellschaften auf Aktien war 1870 in Preußen nach offizieller
Aufnahme 1026 172 455 Tlr. Vom Juli dieses Jahres bis Ende
1874 kamen 1429925925 Tlr. hinzu, obwohl die Zahl der Gesell-
schaften sich mehr als verdreifacht hatte. Daraus ergab sich,
daß der Kapitaldurchschnitt verringert worden war, was nicht
gerade für die Zuverlässigkeit des Geschäftes spricht.
Hinter den neuen Gesellschaften der Industrie waren auch
Umwandlungen privatwirtschaftlicher Unternehmungen. Sie können
berechtigter Natur sein, weil sie den Fortbestand des Betriebes
unabhängig von der Person des Besitzers machen, der nach
einem arbeitsreichen Leben der Leitung nicht mehr gewachsen
ist, oder dessen Söhne zu dem Geschäft keine Neigung oder
Befähigung haben. Die Aktien werden dann Familienbesitz und
zersplittern sich in der nächsten Generation. Auch hat die Ak-
tiengesellschaft die leichte Form der Obligationenausgabe, während
der Private eine größere dauernde Schuld nur als Hypothek auf-
nehmen kann, was nicht immer glückt, oder, wenn er die Summe
von einer Bank erhalten hat, von ihr in Abhängigkeit gerät.
Allein in den damaligen Gründerjahren wurde die Umwandlung
nur zu oft zum Zwecke des Betruges durchgeführt. Ein Geschäft
wurde weit über den Ertragswert den Gründern überlassen. Die
Käufer bauten auf dem fingierten Wert eine Gesellschaft auf,
wobei wieder 100 0/0 zugeschlagen wurden. Das verwässerte Ka-
pital kam dann mit Agio an die Börse, an der es zum Spiel-
und Differenzgeschäft von den Kundigen weiter ausgenutzt wurde.
F. Stöpel schreibt: „Ich weiß von einem Bergwerk, das, ob-
wohl es so gut wie nichts wert war, von einem Konsortium für
100 000 Tlr. angekauft wurde, um in Gestalt einer Aktiengesell-
schaft mit einem Kapital von i 200 000 Tlr. an die Börse gebracht
zu werden."
Im Anschluß an die Bahnen dehnte sich die Industrie aus,
soweit sie für sie eine Vorbedingung war. Zahlreiche Kohlen-
und Eisenbergwerke wurden erschlossen, Eisenhütten und Stahl-
werke, Lokomotiven-, Waggon-, Eisenbahnbedarfsfabriken errichtet
28o V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
oder erweitert. Da die Privatbahnen nicht immer rationell, son-
dern nach Meinungen angelegt wurden, so übertrug sich das
sprunghafte Gründen auch auf die genannten Industrien. Im
ganzen entstanden nach Engel von Sommer 1870 — 1874 93
Bergwerks- und Hütten-A.-G. mit 395 Millionen Mark Kapital.
Die Gründungskrankheit verschonte andere Erwerbszweige
ebensowenig: die Papier-, Glas-, Pappe-, Leder-, Gummi-, Gutta-
percha-, Textil-, die chemische Industrie. Dazu kamen neue
Wasser-, Gas-, Heizungs-Gesellschaften. Die allgemein steigende
Lebenshaltung führte zu einer starken Vermehrung der Lebens-
und Genußmittelindustrie, der Bierbrauereien, Salz- und Zucker-
raffinerien, Tabak- und Zigarrenfabriken, Zichorien-, Schokolade-
werken, Hotels. Beinahe jeder Monat im Jahre 1872 hatte seine
Spezialität im Gründen: Farben-, Maschinen-, Wagenbau-, Schiffs-
utensilienfabriken, Holzkontors. Die Suche nach Gründungs-
objekten vollzog sich in atemloser Hast, durch Zeitungsinserate,
durch Herumsprechen an der Börse, durch Aufkauf irgendwelcher
natürlicher Lager von Stein, Ton, Zink und Braunkohle.
Banken wurden zu allen möglichen Zwecken ins Leben ge-
rufen. Manche von ihnen entsprachen dem volkswirtschaftlichen
Bedürfnis und waren genügend mit Mitteln und tüchtigen Per-
sonen ausgestattet. Es sei nur die Deutsche Bank von 1870,
deren stolzer Name an das erstarkte Nationalgefühl erinnert, oder
die aus der Firma Michael Kaskel hervorgegangene Dres-
dener Bank, eine große Kredit- und Effektenbank, die zunächst
mit einem Kapital von 9 600 000 Mark ausg'estattet war, genannt.
Beide waren der allgemeinen Krise von 1873 gewachsen und
konnten bald ihren Wirkungskreis erweitern.
In der Hauptsache erzeugte die Berliner Bankomanie, die sich
bis auf die unbedeutendsten Städtchen fortpflanzte, allerhand Ein-
richtungen, die an sich ganz harmlos aussahen, aber, sobald sie
sich ihrem statutengemäßen Zweck entfremdeten, eine gemein-
gefährliche Natur annahmen. Jeder größere Platz mußte min-
destens eine Makler-, Wechsler- oder Diskontobank und einen
Bankverein haben. Die Maklerbanken, allein in Breslau waren
vier, gingen von dem Gedanken aus, durch Haftung ihres Kapi-
tals die großen Kommissionshäuser gegen die Insolvenz der vielen
kleinen Makler sicher zu stellen, deren sich diese an der Börse
bedienten. Sie blieben bei dieser Aufgabe nicht, beteiligten sich
an allen denkbaren Spekulationen, wie sie gerade an der Tages-
ordnung waren. Die größte Zahl ging zugrunde, da sie nach
Beendigung der Hausseperiode nichts mehr zu tun hatte. Nicht
anders ging es den Gesellschaften, die sich Raten-, Renten-, Län-
IV. Hochkonjunktur, Gründungsschwindel und "Wirtschaftskrise 1871 — 1873.
2«I
der-, Kassen-, Agentur-, Gewerbe-, Report-Kapitalistenbanken
nannten, deren eigentlicher Zweck war, Gründungsmöglich-
keiten nachzuspüren. Eine vielgenannte Spezialität waren die
Baubanken mit der „philanthropischen" Aufgabe, die Woh-
nungsnot in den rasch wachsenden Städten zu beseitigen. Schon
ihre Zahl war übertrieben. Der Berliner Kurszettel weist mehr
als 40 nach. In heftiger Konkurrenz untereinander trieben sie
die Bodenwerte in die Höhe. Ihre Teilhaber waren oft die-
jenigen, die ihre Grundstücke zu hohem Preise loswerden wollten.
Denn es kam darauf an, den Boden zu zerstückeln, damit hö-
heren Wert zu fingieren und das Nominalkapital durch Aufschlag
zu vergrößern. Ließ sich das gekaufte Land nicht bald ab-
stoßen, so wurde eine neue Gesellschaft errichtet, die den Rest
zu übernehmen hatte und mit neuer Reklame vor das Publi-
kum trat. Die Wohnungsmieten wurden durch diese Schieberei
nicht niedriger, sondern in die Höhe geschraubt. Es wurde zwar
lebhaft gebaut, aber die protzigen, unschönen Kasten dienten
nicht dem Bedarf der ärmeren Volksklasse. Der Handel mit
Baumaterial eröffnete einen neuen Schwindel, die Häuser kamen
sehr teuer zu stehen, bald nach der Krise wurden viele un-
Vermietbar.
Lebens-, Genuß-, Luxusmittel stiegen rasch im Preise, Löhne,
Gewinne, Zinsen, städtische Grundrenten folgten nach, ohne sich
in ihren Anteilen zueinander wesentlich zu verändern. Den städti-
schen Finanzen wurde die Preissteigerung bald fühlbar:
Ausgaben
in M. auf den Kopf
Städte
der Bevölkerung
1849
1869
1876
Berlin . . .
8,16
I3>98
20,67
Cöln
5>"
11,96
20,68
Breslau . .
5>97
11,30
15,19
Dortmund
1,82
7.18
11,96
Elberfeld . .
7.79
10,19
15,41
Die Schuldenlast Berlins betrug 1866 4 Millionen Tlr., 1876
27 und war hauptsächlich ein Ergebnis der Neubauten und An-
lagen, bei denen es nicht immer geschäftlich einwandslos her-
gegangen war. Unter den Stadtverordneten und Magistrats-
personen zählte man zahlreiche Gründer, die sich zu Cliquen zu-
sammenballten und ihre Gewinnziele bei ihrer amtlichen Tätig-
keit nicht hintan stellten.
Die Korruption war in der Reichshauptstadt ungeheuer ge-
worden. Allgemeine Genußsucht und protzenhaftes Auftreten der
282 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
neuen Männer war noch die harmlose Seite des Tanzes um das
goldene Kalb. Viel ärger untergrub die Moral der tägliche Be-
trug, die Erpressung, die Unterschlagung, das Schwinden des ge-
schäftlichen Verantwortlichkeitsgefühls. Zeitungen, Witzblätter,
Theater verspotteten und kritisierten, man hütete sich aber Namen
zu nennen und wußte etwaigen Enthüllungen rasch ein Mäntelchen
umzuhängen. Wenige rühmliche Ausnahmen, wie die „Garten-
laube", sind wertvolle Quellen für die Kenntnis jener sozialpatho-
logischen Zeit.
Der Zentralpunkt für Humbug und Gewissenlosigkeit waren
die Börsen. An den Produktenbörsen wurden einzelne Artikel
zeitweise monopolisiert und jäh im Preise in die Höhe getrieben,
um nach dem Verkauf plötzlich geworfen zu werden. Die Schwan-
kungen machten den reellen Kaufleuten ihre Berechnungen fast
unmöglich. Der Handel mit Rohstoffen wurde zum Spiel, zu dem
sich auch Nichtberufsmäßige herandrängten, um dann den Ein-
geweihten ins Netz zu schwimmen. Die neuen Aktiengesellschaften,
z. B. chemischer Produkte, erzeugten Waren ins Blaue hinein und
übertrugen, um hohe Dividenden ausschütten zu können, die
Jobberei in den Warenhandel. Die Effektenbörsen vergrößerten
ihren Kurszettel alle paar Tage. In Berlin bringt er 1871 allein
104 neue Aktien mit einem Kapital von 241 Millionen Mark. Vor
der Krise von 1873 wurden hier iioo Effektenarten gehandelt,
bei deren Umsatz iio vereidigte Makler tätig waren. Die herr-
lichsten Prospekte wurden in der Presse verbreitet. Wer kein
Geld hatte zu kaufen, fand es bei den Banken, die, unter Sicher-
heiten für sich selbst, die Unerfahrenen mitzumachen anspornten.
Beim ersten Kursrückgang gingen die angezahlten Margen ver-
loren.
Damals wollten der hohe Adel und die Geheimräte ebenso
mühelos verdienen wie die Kutscher und die Dienstmänner, die
Bankherren wie die Briefkopisten, die Männer wie die Frauen.
Man jobberte an der Börse wie zu Hause, im Hotel wie in der
Kneipe, in politischen Versammlungen wie im Gesangverein. In
den Großstädten gab man den Ton an, die Provinz ahmte nach.
Wie immer wurde dies Glückspiel vornehmlich auf selten der
Dummen geübt, „die nie alle werden". Die Gegenpartei kannte
nur zu oft die Karten, machte „den großen Schlag" rechtzeitig,
wenn sie nicht auch in den Taumel hineingezogen wurde, dem
nur die ganz hellen Köpfe sich ganz zu entziehen verstanden.
Den Umsatz in Berlin hat man für 1872 täglich auf 30 bis 60
Millionen Mark veranschlagt, es gab große Tage, an denen man
ihn auf 200 schätzte. Bei vielen Käufen waren Effektenmassen
IV. Hochkonjunktiir, Gründungsschwindel und Wirtschaftskrise 187 1 — 1873. 283
vorhanden, die schon vor der Krise nicht an den Mann zu bringen
waren. Das diente aber nicht zur Warnung, vielmehr bildete man
Ramschgeschäfte, die der Kundschaft in Bausch und Bogen ganze
Pakete aufhalsten, einschließlich der schönen Dividendenscheine,
die niemals einen Pfennig brachten. Wie lächerlich erscheint
dieser Spielwut gegenüber die 1871 beschlossene Maßnahme der
Gesetzgebung, das Lotteriespiel in Prämienanleihen zu verbieten,
bei denen übrigens der Börse noch ein Hinterpförtchen offen-
gelassen war.
Die Gründungskrankheit hatte in Berlin ihren Ausgang ge-
nommen. Bald wurden der Osten und Westen des Landes erfaßt,
die alten Provinzen wetteiferten mit den neu erworbenen. West-
falen und Rheinland brachten es zu den höchsten Summen in der
Montanindustrie. In Braunschweig rühmte man sich, wenn auch
mit Unrecht, das Geschäft am besten verstanden zu haben. In
Sachsen waren Leipzig und Chemnitz führend, für Süddeutschland
Frankfurt a. M. Frankfurt war nach 1866 nicht mehr der erste
Börsenplatz, sondern hatte ihn Berlin überlassen müssen. Aber
es fehlte darum nicht am Gründungsdrang. 1866 zählte man 148,
1873 569 Notierungen im Börsenkurszettel. Doch waren die
schlimmsten Papiere nicht dabei. Bankaktien zweifelhafter Art
gab es zwar auch. Die Industriepapiere hatten wenig Eingang
gefunden. Das wurde erst von 1888 — 1890 nachgeholt. Die Fir-
men der Frankfurter Judenschaft waren vorsichtiger, weil älter
angesessen, konservativer, nicht von so vielen neuen nichts zu
verlieren habenden Elementen aus dem Osten durchsetzt, von dem
die Stadt ferner ablag.
Vorgreifend sei hier bemerkt, daß sich in dem nächsten
Jahrzehnt auch der Hauptmarkt der Staatsschuldverschreibungen
von Frankfurt entfernte, als mit der Reichswährung der Gulden-
v/echsel und die Guldeneffekten verschwanden, und Berlin mit
der Verstaatlichung der Eisenbahnen den Handel mit preußischen
Konsols bei sich konzentrierte. Auch die ungünstigen Erfahrun-
gen, die mit portugiesischen, ägyptischen, argentinischen, griechi-
schen und mexikanischen Werten von dem Publikum gemacht
wurden, waren Frankfurt abträglich.
Stuttgart und München zeigen in der Gründerzeit ungewöhn-
liche Ausschreitungen. Im ganzen blieb jedoch der Süden des
Reichs mehr verschont als der Norden.
Die Hochkonjunktur des Produzierens hatte Deutschland viel
umfassender ergriffen als vor 1857. Die Preise aller Großhandels-
waren stiegen überall, woran auch das Ausland beteiligt war.
Die erhöhten Gewinne, Zinsen, Grundrenten und Löhne beglichen
284 ^- -A-bschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
die Aufschläge im Kleinhandel. Die durchschnittliche Lohnerhö-
hung hat man auf 25 — 300/0 veranschlagt. Die Bauhandwerker
in den großen Städten hatten ihren Lohn auf das Doppelte bis
zum Dreifachen gebracht. Von ihnen erzählte man in Berlin, daß
sie in der Droschke zur Baustelle führen und abends Champagner
tränken.
Der Diskont stieg in dem Maße, als der Kredit in An-
spruch genommen wurde. Die preußische Bank ging 1872 auf
50/0, 1873 auf 60/0 hinauf. Der Privatdiskont war i — 2% höher.
Diese Sturmeszeichen wurden wenig beachtet. Stutziger wurde
man über den Umschlag in Österreich. Hier hatte der große
Aufschwung schon 1869 begonnen, und die Gründungsmache war
für Berlin vorbildlich geworden. 1872 besaß man dort bereits so
viele Banken, daß die Gründer in Verlegenheit waren, neue Be-
nennungen zu ersinnen. Die Vorgänge vollzogen sich in beiden
Zentren gleichmäßig. Im ersten Stadium werden nur nützliche
Unternehmungen ins Leben gerufen, bemerkt Ad. Wagner schon
von 1857, im zweiten auch noch nützliche, aber mit Überschätzung
der Kräfte, das dritte Stadium gehört dem Schwindel. Die Kurse
der am meisten getriebenen Effekten begannen in Wien im April
1873 zu sinken. Am 9. Mai kam es hier zu dem „großen Krach"^
dessen vorausgehende und nachfolgende Ereignisse von J. N e u -
w i r t h eingehend geschildert worden sind. In wenigen Tagen
waren 300 Insolventen angemeldet. Der Börsenbetrieb mußte zeit-
weise eingestellt werden. Selbstmorde der unglücklichen Speku-
lanten wurden epidemisch. Die Forderung des Tages geht auf
Suspendierung der Bankakte und auf ein Moratorium. Der Kredit
hört auf, man kann nur mit Bargeld bezahlen.
Berlin hält sich noch einige Monate. Dem Publikum wird
der Optimismus suggeriert, daß nichts zu fürchten sei. Die Ein-
geweihten machen inzwischen vorsichtig kehrt und tauschen Aktien
gegen gute Obligationen. Im August und September wird noch
ein krampfhafter Versuch gemacht, eine Hausse zu inszenieren.
Im Oktober falliert die vielgenannte Quistorpsche Vereinsbank.
Ungünstige Nachrichten aus England und Amerika beschleunigen
den Zusammenbruch. Ultimo Dezember 1872 und 1873 zeigen
folgende Kursverschiedenheiten: Diskonto Commandit 335 und
1791/2, Darmstädter Bank 216 und 1603/4, Berliner Handelsgesell-
schaft 160 und 119^/g, Köln-Mindner Eisenbahn-A.-G. 173 und 1461/2,
Rheinische Bahn 170 und 145 1/4, Berlin-Anhalter 2273/4 und 170I/2,
Dortmunder Union 171 und 83 1/2, Laurahütte 231 1/4 und 1661/4,
Zentralbank für Bauten 239I/2 und 56. Viele schlechte Effekten
waren nicht zu einigen Prozenten des Nominalkapitals umzusetzen.
IV. Hochkonjunktur, Gründungsschwindel und Wirtschaftskrise 1871 — 1873. 28^
Der Umschlag hatte an der Börse begonnen, und daher gab
es Leute, die so oberflächlich waren, nur von einer Börsenkrise zu
reden. Man spielte in Effekten weiter, wenn jetzt auch nur mit
bescheidenen Mitteln, um die Verluste wieder einzubringen. Gele-
gentlich wurden kleine Haussen aufgeführt, wie im Frühjahr 1875.
Alles vergebens. Die Kurse sanken weiter, weiter bis zum
Sommer 1879.
Die eigentlichen Produktionskrisen folgen denen an der Börse
nach. Schon 1874 zeigen die Eisenbahnen große Ausfälle von
Einnahmen, und am Ende des Jahres wird von einer ausge-
sprochenen Eisenbahnkrisis gesprochen. Im folgenden Jahre hat
das Montangewerbe seinen Zusammenbruch, Überproduktion, sin-
kende Produktenpreise, Lohnsenkung, Arbeitslosigkeit sind Sym-
ptome. Gewerbe, die mit jenem zusammenhängen, schließen sich
an. Alle anderen machen ihre Spezial- und Lokalkrisen durch.
Psychologisch lassen sich bei den Produktionsunternehmern zwei
Stadien während der allgemeinen Stockung unterscheiden. Bis
1877 hinein sind sie Optimisten, hoffen auf eine baldige Besserung,
halten möglichst ihre Arbeiter, bauen ihre Fabriken aus und pro-
duzieren weiter. Daher immer von neuem Überproduktion und
Preissenkung. Im zweiten Stadium von 1877 bis 1879 werden sie,
auch in den stärkeren und soliden Werken, Pessimisten, schränken
überall ein, und vermehren den Absatzmangel. Richtiger wäre
das gegenteilige Verfahren gewesen, zuerst die Einschränkung und
dann der Versuch der Belebung, das freilich eine durchgreifende
Änderung der Geschäftslage auch schwerlich gebracht hätte. Denn
der Niedergang war international. Fallissements in England
und Amerika zogen dauernd ihre weltwirtschaftlichen Wellen-
bewegungen, noch 1879 verursachte der Bankerott der City of
Glascow Bank ein neues Sinken der Eisenpreise. Eine Verschär-
fung der ungünstigen Geschäftslage brachte der Rückgang des
Silberkurses, unter dem alle Gläubiger litten, die Silberkupons
einzulösen oder Silbergeld aus fälligen Forderungen einzuziehen
hatten. Die Silberpanik 1876 in London setzte den Kurs auf
47 pence herab, was damals für einen unerhört niedrigen Stand
galt. Einen weiteren Schlag erlitten die europäischen Geldgeber
durch den Bankerott Ägyptens und der Türkei im gleichen Jahre,
in welchem es auch zu dem russisch-türkischen Krieg kam, der
das ganze osteuropäische Geschäft lahmlegte und den russischen
Wertpapieren einen Verlust bis 200/0 bescherte. Zu allen diesen
unglücklichen Ereignissen trat noch die beginnende Verschlechte-
rung der Lage der Landwirtschaft durch die amerikanische Ge-
treide- und Fleischkonkurrenz hinzu und gleichzeitig 1877 auch
286 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
eine partielle Krise der Hypothekenbanken, von denen einige den
Versuchungen der Gründerzeit nicht hatten widerstehen können,
sei es, daß ihre Direktoren mit den flüssigen Geldern spekuliert,
oder mehr Pfandbriefe ausgegeben hatten, als Hypothekenscheine
vorhanden waren. Namentlich in den Städten waren die Grund-
stücke überhoch beliehen worden, die sich mit der Baukrise viel-
fach so entwerteten, daß auch erste Hypothekengläubiger Ausfälle
hatten.
Die Verluste an Wertpapieren, Forderungen und Grundbesitz
waren in den 6 Jahren des Niederganges ungeheuer. Das Aktien-
kapital der 444 von Engel untersuchten Gesellschaften mit einem
Nominalwert von 1209 Millionen Tlr. hatte Ende 1872 einen Kurs-
wert von 1509,5, Ende 1874 804,6 ausgemacht, und seitdem waren
die meisten noch mehr als 50 0/0 gesunken.
Die Einbußen an Werten, so fühlbar sie waren, waren für
die Volkswirtschaft noch nicht das ärgste, was die Krise ihr
auferlegte. Schlimmeres war dies: Die eingerissene Geschäfts-
korruption, die Treu und Glauben untergrub, machte sich in der
ganzen Verkehrswirtschaft fühlbar; die solide Arbeitslust war durch
die hohen und schwankenden Löhne bei den Arbeitern, durch den
leichten Konjunkturgewinn und das Börsenspiel bei den Unter-
nehmern herabgesetzt worden. Nachlässige und schwindelhafte
Arbeit ist die Signatur, welche die deutsche Industrie auf der
Weltausstellung von Philadelphia 1876 sich erwarb. „Billig und
schlecht" nannte der Generalbevollmächtigte des Deutschen Reiches
Releaux in einem Brief an die Nationalzeitung das, was Deutsch-
land nach Amerika hinübergesandt hatte.
Man hat zur Entschuldigung der Industriellen den Über-
druß an zu häufigen Weltausstellungen angeführt, und daß die
Eisen- und Textilgewerbe eigentlich gar nicht vertreten gewesen
seien. Andere schoben die Schuld der damaligen schlechten deut-
schen Arbeit auf die zu plötzliche Gewerbefreiheit, auf die Auf-
hetzereien der Sozialisten, auf das langfristige Borgsystem im
Kleinhandel. Daran mochte etwas Wahres sein, unleugbar war,
die Exporteure hatten selbst oft genug gefehlt. Was sollten die
überseeischen Käufer von den Deutschen denken, wenn sie Na-
deln ohne Öhr, Bleistifte ohne Einlage, nur auf beiden Seiten
mit einem schwarzen Punkt versehen, Taschenmesser ohne Schar-
nier in schönen Kartons erhielten? Dergleichen konnte man nicht
durch die mit dem Freihandel eingeimpfte Exportwut und die
mangelnde Konkurrenzfähigkeit gegenüber England und Frank- -
reich beschönigen.
IV. Hochkonjunktur, Gründungsschwindel und Wirtschaftskrise 1871 — 1873. 287
Erst nach 6 Jahren des Niederganges war der volkswirt-
schaftHche Tiefpunkt erreicht, nachdem ein wahrer Daseinskampf
unter den industriellen, kaufmännischen und bankmäßigen Unter-
nehmungen vorausgegangen war. Die endliche Besserung war
einerseits von Nordamerika gekommen, wo eine günstige Ernte
die Kaufkraft erhöht hatte, und durch eine Hochkonjunktur in
Frankreich, das sich von dem Kriege unglaublich schnell erholt
hatte und spekulationslustig auf seiner Weltausstellung von 1879
geworden war, andererseits stimulierte in Deutschland der Über-
gang zum Zollschutz, die Eisennachfrage von selten neuer Neben-,
Klein- und Stadtbahnen und das Aufkommen der Elektrizitäts-
industrie für Starkstrom. Die elektrische Beleuchtung beginnt sich
ins Praktische umzusetzen. Die Jablochkoffschen Kerzen — zwei
parallel nebeneinander angebrachte Kohlenstäbchen — werden in
den Gebäuden der Reichspostverwaltung in Berlin ausprobiert.
Neue Erfindungen folgen, bei denen sich Siemens & Halske wie-
derum auszeichnen, welche Firma durch ihre elektro-dynamische
Maschine die Vorbedingung für die Beleuchtungstechnik gegeben
hatte.
Wurden für die nächsten Jahre Absatz und Produktion zum
Besseren angeregt, so kam es vor 1888 — 1890 zu einer eigent-
lichen Hochkonjunktur nicht, die damals sich auch mehr börsen-
mäßig als tiefgreifend volkswirtschaftlich vollzog. Der große Um-
schlag von 1873, der dem vorausgehenden Aufschwung unter dem
Zollverein und den Eisenbahnen ein Ziel setzte, ist endgültig erst
nach 1895 überwunden, als das neuzeitliche große, weltwirtschaft-
liche Getriebe Deutschland als stark gebenden Teil in sich ein-
bezog. Bis dahin ging es in ihm verhältnismäßig ruhig zu, wenn
sich auch von Jahr zu Jahr wenigstens partielle Besserungen sta-
tistisch nachweisen ließen. Es ist die Zeit des sinkenden Zins-
fußes. Sichere Staatspapiere gingen von 5 auf 31/2 %, Hypotheken von
5 auf 33/4 0/0 herunter. Kapital wird wieder reichlich erspart, allein die
Nachfrage zu produktiver Anlage ist dem Angebot, wie von 1852— 1873
und wieder nach 1895, nicht voraus. Der dauernde Friede schließt
den Bedarf für große innere Staatsanleihen aus. Es wandert das
Kapital gern ins Ausland, wo höhere Zinsen versprochen werden,^
leider auch in die Hand unsolider Schuldner, der Portugiesen,
Türken, Griechen und Serben.
Auf dem Gebiet der inneren Politik herrscht in den sieb-
ziger Jahren viel Unzufriedenheit. Der Kulturkampf bricht aus
und vergiftet das Parteileben. Dem Liberalismus kommt er nicht
ganz ungelegen, da er in der kirchenpolitischen Erregung die
Sünden der Gründerzeit, von denen er sich nicht lossprechen
288 V. Absclinitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
kann, vergessen machen möchte. Doch gelingt ihm das nur
schlecht, vielmehr beginnt er sich im Streit um die Wirtschafts-
und Sozialpolitik zu zersetzen. Alte partikularistische Gegensätze
tauchen zudem wieder auf, und der rein negierende Sozialismus
erhebt revolutionär sein Haupt.
Zu den Folgen der Gründungsexzesse gehörte auch die a n t i -
jüdische Bewegung, die von Berlin ihren Ausgang nahm
und hier am lebhaftesten aufloderte. Die Reichshauptstadt hatte
1849 9604, 1864 24189, 1871 36015, 1875 50000 Juden. Die
meisten stammten aus der Provinz Posen und gehörten niederer
Bildung an. Kaum mochte sich unter ihnen ein erwachsener Mann
finden, der nicht in irgendeiner Art ein Händler gewesen wäre.
Ein Teil kam auf dem schlüpfrigen Boden des Gründerschwindels
rasch zu Gelde und schuf den Typus des Emporkömmlings und
der börsianischen Großmannssucht, an deren widerwärtigen Auf-
fälligkeit in übertriebenem Luxus an prunkhaften Häusern und
Equipagen mit Gummiradreifen sich der Haß der finanziell Ge-
prellten ausließ, und der Neid der Zurückgebliebenen nagte. Die
meisten kleinen und mittleren Existenzen waren Agenten, Wechsler,
Winkeladvokaten, umherziehende Aufkäufer, Trödler, Plausierer,
Reporter und Zeitungsschreiber, alle Läufer der großen Macher.
Die alteingesessenen jüdischen Familien mochten von diesem Zu-
zug ihrer Glaubensgenossen wenig entzückt sein, allein sie konnten
bei dem Solidaritätsgefühl der Rasse sie weder ablehnen, noch
wollten sie die Befähigten unter den neuen Leuten entbehren.
Die antisemitische Agitation würde schwerlich so scharf ge-
worden sein, wenn sich die Juden auf ihre Domäne des Han-
dels- und Geldgeschäftes beschränkt hätten. Statt dessen mischten
sie sich in Berlin unter der Leitung des Stadtverordneten-Vor-
stehers Straßmann und des Stadtrates Löwe, „Bürgern des
dekomponierten Berlins mit verwegenstem Selbstgefühl", unter der
Ägide Laskers in die städtischen Angelegenheiten mehr als
zulässig ein. Eine Presse mit großen Mitteln stand der herr-
schenden Clique zur Verfügung, die mit dem ätzenden Scheide-
wasser ihrer Kritik die Ideale der Nation aufzulösen sich an-
schickte. Juden entschieden damals über die Wahl von Pastoreji)
und wie die Seelsorge in den Hospitälern gehandhabt werden
sollte. In den Volksschulen kam es vor, daß Juden den christ-
lichen Religionsunterricht erteilten.
Daß sich die Berliner dies gefallen ließen, hatte in dem reli-
giösen Indifferentismus — zeitweise waren vier Fünftel der Ehen
nicht kirchlich eingesegnet und die Hälfte der Kinder nicht ge-
tauft worden — , in dem aus extremen Prinzipien erwachsenden
IV. Hochkonjunktur, Gründungsschwindel und Wirtschaftskrise 1871 — 1873. 289
politischen Radikalismus und in der alle alten Ideale verschlingenden
Genußsucht seinen Grund gehabt. Der um sich greifende Individua-
lismus brachte die Juden, die das feste Band des Glaubens und des
Stammes umschloß, trotz ihrer Minorität in der Bevölkerung in
eine günstige, gesellschaftliche Lage. Eine Anzahl Schriftsteller
fing an, die Gefahren aufzudecken, die dem Deutschtum drohten.
O. Glagau (Der Gründungsschwindel in Berlin 1876) wandte
sich gegen die jüdischen Gründer, von weiteren Gesichtspunkten
behandelten die Judenfrage W. Marr (Der Sieg des Judentums
über das Germanentum 1879), der Philosoph E. v. Hartmann
(Das Judentum in Gegenwart und Zukunft 1885) und E. Düh-
ring, der Nationalökonom und Philosoph (Die Judenfrage 1881).
Den größten Erfolg erzielte der Hofprediger A. Stöcker,
ein Mann von unbeugsamer Energie im Vertreten seiner Überzeu-
gung und größter Empfänglichkeit für alles, was das Leben da-
mals bewegte, kein Doktrinär, sondern ein moderner Mensch der
Erfahrung, ein hinreißender Redner ohne gesuchtes Pathos und
mit tief christlichem Ernst. Von ihm hat A. Wagner gesagt,
daß er ein Mann der Geschichte sei, gegen den Haß und Ver-
leumdung vergebens Sturm gelaufen seien. Sein Ausgang war ein
religiöser. Das Christentum neu zu beleben und mit sozialem
Geist zu erfüllen, wurde ihm die Hauptsache. Seine praktischen
Forderungen waren gemäßigt: Wirtschaftliche Reformen gegen
die Entartung des Händlertums, Entfernung der jüdischen Lehrer
aus der Volksschule, Anstellung jüdischer Richter nach der Ver-
hältniszahl der Bevölkerung, Wiedereinführung der konfessio-
hälttniszahl der Bevölkerung, Wiedereinführung der konfessio-
nellen Statistik.
Da ganz Berlin von der Jobbermanie erfüllt war, so sagte
man, daß jedermann verantwortlich gemacht werden müsse. Nicht
mit voller Berechtigung. Die Führung hatten die Juden, die ihr
uralter Händlerinstinkt für dies Treiben besonders befähigte. Die
vornehmen Herren des Adels waren meist nur Strohmänner, die
dem vorgespiegelten Gewinn verfallen waren, während die alten
Berliner Bürger, denen es zwar an Mutterwitz nicht fehlte, in
ihrer harmlosen Lebensfreude doch nicht geübt genug waren, um
den Schleier von Wechseln, Reports, Prospekten und Kursschwan-
kungen zu durchschauen. In Preußen gab es 1855 513 Bankiers,
darunter 385 Juden, 1861 642, darunter 550. Diese Relation än-
derte sich nach 1871 nicht. Von der Börse wurde ohne Wider-
spruch behauptet, daß von 8 — 10 Besuchern nur einer ein deutscher
Christ oder ein getaufter Jude gewesen sei. An jüdischen Feier-
tagen pflegte das Geschäft an ihr zu ruhen.
A.Sartoriusv. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2, Aufl. 19
2QO V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Die erfolgreichen jüdischen Geschäftsleute der siebziger
Jahre, soweit sie damals z. B. von ländlichen Schankwirten des
platten Landes, die das Darlehengeben gegen Wuchergewinn
nebenbei betrieben, oder von Kramladenbesitzern der Landstädte,
die als Agenten ihrer Börsenfreunde in der Hauptstadt beim
Effektenumsatz auf dem Lande tätig waren, kurz vom Klein-
händlertum jeder Art in Berlin in die Höhe gekommen waren,
hatten 20 Jahre später manches von dem abgestreift, was sie
an ihr erstes Auftreten erinnerte. Dieser Vorzug wurde durch
Auslese und Anpassung in der folgenden Generation fortgesetzt.
Der händlerische Geist in besonderer Form blieb auch dieser:
Rasches Zugreifen und Sichzurückziehen, Wahl der geeigneten
Mittel, um den Gewinn zu sichern, kritische Durchdringung der
Wünsche des Gegenkontrahenten, der Konjunkturen, der Rechts-
lage. Solche Eigenschaften haben für die deutsche Volkswirt-
schaft Wert, wenn auch das kaufmännische Geschäft keineswegs
darin aufgeht, und niemand kann von ihren Trägern verlangen,
daß sie sich ihrer angeborenen Eigenschaften begeben. Nur hat
sich diese Einseitigkeit der sozialen Pflicht zu unterwerfen, wenn
sie der nationalen Kulturgemeinschaft dienlich sein soll.
Seit der Gründerzeit ist in Deutschland das Mißtrauen gegen
die Börsen und ihre Presse nicht geschwunden. Die Gesetzgebung
gegen die Ausschreitungen unter der Herrschaft des laisser faire
griff aber erst 1896 Platz. Ausnahmegesetze gegen die Juden un-
terblieben mit Recht als unlogisch bei der bestehenden Rechts-
gleichheit und als undurchführbar. Nur eine Maßregel, die sich
nicht gegen die eigenen Bürger, sondern gegen Ausländer richtete,
mußte die Erfahrung nahelegen, wenn man an die städtische
Zuwanderung jener Tage dachte. Die Grenzkontrolle gegen kul-
turell tiefstehende Juden aus Polen, Rußland, Galizien, Ungarn
war streng zu handhaben, wenn man die Vorgänge von 1871 — 1873
nicht wieder erleben wollte. Denn einerseits durfte die Volks-
gesamtheit durch solche Eindringlinge in ihrer quantitativen
Rassenzusammensetzung nicht fortgesetzt beunruhigt, andererseits
den deutschen Juden die Möglichkeit, sich dem deutschen Ge-
meinwesen zu assimilieren, nicht erschwert werden, die durch den
Zuzug von außen beeinträchtigt werden konnte.
Die Manchesterlehre und deren extreme Anwendung haben
manche jüdische Schriftsteller, ebenso wie die gemäßigt liberale
Presse, als einen Fremdkörper im deutschen Leben anerkannt.
Sie hatte zu auffällige, häßliche Blüten hervorgebracht, als daß
man an ihrer Kritik hätte schweigend vorübergehen können.
IV. Hochkonjunktur, Gründungsschwindel und Wirtschaftskrise 1871 — 1873. 291
Ein Kuriosum, wie sich die Gewerbefreiheit mit alther-
gebrachten andersartigen Anschauungen verband, waren die
Dachauerbanken, die sprichwörtlich geworden sind, an deren
Spitze sich eine ehemalige Schauspielerin Namens Spitzeder be-
fand. Die Einzelheiten dieser plumpen Schwindlerin in München
sind so grotesk, daß es nicht leicht begreiflich wird, wie die
ober- und niederbayerischen Bauern, die es an Mißtrauen gegen
städtische Geldeinrichtungen nicht fehlen lassen, auf sie hinein-
fallen konnten. Ein Bankgeschäft irgendwelcher Art war nicht
vorhanden. Es wurden die höchsten Zinsen versprochen — bis
80/0 im Monat — und so lange mit neuen Einlagen gedeckt, bis
nichts mehr einkam und die Schuldigen das Zuchthaus mit ihrem
Bureau vertauschten, nachdem sie große Summen verjubelt hatten.
Kleinhändler, Mägde, Knechte, Bauern, Torfstecher, Aschen- und
Lumpensammler waren die Aktionäre, die in der Generalversamm-
lung über nicht verstandene, gefälschte Bilanzen abzustimmen
hatten. Ein Defizit von einigen Millionen übertraf bei weitem
die Summe, die im Konkurs Strousberg 1875 angemeldet
worden war.
Da die Staatsregierung nicht rechtzeitig eingriff, glaubten
die Geldgeber, daß alles in Ordnung sei, so sehr war man an
die väterliche Fürsorge der Beamten und Amtsblätter gewöhnt.
Man muß zugeben, daß sie schwach und unentschlossen gehandelt
hatte, doch soll man nicht vergessen, daß die Aktiengesetzgebung
ihr manche Handhabe entzogen hatte. Ein größerer Vorwurf
trifft die Ortsgeistlichkeit auf den Dörfern und die klerikalen
Winkelblätter, wie „Volksbote" und „Vaterland". Der Blödsinn
und die Lügen, die hier verzapft wurden, nahm der Bauer für
Erleuchtung, weil der Herr Pfarrer ebenfalls von der Richtigkeit
des Gedruckten überzeugt war und am Geschäft teilnahm. Die
wirtschaftsliberalen Gaben, mit denen das deutsche Volk beschenkt
worden war, waren für Geschäftsmänner in Frankfurt oder Ham-
burg weniger gefährlich, als für die Bauern von Pasing und
Dachau, und Schufte verstanden ihren Schnitt um so leichter zu
machen, als die ungebildeten Opfer das neue Recht als einen
Ersatz für die bisherige Bevormundung annahmen.
Das rechtsrheinische Bayern war noch im ganzen weit mehr
agrarisch eingestellt als das Reich überhaupt, geschweige denn
als Nordwestdeutschland, Sachsen und Thüringen. Noch 1882
waren in ihm fast 50 0/0 der Bevölkerung auf die Landwirtschaft
entfallen, und man kann wohl sagen, daß es erst seit der Jahr-
hundertwende das entschieden nachholte, was nördlich des Mains
etwa 1850 — 'j'}^ erreicht worden war. Neben der geographischen
19*
2Q2 V, Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890,
Abgeschlossenheit war es der Mangel an eigenen Stein- und Braun-
kohlen, der die Industrie zurückhielt. An beiden wurden kaum
I 0/0 der Reichsmenge daheim hergestellt; was man sonst bedurfte,
mußte mit der Bahn von Böhmen und Sachsen für den Osten,
von der Saar für Schwaben, für das ganze Land von der Ruhr
teuer herbeigeschafft werden. München war um 1875 noch
eine stille Stadt, wo wirtschaftlich nicht viel gearbeitet, aber
viel Bier konsumiert wurde, wo die behäbige Mittelstandslage der
Privatiers hoch angesehen war, die Kunst aber weiter gepflegt
wurde, die Wissenschaft unter König Max erblüht war und wo
Ludwig II. sich des neuen Musikdramas angenommen hatte.
Der wirtschaftlichen Entwicklung Berlins bis gegen 1870
sind wir in früheren Kapiteln nachgegangen, in diesem haben
vv^ir auf die dortigen Vorkommnisse der Gründerzeit hingewiesen.
Die anthropologische Zusammensetzung der Stadt hat sich ver-
ändert, zum Guten wie zum Üblen. Befähigte Männer aus ganz
Deutschland sammeln sich hier, um ihr Glück zu versuchen, in
dem nach 1871 immer wichtigeren Mittelpunkte, der unbegrenzte
Möglichkeiten des Erwerbes und des Ruhmes bietet. Zugleich
mehrt sich das Proletariat und in ihm eine Masse bedenklicher
Existenzen. Slaventum und Judentum dringen vom Osten her ein.
Der blonde Typus tritt hinter dem dunkleren zurück. Berlin wird
wieder nach der Gründerzeit in dem heftigen Konkurrenzgetriebe,
dem sich die rassengemischte Bevölkerung gut anpaßt, und mit
seinem frischen Klima eine der fleißigsten Städte der Erde, woran
auch die zunehmende Üppigkeit und die Genußsucht nicht viel
ändern. ^ . -- %§! ^^
Einige Ergänzungen der wirtschaftlichen Fortbildung mögen
hier noch Platz finden. Die Stadt, die 1861 547571 Einwohner
hatte, zählte 1875 deren i 131 706 und 1885 1558395, eine zum
großen Teil auf Zuwanderung beruhende Summe, die durch die
geltende Freizügigkeit und die Beseitigung der städtischen Ein-
zugsgelder begünstigt wurde. 1890 waren nur ^/^ der Einwohner-
schaft in Berlin geboren, wo damals schon die bewußte Beschrän-
kung der Kinderzahl der natürlichen Vermehrung eine Schranke
setzte. Zu den Ansässigen kam ein großer Fremdenzustrom, der
in den achtziger Jahren jährlich auf eine halbe Million ange-
schwollen war.
Neue Bedingungen für die großstädtische Verdichtung waren
durch die Zunahme der Behörden für Reich und Staat gegeben,
durch die Reichsbank, die Großbanken, die Effekten- und Pro-
duktenbörsen, durch die Ausstellungen, die Theater- und Ver-
gnügungseinrichtungen, die Hochschulen und die Truppenver-
IV. Hochkonjunktur, Gründungsschwindel und Wirtschaftskrise 1871 — 1873. 293
mehrung. Das Transportwesen ist in seiner Art und seinem Um-
fang ein Anzeichen des gewaltigen, geschäftlichen Aufschwunges.
Der Eisenbahnpersonenverkehr belief sich 1853 auf das Vierfache
der städtischen Einwohnerzahl, 1863 das Fünffache, 1873 das
Zehnfache derselben, die sich in 10 Jahren verdoppelt hatte.
Zu den Omnibussen kamen die Pferdebahnen hinzu, von denen
die nach Charlottenburg führende 1880 25 Millionen Passagiere
beförderte. Die Droschkenzahl war von 1860— 1874 verdrei- bis
vervierfacht worden. Ein neuer Schiffskanal verband seit 1870
außerhalb der Stadt die Ober- mit der Unterspree. Der Waren-
verkehr entsprach demjenigen der Personen. Die Eisenbahnen
übertrafen das Schiff. 1895 wurden mittels desselben 4,64 Millio-
nen Tonnen ein- und 0,46 ausgeführt, auf der Bahn 5,4 bzw. 0,86.
Durch den Krieg von 1870— 187 1 hatte die Berliner Industrie
gewonnen, als das Möbel- und Teppichgewerbe, die Kleiderkon-
fektion auf dem Weltmarkte der französischen Ware erfolgreichen
Wettbewerb bereiten konnten. Durch die Gründung der techni-
schen Hochschule und staatlicher chemischer Laboratorien wurde
mancherlei Gewerbe glücklich gefördert. Das großstädtische Volks-
schulwesen mit seinen verbesserten Einrichtungen belehrte die
kommende jugendliche Arbeiterschaft weit besser als früher.
Die Krisis von 1873 wirft die Industrie für Jahre zurück.
Nach Überwindung der Stockung nimmt der Fabrikbau unter
wachsenden Betriebsgrößen mit seinem Wald an Schloten bald
wieder zu, die Hausindustrie dehnt sich aus, das alte Vollhandwerk
verschwindet mehr und mehr. Der Handel dringt rasch voran.
Kommen noch 1861 auf 41 Einwohner ein im Handel Selbsttätiger,
so 1871 nur auf 20, 1880 auf 19. 1875 kennen 81,1 0/0 der Haus-
haltungen den Luxus der festen Dienstboten nicht mehr. Die
Lohnerhöhung in der Gründerzeit hat Männer und Frauen in die
Fabrik gezogen, die ihrem Selbständigkeitsdrang entspricht. In
den Vorderhäusern sind 750/0, in den Hinterhäusern 95 0/0 der Fa-
milien ohne ständige Bedienung.
Berlin gilt als eine Stadt von Menschen bewohnt, die höchst
beweglich im Wirtschaftsleben sind. Kleinunternehmer wechseln
mit der Warenherstellung leicht gemäß der Konjunktur, Arbeiter
gehen von einer Beschäftigung zu einer anderen über. Neue Er-
findungen bürgern sich rasch ein, um ebenso schnell zu ver-
schwinden, wenn etwas anderes praktischer ist. Das Ergebnis der
leichten Anpassungsfähigkeit ist die Vielseitigkeit der Berliner In-
dustrie. In dem oben erwähnten Buche von O. Wiedfeld über
die Entwicklungsgeschichte der Berliner Gewerbe ist eine Über-
sicht über 13 Gewerbegruppen mit vielen Unterabteilungen ent-
204 ^' •^''schnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
halten, aus der sich ergibt, daß fast alle deutschen Industrien,
soweit sie nicht von der Urproduktion oder anderen natürlichen
Vorbedingungen abhängen, in der Reichshauptstadt zwischen 1870
und 1890 vertreten gewesen sind. Da die Berliner Industrie alle
Rohstoffe und manche Halbfabrikate von außen beziehen muß,
so ist sie vornehmlich eine Fertig- oder Veredlungstheorie, daher
sehr von den Launen des Absatzes, wie sie der Export ins Aus-
land mi<" sich bringt, abhängig.
V. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen. Eine
Erfahrung, deren sich in den siebziger Jahren viele Politiker
und Nationalökonomen voll bewußt wurden, zeitigte der Einblick
in die Krise und die Gründungsperiode: Die veränderte Auffassung
über das Wesen der Eisenbahn. Die Frage, ob Staats- oder
Privatbahn das richtige sei, war in der Theorie des voraus-
gehenden Jahrzehnts mit dem Segen der freien Konkurrenz zu-
gunsten der letzteren entschieden worden. Der Staat, hieß es,
sei ein schlechter Frachtführer, womit man glaubte genug bewiesen
zu haben. Daß er wichtige Hoheitsrechte nicht preisgeben dürfe,
und daß die Eisenbahnen eine ganz neue monopolistische Er-
scheinung der V^irtschaftsgeschichte seien, wollte das unhistorische
Manchestertum nicht zugeben und glaubte sie daher nach dem
Prinzip der Gewerbefreiheit meistern zu können, wenn es sich auch
in der Praxis von der Staatsaufsicht über das Tarifwesen nicht
lossagen konnte.
Jetzt nach der Katastrophe in den Eisenbahnaktien gingen
der Nation die Augen auf über die Mißstände, die herrschten.
Das Börsenspiel in Bahnwerten, das übertriebene, teuere, hastige,
oft planlose Bauen, die Agiotagegewinne der Konzessionierten, die
Spezialtarife, die einen Teil der Industrie und des Handels be-
günstigten, einen anderen bewußt schädigten, die Rabattarife für
die großen Händler zum Schaden der kleinen, die willkürliche
Herabsetzung des Zolltarifes oder dessen Erhöhung durch die
Frachtsätze, dies Sündenregister konnte der Liberalismus nicht für
nichts erklären, der sich nun in der Abwehr darauf legte, die
Gefahren für die Finanzen des Staates und der mit der Staatsbahn
vermehrten politischen Zentralisation in den Vordergrund der
Streitfrage zu schieben.
Ende 1875 umfaßte das deutsche Eisenbahnnetz 27956 Kilo-
meter, von denen 12062 auf Staatsbahnen, 3253 auf Privat-
bahnen im Staatsbetrieb, 12 641 auf solche mit eigener Verwaltung
entfielen. Fast ausschließlich hatte das rechtsrheinische Bayern,
Württemberg, Baden, Oldenburg, Schaumburg-Lippe, Bremen und
Elsaß-Lothringen — Reichseisenbahn — das Staatsbahnsystem. In
V. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen. 205
Preußen waren 9183 Kilometer privater Unternehmung unter
eigener Verwaltung, 2736 unter staatlicher, während 4281 dem
Staat gehörten und von ihm bewirtschaftet wurden. Es war klar,
daß, wenn dieses Land verstaatlichte, die Frage in der Praxis
entschieden war. Es würden dann 8/9 des Netzes in den Staats-
besitz gelangt sein.
Die Unhaltbarkeit des bestehenden Zustandes erhellt daraus,
daß 70 selbständige Bahnverwaltungen vorhanden waren, ein
wahrer Rattenkönig, wie sich Rodbertus ausdrückte. Es ent-
stand schon eine große Belastung der Volkswirtschaft dadurch,
daß eine Million Tlr. allein auf die Gehälter und Tantiemen der
Direktoren und Aufsichtsräte zu verrechnen war. An sonstigen
Kosten überflüssiger Zentralverwaltungen konnten mehrere Millio-
nen gespart werden. Dazu kamen noch (F. Per rot. Die deutschen
Eisenbahnen, 1870) der Schaden der Verwaltungszersplitterung und
die heillose Vielregiererei. Nirgends, führt er aus, mache sich
die Wohltat einer einheitlichen zentralen Behandlung so fühlbar
und sei so dringend wie im Eisenbahnwesen geboten. Das deutsche
Tarifwesen habe einen Grad der Verworrenheit erreicht, welche
es dem Kaufmann absolut unmöglich mache, die Fracht im voraus
zu kalkulieren, und welche die Güterexpeditionen der Bahnen selbst
in die Lage bringe, zahllose Irrtümer zu begehen, teils in der
Frachtberechnung, teils in der Dirigierung der Güter, worauf dann
endlose Reklamationen folgten. Bezüglich der Lieferungsfrist habe
man zu bedenken, daß die Übergabe von einer Bahn zur andern
mit mindestens 24 Stunden Verzug verknüpft sei, das heiße je
mehr Verwaltungen, um so mehr Aufenthalt.
Die Tarife, die vom Gewicht der Güter und von der Trans-
portentfernung ausgegangen waren, hatten Wertklassifikationen,
Erfassung des Wagenraumes, Einrichtung der Wagen, Schnellig-
keit der Beförderung als weitere Frachtkostenmotive aufgenommen.
So waren zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten gegeben, die jede
Verwaltung nach Laune und Besserwisserei ausprobierte.
Nun ließ sich einwenden, daß eine Vereinfachung der Verwal-
tung auch ohne Verstaatlichung herbeigeführt werden könne, wie
denn in England und Frankreich trotz des Privatbahnsystems
die Dinge infolge der Fusionen bzw. staatlicher Regulative besser
lägen. Allein die Schwierigkeit bestand darin, daß, während dort
nur Privatbahnen, in Deutschland beide Systeme bunt gemischt
waren, und der Staat schwerlich geneigt war, von seinen Hoheits-
rechten zugunsten eines kommenden privaten Imperium in imperio
etwas preiszugeben. Ein solches besaßen die deutschen Privat-
bahnen bisher keineswegs. Denn es waren ihrer zu viele, und selbst
2g6 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
die großen waren auf die Willfährigkeit ihrer Nachbarn hin-
gewiesen. Weiter sprach gegen die private Zusammenfassung der
Sonderverwaltungen, daß der Staat verschiedene Bahnen durch
Zinsgarantien und Zuschüsse unterstützte, auf die sie nicht ver-
zichten wollten, und die sie verloren haben würden, wenn sie
aus ihrem jetzigen Rechtszustand hinausgetreten sein würden.
Denkbar war auch die gemeinsame einheitliche Staatsverwaltung
aller deutschen Linien, ohne die Eigentumsfrage anzuschneiden.
Hiergegen würden sich die gute Dividenden gebenden Gesell-
schaften gewehrt haben, und außerdem fehlte dem Reich zunächst
die rechtliche Möglichkeit, sie durchzusetzen. In Preußen besaß
laut § 42 des Eisenbahngesetzes von 1838 der Staat das Recht,
jede Privatbahn 30 Jahre nach deren Eröffnung mit allem Zu-
behör gegen Zahlung des 2 5fachen Betrages der Durchschnitts-
dividende der letzten fünf Jahre zu erwerben. Wenn Preußen
daher von diesem Rechte Gebrauch machte und sich mit den
Staaten, die Bahnen besaßen, verständigte, so konnte ohne Ver-
änderung der Reichsverfassung eine Eisenbahngemeinschaft ge-
schaffen werden, dem sich der Rest der Gesellschaften bald hätte
anschließen müssen. Schon im Zollparlament hatte Fürst
Chlodwig von Hohenlohe - Schillingsfürst einen
großen Eisenbahnverein in diesem Sinne befürwortet, der sich
an eine von ihm projektierte Verbindung eines deutschen Süd-
bundes mit dem norddeutschen anlehnen sollte.
Die letztere Idee wurde bald von den Zeitereignissen über-
holt. Mit dem neuen Reich wurde auch die allgemeine Reichs-
eisenbahn erwogen. Vom volkswirtschaftlichen Standpunkt mußte
sie als das System der vollendeten Einheitlichkeit in Anlage und
Verwaltung gelten, kenntlich an Kostenersparungen, Tarifordnung,
Ausbau des Netzes und Übereinstimmung der Tarif- mit der
äußeren Handelspolitik. Außerdem mußte man sich von der So-
zialpolitik aus sagen, daß ein so großer Betrieb, wie der des
Reichs, eine wirksame Ordnung der Arbeiterverhältnisse zum
Schutz der Arbeiter und zum gedeihlichen Aufsteigen der Be-
fähigten zu höheren Lohn- und Gehaltsstufen voll durchführen
könnte. Zugleich würde die Eisenbahnrente der wirklichen, staat-
lich umgrenzten deutschen Volksgesamtheit zufließen in der Form
einer Finanzgabe, die indirekte Verbrauchsabgaben oder Matriku-
larbeiträgc der Einzelstaaten herabzusetzen gestatten oder bei stei-
gendem Finanzbedarf des Reiches eine Erhöhung der Steuerlast
verhüten würde. Bis jetzt kamen die guten und steigenden Ein-
nahmen den Aktiengesellschaften und den Einzelstaaten zu, für
die der Wertzuwachs des Eisenbahnkapitals ein durchaus nicht
V. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen. 207
allein verdienter war. Auch das militärische Interesse wurde in
der Reichseisenbahn am besten gewahrt. Hatten die Bahnen zwar
1870 nicht versagt, so hatte die Vielregiererei doch Hemmungen
gebracht. Waren die Privatbahnen gewiß nicht so mächtig wie
in Frankreich, daß sie sich der staatlichen Autorität hätten wider-
setzen können, so mußte doch eine Totalorganisation den mili-
tärischen Technikern die beste Grundlage zur Bearbeitung ihrer
Pläne gewähren.
Nach Artikel 4 der Reichsverfassung untersteht das Eisen- '
bahnwesen der Beaufsichtigung und Gesetzgebung des Reiches.
Einige Anordnungen für die Landesverteidigung und für das Ein-
greifen in die Tarife bei Notständen sind festgelegt, im übrigen
enthalten die zudem auf Bayern nicht anwendbaren Artikel 42
bis 45 nur ein allgemeines Programm wie: Die Bundesregierungen
verpflichten sich, ,,die deutschen Eisenbahnen im Interesse des
allgemeinen Verkehrs wie ein einheitliches Netz zu verwalten",
oder „dem Reich steht die Kontrolle*' — nicht etwa die Fest-
setzung — „über das Tarifwesen zu", oder „es sollen auf allen
deutschen Eisenbahnen übereinstimmende Betriebseinrichtungen
getroffen werden".
Zunächst geschah nichts, um den Forderungen der Ver-
fassung zu genügen, es sei denn, daß 1872 eine Enquete über die
vielartigen und sehr verschieden zu beurteilenden Differential-
tarife veranstaltet wurde. Erst 1873 ging, gewiß nicht ohne vor- '
heriges Einverständnis mit dem Reichskanzler, aus einem Initiativ-
antrag des württembergischen Nationalliberalen Dr. Eiben im
Reichstag das Reichseisenbahnamt hervor, das als oberste Auf-
sichts- und Beschwerdeinstanz gedacht war. Es war eine wesent-
lich beratende Behörde und sollte die Gesetzgebung vorbereiten.
Seine Tätigkeit setzte unter der vortrefflichen Leitung M a y -
b a c h s sofort ein, aber es hatte schon während der Beratung
im Reichstage die Zentrumspartei gegen sich, die jede Stärkung
der Reichsgewalt bekämpfte. Es wurde allen seinen Vorschlägen
von Seiten der Mittelstaaten, der Privatbahnen und der „toten
Hand" des preußischen „Ressortpatriotismus" passiver Wider-
stand geleistet. Nur einige Reglements über Betriebs- und Bahn-
polizei sind damals zustande gekommen.
Der Reichskanzler griff jetzt den weitgehenden Plan der
Reichseisenbahn auf, nicht bloß, um den endlosen Verschleppun-
gen der Vorlagen zu begegnen. Ihn leiteten finanzielle und mili- •
tärische Gesichtspunkte, auch der Gedanke, daß seine Schöpfung,
das Reich, ein neues festes Bindemittel in dem gemeinsamen Be-
sitz und der einheitlichen Verwaltung gewinne. Bismarcks Vor-
2q8 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
schlag machte gewaltiges Aufsehen, und im Reichstage sprachen
V sich die Freikonservativen wie Kardorff und Stumm, von
den Nationalliberalen L a s k e r entschieden dafür aus. Der preu-
ßischen Volksvertretung wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt, der
auch 1876 genehmigt wurde, nach dem sich Preußen bereit er-
klärte, seine Bahnen an das Reich abzutreten. Jetzt aber machten
(die preußischen Minister dem Kanzler Opposition, indem sie die
Abschätzung der Bahnwerte über zwei Jahre verzögerten und dann
so ungemessene Forderungen stellten, daß schon hieran jede Ver-
handlung scheitern mußte, wenn sich nicht auch der Partikularis-
mus der süddeutschen Staaten schroff ablehnend verhalten hätte,
dem die liberalen Nationalökonomen und die Volksvertreter
gleicher Richtung sekundierten, die ehemals bei der Schaffung
der Reichseinheit mitgeholfen hatten.
Die Beschlüsse des „Volkswirtschaftlichen Kongresses libe-
raler Theoretiker von 1876" müssen uns später recht eigentümlich
anmuten. Gegen die Reichseisenbahn wurde vorgebracht, daß die
Finanzen des Reiches gefährdet würden, daß der Ausbau des
Bahnnetzes durch Verdrängung des Privatkapitals leiden müsse,
und daß die Konjunkturen des Weltmarktes im Interesse des
Verkehrs keine Berücksichtigung finden könnten. Genau das Ge-
genteil davon haben die preußischen Staatsbahnen der Folgezeit
^ erwiesen. So scheiterte der weittragende Entwurf, und eine große
Hoffnung der deutschen Volkswirtschaft würde ganz zu Grabe
getragen worden sein, wenn es nicht dem Reichskanzler gelungen
wäre, wenigstens für einen teilweisen Ersatz zu sorgen. Die preu-
ßischen Privatbahnen wurden verstaatlicht, und damit entstand
eine einheitliche Verwaltung für den Norden, zumal mehrere
Kleinstaaten in sie einbezogen werden konnten. Zuerst ging man
nur langsam schrittweise vor, als dann Maybach (1878 — 1891)
an der Spitze des Ministeriums für öffentliche Arbeiten seine volle
Tätigkeit entfaltete, schneller. Von 1880 — 1882 war der Staats-
besitz von 6190 Kilometer auf 15305 vermehrt worden. Die
Aktionäre erhielten Staatsschuldverschreibungen mit einer be-
stimmten Rente, die zwischen 4 und 81/2^/0, je nach den bisherigen
Dividenden der erworbenen Gesellschaften, schwankte. Die Bahn-
obligationen wurden von dem Staat übernommen, die Privat-
beamten traten meist in den öffentlichen Dienst, die begonnenen
Nebenlinien wurden vollendet. Zuerst wurden die Berlin — Stettiner,
die Magdeburg — Halberstädter, die Hannover — Altenbekener, die
Köln-Mindener Bahnen erworben. Die dem Gesetzentwurf für den
Ankauf beigegebene Denkschrift setzt die Schäden des bisherigen
Systems auseinander: Die unnütze Verschwendung des Kapitals
V. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen. 20Q
durch die Konkurrenzlinien, den schwierigen Geschäftsverkehr der
vielen Bahnen untereinander, die Vielheit der Tarife, der Über-
gangsstationen, des Reklamationswesens, der Fahrpläne, die
mangelhafte Wagendisposition und Wagenausnutzung, den Doppel-
betrieb, den alternierenden Betrieb, die Umwegstransporte, die
Verteuerung der Selbstkosten, die Erhöhung der Transportpreise.
Dann folgen die positiven Vorteile des einheitlichen Staatssystems:
Für die Landesverteidigung der erleichterte Aufmarsch der Ar-
meen, die Konzentration der Truppenmassen, die sichere Verpfle-
gung der Truppen und das zuverlässigere Etappenwesen; für
die Volkswirtschaft die raschere und gleichmäßigere Verkehrsent-
wicklung, ihr Anschluß an die Auslandsbahnen, an die Wasser-
wege, an das Meer, die Einheitlichkeit des Betriebsplanes, die
Stetigkeit und Öffentlichkeit der einheitlichen Tarife, die gleich-
mäßige Behandlung des Publikums, die Anpassung an den Be-
darf durch Bau eines zweiten Geleises, der Umbau von Bahn-
höfen, die Anlage von Stationen, der Bau von Zentralbahnhöfen,
endlich der ausreichende Wagenpark und genügend Lokomotiven.
In den seit dieser Verstaatlichung, die andauernd bis 1903
fortgesetzt wurde, vergangenen 35 Jahren haben sich alle diese
genannten Vorzüge des einheitlichen Großbetriebes, der unter den
gegebenen Verhältnissen ein anderer schwerlich sein konnte als
der staatliche, bewahrheitet. Hinzu ist noch die finanzielle Be-
deutung der Einnahme für den preußischen Staat gekommen,
dessen Fähigkeit, Kulturausgaben im großen zu machen, damit
möglich geworden ist, ohne die direkten Steuern, die zudem 1890
im Sinne der Gleichmäßigkeit reformiert worden sind, zu sehr
in Anspruch zu nehmen. Während die süddeutschen Staaten mit
einer gleich zu nennenden Ausnahme bei der engen Begrenzung
ihres Betriebes eigensinnig verharrten, und an sich schon, mit
höheren Baukosten wegen ihres gebirgigen Bodens belastet, Mühe
hatten, ihre Eisenbahnschuld zu verzinsen, oft ohne Zuschuß aus
der Steuerkasse nicht auskommen konnten, stieg die Eisenbahn-
rente Preußens mit dem wachsenden Wohlstande, mit der mehr-
fach verbesserten Verwaltung und der Amortisation der Eisenbahn-
schuld. 1895 wurde eine Neuordnung der inneren Behördenorgani-
sation durchgeführt, die damals eine Jahresersparnis von etwa
20 Millionen Mark erbrachte. Nach dem Gesetz über die finan-
ziellen Garantien von 1882 fand eine freiwillige Tilgung der
Schuld statt, die sich tatsächlich auf 2 Milliarden belaufen hat.
Das Anlagekapital wurde 19 18 auf 143/4 Milliarden Mark be-
rechnet, die verzinste Schuld betrug 9 Milliarden. Die Staats-
eisenbahnen in Preußen gaben 1887/88 eine Rente von 6,540/0,
300 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
in Sachsen 5, in Bayern 4, in Württemberg 3,16, in Baden 3,22.
In dem Jahrzehnt nach 1900 erzielte Preußen aus dem vergrö-
ßerten Kapital durchschnittlich rund 60/0. Sachsen schwankte
zwischen 3 1/2 und 4, Bayern zwischen 4 und 4I/2, Württemberg
zwischen 3 und 3I/2. Hier liegt das statistische Anlagekapital
zugrunde, rechnet man das effektive, so kam Preußen sogar auf
80/0. Die Höhe der jährlichen Einnahme ist von der volkswirt-
schaftlichen Konjunktur abhängig. Den sich daraus ergebenden
Nachteilen aus dem Etat wurde durch den Eisenbahn-Ausgleichs-
fonds begegnet, nachdem Überschüsse fetter Jahre für die ma-
geren zurückgelegt werden. Die enge Verbindung mit dem Fi-
nanzwesen hatte übrigens das Bedenken gegen sich, daß nicht
immer für die Ausgestaltung des Bahnwesens ausreichend gesorgt
wurde, da das Finanzministerium andere öffentliche Ausgaben
bisweilen bevorzugte.
Sicher ist, daß Preußens tatsächliche Stellung im födera-
tiven Reichsverband aus seiner Eisenbahnverstaatlichung gestärkt
hervorgegangen ist. Gerade deshalb mußte vor der Revolution
von 19 18 das Projekt der Reichseisenbahn als dauernd gescheitert
gelten. Neben den Gründen finanzieller Art waren für Preußen,
um bei seinem System zu bleiben, solche der inneren Politik
mitbestimmend. Der Abgeordnete von Zedlitz und Neu-
kirch äußerte sich einmal darüber in dieser Weise: „Für Preu-
ßen erwächst aus seiner deutschen Aufgabe, für das unter seiner
Führung geschaffene Reich die erhaltende Kraft zu sein, die unab-
weisbare Pflicht, sich seinen Staatsbahnbesitz zu erhalten. Diese
seine Aufgabe weist Preußen jetzt unzweifelhaft die Rolle des
festen Schutzdammes gegen die demokratische Hochflut zu. Daß
der Übergang seiner Staatsbahnen auf das Reich ihm die Kraft
zur erfolgreichen Durchführung dieser Rolle rauben werde, wird
wenigstens von den demokratischen Vertretern des Reichseisen-
bahngedankens bestimmt erwartet. Ist doch als Zweck desselben
von einepi der süddeutschen Demokraten im Reichstage bezeichnet
worden, dem preußischen Landtage und damit dem preußischen
Staate in seiner Eigenart das Rückgrat zu brechen."
Die Zeit für die Reichseisenbahn war von dem Reichstage
also verpaßt worden. Anfang der siebziger Jahre hätte man mit
einem Teile der französischen Milliarden den schrittweisen An-
kauf in Angriff nehmen können, wodurch dem Gründungsfieber
— wie oben erwähnt — einer seiner Antriebe entzogen worden
wäre.
Der Gedanke der Gemeinsamkeit des deutschen Eisenbahn-
wesens wurde 1877 dadurch gefördert, daß ein formell einheitliches
V. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen. ßoi
Gütertarifsystem durchgesetzt wurde. Jetzt wurden Beförderung
von Eil- und Frachtgut, Normal- und Ausnahmetarif, allgemeiner
und Spezialtarif geregelt. Ein weiterer Fortschritt ist 1896 damit
zu verzeichnen, daß Preußen und Hessen die private hessische
Ludwigsbahn gekauft und einer gemeinsamen Verwaltung unter-
stellt haben. Daraus ist dann die preußisch-hessische Betriebs-
und Finanzgemeinschaft hervorgegangen, in die auch 1901 ein
Stück badischer Bahnen und die Main-Neckarbahn, diese als
Teil einer reinen Betriebsgemeinschaft, hineingezogen worden sind.
Für Hessen, das in eine partielle wirtschaftliche Abhängigkeit
durch die Umklammerung der preußischen Linien gekommen war
und keine guten finanziellen Geschäfte machte, wurde der An-
schluß wertvoll sowohl für den Verkehr als auch für die Staats-
einnahmen. Der Ausbau von Nebenbahnen hat in ausreichender
Weise stattfinden können. Für Preußen sind die Ergebnisse des
vergrößerten Gesamtbetriebes ebenfalls anerkannt worden, wenn
sie sich auch ziffernmäßig nicht so genau wie für Hessen aus
der Gesamtrechnung ausscheiden lassen.
Die Verwaltung erfolgt nach den für Preußen maßgebenden
Grundsätzen. Der Überschuß wird nach einem vereinbarten
Schlüssel verteilt. Es ist also ähnlich wie ehemals in dem Zoll-
verein verfahren worden. Für Preußen-Hessen wird in Mainz eine
Eisenbahndirektion errichtet, deren Präsident von dem ersteren
zu ernennen ist. Auf die Anstellung der übrigen Beamten ist dem
letzteren ein Anteil zugestanden worden.
Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß außer dem Genannten
nicht noch vieles getan worden sei, um der Vereinheitlichung
näher zu kommen. Dahin gehört zunächst der Staatsbahn-
wagenverband, nach dem die Güterwagen einen einheitlichen Wa-
genpark bilden, für dessen Benutzung durch die einzelnen Ver-
waltungen jede Beschränkung fortgefallen ist. Gegen die Erwei-
terung dieses Verbandes auf Lokomotiven und Personenwagen
sprachen technische Gründe.
Weiterhin kam es zu einer Eisenbahnverkehrsordnung, in
der das Tarifwesen für Personen, Gepäck, Tiere und Güter eine
solche Grundlage fand, daß nicht bloß in formeller, sondern auch
materieller Art eine fast lückenlose Einheitlichkeit gewonnen ist.
Eine ständige Tarifkommission, in der nicht bloß die Bahnver-
waltungen, sondern auch Industrie, Landwirtschaft und Handel
vertreten sind, sorgte für die Fortbildung aller Tarifvorschriften
gegenüber den Bedürfnissen des nie stillstehenden wirtschaftlichen
Lebens.
302 V- Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Weiter wurden die Fahrpläne in fortlaufenden Konferenzen
gemeinsam festgestellt, der innere Abfertigungs- und der Beför-
derungsdienst für das ganze Reich einheitlich geregelt; gleiche
Vorschriften wurden für den Betriebs- und Sicherungsdienst, für
den Bau und die Ausrüstung der Bahnen auf Grund von Bundes-
ratsvorschriften erlassen. Wenn auch die Vielstaaterei im Süden
des Vaterlandes noch mancherlei für den Verkehr zu wünschen
übrig ließ, so ist doch festzuhalten, daß die meisten Klagen,
die 1870 — 1880 über die Eisenbahnen erhoben waren, in der
neueren Zeit verstummt sind. Segensreich hatte sich auch die
Einrichtung von Eisenbahnbeiräten erwiesen, die, nachdem der
erste 1874 für die Reichseisenbahn in Elsaß-Lothringen ernannt
wurde, seit Anfang der achtziger Jahre allgemein neben dem
Staatsbetriebe standen, um den großen Wirtschaftszweigen eine
Mitwirkung bei der Tarifgestaltung zu sichern.
Das preußische Eisenbahnwesen, an dessen Spitze nach M a y-
b a c h der General B u d d e getreten war, glich in einiger Hin-
sicht einer militärischen Organisation und leistete durch seine
straffe Zusammenfassung Vorzügliches, was jeder zugibt, der
die ausländischen Bahnverwaltungen kennen gelernt hat. Dieser
Geist war auch auf die süddeutschen Bahnen übergegangen.
Das Finanzelend des Reiches nach dem großen Kriege hat
das Problem der Reichseisenbahn wieder erstehen lassen, in das
auch von neuem der politische Einheitsgedanke, der sich zu einem
Berliner Zentralismus gewandelt hatte, hineingespielt hat. Eine
Vereinheitlichung mußte auch jetzt noch einige wirtschaftliche Vor-
teile bringen, wenn z. B. der Einheitstypus für Schienen, Schwellen,
Lokomotiven, Wagen durchgeführt, und das Behördenwesen groß-
betrieblich vereinfacht wurde. Die Schäden für das Publikum, die
sich aus der durch boshaften Bureaukratismus gesteigerten Kon-
kurrenz der Staatsverwaltungen, z. B. durch die sogenannte Um-
leitung des Verkehrs, Verhinderung von Anschlüssen und Sonder-
bestrebungen auf gemeinsamen Bahnhöfen ergaben, mußten eben-
falls wegfallen.
Die Reichsbahn kann volkswirtschaftlich und finanziell nur
befriedigend unter vollkommener unparteiischer Autorität von oben
regiert werden. Ob in einem parlamentarisch regierten, der herr-
schenden Partei auch pekuniär willfährigen und extrem demo-
kratischen Staatswesen das Gesamtinteresse gewahrt werden kann,
wird man dahingestellt sein lassen. Vestigia terrent. Die Inter-
essenwirtschaft des parlamentarischen Frankreichs, Italiens, der
nordamerikanischen Union sind bekannt. Wird nun sogar die
staatssozialistische Idee in das Eisenbahnwesen hineingetragen,
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck. 703
d. h. wird es zu einem Versorgungsinstitut für gefügige Wähler
gemacht und wird die Zahl der Beamten und Arbeiter nicht
allein von wirtschaftlichen, sondern auch von politischen Motiven
bestimmt, so droht sofort die Gefahr, daß an die Stelle der Ren-
tabilität die der Zubußewirtschaft tritt.
Die Reichsverfassung von 19 19 hat das System der Reichs-
eisenbahnen verwirklicht und glaubte damit den alten Wunsch
vieler Patrioten erfüllt zu haben. Allein, wenn zwei dasselbe tun,
so ist es nicht dasselbe. Die Gründe, die ehemals gegen die de-
zentralisierten Bahnen sprachen, mögen heute noch fortbestehen,
diejenigen, die für den Staatsbetrieb geltend gemacht wurden,
setzten den ehemaligen Staat mit seinem zuverläßlichen Beamten-
tum, arbeitswilligen Arbeitern und strenger Disziplin in der ge-
samten Verwaltung voraus.
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten
von Bismarck. Das am 11. März 1867 von Bismarck im
Reichstage des Norddeutschen Bundes geprägte Wort: „Setzen
wir Deutschland in den Sattel! Reiten wird es schon können",
hatte sich in seiner Schlußfolgerung auf dem Gebiete der Volks-
wirtschaftspolitik zunächst nicht bewährt. Der Kanzler mußte von
neuem das Roß halten und die Germania in den Sattel heben.
Die nationalpolitische Einheit war erreicht worden. Das
Reich stand nach außen so gefestigt da, daß es der diplomatischen
Kunst seines Begründers nicht zu schwer war, das Gewonnene
zu behaupten. Diese bloß erhaltende Tätigkeit konnte dem ge-
nialen Schaffensbedürfnis des rüstigen Sechzigjährigen nicht ge-
nügen. Daß er sich der inneren Politik zuwandte, war eine Not-
wendigkeit seiner Natur. „Ausgebaut mußte werden", heißt es
im zweiten Bande der , Gedanken und Erinnerungen' des Fürsten,
„wenn die politischen und militärischen Errungenschaften vor Zer-
bröckelung und zentrifugaler Rückbildung geschützt werden
sollten". Da er noch bis 1890 im Amte blieb, benutzte er die
ihm gegebene Zeitspanne, wichtigen Teilen der bisher vernach-
lässigten Staatsordnung den Stempel seines Geistes aufzuprägen.
Die Handels-, Finanz-, Sozial- und die schon besprochene Eisen-
bahnpolitik sind die Großtaten dieser Epoche. Sie tragen mit
Recht seinen Namen, nicht bloß, weil sie von ihm entworfen und
durchgeführt worden sind, sondern auch, weil sie seinem tiefen
Wissen vom Wesen des deutschen Staates vollkommen entsprachen.
Daß während dieser ungeheueren Arbeit, bei der es ein stür-
misches Meer von Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten zu
durchschiffen galt, der Friede mit dem Auslande gesichert blieb,
war eine wichtige Voraussetzung für sie. Die auswärtige Politik
304 ^- Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
ging dann im Positiven noch über den Friedensschutz mit dem
Erwerb der australischen und afrikanischen Kolonien hinaus.
Die Bismarcksche äußere Handelspolitik datiert offiziell aus
dem Jahre 1879, die Schwenkung des Urhebers hatte sich schon
einige Jahre vorher vollzogen. Sie bedurfte einer geschäftigen
Vorbereitung in diesem Riesengeiste, um dann als ein vollendetes
Ganzes, dem kein Baustein mangelte, aus ihm hervorspringen zu
können. Während des gewaltigen europäischen wirtschaftlichen
Aufschwunges waren die Fehler des passiven Freihandels für
Deutschland verdeckt geblieben, und die Wortführer des Libe-
ralismus wurden nicht müde, den Segen des Tages aus der
eigenen Weisheit abzuleiten. Nur so ist es begreiflich, daß im
Mai 1873, kurz nach dem „Wiener Krach", ein Initiativantrag
im Reichstage die Aufhebung der Eisen- und Maschinenzölle
brachte, unterstützt von den liberalen Volkswirten und den Agra-
riern des Ostens, als deren Sprecher der Abgeordnete von B e h r
erklärte: „Nächst dem Brot und Fleisch ist nichts wichtiger
als freies Eisen. Solange ein deutsches Schiff unsere Ostsee
befährt, solange wir in den Provinzen der Ostsee, wo wir kein
Eisen herausgraben, sondern sehr viel Eisen hineingraben müssen,
um eine Ernte zu haben, solange dort der Landmann seinen
Boden zu bestellen haben wird, solange werden wir freies Eisen
verlangen." Die blühende Lage der Industrie gestatte die Zoll-
reform und die Finanzlage des Reiches nicht minder.
Man wollte also auch aus den Milliarden der Kriegsent-
schädigung den Steuerzahlern etwas zukommen lassen, denn einen
Steuerersatz für den Zollausfall war man nicht geneigt vorzu-
schlagen.
Die Aufhebung der Eisenzölle, meinte der Redner, sei ein
Axiom, und Axiome beweise man nicht. So sehr hatte die allein
seligmachende Doktrin des Freihandels den Sinn umnebelt, daß
ihre Anhänger nicht sahen, was in nächster Nähe um sie herum
vorging. Die Majorität des Reichstages war von dem Antrag
enthusiasmiert, obwohl der Abgeordnete und Großindustrielle
Stumm in sachverständiger Weise darlegte, daß die glänzende
Nachfrage nach Eisen das Ergebnis der Hochkonjunktur gewesen
sei, die im Begriff stände, zu schwinden.
Wenige Tage später ging dem Hause eine Tarifvorlage der
Regierung zu, in der ebenfalls Zollerleichterungen, besonders für
Eisenwaren, enthalten waren. Sie genügte dem Radikalismus nicht.
Eine vermittelnde Stellung nahmen die Abgeordneten M i q u e 1 ,
Varnbüler und Hammacher ein, deren Antrag angenommen
wurde. Der Zoll auf Roheisen fiel damit am i. Oktober 1873,
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bisnaarck. '^0'\
der für eine Reihe von Fabrikaten, wie für geschmiedetes, ge-
walztes, fassoniertes Eisen, Eisenblech, grobe Gußwaren, Loko-
motiven und andere Maschinen wurde ermäßigt und sollte am
I. Januar 1877 ebenfalls verschwinden. Der Ausfuhrzoll für
Lumpen wurde sofort beseitigt, Seeschiffe und Materialien für
ihren Bau und Dampfmaschinen für sie wurden zollfrei ein-
gelassen.
Die Handelsvertragspolitik des Reiches war in den ersten
Jahren seines Bestehens nicht erheblich. Es wurden zwar einige
unbedeutende Verträge abgeschlossen, wie 1872 mit Portugal, 1873
mit Persien, auch mit Hawaii, Salvador, Costarica, Tonga, für
deren Entstehen mehr zufällige Veranlassungen vorlagen, an sich
herrschte der Grundsatz, die Zölle preiszugeben, ohne vom Aus-
lande eine Gegengabe zu beanspruchen. Dabei litten die Reichs-
finanzkraft durch Ausfälle, die Industrie nach Eintritt der Ge-
schäftsstockung durch Überfüllung des Marktes mit fremden Fa-
brikaten und die Landwirtschaft alsbald durch die Einfuhr billiger
Lebensmittel.
Das allgemeine wirtschaftliche Mißbehagen in der Mitte der
siebziger Jahre konnte dem Reichskanzler nicht verborgen bleiben.
Die europäische Krise mit ihrer verschärften Konkurrenz wies
ihn darauf hin, daß Deutschland noch nicht auf der hohen Stufe
stand, wie man behauptet hatte, da man vielfach dem Auslande
nicht gewachsen war. In volkswirtschaftlichen Fragen hatte er
sich bisher auf den freihändlerischen Präsidenten des Reichs-
kanzleramtes R. von Delbrück, weiter auf den Finanzminister
von Camphausen und Männer wie Michaelis und Schele
verlassen, ohne Zeit zu finden, sich in deren Werk einzuarbeiten.
1869 hatte er ein reines Finanzzollsystem, ähnlich dem englischen,
empfohlen, 1872 in einer Note an Österreich, die eine drohende
Benachteiligung der deutschen Schiffahrt von französischer Seite
verhindern sollte, noch erklärt, daß der Kaiserstaat durch Fest-
haltung früherer Zugeständnisse die Möglichkeit und den Beruf
habe, Frankreich vom protektionistischen Rückschritt fern und
den erwünschten freiheitlichen Verkehr in Europa aufrecht zu
erhalten.
Allein der realpolitische Sinn und die intensive Beschäftigung
mit der inneren Verwaltung erregten dem Fürsten schon 1874
Zweifel an der Zulässigkeit der bestehenden Richtung, und in
den folgenden Jahren beginnt von seiner Seite die Erforschung
der finanziellen und wirtschaftlichen Aufgaben und der Mittel,
ihnen zu entsprechen. 1876 war Delbrück infolge des Reichs-
eisenbahnprojektes zurückgetreten, dem er als unbeugsamer Ver-
A.Sartoriusv. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 20
306 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
treter der freien Konkurrenz nicht zustimmen wollte. Er sah
mit Sicherheit den Tag herannahen, an dem er mit dem Kanzler
in unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten gelangen mußte
und zog es vor, in Frieden und in vollen Ehren das Amt nieder-
zulegen. Er vermochte nicht, sich auf die höhere Warte der
notwendigen historischen Wandlung zu stellen und umzulernen.
B i s m a r c k dachte nicht so, daß man an politischen Mitteln
festhalten müsse, wenn man sie als nicht mehr zeitgemäß erkannt
habe. Und somit hat er später erklärt: „Wenn ich in Widerspruch
mit mir selber zu treten hätte, so würde ich es für mein eigenes
Ansehen außerordentlich beklagen, wenn ich aber sehe, daß es
im Dienste des Landes notwendig ist, so würde ich keinen Au-
genblick anstehen, den Weg, den ich als irrtümlich erkenne,
zurückzugehen, meinen Irrtum offen eingestehen und entweder
anderen, die es besser verstehen, Platz machen, oder, wenn es
von mir verlangt würde, selbst die Sache besser machen als
früher."
Für ihn war der Rücktritt Delbrücks eine Veranlassung,
sich eingehender mit der Finanz- und Wirtschaftspolitik zu be-
fassen, zumal ein ausreichender Ersatz des scheidenden Ministers
nicht gefunden wurde. Nach wenigen Jahren schon wußte er
zu zeigen, daß von einem Dilettantismus, den ihm seine Gegner
andichteten, nicht das geringste auf Wahrheit beruhte. Nach
kurzen Lehrjahren war er auch hier der Meister geworden, dessen
Werke den früheren auf dem Gebiete der auswärtigen Politik
und des Verfassungslebens ebenbürtig geworden sind. Er hatte
den Mut, mit der liberalen Handelspolitik zu brechen und be-
gründete ihn auf seiner vollsten Überzeugung. Gewiß war er in
den sechziger Jahren dem Freihandel nicht abgeneigt gewesen,
zumal er das Wohl der damals daraus Nutzen ziehenden Land-
wirtschaft für die sicherste Grundlage des volkswirtschaftlichen
Gedeihens erachtete. So war es nur folgerichtig, daß er jetzt
dem in eine Notlage geratenden Körnerbau seine Beihilfe nicht
versagte. Ob mit dem Zoll oder anderswie, kam ihm erst an
zweiter Stelle. Sagte er doch einem Agrarpolitiker einmal: Zeigen
Sie mir ein besseres Mittel als den Schutzzoll, ich will es gern
annehmen. Aber dieser wußte kein besseres zu empfehlen.
B i s m a r c k war nicht an sich für hohe oder niedrige Zölle,
für Handelsverträge oder autonome Regelung der Zollpolitik. „Ich
will dem System der Handelsverträge nicht entgegentreten", be-
merkte er einmal, „nur ein Handelsvertrag an sich ist nichts,
vas ich anstrebe, es kommt auf den Inhalt an." Kenntnis der
Gegenwart, die geschichtliche Erfahrung haben nach ihm zu ent-
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck. tq?
scheiden. Er dachte nicht anders als Friedrich der Große,
der bei seiner Verwaltungspolitik sich durch die physiokratischen
Sätze nicht beirren ließ, so sehr er auch die französischen Denker
seiner Zeit als solche schätzte: „Die Herren Enzyklopädisten"',
schrieb er 1777, „werden vielleicht nicht immer meiner Meinung
sein; ein jeder kann die seine haben. Allemal, wenn die Erfah-
rung von allen Führern die sicherste ist, so wage ich zu sagen,
daß meine Sätze einzig allein auf das sich gründen, was ich ge-
sehen und überlegt habe."
Zunächst trat der Kanzler mit seinen Plänen noch nicht
in der Öffentlichkeit hervor, wenn auch aus seinen gelegentlichen
Äußerungen schärfer Blickende den Umschlag voraussagten. Er
verstand zu warten, da er wußte, daß die Zeit für ihn arbeitete.
Die Eisenfabrikzölle standen vor ihrer Beseitigung noch einige-
mal zur Beratung. So 1876, als eine Massenpetition mit 60000
Unterschriften für ihre Aufrechterhaltung eintrat. Bismarck
war nicht abgeneigt, ihr nachzugeben, ließ es aber beim Alten,
da er eine Ministerkrise damals vermeiden wollte. Ein zweites
Symptom für seine neue Stimmung war die Beantwortung der
Interpellation E. Richters, „was die Regierung gegen Rußland
zu tun gedenke", welches Land angeordnet hatte, daß die an
sich schon hohen Zölle in Gold erhoben werden sollten. Die Ant-
wort ging dahin, daß die Auflegung von Retorsionszöllen auf
Getreide, Holz und Spinnstoffe der einzige Weg sei, um der
deutschen Ausfuhr den Zugang nach Rußland zu verschaffen.
Ein rein politisches Mittel zu gebrauchen, könne nicht empfohlen
werden, man solle Wirtschaftliches mit Politischem nicht ver-
quicken, die Notlage Rußlands bei dem Türkenkriege auszu-
nutzen sei mißlich, da es bei der nächsten Gelegenheit Vergel-
tung üben werde.
Von wirtschaftlicher Retorsion wollte die Majorität des
Reichstages nichts wissen, da sie dem Kodex der Freihandels-
lehre nicht entsprach. Sie hielt sich an den Ausspruch des fran-
zösischen Revolutionsmannes Saint Just, daß das Prinzip fort-
bestehen müsse, wenn auch die Welt zugrunde gehe.
Auch bei den Debatten, die anläßlich der französischen Aus-
fuhrprämien auf Eisenwaren im Reichstag^ stattfanden, vertei-
digte der Reichskanzler eine Ausgleichsabgabe, die die Regie-
rung in einer Vorlage begründet hatte. Seine Worte, daß die
Zustimmung des Reichstages für seine Zwecke nur eine Abschlags-
zahlung sein könne, machten tiefen Eindruck. Im April 1877
wurde die Abwehr gegen Frankreich abgelehnt. Es war dies der
letzte parlamentarische Sieg der extremen Freihändler, den der
00*
308 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
Abgeordnete von Schorlemer mit Recht einen Pyrrhussieg
nannte. Die allgemeine Meinung fing bei der langen Dauer des
Geschäftsniederganges an umzuschlagen, zumal der Versuch, die
Aufhebung der Eisenfabrikatzölle hinauszuschieben, im Reichstage
gescheitert war. Auch während des Jahres 1877 hielt Bis-
marck noch mit Vorschlägen zurück. Er hob allerdings hervor,
daß die Finanzen des Reiches auf neuer Grundlage gekräftigt
werden müßten und betonte seine Vorliebe für indirekte Ver-
brauchssteuern, um die drückenden Matrikularumlagen zu besei-
tigen, hielt es aber für geboten, da er kein Stückwerk haben
wollte, eine bessere parlamentarische Konstellation abzuwarten.
Daß sie kommen werde, lehrte ihm ein Antrag des Frhr. von
Varnbühler, Dr. Buhl, Frhr. von Schorlemer, Acker-
mann und Bergmann: „Es wolle die Reichsregierung, in
Erwägung, daß die Zollgesetzgebung des Deutschen Reiches
den Grundsätzen gerechter und zweckmäßiger Besteuerung viel-
fach nicht entspricht, und Industrie und Landwirtschaft darunter
leiden, ersucht werden, kommissarisch die Produktionsverhältnisse
der deutschen Industrie und Landwirtschaft untersuchen zu lassen,
und vor der Beendigung dieser Untersuchung und Feststellung
der sich hieraus ergebenden Resultate Handelsverträge nicht ab-
schließen." Denn im Jahre 1877 lief der Vertrag mit Österreich-
Ungarn ab, und es stand nicht zu erwarten, daß von diesem
jetzt schutzzöllnerisch gesinnten Lande etwas Wesentliches zu er-
reichen war, da man deutscherseits bei den niedrigen Industrie-
zöllen und dem Fehlen der agraren keine Zugeständnisse von
Wert machen konnte. So wurden denn die Verhandlungen abge-
brochen. Eine Enquete über die gesamten Produktionsverhält-
nisse zu veranstalten, hielt die Regierung mit Recht für zu
weitgehend, sie auf die Eisen-, Baumwoll- und Leinenindustrie
zu beschränken, wurde zugestimmt.
Von den Antragstellern wies Varnbüler zudem nach, daß
in dem bestehenden Tarif kein einheitlicher Gedanke mehr zu
finden sei, da er nach und nach aus zahlreichen inneren Kom-
promissen und aus Handelsverträgen entstanden sei. Überall
herrschten Widersprüche, feine Waren wurden geringer als
gröbere bezollt, Halbfabrikate und Fertigfabrikate niedriger als
manche Roh- und Hilfsstoffe. In verschiedenen Positionen war
noch der preußische Tarif von 18 18 maßgebend, der für die
Anfänge der Industrie passend gewesen sein mochte, gegenwärtig
für eine entwickelte nicht genügen konnte.
Es war der Antrag eine deutliche Stimme gegen die Ma-
jorität des Reichstages, und, indem die Regierung diese Berechti-
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck. ■JOQ
gung anerkannte, wurde ein entschiedener Schritt zu einer Neu-
ordnung getan.
Eine erste Orientierung brachte die halbamtliche Provinzial-
korrespondenz vom lo. April 1878: „Wie auf dem Gebiete der
Steuerpolitik, so ist des Kanzlers Streben auch in der Zollpolitik
des Reiches darauf gerichtet, die Behandlung der Zollfragen nicht
nach den Auffassungen und Geboten bloßer Lehrmeinungen, son-
dern vor allem nach den Anforderungen der tatsächlichen Lage
der Dinge und nach den wirklichen Bedürfnissen des Volkes
zu gestalten. Unsere Handelspolitik huldigt im weitesten Maße
dem System des Freihandels, und die Vorzüge desselben an und
für sich sollen nicht bestritten werden, insofern dabei die Ge-
genseitigkeit unter den Völkern gewahrt ist, — ohne Gegenseitig-
keit schädigt der Freihandel denjenigen, der sich ,eder dem Prin-
zip zu opfern bereit ist."
Zur Erläuterung mag dienen, daß Frankreich weit höhere
Zölle als Deutschland hatte und seine Eisenindustrie durch Aus-
fuhrprämien begünstigte, daß man in Österreich im Begriffe war,
zu höheren Zöllen überzugehen, wo man zudem den passiven Frei-
handel nicht mitgemacht hatte, daß in Rußland der an sich hohe
Tarif durch die erwähnte Zollentrichtung in Gold und durch
andere Maßregeln erhöht, in den Vereinigten Staaten 1875 der
Schutz der heimischen Waren verstärkt worden war.
Im August 1878 kamen die deutschen Finanzminister in
Heidelberg zusammen, um die künftige Reichsfinanzpolitik zu be-
sprechen. Hier wurde eine volle Übereinstimmung insofern erzielt,
als der Ausbau der Verbrauchsabgaben als notwendig anerkannt
wurde, was auf das künftige Zollwesen zurückwirken mußte. Die
politische Lage hatte sich inzwischen für den Reichskanzler seinen
Wünschen gemäß geändert. An die Stelle der liberalen Minister
V. Camphausen und Achenbach waren Hobrecht und
M a y b a c h getreten, und in dem neuen Reichstage, der das So-
zialistengesetz bewilligt hatte, war die liberale Mehrheit nicht
mehr vorhanden. Die große liberale Partei hatte einen linken
Flügel, „die Sezession", abgegeben, wobei die Wirtschaftsfrage
mitspielte, wenn auch die Furcht „vor einer politischen Reaktion"
das Entscheidende gewesen sein mag. Die rechte nationalliberale
Seite hielt zur Regierung. Eine im Oktober mit 204 Unter-
schriften versehene, von der freien volkswirtschaftlichen Vereini-
gung des Reichstages ausgehende Erklärung, nach der die Re-
form des ZoUtarifes gefordert wurde, erbrachte den Beweis des
schwindenden Liberalismus. Seine persönliche Zustimmung ver-
3IO V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
öffentlichte Bismarck in einem Schreiben an Varnbüler und stellte
baldige Anträge an den Bundesrat in Aussicht. Sie erfolgten im
November, und eine Kommission zur Prüfung des Zolltarifes
wurde empfohlen. Vier Wochen später werden in einem Schreiben
an den zustimmenden Bundesrat die Ziele des näheren auseinander-
gesetzt. In erster Linie wird die finanzielle Neuordnung betont,
Verminderung der drückenden, direkten Steuerlast unter Vermeh-
rung der auf indirekten Abgaben beruhenden Einnahmen des
Reiches. Dann folgt die handelspolitische. Erörterung: Nicht ein-
zelne Artikel sollen mit höheren Zöllen belegt werden, sondern
das Richtige sei die Rückkehr zu dem Prinzip der Zollpflichtig-
keit aller über die Grenze eingehenden Gegenstände, wie das
im preußischen Tarif von 1818 so gewesen sei. Ausgenommen
sollen sein die für die Industrie unentbehrlichen Rohstoffe, die
in Deutschland gar nicht, wie z. B. Baumwolle, und nach Be-
finden auch die, welche nur in einer ungenügenden Quantität oder
Qualität erzeugt werden können. Von der prinzipiellen, ab-
strakt gedachten Angemessenheit des international gegenseitigen
Freihandels scheint der Kanzler abgekommen zu sein: „Ich lasse
es dahingestellt, ob ein Zustand vollkommener gegenseitiger Frei-
heit des internationalen Verkehrs, wie ihn die Theorie des Frei-
handels als Ziel vor Augen hat, den Interessen Deutschlands ent-
sprechen würde." Die Idee ist auch schwerlich mit einer Wirt-
schaftspolitik in Einklang zu bringen, die die Aufgabe hat, die
„gesamte nationale Produktion zu heben". Dieser Zweck erscheint
als höchster und kann daher einem auf internationaler Produk-
tionsverteilung aufgebauten gemeinsamen Wohle vieler Völker
nicht untergeordnet werden.
Es ist nicht daran gedacht, einigen Erwerbszweigen ein
Privilegium einzuräumen, sondern der gesamten inländischen Pro-
duktion soll ein Vorzug vor der ausländischen auf dem einheimi-
schen Markt gewährt werden. Indem sich somit durch eine all-
gemeine, allen Produzenten nützliche Preissteigerung die deutsche
Volkswirtschaft vom Weltmarkt abhebt, können nachteilig die-
jenigen betroffen werden, die wirtschaftlich nicht produzieren.
Demgegenüber wird nachgewiesen, daß der allgemein steigende
Wohlstand, der durch die Vermehrung der Arbeitsgelegenheit ent-
steht, auch jenen zugute kommen werde, und daß reichere Fi-
nanzmittel eine Erhöhung der Beamtengehälter zulässig machen.
Schließlich wird die Rechtslage mit dem Auslande unter-
sucht und die autonome Zollpolitik empfohlen, ohne den Handels-
verträgen zur Erleichterung der Ausfuhr zu präjudizieren. Für
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck. -tu
etwaige Verhandlungen sei ein neuer, genügend hoher Tarif die
Voraussetzung.
Die Landwirtschaft wird in dem Schreiben nicht besonders
erwähnt, ihr geplanter Schutz ergibt sich aus der allgemeinen
Erörterung. In mehreren Zuschriften des Kanzlers an Vertre-
tungen der Landwirtschaft im Januar 1879 wird er ausdrücklich
bestätigt.
Wenn sich auch die neue Politik nicht zu sehr in der Höhe
der Sätze von der des späteren Zollvereins unterschied, so war
doch unter den jetzigen Verhältnissen des Auslandsgeschäftes eine
Abweichung gegeben, die auch auf die Begründung zurück-
wirkte. Die deutsche Industrie war in den letzten 25 Jahren so
erstarkt, daß der Abstand von einer überlegenen, andersstaat-
lichen kleiner geworden war, derselbe Zoll also mehr bedeutete
als ehedem. — War der Gedanke der allgemeinen Zollpflicht im
Zollverein wohl anerkannt, so hatte doch dem Agrarschutz kein
dauernder Wert beigemessen werden können. Denn damals ver-
sorgte sich das deutsche Wirtschaftsgebiet ausreichend mit Le-
bensmitteln, und die Zölle verteuerten sie in der Regel nicht ge-
genüber den Weltmarktpreisen. Die deutsche Ausfuhr beeinflußte
vielmehr die Gestaltung der europäischen Getreidepreise nachweis-
bar. 1879 wurde das amerikanische und osteuropäische Getreide
auf dem Weltmarkte führend. Der industrielle Schutz des Zoll-
vereins war eine Bevorzugung gewesen, die die Landwirte nicht
anfochten, weil sie durch die hohen Transportkosten — die heute
noch die voluminöse Kartoffel schützen — , tatsächlich gesichert
waren. Das war anders geworden, seitdem die Eisenbahnen und
Dampfschiffe die Märkte versorgten. Der Schutz war auch nicht
allein gegen die technische Überlegenheit der ausländischen In-
dustrie geboten, sondern sollte die heimische erhalten gegenüber
der abgestoßenen Menge der fremden Überproduktion.
Die deutsche Volkswirtschaft soll als ein selbständiger Or-
ganismus aus eigenen Kräften zur Blüte gelangen. Es ist der Ge-
danke der volkswirtschaftlichen, in der Gegenwart zu verwirk-
lichenden Wechselwirkung, auf die hingezielt wird, wonach sich
Landwirtschaft, Industrie, Handel, Transportwesen, Banken, Schiff -
fahrt unter gegenseitiger Nachfrage einem Angebot gegenüber,
das von außen nicht gestört wird, heben sollen, während mit
diesem Gedeihen die Unternehmer in der Lage sind, steigende
Löhne zu zahlen und den Arbeitern ohne Unterbrechung Arbeit
zu geben und auch sonstige Mittel zur Besserung der handarbei-
tenden Klasse aufzubringen, was später bei der Begründung der
Zuschüsse zu der Arbeiterversicherung wieder betont wurde.
XI 2 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Bismarck hat kein theoretisches System einer solchen na-
tionalen Handelspolitik nach allen Richtungen hin entwickelt, und
doch war es ein System, kein solches, das auf einem als ewig
richtig gedachten, abstrakten Prinzip aufgebaut war, sondern nur
ein historisch-relatives. Er erklärte, daß ihn die abstrakten Lehren
der Wissenschaft ganz kalt ließen. Die Geschichtie war ihm
immer nur Beweismittel zu seinen Ausführungen, niemals ein Ob-
jekt für eine dialektische Methode. Allein das staatsmännische
Genie erfaßt die Dinge intuitiv am richtigen Zipfel. Die nach-
folgenden gegebenen Begründungen sind analytische Urteile einer
inneren Überzeugung.
Man hat Bismarcks Gedankengänge mit denen des ameri-
kanischen Soziologen und Schutzzöllners H. Ch. Carey ver-
glichen. Das ist insofern zulässig, als dieser, der zwischen 1840
und 1860 die Vereinigten Staaten von der englischen Industrie-
und Handelssuprematie befreit haben wollte, alles von der gegen-
seitigen Befruchtung der produktiven Kräfte im Innern des Landes er-
wartete: der zunehmenden Bevölkerung, des vermehrten Reichtums,
der intensiveren Landwirtschaft, der neuen Technik und der Großbe-
triebe in der Industrie, des Wohles der Arbeiter, der Vertiefung der
Arbeitsteilung, was alles selbst wieder solche Kräfte für andere
Ziele sind. Das soziologische Prinzip der freien Assoziation, durch
das das Individuum aus seiner ökonomisch unzulänglichen Ver-
einzelung herausgehoben wird, ist ihm das Entscheidende. Es
ist ein optimistisch-ethischer Grundgedanke, den er in der Welt-
geschichte tätig vorfindet, dessen sich die Menschheit bewußt
zu werden habe, um das ihm feindliche Gegenprinzip des auf-
saugenden Zentralismus zu bekämpfen. Von einer solchen, zu-
dem religiös gefärbten Philosophie stand die nationale Realpolitik
Bismarcks fernab. Sein ganzes Werk ist in allen Einzelheiten
auf die praktische Anforderung seiner Zeit und seines Landes
gerichtet, wenn er auch die absehbare Zukunft seines Volkes
damit wohl zu vereinen verstand. Er nimmt von dem historisch
gegebenen Staat mit seinen Machtmitteln den Ausgang, in die
der Schutzzoll ohne Widerspruch hineinpaßt. Der Amerikaner
geht, wie einst das Smith sehe Industriesystem, von dem freien
Individuum aus, das die Bürgschaften für das Gedeihen des
Ganzen in sich trägt, so daß die Staatshilfe zu einer schwer
beweisbaren Ausnahme gemacht werden muß.
Nun geht die Angelegenheit rasch vorwärts. Anfang April
ist der Entwurf des Tarifes fertiggestellt, die Enqueten haben
ihre Arbeiten beendet, deren Ergebnisse benutzt werden. Der
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck. i j 7
Bundesrat stimmt zu, und dem Reichstage wird das Gesetz mit
eingehender Begründung sofort vorgelegt.
Der neue Tarif brachte einen Industrieschutz ungefähr so,
wie er 1865 bestanden hatte. Hauptsächlich waren die autonomen
Herabsetzungen nach dieser Zeit rückgängig gemacht worden.
Er war systematischer durchdacht. Roheisen kam wieder auf
I Mark für 100 Kilogramm, die auch bis 1873 erhoben worden
war. Während der Verhandlungen wurden nach den Anträgen
aus dem Reichstage einige Finanz- und Halbfabrikatzölle erhöht,
die Zölle auf Baumwollgarn nach der Feinheit weiter abgestuft.
Die niedrigen Getreidezölle, i Mark für 100 Kilogramm Weizen,
Roggen, Hafer und Hülsenfrüchte — die Regierung hatte für
Roggen nur 50 Pfennige vorgeschlagen — wurden vornehmlich
als Finanzzölle und Belastung der Spekulation begründet, waren
aber doch als Anfang eines Schutzes gedacht, um nach Bedarf
heraufgesetzt zu werden. Sie galten auch, wie es bei den Holz-
zöllen ausgesprochen worden war, als Kompensationsobjekt, falls
es mit Österreich-Ungarn und Rußland zu einem Handelsvertrage
kommen sollte. Höher waren die Fleisch- und Viehzölle gesetzt,
die der auswärtigen Konkurrenz begegnen sollten.
Von Wichtigkeit war der Retorsionsartikel des Zollgesetzes,
nach dem die Regierung das Recht hat, Waren, die aus Staaten
kommen, die deutsche Waren oder Schiffe deutscher Herkunft
ungünstiger behandeln als diejenigen anderer Staaten, mit einem
Zuschlage bis zu 50 0/0 des Betrages der tarifmäßigen Eingangs-
gabe zu belegen.
Es waren die künftigen Beziehungen zu fremden Staaten,
wie man sieht, nicht vernachlässigt worden, wenn es sich auch
zunächst nur um eine autonome Zollpolitik handelte.
Die parteipolitische Lage war im Reichstage die, daß sich
die Regierung auf das Zentrum zu stützen hatte, das unter stren-
ger Betonung der konstitutionellen Grundsätze bei allen Steuer-
bewilligungen die Vorlage guthieß und dabei auf eine kirchen-
politische Gegengabe rechnete. Der Führer Windhorst ver-
stand es, die demokratisch-dissentierenden Mitglieder der Partei
im Zaume zu halten. Die Nationalliberalen unter R. v. Bennig-
s e n waren für den industriellen Schutz und für die Finanzreform,
ihre freihändlerischen Mitglieder unter Laskers Leitung bil-
deten die Reichstagsfraktion der Sezessionisten. Von den Konser-
vativen war die große Mehrzahl für die Vorschläge der Regie-
rung, die Linksliberalen und die Sozialdemokraten machten hef-
tige Opposition. Der Erfolg der Regierung war von vornherein
■IIA V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
nicht zweifelhaft, die Majorität, die gewonnen wurde, übertraf
ihre Erwartungen.
Der Gedanke, die produktiven Stände zu einem gemeinsamen
Handeln zusammenzuschweißen, war gelungen, und damit war
eine Stetigkeit auch der kommenden gesamten deutschen Wirt-
schaftspolitik angebahnt. Solange Bismarck das Steuer führte,
hat die gewonnene Solidarität der Interessen auch eine Einmütig-
keit ihrer parlamentarischen Vertreter gebracht.
Die neue Politik ist für Deutschland die richtige gewesen,
wie dies die spätere Zeit bewiesen hat. Das Sichstützen auf den
inneren Markt setzt voraus, daß dieser hinlänglich entwicklungs-
fähig ist. Er ist es bei einem großen Wirtschaftsgebiete, einer
steigenden Bevölkerung, er ist es, wenn die Kräfte des Bodens,
des Bergbaues reich sind und steigenden Anbau oder Abbau ver-
tragen, wenn Talente in der Nation vorhanden sind, technische
und ökonomische Neuorganisationen zu schaffen, und hinlänglich
menschliche Energie sie ausnutzen, wenn die sozialen Gegensätze
sich in zeitgemäße Formen eingliedern und eindämmen lassen.
Daß das Auslandsgeschäft neben der Entfaltung des inneren
Marktes nicht vernachlässigt zu werden braucht, wurde bald er-
wiesen. Es hat in ihr die beste Voraussetzung gehabt. Der Pflege
der Ausfuhr hat der Reichskanzler in seiner Kolonialpolitik, in
der Unterstützung der Hamburger Hafenbauten, in dem Schaffen
günstiger Vorbedingungen zu Handelsverträgen die Anerkennung
auch nicht versagt.
Wir dürfen mit Recht aussprechen, daß die Politik von 1879
wie vom wirtschaftlichen Standpunkt der Berufszweige, so von
dem des Parteiwesens national gehalten ist. Sie ist zugleich
auch deutsch empfunden. Die englische Theorie des Freihandels
erhebt sich auf der dürren, nur das Individuum beachtenden
Utilitätslehre. Die Bismarcksche Anschauung stellt als höchstes
Ziel das Wohl des geschichtlich gewordenen Volksganzen. Das
Wort „organisch" wird dafür gern gebraucht. So sagte der
Kanzler in der Rede vom 2. Mai 1879: „In allen diesen Fragen
halte ich von der Wissenschaft (des Staatslebens) gerade so
wenig wie in irgendeiner anderen Beurteilung organischer Bil-
dungen. — Wir wollen sehen, wie wir dem deutschen Körper
wieder Blut, wie wir ihm die Kraft der regelmäßigen Zirkulation
des Blutes wieder zuführen können."
Der preußische Staat mit seiner monarchischen Spitze, mit
seinem nach oben verantwortlichen Beamtentum, mit seinem all-
gemeinen Wehrdienst, mit den Pflichten der Untertanen gegen
die Krone und den Pflichten der Krone gegen die Bürger ent-
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck. 2 I c
spricht dem Kant sehen Geist. Kant lebte unter Friedrich dem
Großen, der sich als den ersten Diener seines Staates bezeichnet
hatte, „verpflichtet, mit Rechtschaffenheit, mit Weisheit und mit
völliger Uneigennützigkeit zu handeln, wie wenn er in jedem
Augenblicke seinen Mitbürgern Rechenschaft über seine Ver-
waltung ablegen müßte". Der große König wurde nach solchen
Worten nicht müde, sich und dem Thronfolger die hehren
Pflichten des Fürstenamtes vorzuhalten: „Alle Zweige der Staats-
leitung", sagte er nach dem zweiten schlesischen Kriege, als
er sich dem Wirken der inneren Verwaltung zuwandte, ,, stehen
miteinander in innigem Zusammenhange, Finanzen, Politik und
Kriegswesen sind untrennbar; es genügt nicht, daß eines der
Glieder wohl besorgt wird, sie wollen es alle gleich sein; sie
müssen gelenkt werden in geradgestreckter Flucht, Stirn bei Stirn
wie das Viergespann im "olympischen Wagenkampf, der mit
gleicher Wucht und gleicher Schnellkraft die vorgezeichnete Bahn
durchmaß, den Wagen zum Ziele trug und seinem Lenker den
Sieg sicherte."
Hierzu macht R. Koser in seinem Buche über Friedrich
den Großen, dem wir die Zitate entnehmen, den Zusatz: „Seiner
Siege sicher, auch auf dem Felde unblutigen Wettbewerbes, in-
mitten der neuen großen Aufgaben, die der schwer erstrittene
Friede ihm stellte, meinte er, jetzt erst seine Regierung wahrhaft
begonnen zu haben, in dem Sinne, daß wahrhaft regieren das
Glück des Volkes fördern hieße, daß wahrhaft sich nur im
Frieden regieren lasse."
Genau so hat auch Bismarck gedacht, als er nach der Reichs-
gründung mit Blut und Eisen sich der Wirtschafts- und So-
zialreform zuwandte. Das Wesen des preußischen Staatslebens
galt es auf das Wirtschaftsleben und die Gesellschaft des deut-
schen Volkes zu übertragen. Darum trägt das Werk von 1879
einen deutschen Charakter. Diese Lebensanschauung, mögen sie
sie verstehen oder nicht verstehen, nennen unsere Feinde Mili-
tarismus oder Unfreiheit, weil sie ihnen gefährlich dünkt. Die
ethische Überlegenheit wird einem Volke von einem anderen miß-
günstigen noch schwerer verziehen als sein technisches Können
und seine Fortschritte der Wissenschaft.
Als der Freihandel in Deutschland noch Ansehen genoß,
gleichzeitig nach der Krise von 1873 die Welthandelsgüter der
Industrie in den dauernden Zustand der internationalen Über-
produktion eingetreten waren, schlössen sich die rheinisch-west-
fälischen Eisenproduzenten zu einem Schutzverbande mit poli-
tischen Mitteln und weiterhin 1876 zahlreiche verschiedene In-
ßl6 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
dustrien mit ihnen zu dem „Zentralverband deutscher
Industrieller" unter derselben wirtschaftspolitischen Tendenz
zusammen. Vertreten waren die Eisen- und Stahlfabrikation im
Osten und Westen, die süddeutschen und elsässischen BaumwoU-
äpinner, die Soda-, Zucker-, Hut-, Leder-, Papierfabrikanten und
Zweige der Woll- und Leinenindustrie. Der Verband hat bis
zur Gegenwart fortbestanden und sich kräftig entwickelt. 1910
zählte er 560 Einzelmitglieder und 190 Vereine und Körper-
schaften. Es waren vornehmlich Großfabrikanten, die vermöge
ihrer Bildung und Geldmittel berufen waren, die Führung zu
übernehmen. Mittlere und kleine bildeten die Gefolgschaft. Mehr
oder minder, direkt oder indirekt waren alle durch die liberale
Wirtschaftspolitik ungünstig betroffen, die Papierfabrikanten durch
die Aufhebung des Lumpenausfuhrverbotes, die Eisen- und Stahl-
erzeuger durch die Beseitigung der Einfuhrzölle, die übrigen durch
deren Herabsetzung. Wenn ihnen auf ihre Klagen erwidert wurde,
daß der allgemeine Niedergang der Konjunktur, der mit dem
Schutzzoll nichts zu tun habe, die Ursache ihrer Bedrängung sei,
so erklärten sie, daß dieser gegenwärtige Zustand der Dinge
erst den Beweis liefere, daß sie der auswärtigen Konkurrenz
in der Krise nicht gewachsen seien. Wurden sie auf die keines-
wegs ganz eingestellte Ausfuhr aufmerksam gemacht, so wiesen
sie nach, daß sie dabei die Kosten der Herstellung kaum deckten
und den Außenmarkt nur aufsuchten, um die Arbeiter nicht fort-
schicken zu müssen, und um die in dem Betrieb angelegten Kapi-
talien nicht ganz entwerten zu lassen. Die Stahl- und Eisen-
industrie befand sich zudem in dem Zustande der technischen
Umgestaltung, wenn er auch schon einige Jahre früher begonnen
hatte. Die verarbeitende Massenproduktion war bisher auf die
Verwendung von Schmiedeeisen angewiesen gewesen, jetzt wurde
die von Stahl allgemein. Ende der fünfziger Jahre war Eng-
land mit dem Bessemerverfahren vorangegangen, nach dem
geschmolzenes Roheisen in einem birnenförmigen Gefäß, dem Kon-
verter, unter Zuführung eines starken, durch die glühende Masse
gehenden, alle Verunreinigungen oxydierenden, entkohlenden Luft-
stromes gefrischt wird. Unter Zusetzung von stark kohlenstoff-
und manganhaltigem Roheisen wird das in der Birne gewonnene
Produkt zum Vergießen oder Verarbeiten endgültig brauchbar
gemacht.
Die aufzuwendenden Kosten waren bedeutend, da eine Anlage
mit zwei Birnen auf i Million Mark berechnet wurde, die da-
mals bei den schlechten Absatzverhältnissen nicht leicht zu be-
schaffen war. Der Verbrauch an Eisen, der 1873 in Deutschland
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck, ßjy
142 Pfennige auf den Kopf geschätzt wurde, betrug 2 Jahre
später 97,5 und 1878 sogar nur 73,4. Die kapitalkräftigen Eng-
länder hatten bereits ihre Stahlfabrikation ganz verneuzeitlicht,
als die Krise einsetzte. Sie konnten sie daher besser aushalten,
wenn sie auch ihrerseits zu Einschränkungen der Produktion ge-
zwungen waren.
Andere Neuerungen der Technik, wie das Martin-Ver-
fahren, in dem mit Hilfe der Siemens sehen Wärmespeicher
Roh- und Alteisen in einem Flammenofen zur Stahlgewinnung
verschmolzen werden können, kamen hinzu, wenn auch der Auf-
bau im großen erst einer späteren Periode angehört. Vertrauen
in die Zukunft mußte man haben, um die Umgestaltungen zu
wagen. Denn von 1873 bis Ende 1877 wurde folgende Preis-
minderung erlebt : In Tonne und Mark ging ordinäres westfälisches
Eisen von 120 auf 42 herunter, Spiegeleisen von 234 auf 66, deut-
sches Gießerei-Roheisen von 156 auf 60, westfähsches Stabeisen von
270 auf 122, Schienen und Bessemerstahl von 366 auf 128.
Da der Abschluß des geschäftlichen Niederganges nicht kam,
war es kein Wunder, daß die Fabrikanten immer mehr auf die
Sicherung des inneren Marktes drängten.
Es muß zugleich bemerkt werden, daß nicht alle Industrien
in dem Zentralverband vertreten waren. Ein Teil der Baumwoll-
weber und Drucker, die Messerschmiede in Solingen, die Klein-
eisen-Industriellen in Remscheid, einige chemische Gewerbe, die
Spitzen- und Weißwarenfabrikanten in Sachsen hatten sich auf
das Auslandsgeschäft eingerichtet und waren konkurrenzfähig ge-
blieben, besonders, soweit sie mit niederen hausindustriellen
Löhnen rechneten. Sie wollten nicht, daß sich Deutschland
mit ihren Absatzländern handelspolitisch veruneinige und diese
zu Gegenmaßregeln veranlasse. Ihr Ideal waren ihnen günstige,
dauernde Handelsverträge. Allein ihr Wunsch konnte nicht er-
füllt werden, solange das Reich keinen Tarif besaß, unter dem
ein Abschluß möglich war.
In dem deutschen Zollverein hatte die steigende und kauf-
kräftiger werdende Bevölkerung der Städte und Industriegegenden
die Preise landwirtschaftlicher Produkte gehoben. Als die Land-
renten zunahmen, erhob sich gegen die Beseitigung der Getreide-
zölle keine agrarische Gegnerschaft. Im Gegenteil, die ausführen-
den Landwirte fanden in dem Freihandel ihre Rechnung. Das
soziale System des Liberalismus mit der freien Bewegung der
Menschen und des Eigentums, dem Industrie und Handel sich
unschwer anpassen konnten, war der Landwirtschaft zwar zuwider,
solange indessen die Rente noch stieg, kam man über die durch
^l8 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
Erbteilungen und Kaufrestschilling zunehmende Verschuldung
noch leidlich hinweg. In der Nähe der Städte ließen sich Land-
stücke vorteilhaft verkaufen, wenn man Kapital brauchte, andere
Besitzer vermochten aus den guten Einnahmen zu sparen.
Nun trat um die Mitte der siebziger Jahre ein unerwarteter
Niedergang der Getreidepreise ein. Er war weltwirtschaftlicher
Art und nahm seinen Ausgang von der Weizenproduktion der
Vereinigten Staaten. Nach der Beendigung des Sezessionskrieges
war der Norden industriell rasch vorangekommen. Viele Eisen-
bahnen wurden mit eigenem Material gebaut und betrieben, er-
schlossen den Westen und erreichten die weiten Ebenen der Prärie-
staaten mit dem vortrefflichen, üppigen Boden, den der Redriver,
der Missouri, der Arkansas und der obere Mississippi durch-
strömen. Die Wirtschaftsstockung nach 1873 wütete mit beson-
derer Härte in den Oststaaten. Eine Folge war die Massenaus-
wanderung nach dem Westen, die unter Ausnutzung eines zweck-
mäßigen Aufteilungssystems des öffentlichen Landes auf neuen
Heimstätten eine verbreitete Farmeransiedelung schuf. Große
Weizenmassen strömten von hier aus in Chicago und New York
zusammen und nahmen den Weg nach Europa. Der amerikanische
Körnerbau wurde äußerst extensiv betrieben und brachte bei der
rücksichtslosen Ausschöpfung des an Kalk und Lehm reichen,
jungfräulichen Landes glänzende Erträge. Die Bahnverwaltungen
kamen durch Anlage von geeigneten Stationen den Farmern bei
der Abnahme der Ernte entgegen, die Schiffahrt auf den großen
Seen wurde rasch entwickelt, und Kanäle vermittelten den An-
schluß weiter nach dem Osten, die soziale Grangerbewegung
drückte die Eisenbahntarife, die Getreideelevatoren sortierten die
Ware nach Qualität und lagerten sie bequem für den Markt, die
Getreidebörse gab dem Verkäufer die leichte Verfügbarkeit über
die dort vorhandenen Mengen durch börsengängige Zertifikate.
Die amerikanische Weizenausfuhr hatte 1872 rund 7376000 Dop-
pelzentner betragen, 1875 hatte sie sich mehr als verdoppelt,
und 1880 fast versechsfacht.
Die Rückwirkung auf Deutschland war zuerst eine mittel-
bare. Die Landwirte verloren den französischen und englischen
Getreidemarkt. Auch die Viehausfuhr nach westlichen Ländern
ging zurück, als Schinken, Speck, Konserven für die Amerikaner
in großen Mengen auszuführen leicht wurde. Die steigende Be-
völkerung des Reiches hätte einen Ersatz des verlorenen Absatzes
in der heimischen Nachfrage bringen können, allein es dauerte
nicht lange, so erschien auch die amerikanische Ware im deut-
schen agraren Freihandelsgebiet. 1870 hatte dieses erst 0,085
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck. -j i g
Millionen Doppelzentner Weizen und 0,009 Mais davon empfan-
gen, 1879/80 sind die entsprechenden Zahlen 3,24 und 1,6.
Neben der Einfuhr aus Amerika wurde bald auch die von
Ungarn und Rußland lästig gefühlt, je mehr diese Länder sich
mit Getreidebahnen ausstatteten. Für 1880 gibt Jannasch fol-
gende Einfuhrziffer über die Prozente der Erzeugungsländer:
Weizen Roggen Gerste Hafer Mais
Österreich-Ungarn -37 9 68 35 5Y2
Rußland 24 62 10 56 1V2
Nordamerika ... 39 29 22 9 92
Obw^ohl je nach der heimischen Ernte und der Preisschwan-
kung auf dem Weltmarkt die Ausfuhr agrarischer Produkte aus
Deutschland nicht ganz eingestellt wurde, so war doch die Ein-
fuhr zu einer Mehreinfuhr geworden, und die sinkenden Preise
fingen an, die Landwirtschaft ernstlich zu beunruhigen. Für
Preußen alten Bestandes betrug der von J. Conrad mitgeteilte
Weizenpreis die Tonne von 1871 — 1876 235,6, 1876 — 1880 211,2.
Gleichzeitig sinkt der Roggenpreis zum Teil unter dem Mehr-
verbrauch von Weizen von 179,2 auf 166,4, der der Gerste von
170,8 auf 162, des Hafers von 163,2 auf 152,6. Eine verstärkte
Mehlausfuhr ist nicht die Ursache der zunehmenden Getreide-
einfuhr, da sie mit der Mehleinfuhr sich bilanziert. Die größere
Gersteeinfuhr hatte jedoch eine verstärkte Ausfuhr von Bier zur
Seite. 1870 waren 108852 Faß ins Ausland gegangen, 1877
I 682356.
Es war nur folgerichtig, daß sich die politisch führenden
Landwirte jetzt vom Freihandel abwandten und der Bismarckschen
Handelspolitik zustimmten. Der deutsche Landwirtschaftsrat war
1876 zwar noch für den Freihandel landwirtschaftlicher Produkte
eingetreten, 1878 verlangte er Zoll auf Öl, Spiritus, Zucker und
Mehl. . .-S:.^-
Der Wandel der Landwirte zum Schutzzoll wurde vor allem
durch die Steuer- und Wirtschaftsreformer vermittelt,
eine politisch konservative gegen Liberalismus und Kapitalismus
gerichtete Vereinigung, die Unterstützung des Handwerks, Feind-
schaft gegen „die Goldene Internationale" und gegen die Börse,
praktisches Christentum, d. h. Schutz der wirtschaftlich-sozialen
Schwachen, Gegnerschaft gegen hohe direkte Steuern, als ein
etwas buntes Durcheinander proklamiert hatte. Indem sie die
Erhöhung der Verbrauchssteuern und Zölle forderte, nannte sie
auch die Getreidezölle als Finanzabgabe, bald aber auch zum
Schutze der Landwirtschaft.
720 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
Der Zentralverband der Industriellen und die Wirtschafts-
reformer standen ursprünglich auf sehr verschiedenem Boden.
Nach und nach paßten sie ihre Programme aneinander an und
beschickten gegenseitig ihre Kongresse. Der Reichskanzler er-
mutigte das Vorgehen beider und wußte die Einigung zu fördern,
so daß er eine geschlossene Macht in ihnen zur Seite hatte.
In der Opposition standen die exportierenden Kaufleute, die-
jenigen Hamburgs und Bremens an der Spitze. Ihre gegen jede
Bedrückung des Außengeschäftes gerichteten Beschlüsse erman-
gelten der einheitlichen Beweisführung, in den Hansestädten auch
des Nachdruckes, da beide schon durch die Frage des Zoll-
vereinsanschlusses stark in Anspruch genommen waren. Gegen
die Zollreform machten auch die in Gewerkschaften und die in
der Sozialdemokratie zusammengefaßten Lohnarbeiter Front, ohne
in einem Reichstage ernstlich gehört zu werden, der das So-
zialistengesetz bewilligt hatte. Eine zielbewußte Gegnerschaft fand
der Kanzler in dem linken Flügel des preußischen Liberalismus,
in dem die Feindschaft der ehemaligen Fortschrittspartei gegen
den führenden Mann der deutschen Einheit wieder aufgelebt war.
Diese Richtung gab sich, wie ehedem, als Paladin für die Ver-
braucher aus und setzte sich wiederum aus Advokaten, Richtern,
Stadträten, Ärzten und Angehörigen anderer freier Berufe zum
guten Teil zusammen, und Bismarck hatte ihnen zugerufen: „Sie
säen nicht, sie ernten nicht, sie spinnen nicht." In die Gruppe
dieser Leute mit ihrer Besserwisserei und der Arroganz ihrer
Zungengeläufigkeit schien der negierende Geist des ehemaligen
I^artikularismus gefahren zu sein.
Auf handelspolitischem Felde unterlag diese Gegnerschaft
vollständig, einiger Erfolg war ihr auf dem finanzpolitischen be-
schieden, da sich hier das Zentrum mit ihr mehrfach vereinigte.
Das Tabakmonopel vermochte der Kanzler nicht durchzusetzen,
und die übrige an sich wertvolle Finanzreform wurde durch die
Frankensteinsche Klausel verzerrt, nach der alle Erträge,
die die Zölle und die neue Tabaksgewichtssteuer über 130 Millio-
nen Mark erbrächten, an die Einzelstaaten nach Maßgabe ihrer
Bevölkerung überwiesen werden. Diese „konstitutionelle Garantie"
des Einnahmebewilligungsrechtes — denn reichten die 130 Mil-
lionen dem Reiche nicht, so mußte der Überschuß von den Ein-
zelstaaten als Matrikularumlage zurückbewilligt werden — sah
ganz harmlos aus, aber die Praxis hat dann zu einer heillosen
Verwirrung des Reichs- und der bundesstaatlichen Etats geführt.
In guten Jahren wurden die Gliedstaaten vom Reiche gespeist,
die ihre Ausgaben dauernd auf diese Einnahme einrichteten. Nun
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck. -221
kamen schlechte Zeiten, in denen man den festgelegten Finanz-
bedarf nicht abändern konnte. Die Folge der deshalb möglichst
festgehaltenen Überweisungen war die Geldnot des Reiches, und
da die neuen Steuern auf Branntwein und Zucker und die Stem-
pelabgaben nicht genügten, wurden fortgesetzt Ausgaben, die in
das Ordinarium gehörten, auf das Extraordinarium gebucht, mit
anderen Worten, das Reich machte Schulden, die in den neun-
ziger Jahren auf einige Milliarden anwuchsen. Eine neue Fi-
nanzreform wurde notwendig und ist, als sie nicht mehr abzu-
lehnen war, in dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts,
nur unvollkommen gelungen.
Wir wenden uns jetzt zu den ersten Ergebnissen der Zoll-
reform und zu der Weiterbildung der handelspolitischen Gesetz-
gebung. Der Zollertrag, der 1878 nur 2,62 Mark auf den Kopf
der Bevölkerung ergab, stieg nach der Tarif reform 1880 auf 4,08,
1884 auf 5,04 und 1890 auf 7,86, als ein gutes Zeugnis für die
wachsende Kaufkraft des deutschen Volkes dem Auslande gegen-
über. Die Befürchtung der Gegner der neuen Wirtschaftspolitik,
der Rückgang des Außenhandels, war nicht eingetroffen, im Ge-
genteil, die Entfaltung der inneren Produktivkraft veranlaßte ver-
stärkten Außenhandel. Die Einfuhr im Spezialhandel, die 1880
auf 2,8 Milliarden Mark berechnet wurde, hob sich 1884 auf 3,2,
1890 auf 4,2. Die entsprechenden Ausfuhrziffern sind 3,09, 3,2, 3,4.
Um beide Werte zu verstehen, müssen wir die Tatsache der
gesunkenen Weltmarktpreise heranziehen. Von 1880 — 1886 steigt
z. B. die Einfuhr-Tonnenzahl bei Nahrungs- und Genußmitteln
und Rohstoffen, wie bei Fetten und Ölen und bei denen für die
Papierfabrikation, aber der Wertbetrag sinkt, in anderen Fällen,
wie bei dem Rohmaterial für die chemische, die Metall- und
Textilindustrie, gehen die Mengen der Einfuhr rascher als die
Werte in die Höhe. Daß sich die Einfuhr schneller hebt als die
Ausfuhr, ist dem Zollschutz gemäß, wenn man erfährt, daß nicht
die Einfuhr von Fabrikaten, sondern die von Verarbeitungsstoffen
die Zunahme erklärt. Die Einfuhr von Erz stieg von 1880 — 1885
von 659250 Tonnen auf i 041 647, die für die Textilindustrie von
342521 auf 461 172, für die chemische von 421779 auf 622664,
für das Ton- und Glasgewerbe von 645536 auf 776278 Tonnen.
Eine starke Ausfuhrzunahme kam erst, als der innere Markt ge-
sättigt war.
Der innere Fortschritt der Gütererzeugung, des Verkehrs
und des Verbrauchs läßt sich an Einzelheiten nachweisen. Der
Stein- und Braunkohlenverbrauch, der im Durchschnitt der Jahre
A.Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 21
322 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
1876 — 1880 50,9 Millionen Tonnen gewesen war, stand 1881 — 86
auf 65,7, 1886 — 1890 auf 80,8. Der Roheisenverbrauch ging in
den gleichen Perioden von 2,2 auf 2,3 und 4,2 in die Höhe,
der von Rohbaumwolle von 124549 Tonnen auf 152329 und
201 046.
Von 1881 — 1890 stieg die Arbeiterschaft im deutschen Stein-
kohlenbergbau von 186335 Köpfen auf 262475 oder 44,30/0, Seit
1888 hebt sich der Kohlenpreis, und die Arbeitslöhne folgen, wenn
auch zunächst in einem langsameren Zeitmaß. Deutschland hatte
1880 33838 Kilometer Eisenbahnen, 1890 42869, Preußen 1879
32 411 feststehende und 5536 bewegliche und 720 Schiffsdampf-
kessel, 1890 4853 bzw. 12822 und 2046. Die Übersicht über die
Ergebnisse der Reichsbank gibt die Umsätze 1879 ^^f 47,4, 1889
auf 99,7 Milliarden an, den Giroverkehr auf 30,4 und 75,6, die
ihr zur Verwahrung übergebenen Wertpapiere auf 785,9 und zwei
Milliarden Nominalbetrag. Die preußische Einkommensteuer-Ver-
anlagung, 1876 mit 1890 verglichen, bringt Einkommen bis 2000
Mark bei 8016809 bzw. 9612256 Zensiten, von 2000 Mark bis
6000 384248 bzw. 490541, über 6000 66319 bzw. 105095. Im
Königreich Sachsen lebten 1878 969289 Personen mit einem Ein-
kommen bis 2800 Mark, 1888 i 269 170; mit einem solchen von da
an bis 36000 37795 bzw. 52462, während ein Einkommen da-
rüber hinaus 436 bzw. 1018 hatten. In Hessen vermehrten sich
von 1878 — 1888 die steuerpflichtigen Personen bis zu einem Ein-
kommen von 2900 Mark um 79,830/0, und darüber hinaus um
130,010/0. Weitere ähnliche Ergebnisse liegen für die Hansestädte,
für Oldenburg und Altenburg vor. (Näheres Annal. d. D. R. 1893).
Der wachsende Wohlstand in der Bevölkerung mit 44,6 Millio-
nen 1879 und 1890 mit 49,2 läßt sich auch aus den Mengen
der verbrauchten Genußmittel ersehen. Der Kaffeeverbrauch mit
2,33 Kilogramm erhöhte sich auf den Kopf von 1876 — 1880 bis
1880 — 1885 auf 2,44, der von Kakaobohnen verdoppelte sich in
10 Jahren. Der Bierkonsum stieg von 1879 — 1890 von 82,8 auf
105,8 Liter, der von Südfrüchten von 0,61 auf 1,04 Kilogramm.
Die Geschäftsstockung war 1879 zu einem vorübergehenden
Abschluß gelangt. Zu einer allgemeinen Hochkonjunktur kam
es in den folgenden Jahren nicht. Schon 1882 hatten Nord-
amerika wieder einen Preisrückgang und Frankreich eine Krise.
Beides berührte die deutsche Ausfuhr und den Börsenstand. Am
ungünstigsten waren die Zustände in England, wo man von einem
Chronischwerden der Überproduktion sprach. Die Tage der großen
Geschäftsprofite, meinte Fr. Engels, seien für immer vorüber,
was freilich nicht eintraf. Deutschland hielt sich dank der
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck. 'XZX
Pflege der eigenen Volkswirtschaft vom weltwirtschaftlichen Ge-
triebe verhältnismäßig fern. Zwischen 1888 und 1890 erlebte es
eine kurze Hochkonjunktur, die in anderen Ländern wenig in-
tensiv oder gar nicht zur Erscheinung gelangte. Der große sä-
kulare Umschwung, der 1873 die Weltwirtschaft betroffen hatte,
war in Deutschland aus eigener Kraft zuerst national überwunden
worden, so daß es nach einigen Jahren wohl vorbereitet für eine
internationale Aufwärtsbewegung bereitstand. Die Periode von
1880 — 1890 ist ihm eine solche der inneren Ordnung, der Samm-
lung an Kraft gewesen. Die Früchte seiner Politik sah der
Reichskanzler reifen, ihre reiche Ernte erlebte er nicht mehr.
Große volkswirtschaftliche Aufgangszeiten sind noch niemals vom
Himmel gefallen.
Nur die deutschen Landwirte sagten vom neuen Zollschutz
unter dem Drucke der auswärtigen Konkurrenz: Was sind Hoff-
nungen, was Entwürfe? Im preußischen Staat betrugen die acht-
jährigen Durchschnittspreise in Mark und Tonnen:
Erntejahr
Weizen
Roggen
Gerste
Hafer
1868/69—1875/76
225
173
165
160
1877/78—1883/84
207
166
158
148
1884/85— 1891/92
181
156
148
142
Diejenigen Landwirte, die in der verschärften Agrarkrise
Fleisch und Milchprodukte neben Getreide auf den Markt brach-
ten, konnten darin keinen Ersatz finden, da sie bis in die
neunziger Jahre einer sinkenden Preistendenz auch hier gegen-
überstanden. So wird es verständlich, daß die Reichsregierung
jetzt mit stärkeren Schutzmaßregeln hervortrat. 1883 hatte sich
das preußische LandesökonomiekoUegium für erhöhten Zoll aus-
gesprochen, und der 15. und 16. Kongreß deutscher Landwirte
und der deutsche Landwirtschaftsrat hatten im gleichen Sinne
erklärt, daß eine erweiterte Viehzucht und der Mehranbau von
Handelsgewächsen nichts helfen könnten. 1885 stimmte die Reichs-
tagsmajorität der Erhöhung des Roggen- und Weizenzolles auf
30 Mark die Tonne zu, Hafer, Hülsenfrüchte, Gerste, Buchweizen
kamen auf 20 Mark, Malz auf 30, Mühlenfabrikate, die schon
seit 1881 eine Erhöhung genossen, auf 50. Es war dies nur
eine Etappe auf dem Wege nach vorwärts: 1887 erhalten Weizen
und Roggen 50 Mark, Hafer 40, Gerste 22,50 Schutzzoll.
Diese Steigerungen, an die sich auch solche für Holz, Vieh,
Fleisch, Branntwein, Wild und Honig anschlössen, waren zugleich
als handelspolitische Abwehrmaßregeln gegen Ungarn und Rußland
21*
-2 24 ^' Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
gedacht. 1881 war nach langem Verhandehi mit Österreich-Ungarn
ein reiner Meistbegünstigungsvertrag abgeschlossen worden, allein
reiner Meistbegünstigungsvertrag abgeschlossen worden, allein
schon im folgenden Jahre hatten die österreichischen Industriellen
Gnade vor den Augen ihrer Regierung in einer Zollerhöhung
gefunden. Die Antwort deutscherseits war der agrare Tarif von
1885, und als 2 Jahre darauf die Donaumonarchie noch ein-
mal nach oben ging, man auch Getreide-, Mehl- und Viehzölle
gegen Rußland und die Vereinigten Staaten für notwendig hielt,
wurde das Gesetz von 1887 erlassen.
In Rußland war man schon über die geringen AgrarzöUe
von 1879 empört gewesen und hatte nicht geglaubt, daß das
Reich eine solche handelspolitische Selbständigkeit zeigen werde.
Viermal bis 1890 wurde der Zollsatz erhöht, und Zuschläge für
verschiedene Waren, die aus Deutschland kamen, zeigten deut-
lich das Motiv dieser Maßregeln. Daneben wurden große An-
strengungen gemacht, den russischen Handel von der Vermitt-
lung der deutschen Ostseehäfen frei zu machen. Die russischen
Hafenplätze wurden ausgebaut und die Ausfuhr möglichst über
das Schwarze Meer, Schweden und Norwegen geleitet. Außer
den Zollgesetzen von 1885 und 1887 bediente sich das Reich
hiergegen einer Erschwerung der Spirituszufuhr und der Seuchen-
gesetze gegen verdächtiges russisches Vieh. Das Verbot der Be-
leihung russischer Staatspapiere durch die deutsche Reichsbank
kann ebenfalls zu den handelspolitischen Retorsionen mittelbar
gerechnet werden, obwohl mit der dadurch erzielten Schädigung
des russischen Staatskredites zunächst ein Druck auf die Werbe-
tätigkeit einflußreicher panslawistischer Kriegshetzer ausgeübt
werden sollte.
Auch die deutschen industriellen Schutzwehren wurden, be-
sonders in der Novelle von 1885, verschiedentlich umgebildet.
Die Eisen- und Stahlerzeugung wurde nicht berührt. Die Textile
erhielten Zuschläge, die Garnzölle wurden feiner abgestuft. Lichte,
Steinmetzarbeiten, Schieferplatten, Strohwaren, Phosphorzünd-
hölzchen, diese auch, um den Fabrikanten die Ausführung gesund-
heitspolizeilicher Vorschriften zu ermöglichen, wurden günstig
bedacht.
Die deutsche Handelspolitik war bis zu Bismarcks Ent-
lassung in der Hauptsache autonom, das heißt, gegen alle Län-
der gleichmäßig gerichtet. Die zahlreichen bestehenden Handels-
verträge oder auch die neuen, z. B. 1880 mit China, mit Belgien
1881 und wiederum mit Mexiko, dessen Abneigung gegen Europa
seit der Intervention Napoleons nur mit großer Schwierigkeit
durch den damaligen Gesandten von Schlözer zuerst 1870
VI. Die Handels- und Finanzpolitik des Fürsten von Bismarck, ^25
Überwunden worden war, kannten nur die Meistbegünstigung, wie
sie auch in England, Frankreich und Österreich Rechtens war.
In dem Vertrage mit Italien von 1883 waren einige Sätze unter
Ermäßigungen gebunden worden, ebenso in dem mit Spanien und
Griechenland. Am weitesten war das System gegenseitiger Zu-
geständnisse in dem Abkommen mit der Schweiz 1888 getrieben
worden. Deutschland gewährte 12 Milderungen und band sich
mit 19 der bestehenden Zölle, während der Gegenkontrahent 15
Sätze erleichterte und 2 band. Rechtlich hatten hiervon alle
Meistbegünstigten den Mitgenuß, doch war die spezielle Aus-
wahl von deutscher Seite so vorsichtig getroffen worden, daß sie
vorwiegend den Schweizern von Nutzen wurde.
Von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit für Deutschlands
Außenhandel und sonstiger Stellung in der Weltwirtschaft war
es, daß es nach langen Verhandlungen dem Reichskanzler ge-
lang, Hamburg und Bremen in die deutsche Zollinie einzu-
beziehen und damit ein unerträgliches Überbleibsel staatsrecht-
lichen, egoistischen Partikularismus zu beseitigen. Die Reichsver-
fassung bestimmte in Artikel 34: „Die Hansestädte, Bremen und
Hamburg, mit einem dem Zweck entsprechenden Bezirke ihres
und des umliegenden Gebietes bleiben als Freihäfen außerhalb
der gemeinschaftlichen Zollgrenze, bis sie ihren Einschluß in die-
selbe beantragen". Die Auslegung des Artikels war zweifelhaft.
Von der einen Seite wurde in ihm nur ein vorübergehendes Ein-
lenken auf den Wunsch der Städte, Freihäfen zu bleiben, ge-
sehen, von der anderen ihr ewiges Belieben, außerhalb der Zoll-
linie zu verharren. Bestritten war ferner, wie groß das Frei-
hafengebiet zu sein habe. Es wurden zu dem Hamburger Altona
und einige kleine Gemeinden gerechnet, welche Orte seitens des
Reiches de jure jeden Tag ausgeschieden werden konnten. Außer-
dem hielt sich das Reich für berechtigt, die Zollerhebung von
Hamburg an die Eibmündung verlegen zu dürfen, um den freien
Verkehr vom hannoverschen zum holsteinischen Eibufer zu be-
sitzen. Damit würde die Hansestadt vom Meere unmittelbar ab-
geschnitten gewesen sein. So hatte der Kanzler Pressions-
mittel in der Hand, um die widerspenstigen Freihändler der wirt-,
schaftenden Reichseinheit zu unterwerfen. Doch hat er den Ver-
fassungskonflikt im Geiste der deutschen Sache vermieden und
unter entschlossener Verhandlung den Gegnern des Werkes eine
goldene Brücke gebaut. 1881 wurde der Vertrag unterzeichnet,
nach dem Hamburg 1888 in die ReichszoUinie eingegliedert wurde.
Für den Zwischenhandel und die Anlage bestimmter Industrien,
namentlich des Schiffsbaues, erhielt es einen Freihafen mit ent-
"^20 V. Abschnitt, Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
sprechenden Speichern und Kais, zu deren Aufführung das Reich
40 Millionen Mark beisteuerte. 1885 wurde auch Bremen ökonomisch
einverleibt und für Bremerhafen eine Freizone nebst freien Petro-
leum-Lagerplätzen zugestanden.
Die geschäftliche Entwicklung beider Städte war nach In-
krafttreten der Verträge eine glänzende, die Hafeneinrichtungen
waren mustergültig und mußten später bei der Verkehrszunahme
erweitert werden. In Hamburg schlug bald die Abneigung gegen
den Reichskanzler in heiße Bewunderung um, und ihm, der in
der Nähe der Stadt in der Friedrichsruher Grabstätte ruht, wurde
dem Freihafen gegenüber ein herrliches Denkmal, das den größten
deutschen Staatsmann des Jahrhunderts in seiner Charakterfestig-
keit und seelischen Kraft versinnbildlicht, gesetzt.
Der Hamburger Bürgermeister O'Swald, der 191 2 von
seinen Ämtern zurücktrat — so schreibt Th. Hansen — , nach-
dem er 43 Jahre dem Senat angehört hatte, und der, wie kein
anderer, berufen war, ein Urteil über den Zollanschluß abzugeben,
erklärte: „Von allen Einrichtungen, die geschaffen worden sind,
ist und bleibt der Zollanschluß doch immer das für die Hamburger
Entwicklung bedeutungsvollste Werk. Ohne den Anschluß würde
Hamburg nie die Bedeutung gewonnen haben, nie den Aufschwung
genommen haben, auf den wir heute mit Stolz und Genugtuung
zurückblicken".
Das Fernbleiben der Hansestaaten vom Zollverein war eine
Anomalie gewesen, die in das Leben und Weben auf dem deutschen
Staats- und Wirtschaftsgebiete eine mißverstandene Sonderberück-
sichtigung eingekeilt hatte. Die Städte gehörten zum Reich und
wollten handelspolitisch so stehen wie einst im Deutschen Bunde,
in dem jeder nur für sich zu sorgen gewohnt war. Der Bevölke-
rung behagte es, ihr billiges Leben unter dem Freihandel fortzu-
setzen, zumal sie das Aversum als Abgabe an das Reich nicht
drückte, solange dessen Finanzpolitik so wenig ausgebildet war.
Das wurde seit 1879 anders. Die Abfindungssumme stieg und
mußte mit direkter Steuer daheim aufgebracht werden. Die Zoll-
reform mit ihrem erhöhten Tarif machte eine strengere Aufsicht
der Einfuhr nötig, wodurch dem Verkehr der Städte mit dem
Binnenlande ein Hemmschuh angelegt wurde. Die Kaufleute oppo-
nierten gegen den Anschluß trotzdem, weil sie fürchteten, ihren
Zwischenhandel mit dem Auslande zu verlieren, den sie irrtümlicher-
weise höher einschätzten als den direkten überseeischen mit den
Waren des großen Hinterlandes. Die Wünsche der Industriellen
wurden vom Handelsstand gering geachtet, während gerade die An-
lage gewerblicher Unternehmungen nahe dem Verschiffungsort der
VH. Die Reicbssozialpolitik. ■227
Waren gewinnbringend werden mußte. Sie waren auf Zollschutz ge-
richtet, wenn sie auch auf dem inländischen Markte verwirklicht wer-
den sollten. Für die sonstige deutsche Industdie und für die Landwirt-
schaft war es unverständlich, daß eine Bevölkerung von mehr als
600000 Seelen keine Käufer ihrer Produkte zu sein brauchten und
nach Belieben im Auslande Ersatz suchen konnten. Der Übersee-
Ausfuhrhandel mußte ein organischer Teil der deutschen Volks-
wirtschaft werden, wenn er seine nationale Aufgabe erfüllen sollte.
Der merkantile Einfluß Englands auf die Städte war endlich zu
beseitigen, wenn Deutschland seine internationale Stellung zu einer
bedeutsamen gestalten wollte. Mancherlei ausländische Geschäfts-,
Rechts- und Zahlungsgebräuche, sogar Sitten und Anschauungen
blieben trotzdem fortbestehen. Erst mit dem Weltkrieg wurden
die Bürger, die mit niedersächsischer Zähigkeit am Alten festge-
halten hatten, dessen sich voll bewußt, welcher Feind der Brite
ihnen gewesen war und noch ist, und wenn sie sich auch schon zu
Bismarcks Zeiten darauf besonnen hatten, daß der Geist der alten
Hansa nur als ein rein deutscher wieder belebt werden könne,
bedurfte es erst noch der schlimmen Erfahrung, um diese Über-
zeugung zum Gemeingut aller zu machen.
VII. Die Reichssozialpolitik. Die sozialistische Ar-
beiterpartei stand nach dem Einigungskongreß zu Gotha gestärkt
im Zeichen des hoffnungsfrohen Radikalismus. Ihre Presse, die
Führer und Versammlungsredner begnügten sich mit der Anprei-
sung und Begründung des weitgehenden Programmes nicht. Sie
wetteiferten darin, alle Einrichtungen der bestehenden Gesellschaft
und des Staates in der schamlosesten Weise herunterzureißen und
den gewaltsamen Umsturz zu predigen. Mit immer nagendem Neid
und grimmigem Haß sollten die Arbeitermassen gegen die Be-
sitzenden und Regierenden erfüllt werden. Alle Beamten sind nach
diesem System servile Hoflakaien, die Ärzte leugnen die Arbeiter-
berufskrankheiten und den Hungertyphus in Schlesien in bewußter
Lüge, Lehrer und Universitätsprofessoren sind devote Stellenjäger,
die Geistlichen und die bürgerlichen Politiker Betrüger, die Unter-
nehmer Blutsauger, die schwache Kinder und schwangere Frauen
zur Arbeit treiben, um ihre Orgien der Genußsucht zu befriedigen,
der Handel schachert mit Blut und Gut des in bescheidener De-
mütigkeit gehaltenen Volkes.
Der ungebildete Arbeiter nahm alles für reine Wahrheit, da
er nichts anderes lesen oder hören durfte als das, was die ge-
wissenlosen Hetzer ihm zu bieten für gut befanden. Der mehr Ver-
ständige belachte vielleicht nur die Paradoxe oder die Übertrei-
ß28 V. Abschnitt, Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
bungen, wenn der Artikel geschickt abgefaßt war, aber — „semper
^liquid haeret".
So entstanden Erbitterung und Verrohung in einer großen
Menschenklasse. Vorbedingungen dazu waren in einer haltlosen
Lebensführung gegeben. Daß eine gewerbliche Lohnarbeiterschicht
losgelöst von allen Idealen der Vergangenheit, „die der Proletarier",
in wenigen Jahrzehnten, also außerordentlich rasch, geschaffen
wurde, ist in einem früheren Kapitel berichtet worden. Sie genoß
jetzt die soziale Freiheit, wie sie die Gewerbeordnung ausge-
sprochen hatte, und noch mehr, es war ihr in dem Reichstags-
wahlrecht eine weitgehende politische Betätigung zuerkannt wor-
den. Beides war so schnell gekommen, daß der rechtlichen Be-
seitigung alter Abhängigkeit und Gebundenheit eine individuell
moralische Selbstdisziplinierung nicht zur Seite stand. Die
meisten wußten nicht, was sie mit der geschenkten Freiheit machen
sollten und folgten blind den Demagogen. Das allgemeine Stimm-
recht habe, so schrieb 1878 Ludwig Bamberger, genau wie
eine Ermunterungsprämie zur Ausbreitung sozialistischer Lehren
gewirkt. Durch die Einteilung des Reiches in Wahlbezirke habe
der Staat ebensoviele Standquartiere der Sozialdemokratie formiert
und durch regelmäßig wiederkehrende Wahlen dafür gesorgt, daß
die Mannschaften unausgesetzt in Übung blieben. Seit mehr als
40 Jahren hatte der extreme Liberalismus, dem Bamberger ange-
hörte, sein Wesen in deutschen Landen getrieben. Elemente, die
in seinem Parteigetriebe nicht hochkommen konnten, fielen dem
vierten Stande anheim und machten damit das Wort ebenso wahr,
daß die bürgerliche Demokratie die soziale erzeugt, wie daß der
in jener steckende Individualismus logischerweise seine Forderung
von einer früher revolutionären Klasse zu einer späteren über-
tragen habe.
Ein neues, ungebildetes, auftrumpfendes Bürgertum, das un-
erwartet schnell reich geworden war, hob sich von dem alten so-
liden unangenehm ab. Häßliche Großstädte mit Mietskasernen und
Hinterhäusern waren gebaut worden, rohes Genußleben in Ver-
bindung mit allen Arten von Lastern machte sich seit der Gründer-
zeit besonders in Berlin breit.
Die allgemeine internationale Verkehrsstockung brachte ein
rasches Sinken der Löhne nach hohem Aufsteigen. Arbeitslosig-
keit, verlorene Ausstände waren ein günstiges Milieu für den Ar-
beiterführer, sich Ansehen zu verschaffen. Es kam jetzt darauf an,
die Marxsche sozialökonomische Betrachtungsweise möglichst in
alle Gebiete der menschlichen Lebensbestimmung hineinzutragen,
alle Schäden der Gesellschaft dem Kapitalismus aufzubürden, eine
VII. Die Reichssozialpolitik. 220
allgemeine Welt- und Lebensanschauung für den Lohnarbeiter zu
konstruieren, die ihm bei dem Klassenkampf nützen sollte. Es
wurde eine „materialistische" Geschichtsauffassung für die Massen
zusammengeklittert, die den Atheismus schon aus Haß gegen die
Kirchengewalten proklamierte. Wirkungsvoller war es, alle be-
stehenden Zustände, den Staat, die Ehe, die Moral, die Kunst, die
Wissenschaft, als bourgeoismäßig zu denunzieren. Der Sozialist be-
kämpft das Kapital, also auch alles, was angeblich ihm gehorsam
dient, die Geistlichkeit jeder Konfession und die Philosophie der
Universitäten, den historisch gewordenen Staat, der nichts als ein
Ausschuß der herrschenden Klasse zur Verwaltung ihrer Ange-
legenheiten sein soll, die Ehe, in der das Weib geknechtet ist,
nachdem sich die Männer in den ausschließlichen Besitz der Wirt-
schaftsmittel gesetzt haben. Die ganze Weltgeschichte mußte öko-
nomisch erklärt werden; die solonische Verfassung wie die Kreuz-
züge, der Untergang des Römerreiches wie die französische Revo-
lution, die Neugründung des Deutschen Reiches wie die italienische
Renaissance.
Für den Arbeiter hatte die sozialistische Literatur jener Tage
etwas Imponierendes an sich. Sie war nicht ungeschickt dem speku-
lativen Denken des deutschen Geistes angepaßt, dem es eigen ist,
alles geschlossen auf eine Einheit zurückzuführen. Der Kommu-
nismus, heißt es, entwickelt sich vor unseren Augen mit Notwendig-
keit aus den sich wandelnden ökonomischen Verhältnissen. Den
Übergang habe der Arbeiter bewußt zu erleben, aber auch ihn zu
beschleunigen. Daher sind alle geistigen und sittlichen Kräfte der
Nation, soweit sie nicht in dem Proletariat und in den Arbeiter-
führern verkörpert sind, herabzuwürdigen, zu untergraben. Was
ist denn die Nation, wurde gefragt. Antwort: Alle Reichtümer ge-
hören einigen 10 000 Kapitalisten, die die ganze Erde zwangsweise
in Abteilungen zerlegt haben, um das Volk mittels der erfundenen
Staatsmaschine besser unterdrücken zu können. Diese Abteilung
ist die Nation. Ist der Kapitalismus vernichtet, so auch der Staat
und die Nation. Der ewige Friede in der Internationalität der
Arbeiter wird der Zertrümmerung folgen. Merkwürdigerweise
wollte man zugleich den Darwinismus nicht preisgeben, weil man
mit ihm die Dogmen des Christentums und der Kirche zu zerstören
hoffte. Nun schrieb man schöne Broschüren, um Sozialismus und
Daseinskampftheorie zu vereinigen. Eine harte unfruchtbare Nuß,
aber was vermag man nicht alles zu knacken, wenn es darauf an-
kommt, zur Macht zu gelangen.
Solange Marx und Engels in London dirigierten, wurde
dem Arbeiterevangelium immer neue Nahrung zugeführt. Es blieb
770 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
leidlich frisch, und die Nachbeter in Deutschland hatten immer
genug zu tun, aus der Wissenschaft jener Männer eine Religion
und aus dem eigenen Glauben eine Wissenschaft zu machen.
Wollten die deutschen Regierungen dieser Staats- und vgesell-
schaftsfeindlichen Macht entgegentreten, so mußten sie die Agi-
tation in den großen Städten unterbinden, wo sie ihren Schwer-
punkt hatte. Die geistige Quelle im Auslande konnten sie nicht
verstopfen, wo sie von den Engländern mit der nicht ganz auf-
richtigen Phrase des Schutzes politischer Flüchtlinge gedeckt war.
Hier auf der Insel hatte der Marxismus nur wenig Boden fassen
können, man ließ ihn gewähren, da er ein ganz gutes Mittel schien,
den nationalen Gedanken in Deutschland zu schädigen. Hier er-
klärte man in gebildeten Kreisen, daß man den theoretischen In-
halt des Sozialismus mit geistigen Waffen zu bekämpfen habe.
Das war an sich richtig, und es hat daran auch nicht gefehlt^
Die Kritik erreichte indessen den Arbeiter vorläufig nicht, bis sie
die sogenannten Revisionisten der sozialistischen Partei aufgriffen
und einiges weitergaben. Wenn jemand hätte glauben wollen, daß
damit der Weg zur Arbeiterreformpartei angebahnt worden wäre,
würde bitter enttäuscht gewesen sein. Es erschien im Verlaufe der
Zeit nur zweckentsprechend, den agitatorisch aufgebrauchten Kom-
munismus etwas weniger und die radikale Demokratie mehr zu be-
tonen. Dazu mußte man aus den nebelhaften Höhen der Marx-
schen Dialektik in die Arena des wirklichen politischen Lebens
hinabsteigen, wo man den Massen greifbare Vorteile zu versprechen
hatte.
Die Streitigkeiten in der sozialdemokratischen Partei wurden
von ihren Gegnern damals viel zu ernst genommen. Oft waren es
nur Angelegenheiten der persönlichen Führerschaft und des Ehr-
geizes neuer Männer, welche die Wortstürme hervorriefen. Denn
das ist ja die geschichtlich längst erwiesene Eigenschaft aller
demokratischen Bewegungen, daß die launenhafte Volksgunst ihre
Liebhaber wechselt, an denen daher nie ein Mangel zu sein pflegt,
und die die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen immer findig sein
müssen.
Die staatliche Bekämpfung der sozialdemokratischen Auf-
wiegler und Verleumder begann mit einer Strafgesetznovelle, die
in der Reichstagssession 1875/76 von der Regierung vorgelegt
wurde und ganz allgemein jeden mit Gefängnis bedrohte, der /die
Klassen der Gesellschaft öffentlich gegeneinander aufwiegelt und
ebenso die Einrichtungen der Ehe, der Familie und des Eigen-
tums durch Rede und Schrift angreift. Der Reichstag stimmte
diesem etwas vagen Entwurf nicht zu. Ende März wurde die Ar-
VII. Die Reicbssozialpolitik. 21 j
beiterpartei wegen Zweigvereinsbildung in Preußen aufgehoben.
Sie hielt daraufhin ihren Kongreß, um die Reichstagswahl von
1877 vorzubereiten, die ihr 493258 Stimmen, d. h. 9,130/0 von allen
abgegebenen brachte, in Gotha ab. Zwei Mandate wurden der
Fortschrittspartei in Berlin entrissen. Am 11. Mai 1878 ereignete
sich das gegen Kaiser Wilhelm gerichtete erfolglose Attentat des
Klempnergesellen Hödel, für dessen Tat überall im Reich die maß-
lose sozialistische Auf reizung verantwortlich gemacht wurde. Durch-
aus mit Recht, da der Verbrecher alle seine Anschauungen aus
dem Umkreis der sozialistischen Gehässigkeit empfangen hatte,
als wenig urteilsfähige Persönlichkeit der radikalen Suggestion
verfallen war. Die Partei, welche täglich die Theorie predigte,
daß die Klasse alles sei und der Einzelne nur den Klassengeist
atme, vermochte diesen Mann, wenn sie ihn auch einen Anarchisten
nannte, nicht von sich abzuschütteln. Der Sturm der Entrüstung
war so groß, daß die Reichsregierung alsbald zur Abwehr sozial-
demokratischer Aufreizung dem Reichstag einen Gesetzentwurf vor-
legte, nach dem Vereine, die die Ziele der Sozialdemokratie ver-
folgen, vom Bundesrat für das Reichsgebiet verboten werden kön-
nen, doch sollte jedes Verbot außer Kraft gesetzt werden, wenn
nachträglich die Volksvertretung nicht einverstanden wäre. Dieses
erste Sozialistengesetz, das auch der Polizeibehörde größere Be-
fugnisse zur Auflösung sozialistischer Versammlungen gewährte,
wurde, obwohl es nicht besonders scharf war, nicht angenommen.
Da erfolgte das Attentat Nobilings am 2, Juni mit schwerer Ver-
wundung des Kaisers. Die neue Erregung in ganz Deutschland
war ungeheuer, der Reichstag wurde aufgelöst, und das zweite,
weit schärfere Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen
der Sozialdemokratie bewilligte der neugewählte Reichstag mit
großer Majorität. Vereine, Druckschriften und Versammlungen,
die sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische, auf der
Untergrabung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung
gerichtete Bestrebungen verfolgen, sollen durch die Landes-
polizeibehörden verboten werden. Daneben kann über bestimmte
Orte der sogenannte kleine Belagerungszustand verhängt wer-
den, nach dem Versammlungen nur mit Genehmigung der Polizei
stattfinden dürfen und Ausweisungen zulässig werden.
Das Gesetz war ein Ausnahmegesetz und wurde als ein sol-
ches begründet. Denn die Sozialdemokratie habe dem Staat und
der Gesellschaft offen den Krieg erklärt und deren Zerstörung als
ihr Endziel hingestellt, sie habe damit selbst den Boden des für
alle gleichen Rechtes verlassen und könne sich deshalb nicht be-
schweren, wenn ihr derselbe nur insoweit zugestanden werde, als
222 ^* Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
es mit der Sicherheit und Ordnung im bestehenden Staate verein-
bar sei.
Es ist demnach die Pflicht des Staates, die sozialistische Agi-
tation zu unterdrücken. Gleichzeitig betonen jedoch die Motive,
daß die staatliche Gewalt nicht völlig ausreichend dazu sei. Sie
bedürfe vielmehr als Ergänzung der tätigen Mitwirkung aller er-
haltenden Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, um durch Be-
lebung der Religiosität, durch Aufklärung und Belehrung, durch
Stärkung des Sinnes für Recht und Sitte, durch zozialwirtschaft-
liche Reformen die Wurzeln des Übels zu beseitigen.
Bis 1886 wurde das Verbot des ferneren Erscheinens und
Vertreibens von 83 inländischen und 19 ausländischen periodischen
Druckschriften ausgesprochen. Dazu kam dasjenige zahlreicher
Broschüren, Bücher, Flugblätter. Bis 1888 waren im ganzen 1299
Bekanntmachungen gegen Drucksachen erlassen worden. 246 Ver-
eine, darunter 17 gewerkschaftliche Zentralverbände, wurden auf-
gelöst. Die Gesamtzahl der Ausweisungen in 10 Jahren war 893,
die Freiheitsstrafen sind auf 611 Jahre, 6 Monate und 23 Tage
Straf haft pnd 119 Jahre, 5 Monate und 13 Tage Untersuchungshaft
berechnet worden.
Eine erhebliche gewerkschaftliche Organisation
ist dem Sozialistengesetz nicht zum Opfer gefallen. Die Hirsch-
Dunckerschen Vereine wurden nicht berührt. Die sozialistischen,
die wiederholt als gewaltige Macht ausposaunt worden waren^
hatten 1877 nach einer privaten Statistik 49055 Mitglieder, die
geringe Beiträge leisteten und nur über ein unvollkommenes
Kassenwesen verfügten. Der starke Verband der Buchdrucker hielt
es für angezeigt, sich selbst aufzulösen, um sein Vermögen sicher-
zustellen, obwohl er der Sozialdemokratie nicht direkt angehörte.
Vier Verbände der älteren zentralisierten Gewerkschaften bestanden
fort, ebenso eine Anzahl lokaler Fachvereine, die als politisch un-
verdächtig galten.
Der Koalitionsgedanke war bei denen, welche seine Macht in
Streiks und Lohnforderungen erprobt hatten, keineswegs > ver-
nichtet worden. Durch die Gewerbeordnung war er für die ge-
werblichen Arbeiter zudem sanktioniert. Ihn wollte das Sozia-
listengesetz nicht treffen.
Die bestehende öffentliche Organisation der Sozialdemokraten
war gebrochen, an die Stelle trat bald eine geheime, die rasch er-
starkte. Denn während bei der Reichstagswahl von 1881 311 961
sozialistische Stimmen abgegeben worden waren, brachte das Jahr
1884 549990 und 1887 763128. Die Zahl der Mandate war dem
nicht entsprechend, darauf kam es auch der Agitation jetzt nicht
VII. Die Reichssozialpolitik. 33 i
an, da sie auf einen politischen Einfluß nicht zu hoffen wagte.
Vielmehr sollten die gestatteten Wählerversammlungen an erster
Stelle zur Verbreitung der sozialistischen Lehre dienen und durch
das Anschwellen der Zahl der Wahlstimmen ängstliche Gemüter
geschreckt werden.
Nach der Auflösung der Gewerkschaften entstanden auf Grund
des Koalitionsrechts zahlreiche Fachvereine, lokale Interessenver-
bände ohne feste Organisation, z. B. der Metallarbeiter, Tischler,
Bauhandwerker. Offiziell wurden in ihnen nur gewerbliche Fragen
behandelt, überall waren Sozialdemokraten dabei, es erschienen
hier bekannte Führer der Partei auf ihren Rundreisen durch
Deutschland, so daß diese Zusammenkünfte bald Tummelplätze der
Propaganda wurden. Die Mitgliederzahl der Fachvereine schwoll
vor den politischen Wahlen plötzlich an, und etwaige Ausstände
dieser Vereine boten die beste Gelegenheit, den erhitzten Ge-
mütern die Notwendigkeit zu beweisen, sich der sozialdemokra-
tischen Partei anzuschließen.
Auch die Gewerkschaften traten bald wieder hervor. Zuerst
gelang es den Buchdruckern, geduldet zu werden, dann folgten die
Hutmacher, Bildhauer, Zimmerleute, Tischler. Dazu kam die Aus-
breitung der freien Hilfskassen, die den berufsgenossenschaftlichen
Geist pflegten und somit Vorstufen zu neuen Gewerkschaften wur-
den. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ist die Mitglieder-»
zahl rasch gewachsen, denn auf dem ersten Gewerkschaftskongreß
in Halberstadt, nach der Beseitigung des Sozialistengesetzes im
Jahre 1892, vertraten 208 Abgeordnete 305519 zahlende Genossen.
Woher kam nun die Duldung der neuen Bewegung, obwohl
der Kampf gegen die Sozialdemokratie mittels der Polizei heftig
weitergeführt wurde? Die Anschauung hatte sich immer mehr
Bahn gebrochen, daß die Sozialpolitik, wie sie die Reichs regierung
mit der Arbeiterversicherung anstrebte, nur fruchtbar sein werde,
wenn die Arbeiter ihr nicht gleichgültig gegenüberständen, son-
dern den guten Willen hätten, ihrerseits zum eigenen Wohle mit-
zuwirken. Es kam also darauf an, den Geist der Gemeinsamkeit
im Praktischen zu pflegen, und wo hätte das besser als in berufsi
genossenschaftlichen Verbänden geschehen können? Die christ-
lich-soziale Partei war sogar mit dem Wunsche nach obligato-
rischen Fachgenossenschaften hervorgetreten.
Zudem mußte die Regierung logischerweise der Verbindung
von Arbeitern zur Erreichung wirtschaftlicher Vorteile zustimmen,
da sie die Hebung der Arbeiterklasse selbst in die Hand zu
nehmen gedachte. Endlich glaubte man in den Gewerkschaften,
die Vermögen ansammelten, Führer für den wirtschaftlichen Kampf
^^A V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
ausbildeten, ihr Denken der gegenwärtigen und nicht einer uto-
pischen Besserung der Lage der Arbeiterklasse zuwandten, ein
Mittel, der Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln zu nehmen,
zu besitzen.
Gleichzeitig sollte jeder politischen Agitation in den neuen
Verbänden mit aller Strenge begegnet werden. So geschah es,
daß man die Gewerkschaften mit ihrer Ausbreitung gut hieß, sie
aber ohne Unterschied in ihren eigenen Handlungen polizeilich
drangsalierte. Das führte zur Erbitterung, und wie hätte man
dieser arbeiterseits einen besseren Ausdruck verleihen können, als
daß man sich erst recht der Sozialdemokratie anschloß.
Dazu kam, daß die berufsmäßigen Politiker der Partei ebenso
wie in den Fachvereinen auch hier ihre Hand im Spiele hatten!,
Nach außen hin sahen die neuen Verbände harmlos aus oder fuhren
gar unter falscher Flagge, aber bei jedem Streik wurde die Un-
zufriedenheit geschürt, was um so besser gelang, als die Aus-
stände meist erfolglos waren. Dann wurde der Regierung die
Schuld des Mißlingens beigemessen, die um so leichter geglaubt
wurde, als der unklare und daher wirkungslose Puttkamer-
sche Streikerlaß von 1886 zwischen der erlaubten und nicht er-
laubten Ausübung des Koalitionsrechtes eine Unterscheidung zu
machen suchte.
Die Fach- und Gewerkvereine waren, obwohl der sozialdemo-
kratische Gedanke hier reichliche Nahrung fand, formell nur ein
loser, durch einzelne Personen vermittelter Anhang der Partei. In
allen großen Industriestädten, z. B. in Frankfurt a. M., Darmstadt,
Hanau, Offenbach, Mainz, bestanden für diese selbst geheime Ver-
eine mit Unterabteilungen, die bestimmte städtische Bezirke um-
faßten. Sie wurden von einer Geschäftskommission geleitet und
durch eine Zentrale, die vermutlich in Berlin war, zusammen-
gehalten. Die Aufgaben der Geheimorganisation waren Wahl-
agitation, Verbreitung des sozialistischen Gedankens auch auf das
Land und in der Armee, Verstärkung der Organisation durch Bil-
dung neuer Geheimvereine, Fachvereine, Gewerkschaften. Alle Ver-
handlungen wurden mündlich erledigt, es gab keine Statuten, keine
Mitgliederlisten, keine Abrechnung. Briefe und Quittungen wurden
verbrannt, nachdem von ihnen die verantwortlichen Leiter Ein-
sicht genommen hattten. Man benutzte ein Geldbeitragssystem mit
Marken, welches der Polizei die Namen der Mitglieder verdeckte
imd jedem die Gewähr gab, daß, wenn er für die erhaltene Marke
Geld gegeben hatte, dieses auch der Parteiführung zufloß.
Die Presse hatte zwei Formen, erstens die gemäßigten kleinen
Arbeiterblätter, die sich der Angriffe gegen die Regierung ent-
VII. Die Reichssozialpolitik. 77c
hielten, aber doch Nachrichten aus dem eigenen Lager zur Orien-
tierung der Genossen brachten und in ihrer „politischen Über-
sicht" der Propaganda Raum gaben; zweitens die verbotene, ■ meist
im Auslande, erst in Zürich, dann in London erscheinende, die
teilweise in geschlossenen Kuverts an sogenannte Deckadressen
ging, teilweise in Paketen imd Ballen als Ware, z. B. als Kinder-
mehl aus der Schweiz, importiert wurde. Der „rote Postmeister"
hatte die Aufgabe, etwa von Zürich über Genua nach Hamburg die
Kisten zu verfrachten. Die Empfänger verbreiteten dann von Hand
zu Hand die einzelnen Broschüren oder den „Sozialdemokraten"
weiter.
Man kann nicht behaupten, daß das Sozialistengesetz wir-
kungslos gewesen ist. Die Agitation wurde eingeschränkt, aber
nicht vernichtet. Die polizeiliche Überwachung war unter den Ver-
hältnissen des modernen Lebens nicht ausreichend durchzuführen.
Die Großstädte bieten überall Schlupfwinkel für Versammlungen,
die Arbeiter sind in Massen zusammen beschäftigt und tauschen
in den Arbeitspausen oder auf dem Wege zur Fabrik regelmäßig
ihre Anschauungen oder die verbotenen Zeitungen untereinander
aus. Da jeder Arbeiter lesen und schreiben kann, braucht die
Werbetätigkeit nicht immer mündlich zu sein. Durch rasches Hin-
und Herreisen kann sich der Aufwiegler der Polizei entziehen.
Der Großbetrieb der Post mit ihren Millionen Briefen täglich
schließt eine genaue Überwachung ganz Deutschlands aus, selbst
wenn das Briefgeheimnis nicht gewahrt bleibt. Endlich steht
Hunderttausenden von Sozialdemokraten nur eine sehr beschränkte
Zahl von Polizisten entgegen, die der Aufgabe nicht gewachsen
sein können, jeder kleinen politischen Verfehlung nachzulaufen.
Das Sozialistengesetz hatte andererseits nachteilige Folgen.
Die Bedrohten wurden ungemein verbittert, und viele, die bis da-
hin gemäßigte Sozialdemokraten gewesen waren, wurden zu Sozial-
revolutionären. Märtyrer wurden geschaffen, die inneren Streitig-
keiten in der Partei hörten auf, die Disziplin wurde strenger, der
Einzelne ordnete sich unbedingt unter. Die Geheimverbände waren
in stetem Kleinkampf gegen die bestehende Gesellschaft, Spionen-
riecherei. Verräterei, Lockspitzeltum untergruben die politische Mo-
ral. Der Haß der Arbeiter gegen die Regierung mußte auch auf
das Wirtschaftsleben zurückgreifen, er wurde auf die Unternehmer
ausgedehnt.
Das Gesetz gehörte zu denjenigen Handlungen der Bismarck-
schen Politik, die mißlungen sind. Der Reichskanzler erkannte die
ungeheuere Gefahr, die seinem Lebenswerke durch die Internatio-
nalität des Sozialismus und die Zersetzung des Volkes durch dessen
ßßö ^- Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
Staatsfeindschaft drohte. Die Revolution von 191 8, die die Zer-
trümmerung des alten Deutschland brachte und es den Feinden
auslieferte, hat ihm Recht gegeben. So wie das Sozialistengesetz
war, blieb es eine halbe Maßregel, solange die Arbeiterkoalitiön
zu wirtschaftlichen Zwecken und das allgemeine Wahlrecht aner-
kannt waren. Wollte man diese Rechte beibehalten, so wäre es
richtiger gewesen, es gar nicht zu erlassen und auf dem Boden
allgemeiner Normen zu bleiben, dann aber sofort auf jene Mittel
der Versöhnung hinzusteuern, die von der Regierung, wie vorher
gesagt, nicht übersehen waren. Das zunächst praktisch Erfaß-
bare war die Sozialreform zugunsten der Lohnarbeiter, die jedoch
auch unabhängig von der Sozialdemokratie und deren Wühlerei zu
verstehen ist. Sie war eine wirtschaftliche und soziale Notwendig-
keit zum allgemeinen Wohle. Inwiefern sie geeignet war, den
sozialistischen Aufrührern das Handwerk zu legen, werden wir
weiter unten zu erörtern haben, zunächst wenden wir uns dem
großen Gesetzeswerk des Arbeiterschutzes und der Arbeiterver-
sicherung zu.
Die sozialdemokratische Bewegung hatte die kritischen
Schriften von Lassalle und Marx in den Vordergrund der
nationalökonomischen Diskussion geschoben und blieb auf die
Wissenschaft nicht ohne nachhaltigen Eindruck. Soweit die Wirt-
schaftspolitik in Frage stand, hatten die wissenschaftlichen .Natio-
nalökonomen der Universitäten und die Publizistik Stellung zu
den einzelnen Programmpunkten und deren Begründung zu nehmen,
wobei sie durchweg alles Utopische ablehnten, teilweise sich mit
weitgehenden Reform vorschlagen einverstanden erklärten, teil-
weise, wie die Schule der manchesterlichen „Volkswirte", von dem
Eingreifen des Staates in die Arbeiterfrage nichts wissen wollten,
vielmehr meinten, durch freie Hilfskassen, Genossenschaften und
Gewerkvereine alle Klagen der Lohnarbeiter beseitigen zu können,
soweit solche überhaupt als berechtigt zugegeben wurden.
Die Theorie und die Methode der Forschung blieben ebenfalls
nicht unberührt.
Die beiden Begründer der deutschen Sozialdemokratie waren
Heglianer gewesen und wollten das Recht und das soziale Leben
in ihrem Werden verstehen. Für die deutsche Nationalökonomie
in ihrem Werden verstehen. Für die deutsche Nationalökonomie galt
es daher, auch hier einen prinzipiellen Standpunkt einzunehmen.
Es zeigte sich bald, daß er bei vielen Gelehrten kein wesent-
lich vom modernen Sozialismus abweichender war, wenn sie sich
auch den historischen Gang der wirtschaftlich-sozialen Dinge in
einer anderen Verknüpfung als er dachten. Die englische Theorie
VII. Die Reichssozialpolitik. 7-2^
von Smith, Ricardo und M a 1 1 h u s und ihre deutsche Ver-
arbeitung waren bis 1870 vorherrschend geblieben. Sie hatten
den Angriffen, denen sie ausgesetzt worden war, im ganzen sieg-
reich widerstanden, weil sie eine große Anzahl von Grundbegriffen
und Gesetzmäßigkeiten festgelegt hatten, die jeder Nationalökonom
zu dem Werkzeug seines Denkens gemacht hatte. Im Widerspruch
dazu stand die praktische Nationalökonomie. Sie klammerte sich
zwar an die Theoreme der Freiheit und der Nicht-Staatsintervention
in wirtschaftlichen Dingen, ließ aber so viele Ausnahmen zu, daß
von den obersten Grundsätzen nicht viel übrig blieb.
Die List sehe Kritik vom national-staatlichen Standpunkt
hatte keinen allgemeinen Eindruck gemacht, sie war über die
Handelspolitik hinaus eigentlich nicht gewürdigt worden. Immer-
hin blieb ihre historische Grundlage nicht unvergessen. 1843 trat
Wilhelm Röscher mit seinem „Grundriß zu Vorlesungen über
die Staats Wirtschaft nach geschichtlicher Methode" hervor mit An-
schauungen, die späterhin in einem großen Lehrbuch, dem „System
der Volkswirtschaft", wie auch in bedeutenden Monographien, z.B.
der „Geschichte der Nationalökonomie in Deutschland" und „An-
sichten der Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte
1861" zur Ausführung gelangten und dem Verfasser den Namen
des Begründers der historischen Schule auf den deutschen Uni-
versitäten einbrachten. Der Historismus für die Nationalökonomie
lag in der Luft. Es gab eine historische Rechtswissenschaft, eine
historische Sprachvergleichung, die Naturwissenschaft war von dem
Entwicklungsgedanken befruchtet worden, und vor allem wurde
die Geschichtsphilosophie der Wegweiser von der Staatslehre zur
Wirtschaftswissenschaft. Rodbertus war durch Schellin g,
Marx durch Hegel beeinflußt worden. Wie beide die öko-
nomische Welt historisch auffaßten, ist bereits mitgeteilt worden.
Der Werdegang des Wirtschaftslebens, der bei Röscher
durch gewagte Generalisationen, Jugend-, Mannes-, Greisenalter,
der Volkswirtschaft und Analogien verflacht worden war, worüber
auch seine ungeheuere Anmerkungen-Gelehrsamkeit nicht hinweg-
täuschen kann, wurde schärfer von Karl Knies in der „Po-
litischen Ökonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode
1853" und, wenn auch nicht in gleicher Wissenschaftlichkeit, von
Bruno Hildebrand in seinem Buche „Die Nationalökonomie
der Gegenwart und Zukunft 1848" erfaßt. Nach Knies ist das
geschichtliche, das staatlich geeinigte Volk der Wirklichkeit nach
der Erfahrung des Lebens das Objekt der Volkswirtschaftslehre.
Daher kann eine ökonomische Entwicklungslehre erst aus der
Vergleichung der einzelnen Völker gewonnen werden, womit die
A.Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 22
238 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Gefahr, ein willkürliches, abstraktes Prinzip in die Wirtschafts-
geschichte hineinzutragen, beseitigt wird. Hildebrand bezeich-
net die Nationalökonomie als eine Wissenschaft von den öko-
nomischen Entwicklungsgesetzen der Völker, sie ist ihm eine sitt-
lich-politische Disziplin, die mit vergleichender Methode, etwa wie
in der Sprachwissenschaft, weiterzuführen ist. Er hatte sich auch
mit dem älteren Sozialismus beschäftigt und dessen Bedeutung ge-
genüber dem Smithianismus betont. Eine objektive Kenntnis des
französischen Sozialismus hatte Lorenz von Stein, der als
Anhänger Hegels formal historisch dachte, 1842 und 1848 der
deutschen Wissenschaft bereits vermittelt. Wertvolle Spezialunter-
suchungen hatten die geschichtliche Denkweise glücklich ver-
tieft. G. Hanssen wurde der Begründer der deutschen Agrar-
geschichte, G. F. von Schönberg erwarb sich dauernde Ver-
dienste um die Erforschung des mittelalterlichen Zunftwesens und
der mittelalterlichen Stadtwirtschaft, Rodbertus durch seine Un-
tersuchungen auf dem Gebiete der Nationalökonomie des klassi-
schen Altertums.
Diese neue Richtung in Deutschland konnte die Manchester-
lehren der sechziger Jahre unmöglich gut heißen, die mit ihren
Abstraktionen und absoluten Wahrheiten der sozial-historischen
Grundlage durchaus widersprachen. Während der Gründerperiode
erschienen kritische Schriften von A. Wagner, G. Schmoller
und H. Rösler. Sätze und Behauptungen des Sozialismus blieben
im Eifer des Gefechtes als Beweisgründe nicht fern und mußten
später als Übertreibungen korrigiert werden. Die Forschung hatte
einen frischen Zug bekommen, und indem sie sich den Fragen
der Gegenwart zuwandte, führte sie sich immer neue Lebens-
quellen zu.
Nachdem die historische Nationalökonomie den wichtigen
Schritt getan hatte, das ökonomische System des Liberalismus
selbst als ein geschichtliches Ergebnis zu deuten, trat die Auf-
gabe an die jüngeren Kräfte heran, ein neues Lehrgebäude zu ent-
werfen. Hier zeigte sich nun bald, daß die vorhandenen wirtschaft-
lich-geschichtlichen Einsichten nicht ausreichten. Daher gaben
G.. Schmoller und seine Anhänger die Parole aus, es müßten
erst genügend Spezialuntersuchungen vorgenommen werden, ehe
man die Entwicklungsgesetze des wirtschaftlichen Lebens, die man
nur in den Umrissen erblicke, in allen ihren Folgerungen erkennen
könne. Auf diesem Gebiete der deskriptiven Einzeluntersuchung
ist in den folgenden 40 Jahren viel geleistet worden, eine Zu-
sammenfassung vieler Resultate hat Schmoller, der Führer der
Schule, in einem Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre
VII. Die Reichssozialpolitik. ^ßg
1900 und 1904 unternommen, und mit der Eigenart seiner Be-
trachtungsweise, das Wirtschaftsleben nicht isoliert, sondern im
Kreise anderer Wissensgebiete, wie Sprache und Schrift, Sitte,
Recht und Moral, Geographie und Anthropologie zu verstehen,
'durchtränkt.
Die Einsicht in neue Entwicklungsgesetze ist dabei nicht
sonderlich gefördert worden. Das Ergebnis der neuen historischen
Schule bleibt dennoch ein großes, daß im Grunde die Volkswirt-
schaftslehre eine historische Wissenschaft ist und nichts anderes
sein kann. Damit ist nicht gesagt, daß ihre Methode nur em-
pirisch-induktiv zu sein habe. Formulierungen z. B. der Wirt-
schaftsstufen, der Arbeitsteilung, des Tauschverkehrs sind Abstrak-
tionen, mit denen deduktiv weitergearbeitet worden ist, um sie
geschichtlich zu vertiefen und sie in dem großen, bisher un-
erforschten Material nachzuweisen. Außerdem können alle Wirt-
schaftshistoriker die überkommenen Begriffe, die anerkannten Kau-
salzusammenhänge und Begründungen nicht entbehren, um über-
haupt an die Durchleuchtung des historischen Stoffes herangehen
zu können. Insofern wird eine theoretische Volkswirtschaftslehre
immer das notwendige Gegenstück zu den Einsichten von der
Umbildung der wirtschaftlichen Zustände bleiben. Denn ein Gelehrter
ohne Formeln, bemerkt Fr. Nietzsche, gleicht einem Manne,
der ungemünzt sein Gold in der Tasche trägt. Nur ist die Vor-
stellung nicht haltbar, daß man eine solche Theorie aus der Natur
des Menschen oder den ewigen Tatsachen der ihn umgebenden
Natur und der ihn beherrschenden Naturgesetze direkt ab-
leiten könne. Alle Wirtschaftstheorie ruht auf geschichtlich ge-
gebenen Voraussetzungen. Nehmen wir z. B. einen der abstrak-
testen Forscher, Ricardo. Worauf baut er seine Lehren auf ? Auf
Privateigentum an Boden, Kapital und Kapitalgewinn, Lohn und
Zins, Geld und Kosten, also lauter historischen Begriffen. Und
wie war es mit seinem Vorgänger Smith ? Sind Markt, freie Kon-
kurrenz, Freihandel, Monopol, Banknoten und Grenzzölle etwa
anders als wie gewordene Einrichtungen zu verstehen? Seitdem
die Menschen über ihr Wirtschaftsleben nachgedacht haben, haben
sie eine Summe von Abstraktionen angesammelt, mit denen sie
weiterforschen. Neue Vorstellungen bilden sich aus neuen Ver-
hältnissen, alte Begriffe werden geprüft, werden schärfer, ver-
feinert, um die ökonomischen Notwendigkeiten des Lebens besser
zu begreifen.
Das Unbefriedigende der Manchesterpraxis für die deutsche
Volkswirtschaft führte 1872 in Eisenach zur Gründung des Ver-
eins für Sozialpolitik. In dem von Schmoller entwor-
22*
ßAO V- Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
fenen Programm, das in seinen Hauptzügen dauernd aufrecht er-
halten wurde, wnrde das Eingreifen des Staates in die Ein-
kommensverteilung als dessen Pflicht hingestellt, und die prak-
tische Möglichkeit eines solchen auf einer Reihe von Gebieten
wurde gleichzeitig bejaht. Man wollte keine Nivellierung der Ge-
sellschaft, aber die Auswüchse der ökonomischen Freiheit seien
zu beschneiden. Man erstrebte nicht die Aufhebung des Lohn-
verhältnisses, nur eine wirksame Fabrikgesetzgebung, größeren
Einfluß der Arbeiter auf den Abschluß des Arbeitsvertrages, He-
bung der ganzen Klasse durch Erziehung, Verbesserung des Woh-
nungswesens u. a. m. Vor 50 Jahren hatte S i s m o n d i ein ähn-
liches ethisches System vertreten.
Vieles von diesem Programm ist in der Folgezeit verwirklicht
worden, neue Aufgaben auf anderen Gebieten des Wirtschafts-
lebens sind hinzugekommen. Der Verein hat durch seine vielen
Veröffentlichungen dazu beigetragen, die Wissenschaft um manche
Spezialuntersuchung zu bereichern. Da die führenden Köpfe Uni-
versitätsprofessoren waren, zu nennen sind außer den schon Ge-
nannten W. Lexis, L. Brentano, G. F. Knapp, G. Cohn,
wurde der neuen Richtung von dem „Volkswirt" H. B. Oppen-
heim der Spottname „Kathedersozialisten" gegeben. Der Vor-
wurf war nicht ganz gerecht, da ihn nur wenige von allen Teil-
nehmern verdienten, aber er hatte das Gute, die Sozialpolitiker
daran zu erinnern. Maß zu halten und nicht bloß deshalb kein
Sozialist zu sein, weil man das Utopische des Kommunismus als
einer umfassenden Lebensordnung ablehnt, sondern auch deshalb,
weil man die Ungleichheit der Menschen, wie sie nun einmal
besteht, als die Grundlage jeder wirtschaftlichen Ordnung und
Forschung anerkennt. Das Bedenkliche der Namensbezeichnung
lag andererseits darin, in weiteren Kreisen den Glauben zu er-
wecken, daß der Sozialismus auf den Universitäten offiziell abge-
stempelt gelehrt werde, womit ihm bei dem Ansehen, das die Hoch-
schulen genossen, mehr Wert zugesprochen wurde, als ihm zukam.
1875 wurde der Sozialismus ein öffentlicher Streitgegenstand
zwischen Schmoller und von Treitschke, obwohl beide
die Manchesterlehre ablehnten und in der praktischen Sozialpolitik
nicht weit voneinander abwichen. Die Auseinandersetzung blieb
nicht unfruchtbar, da sowohl die dem Extrem etwas verfallenen
Mitglieder des Vereins für Sozialpolitik zur Besonnenheit gemahnt
wurden, als auch die historische Schule der Nationalökonomie
veranlaßt wurde, den sozialistischen Historismus der Gewalttheorie
einmal kritisch unter die Lupe zu nehmen.
VII. Die Reichssozialpolitik. ß^i
Die neue Sozialpolitik war mit der historischen Theorie bei
der Mehrzahl der Kathedersozialisten eine Personalunion ein-
gegangen. Doch galt es nicht für alle, wie z. B. A. Wagner sich
der geschichtlichen Schule nicht zugerechnet hat. Ebenso umge-
kehrt. Ein Forscher kann ein strenger Historiker sein und zugleich
der ethischen Richtung jener Sozialpolitiker ganz fern stehen. Er
könnte z. B. sagen, daß die Geschichte zeigt, wie jede Unterstütz-
ung einer unterdrückten Klasse von anderen Gruppen dieser zur
Macht verhilft, die sie undankbar gegen ihre Wohltäter, sofort re-
volutionär ausnutzt, wenn sie genügend stark geworden ist.
Allein damals war es der Nationalökonomie wie schon oft
vorher ergangen. Die Praxis verschmolz sich mit einer Theorie,
um ihre Forderungen beweiskräftig zu machen. So waren die
Merkantilisten, so die Individualisten, so auch List und Rodbertus
verfahren. Jetzt woirden ethische Prinzipien in Geschichte zu sehen
geglaubt und das Gesamtwohl mit dem Schutze der wirtschaftlich
Schwachen identifiziert. Wurde durch den Optimismus des Glau-
bens an ein festes Ziel des Sollens einerseits der objektiven
Forschung Schwungkraft verliehen, so war andererseits die ethische
Tendenz des Guten und Gerechten etwas zu Unbestimmtes, um
in einem modernen Repräsentativstaate mit seinen Parteien und
in der berufsmäßig gegliederten Volkswirtschaft mit ihren organi-
sierten Gruppen allgemein zu befriedigen.
Das ethische Pathos, das hinter den praktischen Forderun-
gen der Sozialpolitiker stand, fand zudem im Volke kein Echo,
da es zu abstrakt ausgefallen war. Das haben die Organisationen
und Parteien wohl gewußt, die ebenfalls die egoistische Natur des
Liberalismus angriffen, als sie sich auf die Macht des Christen-
tums beriefen.
Die Steuer- und W^irtschaftsreformer sind oben
bei der neuen Zollpolitik schon genannt worden. In den ein-
leitenden Worten ihres Programmes stehen die Worte: „Die Ver-
einigung hat den Zweck, die Ideen und Grundsätze einer gemein-
nützigen, auf christlichen Grundlagen beruhenden Volkswirtschaft
im Volke zu verbreiten und in der Gesetzgebung zum Ausdruck
zu bringen". In der Sozialpolitik treten sie für die Befreiung
des ländlichen Grundbesitzes „vom Zwange des römischen
Rechtes", für die Ordnung des ländlichen Arbeiterverhältnisses
ein. Für die gewerbliche Arbeiterfrage hatten sie nur die allge-
meine Wendung, daß die Gewerbeordnung der Revision bedürfe.
Anders verhält es sich mit der Sozialpolitik in der katho-
lischen Partei, die, soweit Preußen in Betracht kam, in den Indu-
strieprovinzen, Rheinland und Westfalen ihren Hauptanhang hatte.
342 V- Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Schon in den sechziger Jahren erschienen „die Chrisdich-sozialen
Blätter" in Aachen, von J. Schings redigiert; der Bischof von
Mainz, Freiherr von Ketteier, hatte einen „Entwurf zu
einem politischen Programm für die Katholiken im Deutschen
Reich" veröffentlicht, in dem die korporative Reorganisation des
Arbeiter- und Handwerkerstandes, Arbeiterschutz und Arbeits-
inspektion verlangt wurden. Der Domkapitular Moufang faßte
1871 seine Forderungen so zusammen: Schutz der Arbeiterassozia-
tionen, gesetzliche Regelung der Arbeitszeit, des Lohnverhältnisses,
der Frauen- und Kinderarbeit, Beaufsichtigung der Arbeitslokale,
staatliche Geldunterstützung von Produktivgenossenschaften, welche
die Arbeiter selbständig machen sollen.
Die katholische Kirche, die aus ihren Sätzen des Geistes
der Liebe, des Wohltuns und der Trostspendung eine Sozialpolitik
zugunsten der Schwachen folgerte, war vermöge ihrer Macht über
die Gemüter und ihrer festen einheitlichen Verfassung wohl ge-
eignet, im Sinne des praktischen Christentums einzugreifen, eher
als die evangelische Geistlichkeit, der die Zentralisation fehlte,
und deren orthodoxe und liberale Richtung einander befehdeten.
Die christliche Arbeiterpartei, später christlich-soziale Partei, der
W i c h e r n und H u b e r vorgearbeitet hatten, befand sich mit
der katholischen Richtung in dem Verlangen in Übereinstimmung,
die egoistischen Auswüchse der Volkswirtschaft zu beschneiden,
wie sich auch die speziellen Arbeiterforderungen fast deckten. Sie
wich nur im Hinblick auf die evangelische Landeskirche durch die
spezielle Aufgabe des christlich-monarchischen Staates, sich mit
seiner Kraft für eine versöhnliche Reform einzusetzen, von der
anderen Konfession ab. An der Spitze der Bewegung stand
A. Stöcker, dessen Kampf gegen das Judentum in Berlin oben
erwähnt worden ist. Ein unmittelbarer sozialpolitischer Erfolg war
ihm nicht beschieden. Da er selbst der strenggläubigen Seite an-
gehörte und sie einseitig vertrat, wandten sich viele von denen
von ihm ab, die „die Muckerei" nicht mitmachen wollten. Außer-
dem war die Arbeiterschaft durch die evangelische Kirche nur
wenig zu beeinflussen, da viele Sozialdemokraten sich von ihr los-
gesagt hatten. Ende der achtziger Jahre kam S t ö c k e r mit dem
Reichskanzler in Konflikt, der ein „Protestantisches Zentrum" 4n
der Politik und die Einwirkung auf den Prinzen Wilhelm
nach den wenig günstigen Erfahrungen nicht wünschte, die in
Preußen mit „den Langröcken am Hof und Thron" gemacht
worden seien.
B i s m a r c k verfolgte den Plan, in dem Widerstreit zwischen
Kapital und Arbeit mittels der Reichsgesetzgebung in einer ganz
VII. Die ReichssozialpolitJk. ^a^
bestimmten, beschränkten Weise einzugreifen und iiat ihn durchge-
setzt. Die Führerschaft sich dabei entreißen zu lassen durch Ein-
schiebung von Projekten und Personen, die dazu seinem Ermessen
nach nicht paßten, war er durchaus nicht gewilh. Er rechnete mit
den poHtischen Parteien, und soweit Agitatoren und Programme
sozialer Organisationen seine Richtung publizistisch förderten, ließ
er sich deren Unterstützung wohl gefallen. Damit sollte es sein
Bewenden haben.
Es ist nun die praktische Bedeutung der bisher besprochenen
sozialpolitischen Richtungen gewesen, daß sie die Ziele der Par-
teien neu orientiert haben. Dem Kanzler stimmten daher das Zen-
trum und die konservativen Parteien in der Plauptsache zu, und die
Nationalliberalen machten erhebliche Zugeständnisse.
Er war vollständig im Recht, wenn er dem Reich die Pflicht
zumaß, in die Arbeiterfrage einzugreifen. Der moderne Staat steht
über den Konfessionen, und die staatlich umgrenzte Verkehrswirt-
schaft konnte die Einheitlichkeit der Sozialpolitik nicht entbehren.
In anderen Ländern ist etwas auch nur entfernt Ähnliches nicht
erreicht worden. Obwohl in ihnen das deutsche Vorgehen vielfach
vorbildlich geworden ist, fehlte es überall an der nachhaltigen
staatlichen Energie, ein so großes Werk nachzuahmen. Staaten
mit parlamentarischer Regierung, wie Frankreich, Italien, die Ver-
einigten Staaten, England, haben sich nicht als fähig erwiesen,
so großzügige soziale Reformen durchzuführen. In den genannten
Staaten gibt es nur eng umgrenzte Einzelgesetze, die sozialpoliti-
schen Inhalt haben, und untereinander nur unzureichend zusammen-
liängen.
Eine große soziale Gesetzgebung muß von einem starken
Geiste zielbewußt getragen und vollendet werden. Wo die Par-
teien abwechselnd herrschen, hebt die spätere die Beschlüsse der
Vorgängerin auf oder verhindert ihre Durchführung, ganz abge-
sehen davon, daß keine von ihnen sich getraut, etwas wirklich
Umfassendes zu unternehmen, da sie weiß, wie kurzlebig sie ist.
Männer von gewaltiger Willenskraft sind dem Parlamentarismus
unwillkomm.en und werden von ihm gestürzt. Hätten wir das parla-
mentarische System in Deutschland mit der Reichsgründung ein-
geführt, keine Bismarcksche 20jährige Staatsleitung wäre uns be-
schieden worden. Dann auch nicht die großen Gesetzestaten, die
ihr entsprungen sind.
Die Gewerbeordnung von 1869 hatte eine Anzahl von Ar-
beiterschutzbestimmungen aufgenommen, die schon in der preußi-
schen Gesetzgebung von 1839, 1845 '^^^ 1848 enthalten gewesen
waren. Sie reichten nicht aus. Seitdem waren wiederholt aus der
244 ^- Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Mitte des Reichstages ergänzende Anträge gestellt, eine Enquete
war von der Regierung veranstaltet worden, und 1878 kam eine
Novelle zur Verabschiedung, die in mehreren Punkten das be-
stehende Recht erweiterte. Die Gewerbeordnung hatte u. a. be-
stimmt, daß Kinder in Fabriken unter 12 Jahren zu einer regel-
mäßigen Beschäftigung nicht angenommen werden, vor dem vol-
lendeten 14. nicht länger als 6 Stunden, vor dem vollendeten 16.
nicht länger als 10 Stunden beschäftigt werden dürfen; ferner
waren Arbeitspausen für Jugendliche vorgeschrieben worden. All-
gemein war das Trucksystem in der Industrie verboten. Die No-
velle bringt eine strengere Ordnung für die Arbeit der Jugend-
lichen, dehnt das Truckverbot aus, erfaßt auch den Schutz der
Frauenarbeit, macht die Fabrikinspektoren obligatorisch und er-
streckt die Fabrikgesetzgebung auf alle mit Dampfkraft tätigen
Betriebe, auf Hüttenwerke, Bauhöfe und Werften.
Somit war einigen Anforderungen genügt worden, aber es
liegt in der Natur jeder eine Klasse hebenden Politik, daß ge-
währte Ansprüche nur die Grundlage zu neuen werden. So ging
es weiterhin mit dem Arbeiterschutz, und gleiches hat auch die
kommende staatliche Arbeiterversicherung erwiesen.
Am Ende der siebziger Jahre bot das Arbeiterversicherungs-
wesen ein buntscheckiges Bild im Reiche dar. Kranken-, Unfall-,
Invaliden- und Alterskassen standen isoliert nebeneinander oder
waren ohne inneren Zusammenhang verbunden. Einrichtungen aus
alter Zeit, wie Knappschaftskassen, von denen übrigens viele der
Insolv^enz nahe waren, und die Innungskassen als Reste aus der
Zunftzeit wechselten mit ganz neuen wie mit denen bei Gewerk-
vereinen oder Fabriken und Eisenbahnen ab. Zwangskassen und
freie, lokale und nationale, berufsgenossenschaftliche und gemischte
waren ohne einheitliches Prinzip geschaffen worden. Waren schon
die meisten einzelnen Kassen nicht imstande, eine Sicherstellung
den Mitgliedern zu gewähren, so war die Fürsorge im ganzen erst
recht ungenügend. Die Masse der Arbeiter war unversichert.
Die Gewerbeordnung hatte zwar in Titel VIII die durch Orts-
statut oder Anordnung der Verwaltungsbehörde begründete Ver-
pflichtung der Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge und Fabrikarbeiter,
einer bestimmten Kranken-, Hilfs- oder Sterbekasse beizutreten,
fortbestehen lassen, aber sie für diejenigen Personen aufgehoben,
die den Nachweis lieferten, einer anderen entsprechenden Kasse
anzugehören. Dem herrschenden liberalen Gedanken waren diese
Reste des ausgesprochenen Zwanges zuwiderlaufend. Seine Wort-
führer erhofften alles von der freien Initiative der Beteiligten, bei
denen man die nötige Einsicht und die Fähigkeit, sich selbst zu
VII. Die Reichssozialpolitik. jac
helfen, voraussetzte. Es sei nur erforderlich, daß das Gesetz den
zu schaffenden freien Einrichtungen die brauchbare rechtliche
Grundlage verleihe. Dementsprechend wurden durch das Reichs-
gesetz von 1876 für die Hilfskassen Normativbestimmungen er-
lassen. Die „eingeschriebenen Kassen" erhielten die juristische
Persönlichkeit unter Beschränkung der Haftbarkeit auf das eigene
Vermögen. Sie gingen über Krankenfürsorge und Sterbegeld nicht
hinaus. Die Verwaltung mußte nach festgelegten Vorschriften ge-
handhabt werden. Freie Kassen konnten jedoch mit minderem
Rechte als „wilde" fortbestehen, wenn sie sich dem Gesetz nicht
anpassen wollten. Bestehende Zwangskassen sollten sich dem Ge-
setz iunterwerfen.
Vorschläge mannigfacher Art tauchten in der Literatur und
im Reichstage auf, um etwas Positives umfassender Art zu ermög-
lichen. Die Reform der Knappschaftskassen wurde beraten. Schon
bei der parlamentarischen Besprechung der Gewerbeordnung hatte
Stumm den Antrag eingebracht, für die invaliden und alten
Fabrikarbeiter nach dem Vorbild der Bergleute eine Zwangsver-
sicherung zu errichten. 1878 wurde der gleiche Vorschlag wieder-
holt und mit einem anderen des Abgeordneten Günther, der von
freiwilliger genossenschaftlicher Teilnahme für die einzelnen Be-
rufsschichten ausging, einer Reichstagskommission überwiesen, die
sich für obligatorische Beitragspflicht aussprach und einige all-
gemeine Verwaltungsregeln dafür aufstellte. Die Form des Kassen-
wesens wurde nicht erwähnt.
Mehr und mehr hatte sich in weiten Kreisen in jener Zeit des
schlechten Erwerbes, der niedrigen Löhne und der Arbeitslosigkeit
die Überzeugung festgesetzt, daß die reine privatwirtschaftliche
Fürsorge für die Lohnarbeiterschaft nicht genüge, und daß es ver-
mieden werden müsse, daß der Arbeitsunfähige der entwürdigenden
und unzureichenden Armenpflege der Gemeinde anheimfalle. Das
zwangsweise Eingreifen des Staates fand um so mehr Zustimmung,
als die aus der Not geborene wachsende Unzufriedenheit der
Lohnarbeiter im allgemeinen öffentlichen Interesse eine Beseitigung
dringend erheischte. Bei dem öffentlichen Zwang unterschied man
erstens das Verlangen des Staates, daß sich der Einzelne einer
Kasse überhaupt anschließe, den Kassenzwang, und konse-
quenter zweitens, da die Voraussetzung einer geeigneten Einrich-
tung oft fehlte, die Zwangskasse, welche der Staat einrichtet
oder durch andere einrichten läßt, wobei es nicht ausgeschlossen
sein sollte, daß gut arbeitende freie Kassen fortbestehen könnten.
Die Zwangskasse war das Prinzip, zu deren Einrichtung sich
die Reichsregierung entschlossen hat. Die Initiative ging vom Reichs-
■3,A.6 ^' Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
kanzler aus, der in dieser Arbeitersicherstellung eine wesentliche
Ergänzung seiner Wirtschaftspolitik erblickte. Der Schutz der
nationalen Arbeit schloß es ein, daß die Lohnarbeiter berück-
sichtigt wurden. Der Schutzzoll nützte allerdings nicht bloß den
Arbeitgebern, sondern, indem sich die Nachfrage nach Arbeit
unter ihm belebte, auch den Arbeitern. Aber ein Schutz gegen die
Gefahren der Krankheit, des Unfalls und des Alters war damit
nicht gegeben. Es mußte positiv eingegriffen werden; die Kosten
konnten deshalb getragen werden, weil für Unternehmer und Ar-
beiter, welche gemeinsam zu ihnen herangezogen werden sollten,
aus der Erschließung und Sicherung des deutschen Marktes ver-
mehrte Einnahmen dauernd in Aussicht standen.
In der Begründung der ersten Gesetzesvorlage ist die Staats-
auffassung des Reichskanzlers enthalten, soweit sie die Grund-
lage der Arbeiterfürsorge bildet. Hier heißt es u. a.: „daß der
Staat sich im höheren Maße als bisher seiner hilfsbedürftigen Mit-
glieder annehme, ist nicht bloß eine Pflicht der Humanität und
des Christentums, von welchen die staatlichen Einrichtungen durch-
drungen sein sollen, sondern auch eine Aufgabe staatserhaltender
Politik, welche das Ziel zu verfolgen hat, auch in den besitzlosen
Klassen der Bevölkerung, welche zugleich die zahlreichsten und
am wenigsten unterrichteten sind, die Anschauung zu pflegen, daß
der Staat nicht bloß eine notwendige, sondern auch eine wohltätige
Einrichtung sei. Zu dem Ende müssen sie durch erkennbare direkte
Vorteile, welche ihnen durch gesetzgeberische Maßregeln zuteil
werden, dahin geführt werden, den Staat nicht als lediglich zum
Schutz der bessersituierten Klasse der Gesellschaft erfundene, son-
dern als eine auch ihren Bedürfnissen und Interessen dienende
Institution aufzufassen".
Ebenso wie der Kanzler in seiner Wirtschaftspolitik Landwirt-
schaft und Industrie zu einer Interessengemeinschaft zu vereinigen
bemüht war, wollte er jetzt durch den Staat die durch das Prinzip
des laisser faire geöffnete Kluft zwischen Kapital und Arbeit über-
brücken. Dieses Vorhaben war ein außerordentlich schwieriges,
nachdem die sozialdemokratische Aufreizung einmal soweit fort-
geschritten war. Die politische Erziehung der Arbeiter im Sinne
des Kanzlers konnte daher nur ganz nach und nach erwartet
werden. Dazu kam, daß, da die Fürsorge fortschreitend auf alle
Lohnarbeiter ausgedehnt wurde, was der Staatsanschauung des
praktischen Christentums entspricht, sie von den Empfängern für
nichts Besonderes, eher für etwas Selbstverständliches gehalten
wurde, wobei sie nur zu gern ausschließlich an die mit dem Gesetz
verbundenen Lasten, wie bei einer Steuerzahlung, dachten. Es
VII. Die Reichssozialpolitik. -lAn
liegt in der menschlichen Natur, das besonders zu schätzen, was
man verteidigen muß. Landwirtschaft und Industrie blieben immer
unter der geübten Handelspolitik Angriffen ausgesetzt, und die
Zölle, meinte man, könnten auch wieder einmal wegfallen. Die
dauernd festgelegte Arbeiterversicherung hingegen wurde umge-
kehrt immer mehr vervollkommnet, als ob sie bisher noch gar
nichts gebracht hätte.
Der erste, von Kommerzienrat B a a r e , Bochum, angeregte
Versuch einer Unfallversicherung, demgemäß die Unternehmer von
Bergwerken, Fabriken usw. verpflichtet sein sollten, ihre Arbeiter
und Betriebsbeamten bei einer Reichsversicherungsanstalt, haupt-
sächlich auf ihre Kosten, jedoch mit Zuschuß der Arbeiter und der
Reichskasse, zu versichern, scheiterte am Reichstage, dessen Ab-
änderungsvorschläge die Regierung ihrerseits ebenfalls ablehnte.
Wenige Monate nachher, am 17. November 1881, ließ eine Kaiser-
liche Botschaft erkennen, daß die Reichsgewalt ein weitgehendes
Programm zu vertreten gedenke, dessen Grundlinien nach
mehreren Seiten hin sichtbar wurden. „Es wird", heißt es hier,
„zunächst der von den verbündeten Regierungen in der vorigen
Session vorgelegte Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung
der Arbeiter gegen Betriebsunfälle mit Rücksicht auf die im
Reichstage stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Um-
arbeitung unterzogen, um die erneute Beratung desselben vorzu-
bereiten. Ergänzend wird ihm eine Vorlage zur Seite treten,
welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen
Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen,
welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben
der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein
höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher habe zuteil
werden können. Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege
zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Auf-
gaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten
des christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß an die
realen Kräfte des Volkslebens und das Zusammenfassen der letz-
teren in der Form korporativer Genossenschaften unter -einem
staatlichen Schutz und staatlicher Förderung werden, wie wir
hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die
Staatsgewalt allein im gleichen Umfange nicht gewachsen sein
sollte. Immerhin aber wird auch auf diesem Wege das Ziel nicht
ohne die Aufwendung erheblicher Mittel zu erreichen sein".
In den folgenden 8 Jahren sind die drei großen Versiche-
rungsgesetze gegeben worden, in einer verhältnismäßig kurzen
Zeit, wenn man die ungeheueren Schwierigkeiten ermißt, welche
%Ag V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
mangels des den Beratungen zugrunde zu legenden statistischen
Materials sofort bei den ersten Vorarbeiten auftauchten. Es ist
fortwährend mit Hochdruck nicht nur seitens der beauftragten
Beamten, sondern auch in dem Reichstag und den Kommissionen
gearbeitet worden, immer unter dem Drängen des Kanzlers, der
dieses gewaltige Gesetzeswerk zu seinen Lebzeiten zu beendigen
wünschte. Deshalb, wegen dieser Eile, konnte etwas verwaltungs-
technisch völlig Befriedigendes nicht geschaffen werden. Die Or-
ganisation ist kompliziert, schwer übersichtlich, zersplittert, teuer.
Die ersten Gesetze machten zahlreiche Novellen erforderlich, teils
um gemachte Fehler zu verbessern, teils um vorher nicht gekannte
Lücken auszufüllen. Das Mangelhafte hat auch seinen Grund darin,
daß die Reichsregierung nicht mit einem Gesamtplane der Einzel-
heiten sofort hervorzutreten wünschte, um nicht durch das Über-
maß der Anforderungen abschreckend zu wirken. „Das Gebiet
der sozialen Reform", erklärte Bismarck, „muß schrittweise,
nach und nach betreten werden, gemäß jener bewährten Maxime
der Savoyischen Dynastie, welche ein Gebiet, das sie sich zu unter-
werfen trachtete, mit einer Artischocke verglich, die nicht mit
einem Bissen, sondern nur blätterweise inkorporiert werden könne".
Es kann hier nicht die Aufgabe sein, in die Einzelheiten der
Gesetzgebung einzutreten. Nur die Hauptzüge der Verwaltung und
der Leistungen sollen skizziert werden.
Die Krankenkassen, die durch das Gesetz von 1883 zur
Einführung gelangten, knüpften an mancherlei historisch Ge-
gebenes an, das man mit Recht nicht zerstören wollte. Für er-
kranktes Gesinde war in einzelnen deutschen Staaten durch Ge-
sindeordnungen gesorgt, durch das preußische allgemeine Land-
recht für die Schiffsmannschaft, durch das Handelsgesetzbuch für
erkrankte Handelsgehilfen. Es bestanden genossenschaftliche Ein-
richtungen für das Handwerk und für die Bergleute. Großunter-
nehmer hatten Fabrikkrankenkassen geschaffen. Öffentliche Ver-
ordnungen verlangten, Bergleuten „Arztgelder" zu gewähren,
freie Hilfs- und Gewerkvereinskassen stammten meist aus dem
letzten Jahrzehnt und wurden von den Arbeitern geschätzt.
Die neue Organisation, der Arbeiter und Betriebsbeamte bei-
zutreten haben — sie wurde von dem verarbeitenden Gewerbe in
Fabriken und Handwerk nach und nach auf den Transport, die
Land- und Forstwirtschaft, die Hausindustrie und den Handel aus-
gedehnt — , trägt einen lokalen Charakter, um die Kontrolle über
wirkliche Krankheit und Simulation zu ermöglichen. Ihre regel-
mäßige Form ist die Ortskrankenkasse, die entweder für Ange-
hörige eines einzigen Gewerbszweiges oder einer einzigen Betriebs-
VII. Die Reichssozialpolitik. t^q
art in einer Gemeinde oder für mehrere Gewerbszweige einer oder
mehrerer Gemeinden errichtet wird. Subsidiär besteht die Ge-
meindekrankenversicherung für diejenigen Personen, die in an-
deren Kassen keine Unterkunft gefunden haben. Die Beiträge, von
denen 2/3 auf den Arbeiter, 1/3 auf den Arbeitgeber entfallen, wer-
den nach den Durchschnittslöhnen abgestuft, bei der Gemeinde-
versicherung nach dem ortsüblichen Lohn gewöhnlicher Tage-
arbeiter berechnet. Die Leistungen sind nicht bei allen Organi-
sationen gleich hoch. Sie bestehen aus der freien Kur und Kranken-
geld, Unterstützung von Wöchnerinnen, und zwar ursprünglich für
13, seit 1904 für 26 Wochen. Daneben steht das Sterbegeld. Die
Reichs Versicherungsordnung von 191 1, welche formell die Gesetz-
gebung des Krankenkassenwesens einheitlich zusammenfaßt, hat
den Kreis der versicherten Personen weiter ausgedehnt, den In-
stanzenzug bei Streitfällen vereinfacht, das Verhältnis der Kassen
zu ihren Angestellten neu geordnet. Die Beseitigung der über-
mäßigen Zersplitterung des Kassenwesens wurde versucht, aber
nicht energisch genug durchgeführt, so daß die erwünschte finan-
zielle Entlastung durch Kostenersparung nicht sobald zu er-
warten stand.
Nach gemeinem Recht hatte der Arbeiter bei einem Arbeits-
unfall einen Anspruch an den Arbeitgeber nur dann, wenn diesem
selbst eine Schuld oder, war der Unfall von einem Beamten oder
Angestellten verursacht worden, dem Arbeitgeber eine culpa in
eligendo nachgewiesen werden konnte. Der von dem Arbeiter zu
führende Beweis dieser Verschuldungen war meist schwer zu er-
bringen, außerdem fehlten ihm oft die Geldmittel, im Wege des
Prozesses vorzugehen.
Etwas besser waren die Arbeiter im Geltungsgebiet des Code
Napoleon gestellt gewesen. Es hatte der Unternehmer für Ver-
gehen seiner Untergebenen im Dienste zu haften, aber auch hier
blieb letzterem die Beweislast, und dazu kam, daß die Gerichte
nach wechselnden Zeitströmungen das Gesetz nicht immer gleich-
mäßig ausgelegt hatten.
Abweichend von dieser privatrechtlichen Ordnung war die
preußische Eisenbahngesetzgebung 1838 vorgegangen, der sich
auch die meisten Kleinstaaten angeschlossen hatten. Der Unter-
nehmer hatte stets für einen Unfall im Betriebe zu haften, wenn
er nicht nachweisen konnte, daß derselbe durch höhere Gewalt
oder durch das Verschulden des Verunglückten herbeigeführt wor-
den war. Damit war die Beweislast zugunsten des Arbeiters ver-
schoben worden, aber zwei wichtige Ausnahmen der Sicherstellung
TCQ V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
bestanden, und zudem war nur ein geringer Teil der Arbeiterschaft
im Lande geschützt worden.
In dem Haftpflichtgesetz von 1871 wurde diese Gesetzgebung
auf das Deutsche Reich ausgedehnt. Gleichzeitig wurde für Berg-
werke, Steinbrüche, Gräbereien und Fabriken bestimmt, daß der
Unternehmer für die Schuld seiner Auf sichtsbeamten einzutreten hat,
durch die „der Tod oder die Körperverletzung eines Menschen"
eingetreten ist. Die Unvollkommenheit dieser Bestimmung trat
dadurch ohne weiteres hervor, daß viele gefahrbringende Gewerbe,
z. B. das Bau- und Schornsteinfegergewerbe, die oft mit Maschinen
tätige Landwirtschaft, nicht berücksichtigt worden waren.
Wenn man die Eisenbahngesetzgebung auf alle gefahr-
bringende Betriebe ausgedehnt hätte, so würde doch etwas Zu-
reichendes nicht erzielt worden sein, und, da man sich überzeugt
hatte, daß die Arbeiter weder Einsicht noch guten Willen hatten,
sich freiwillig zu versichern, so mußte die Reichsregierung zum
Versicherungszwange greifen.
Der erste Entwurf wurde nicht Gesetz. Einem zweiten, der
den Reichszuschuß noch aufrecht erhielt, ging es nicht besser,
erst der dritte wurde im Reichstag angenommen, dann durch
weitere Gesetze von 1885, 1886 und 1887 ergänzt.
Die Fürsorge erstreckt sich prinzipiell auf alle Betriebe, in
denen der Arbeiter besonderen Gefahren ausgesetzt ist. Nur dann,
wenn der Betriebsunfall durch den Verletzten oder Getöteten vor-
sätzlich herbeigeführt ist, ist eine Entschädigung der Hinter-
bliebenen oder des Verletzten ausgeschlossen.
Die Unfallrente steigt bei voller Erwerbsunfähigkeit bis '^/^
des Lohnes. Die Witwe und Kinder erhalten außer einem Sterbe-
geld ebenfalls Renten, die bis zu 60 0/0 des Lohnes anwachsen
können. In den ersten 13 Wochen hat für Verletzungen die
Krankenversicherung einzutreten, d. h. für die große Menge der
kleinen Unfälle durchweg, das waren um 1900 94,80/0 aller. Da in
den Krankenkassen die Arbeiter 2/„ der Beiträge zu entrichten
haben, hat man behauptet, die Unternehmer hätten die Last durch
jene Gesetzesbestimmung von sich abgewälzt. Das ist aber nicht so.
Von der ganzen Geldlast entfielen gleichzeitig 89 0/0 auf die 5,20/0
schweren Fälle, bei denen die Arbeitgeber die Kosten allein zu be-
fahlen hatten.
Träger der Einrichtung sind öffentlich-rechtliche Korpora-
tionen, die als Berufsgenossenschaften bezeichnet werden. Sie um-
fassen die Unternehmer bestimmter Bezirke und pflichtiger Be-
triebe und haben das Recht der juristischen Person, so daß den
Gläubigern nur das Genossenschaftsvermögen haftet. Die Kosten
VII. Die Reichssozialpolitik. ßcj
werden von den Mitgliedern nach Maßgabe der in ihren Be-
trieben gezahlten Löhne und der statutenmäßigen Gefahrentarife
aufgebracht. Die Knappschaftsverbände, die in der Vergangenheit
den Bergleuten nur einen unvollkommenen Schutz gewährten,
werden zu einer großen Genossenschaft vereinigt. Reich und
Bundesstaaten treten bei den Transport-, Marine- und Heeres-
verwaltungen und Regiebauten an die Stelle der Berufsgenossen-
schaft. Für land- und forstwirtschaftliche Arbeiter ist die Aus-
führung der Landesgesetzgebung überlassen, die örtliche Bezirke
zur Verwaltung anzuordnen hat. Als höchste richterliche und ver-
waltende Behörde wurde das Reichsversicherungsamt in Berlin er-
richtet. Die Berufsgenossenschaften haben zugleich die wichtige
Unfallverhütung zu übernehmen, die man als die Seele des ganzen
Werkes bezeichnet hat. Sie haben die nötigen Vorschriften dazu
zu geben und deren Ausführung durch Beamte überwachen zu
lassen. Durch die Reichsversicherungsordnung sind neue Betriebe
und Tätigkeiten in die Versicherung einbezogen worden. Der
Inhalt der früheren Gesetze ist in der Hauptsache aufrecht-
lerhalten worden.
Die Alters- und Invalidenversorgung wurde erst
unter Kaiser Friedrich dem Bundesrat vorgelegt und unter
Kaiser V^ilhelm IL, der die Weiterbildung der sozialen Ge-
setzgebung als ein teueres Vermächtnis seiner Vorfahren feierlich
proklamiert hatte, nach langen Verhandlungen, bei denen B i s -
marck wiederum, um das Werk zu vollenden, seine ganze Per-
sönlichkeit eingesetzt hatte, gesetzlich zur Verabschiedung gebracht.
Die Lage der Arbeiter war auf diesem Gebiete bisher eine
besonders schlechte. Die Erwerbsunfähigen und Alten, die sich
nichts erspart hatten oder nicht von ihren Kindern oder Ver-
wandten erhalten wurden, fielen der ganz ungenügenden Armen-
pflege anheim. Sparkassen, freie Hilfskassen, gelegentlicher
Kassenzwang der Gemeinde, Gewerkvereinskassen waren zwar vor-
handen, aber nur ein geringer Teil der Arbeiter wurde durch
sie geschützt. Das Problem für die Gesetzgebung war hier ein
ausnahmsweise schwieriges, weil es an einer zuverlässigen Alters-
und Invalidenstatistik gänzlich mangelte. Man mußte daher mit
etwas Provisorischem fürlieb nehmen und die Korrekturen nach
guten oder üblen finanziellen Erfahrungen der Zukunft über-
lassen. Zudem war der Reichszuschuß nicht zu entbehren, wenn
die Renten nicht gar zu schmal ausfallen sollten. Die Gewerbe
sollten freilich an sich so leistungsfähig sein, ihre gesamten Unkosten
zu decken. Der Anwendung dieses Grundsatzes standen Verwal-
tungsschwierigkeiten entgegen, da für eine lange Reihe von Jahren.
3^2 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
die Zahlung nötig wurde, die durch unglückliche Umstände Un-
terbrechung erleiden konnte, ferner, da die Verwaltung bei den
Millionen kleiner Zahler zu teuer war, und schließlich, weil die
an sich schon häufige Simulation der Invalidität bei der Zer-
streuung und Wanderung der Berechtigten über das ganze Reichs-
gebiet hin und namentlich auf dem Lande schwierig zu kontrol-
lieren war.
Die Gesetzgebung von 1889 und 1891 macht keine Unter-
scheidung nach Gewerben oder Bezirken, sondern spricht die Ver-
sicherungspflicht ganz allgemein für alle gegen baren Lohn oder
Gehalt beschäftigten Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge, See-
leute, Dienstboten und alle Betriebsbeamten, W^erkmeister, Tech-
niker, für Handelsgehilfen, Lehrer und Erzieher vom 16. Lebens-
jahre ab bei einem Arbeitseinkommen bis zu 2000 Mark aus.
Daneben steht die Selbstversicherung der kleinen Betriebsunter-
nehmer und der Hausgewerbetreibenden. Gewährt wird nach einer
längeren Wartezeit eine Altersrente bei Erreichung des 70. Le-
bensjahres — später, 19 16, des 65. — oder eine Invalidenrente
bei nachgewiesener früherer Invalidität. Neben einem Reichs-
zuschuß von jährlich 50 Mark für die Rente werden die Mittel
vom Arbeitgeber und Arbeiter zu gleichen Teilen durch Wochen-
beiträge nach vier Lohnklassen aufgebracht. Die Organisation be-
ruht auf Versicherungsanstalten, Vermögensverwaltungen, die ju-
ristische Persönlichkeit besitzen, die Beiträge mittels Marken ein-
ziehen, die eingezogenen Gelder zinsbar anlegen und die Renten
durch Vermittelung der Post auszahlen. In Preußen erstreckt
sich ihre Tätigkeit auf die Provinz, nur die Millionenstadt Berlin
hat eine Sonderverwaltung, in Bayern auf die Regierungsbezirke.
Die Hansestädte und die thüringischen Staaten haben je eine ge-
meinsame, die Mittelstaaten ihre eigene Einrichtung.
Die Novelle von 1899 brachte eine Ausdehnung der Ver-
sicherungspflicht, die Beitragserstattung in gewissen Fällen, eine
neue Bemessung der Wartezeit, eine 5. Lohnklasse, anderweitige
Berechnung der Renten und einen Vermögensausgleich der An-
stalten. Die Reichsversicherungsordnung ließ die bewährten
Grundlagen der bisherigen Gesetzgebung fortbestehen. Ihr wich-
tigster Zusatz ist die Hinterbliebenenversorgung für Witwen, Wit-
wer und Waisen. Zu dem Zweck mußten die Beiträge erhöht
werden, die auch hier von Unternehmern und Arbeitern zu gleichen
Quoten getragen werden. Der Reichszuschuß wurde erhöht. Ver-
heiratete und Unverheiratete werden gleichmäßig herangezogen.
Die Leistungen sind Renten für den hinterbliebenen Ehegatten und
Waisenaussteuer.
VII. Die Reichssozialpolitik. tc^
Über das Reichsarbeiterversicherungswesen werden jährlich
statistische Angaben veröffentlicht, welche dessen wachsende un-
mittelbare Bedeutung für die gesamte Bevölkerung ersichtlich
machen. 1898 waren 22 130 Krankenkassen vorhanden, die 8770057
Mitglieder zählten, davon 4078958 in den Ortskrankenkassen und
228061 in den Betriebs- oder Fabrikkassen. Die subsidiäre Ge-
meindeversicherung umfaßte 1409730 Mitglieder. 191 2 war die
Zahl der Kassen durch Konzentration auf 21 659 zurückgegangen,
die der Mitglieder auf 13 217 705 vermehrt worden. Die Krank-
heitskosten betrugen zu dieser Zeit 359,7 Millionen Mark, davon
kamen 85,6 auf den Arzt, 54,7 auf Arznei usw., 150,3 auf Kranken-
gelder, 7,2 auf Zahlungen an Schwangere und Wöchnerinnen, 7,9
auf Sterbegelder, 53,5 auf Krankenanstalten, in denen die Ver-
sicherten behandelt und verpflegt wurden, 0,3 auf Zahlungen an
Genesende.
1898 bestanden 65 gewerbliche Berufsgenossenschaften. In
ihnen waren enthalten 456366 pflichtige Betriebe mit 6316843
Personen. Dazu kamen 48 landwirtschaftliche mit 4654176 Be-
trieben und II 189 071 Personen, ferner 146 staatliche und 263
gemeindliche Ausführungsbehörden mit 673950 bzw. 66158 Per-
sonen. Das Jahr 191 2 verzeichnete in den gewerblichen 66 Berufs-
genossenschaften 10 178 577, in den 48 landwirtschaftlichen
17 179000, in 544 Ausführungsbehörden 1032028 Personen. Die
Ausgaben beliefen sich jetzt auf 225,2 Millionen Mark, von denen
170 auf Entschädigungen fielen. Die Verwaltungskosten waren
hoch, 18,1 Millionen Mark, ohne die Unfalluntersuchung und Fest-
stellung der Schadloshaltung zu rechnen, wofür noch 6,1 nötig
waren. Für die Unfallverhütung waren 2,4 Millionen Mark aus-
gegeben worden.
Die Invaliden- und Altersversorgung ruhte 191 3 auf 40 Ver-
sicherungsanstalten. Die Zahl der festgesetzten Renten betrug
192574, vom I. Januar 1891 bis 31. Dezember 1913 2971727, von
denen am i. Januar 191 4 noch i 151 999 liefen. Seit 19 12 werden
Renten an Witwen und Waisen gezahlt. Die Invalidenrente be-
trug 1891 113,5 Mark jährlich, die Altersrente 124,0. Für 1900
waren die entsprechenden Zahlungen bereits 142,0 und 145,5, ^^^^
191 2 186,9 '^^^ 166,1. Der aktive Vermögensstand der Anstalten
war am 31. Dezember 191 2 1929,1 Millionen Mark, die Gesamt-
leistung im laufenden Jahre 205,1, der Reichszuschuß gleichzeitig
55,0. Die Zahl der Versicherten wurde mit 16099400, darunter
4938 100 Frauen angegeben.
Aus diesen wenigen Zahlen läßt sich der gewaltige Umfang
der Reichsversicherung ersehen. Die positiven Leistungen für die
A.Saitoriusv. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 23
^CA V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Arbeiter gehen noch weit darüber hinaus. Da die Verpflegung und
Heilung in Häusern der Versicherungsträger statt der Renten zu-
lässig ist, konnten große Vermögen in ihnen Anlage finden. 1910
waren 60 Millionen Mark in dieser Weise angelegt, in Kranken-
häusern, Heilanstalten, Lungenheilstätten, Erholungs- und Gene-
sungsheimen, Invalidenhäusern. Gleichzeitig hatten die Versiche-
rungsanstalten vornehmlich an Gemeinden große Summen zu ge-
meinnützigen Zwecken 3,usgeliehen; 320 Millionen Mark zur För-
derung des Arbeiterwohnungswesens, iio für landwirtschaftliche
Kreditbedürfnisse, 97 für den Bau von Kranken- und Genesungs-
heimen, Volksheilstätten, Erholungs- und Invalidenheimen, Siechen-
häusern, 152 zur Förderung der öffentlichen Gesundheitspflege, 'wie
zu Volksbädern, Wasserleitungen, Kanalisationen, 82 zur Hebung
der Volksbildung, 116 für sonstige Wohlfahrtspflege.
Damit wurde zugleich der Krankheit und der frühzeitigen In-
validität vorgebeugt, und viele Personen wurden der Arbeit wieder-
gegeben. Von den Berufsgenossenschaften wurden Unfallstationen
errichtet oder unterstützt, in denen durch rasches und geschicktes
ärztliches Eingreifen manches Leben erhalten und manches Glied
gerettet werden konnte, ferner wurde eine Prämienzahlung für
Rettung von Verunglückten und Abwendung von Unglücksfällen
ausgesetzt. Die Unfallverhütungsvorschriften setzten die Zahl der
Verletzungen und Todesfälle herab und verminderten die schweren
Unfälle. Gewisse früher häufige Verletzungen in maschinellen Be-
trieben kommen überhaupt nicht mehr vor.
Die näheren mittelbaren Wirkungen des großen Versiche-
rungswerkes lassen sich bei den Arbeitern, Arbeitgebern und der
Gemeinde verfolgen. Freilich ist hier der Beweis des Nutzens
nicht immer genau zu führen, da sich auch andere Kräfte des
öffentlichen Lebens in gleicher Richtung geltend machen 'können.
Bei dem Erlaß der Gesetzgebung bestand die Sorge, daß
die Löhnung sich um die Kassenbeiträge der Arbeiter ver-
mindern würde. Das ist ebensowenig eingetreten, als in England
und Amerika die Beiträge an die gewerkvereinlichen Versicherungs-
kassen zur Herabsetzung der Lebenshaltung geführt haben. Viel-
mehr haben die Versicherungseinrichtungen aus den von ihnen
zusammengestellten Lohnstatistiken den Satz erhärtet, daß die
Löhne erheblich, oft weit mehr als die Versicherungsbeiträge ge-
stiegen sind. Man wird diese Tatsache gewiß an erster Stelle
der allgemein wachsenden deutschen Produktivkraft und der Reich-
tumsvermehrung zuzuschreiben haben, allein ganz abgesehen davon,
daß die Reichssozialpolitik selbst produktiv gewirkt hat, konnten
die Arbeitgeber den Grundsatz der Billigkeit nicht verkennen.
VII. Die Reichssozialpolitik. ■lee
daß die Forderung der Zwangskasse für sie kein Grund sei, dem
Leben ihrer Leute eine Verschlechterung zuzumuten. Bei den
Dienstboten übernehmen die Dienstherrschaften die Ausgabe der
Versicherung sehr oft ganz. Die Sitte und das Herkommen spielen
in der Lohnfrage eine größere Rolle als man gewöhnlich annimmt,
am auffallendsten da, wo persönliche Beziehungen noch zwischen
'Arbeitgeber und -nehmer bestehen.
Auf alle Fälle dürfen wir nicht übersehen, daß zwischen der
deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik auch in der Lohnfrage
ein Zusammenhang besteht. Die erstere ermöglicht es dem Ar-
beiter, seine Beiträge zu entrichten, ohne in eine Schmälerung
der Befriedigung seiner Bedürfnisse eintreten zu müssen.
Sie setzte auch die Unternehmer in den Stand, die großen
steigenden Lasten zu tragen. Oft haben sie erklärt, die Bürde
werde ihnen zu schwer, und in Zeiten schlechten Geschäftsganges
wurden sie auch empfindlich betroffen. Der ungeheuere Auf-
sch\Aaing der deutschen Volkswirtschaft, der bis 191 4 anhielt, hat
sie doch immer wieder über die Schwierigkeiten hinweggeholfen.
Bisher konnten auch die Betriebe, die für den Absatz im Auslande
Waren herstellten, zum größten Teil die Versicherungslast aus-
halten. Aber eine gewisse Gefährdung ist in einer Anzahl dieser
Industrien doch nicht zu verkennen, soweit sie von Zollmaßregeln
und Schikanen auswärtiger Staaten abhängig sind, wobei nur an
die Einfuhrhindemisse erinnert sein mag, die seit der Mac Kinley-
Bill von Seiten Nordamerikas immer wieder erneut dem deutschen
Ausfuhrhandel ein Gegenstand der Klage gewesen sind. Wenn man
somit zugeben muß, daß der Ausdehnung der sozialen Aufwendun-
gen seitens des Unternehmertums je nach seinem Gedeihen in Pro-
duktion und Absatz Schranken gesetzt sind, so wird man auch vom
Standpunkt der staatlichen und kommunalen Finanzen nicht we-
sentlich anders urteilen können. Der Reichszuschuß hat aller-
dings in den ersten 25 Jahren der Arbeiterversicherung keinen
solchen Umfang angenommen, daß er den Etat überlastet hätte.
Die Gemeindeentbürdung von der drückenden Armen-
pflege wurde als ein Motiv für die Einführung der Versicherung
hervorgehoben. Daß namentlich die Invalidenversorgung auf die
Minderung der Zahl der Gemeindearmen einen Einfluß gehabt hat,
wird allgemein zugegeben. Die Armenlast als Summe ist jedoch
in den Großstädten nicht geringer geworden, vielfach gestiegen.
So paradox es klingt, man sieht die Ursache in dem wachsenden
Wohlstand. Mit der allgemeinen Erhöhung der Lebenshaltung hat
man auch höhere Bedürfnisse der Ortsarmen an Wohnung, Klei-
dung und Ernährung anerkennen müssen, neben Ausgaben, die
23*
2^6 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1990.
durch die Preissteigerung hinaufgesetzt worden sind. Es hat sich
hier dasselbe vollzogen wie bei dem Arbeitslohn, der allein schon
deshalb, vermittelt durch die Konkurrenz der Bedürfnisse, erhöht
werden mußte, weil die besitzende Klasse wesentlich besser lebte.
Die Arbeiterversicherung hat also die Gemeinden nur vor
einer Erhöhung der Armenlast bewahrt, die ohne sie unvermeidlich
gewesen wäre. Keine Sozialpolitik vermag das Residuum der nega-
tiven Auslese in der Gesellschaft, Personen, die nicht arbeiten
wollen oder können, ganz zu beseitigen, so sehr man auch in
Deutschland bemüht war, den Arbeitszuweis an die Stelle der
Armenpflege zu setzen. Von einer anderen Seite her hat die Ver-
sicherung das Gemeindebudget steigend in Anspruch genommen.
Ein großer Teil der Ausführungsarbeiten für alle drei Versiche-
rungszweige wurde ihm zugewiesen, und vielfach konnte die sub-
sidiäre Gemeindekrankenversicherung ohne öffentliche Zuschüsse
nicht auskommen. Daß durch solche Ausgaben die Finanzen in
Unordnung gekommen seien, wird jedoch niemand behaupten
wollen. Das ungemeine Steigen der Gemeindesteuern, die drücken-
den Zuschläge zu den Staatsabgaben liegt eher darin, daß die
Gemeinden selbständige, oft zu weitgehende Sozialpolitik trieben,
die durch die Versicherungsgesetzgebung hier und da angeregt
sein mochte, aber teils in dem Drängen der sozialdemokratischen
Mitglieder der Gemeindevertretungen nach solchen Ausgaben, teils
in der Überwucherung humanitärer Vorstellungen ihren Grund
hatte. So nützlich öffentliche Erholungs-, Turn-, Spiel- und Sport-
plätze, Volksbibliotheken, Lesehallen, Haushaltungsschulen, Jung-
gesellenheime und dergleichen an sich sein mögen, die luxuriösen
Einrichtungen, die man hier für nötig hielt, können der Kritik
nicht standhalten.
Der Segen der Arbeiterversicherung wird über das Gesagte
hinaus noch weiter entfernt sichtbar, wenn auch immer weniger
meßbar. Die besseren Gesundheitsverhältnisse der Nation, zu
denen sie beigetragen hat, haben nicht nur die ökonomische Pro-
duktivkraft, sondern auch die Wehrkraft gehoben. Die militäri-
schen Aushebungen in den Großstädten werden als Beleg dafür
herangezogen, wenn auch im allgemeinen die ländliche Bevölke-
rung immer noch einen größeren Prozentsatz der Wehrpflichtigen
bringt. Ebenso wird man nicht verkennen dürfen, daß der Rück-
gang der deutschen Auswanderung der letzten 25 Jahre in dem
Gelingen der Versicherungsgesetzgebung eine ihrer Wurzeln hat.
Denn einerseits gibt es in den überseeischen Ländern keine aus-
reichende Fürsorge bei Unfall und Krankheiten, und wenn auch
die Aussicht auf Eigentumserwerb, namentlich an Land und Haus,
VII. Die Reicbssozialpolitik. -lej
dort eine größere sein mag als daheim, und eine gute Sicherung
für das Alter in solchem Besitze liegt, so verwirklicht sie sich
doch nicht immer, während die heimische Rente so fest dasteht
wie das Deutsche Reich. Dazu kommt, daß man erworbene An-
sprüche durch Auswanderung nicht gern preisgibt und sich
höchstens auf Zeit fortzugehen entschließt. Die zeitweise Aus-
wanderung aus Deutschland scheint prozentual in den letzten Jahr-
zehnten zugenommen zu haben, was man namentlich daraus
schließt, daß die Familienauswanderung in der Abnahme gegen
früher begriffen ist. Die Tatsache, daß Deutschland ein Ein-
wanderungsland geworden ist, ist auf die Versicherungsgesetz-
gebung insofern zurückzuführen, als auch Ausländer, selbst als Sai-
sonarbeiter ihrer auf Grund internationaler Übereinkommen teil-
haftig geworden sind, an denen namentlich Italien interessiert
gewesen ist.
Die Reichssozialreform hat weiterhin auf die Vereinheitlichung
der deutschen Volkswirtschaft nicht ohne Einfluß bleiben können.
Schon die allgemeine Gesetzgebung mußte den Gedanken nahe-
legen, daß jedem deutschen Arbeiter, wo er auch Stellung suchte,
und ob er hin und her wanderte, innerhalb der Reichsgrenzen das
gleiche Recht garantiert war. Dazu kommt, daß die Berufsge-
nossenschaften sich teilweise über ganz Deutschland erstrecken,
im übrigen einen engen örtlichen Charakter nicht besitzen. Schließ-
lich hat die dauernde Verfügung erkrankter, verletzter, invalider
Arbeiter über ein Einkommen der gesamten Verkehrswirtschaft
Festigkeit unter Stärkung der lokalen Märkte zugeführt.
Die Frage, ob die Reichssozialpolitik geeignet gewesen ist,
den sozialen Frieden mit der Arbeiterschaft anzubahnen, läßt sich
in ihrer ersten Periode etwa bis 1900 nicht bejahen. Es ist dies
so, einmal im Verhältnis der Arbeiter zum Staat, und dann in dem
zum Unternehmertum. Die Staatsfeindlichkeit der Lohnarbeiter
war unter dem Sozialistengesetz verschärft worden. Es galt die
Meinung, daß das Kapital in Deutschland brutal durch den Staat
herrsche, und daß alle militärische Rüstung nur im Dienste einer
profitgierigen Klasse vorgenommen werde. Für auswärtige Politik
fehlte jedes Verständnis. Hatte doch die Arbeiter-Internationale
als ihr künftiges Ziel hingestellt, die Staatsgegensätze auszulöschen.
Nicht weniger abweisend war das Empfinden den Arbeit-
gebern gegenüber. Sie zahlten, sagte man, den Beitrag nicht frei-
willig, sondern weil der Staat sie dazu zwingt, und der Staat
zwänge sie, weil er sich vor der Revolution fürchte.
Die Gewerkschaften und die Fachvereine, von denen man eine
Ergänzung der Sozialpolitik in der genossenschaftlichen Selbst-
•leg V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1800.
hilfe erwartet hatte, hatten diesen Zweck nur wenig erfüllt. Die
sozialdemokratischen waren nur ein Mittel der Staats- und gesell-
schaftsfeindlichen Propaganda. Abgesehen von wenigen dieser Ver-
eine, wie z. B. von dem der Buchdrucker, waren alle damaligen
von politischen Parteien geschaffen worden, die ihren Einfluß
dauernd behaupten wollten. Insofern waren sie etwas anderes als
die englischen Trades Unions, an welche ihre Verteidiger der
nationalökonomischen Wissenschaft in Deutschland so gern er-
innerten. Ihnen den konservativen Charakter der englischen Ein-
richtung zu geben, war in der Hauptsache bisher mißglückt. Sie
bedurften zunächst der Freiheit von der politischen Beeinflussung,
um sich auf sich selbst zu besinnen. Bis aber die Schlacken der
Vergangenheit abgestreift waren, mußte sich in der nachfolgenden
Zeit noch mancherlei im Deutschen Reiche auf dem Gebiete der
Wirtschafts- und anderer Politik ereignen, worauf wir zum Ab-
schluß unserer Betrachtung in einem späteren Kapitel zurück-
kommen werden.
VIII. Die deutsche Kolonialpolitik. Die nationale
Wirtschaftspolitik hatte sich das Ziel gesetzt, im Innern des
Reiches alle produktiven Einheiten und Gruppen durch gegen-
seitige Einwirkung, unter Beseitigung auswärtiger Störung, zu ent-
falten. Doch war die Neuordnung nicht so gedacht worden, daß
die deutsche Volkswirtschaft ein selbstgenügsames Ganzes werden
sollte. Dieser Unmöglichkeit war sich die Reichsregierung wohl
bewußt. Die Einbeziehung der Hansestädte in die ZoUinie weist
schon auf den Wunsch nach einem vermehrten Außenhandel hin.
Die zahlreichen seit 1871 errichteten Konsulate hatten andauernd
den Auftrag erhalten, an ihrem Sitze die Absatzgelegenheiten für
deutsche Waren zu erforschen, der Bau der Reichsflotte, so be-
scheiden er zuerst gewesen war, wurde mit dem Schutz der Deut-
schen im Auslande, ihrer dortigen Vermögen und ihres Handels
gerechtfertigt, die zollpolitischen Retorsionen gegen Österreich und
Rußland hatten den Zweck, diese Länder für einen erhöhten
.Warenaustausch willfährig zu machen.
Die Schaffung eines Kolonialreiches, die in den achtziger
Jahren gelang, vertritt zunächst den Gedanken, daß die deutsche,
innerlich gefestigte Nation der Aufteilung Afrikas nicht müßig
zuzuschauen habe, um sich weltpolitisch betätigen zu können. Zu-
gleich sollte sie dem Auslandsgeschäft Ergänzung und neue Rich-
tung gewähren.
Der Reichskanzler war nur zögernd an die Lösung dieser
Frage herangetreten. Lange hatte er die Meinung gehegt, daß
die Auslandsdeutschen, unter dem Recht staatlicher Verträge in
VIII. Die deutsche Kolonialpolitik. 3 SO
ihren Niederlassungen gesichert, wirtschaftlich vorankommen
würden. Schlechte Erfahrungen, die deutsche Kaufleute in Levuka
auf den Fidjiinseln bei Schadenersatzansprüchen gegen die eng-
lische Verwaltung gemacht hatten, auch das Übelwollen, dem
deutsche Unternehmer in französischen Kolonien begegnet waren,
überzeugten ihn, daß ohne Einsetzen staatlicher Machtpolitik der
überseeische deutsche Kaufmann seinen Mitbewerbern nicht voll
(gewachsen war.
Während der Friedensverhandlungen mit Frankreich 1871
waren Stimmen in Deutschland zugunsten der Abtretung franzö-
sischer Kolonien laut geworden. Sie fanden bei der Regierung kein
Entgegenkommen. Als nun in den nachfolgenden Jahren in Eng-
land das Wort geprägt und nach ihm verfahren wurde: ,, Afrika
englisch vom Tafelberg bis zum Nil", als die Franzosen in Indo-
china vordrangen und im Sudan Expeditionen zum Zwecke des
Landerwerbes vornahmen, als die Wirtschaftsstockung nach 1873
das Ausfuhrgeschäft lähmte, während tropische Rohstoffe und
Kolonialwaren andauernd begehrt wurden, gelang es einigen pa-
triotischen Männern, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die
Kolonialfrage zu lenken. 1878 gründete Dr. Jannasch 'den
„Zentralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher
Interessen im Auslande". Im gleichen Jahre veröffentlichte E. v.
Weber ein Werk ,,Vier Jahre in Afrika", in dem eine Verbin-
dung Deutschlands mit den Burenrepubliken empfohlen wurde,
1879 erschien Friedrich Fabris Broschüre „Bedarf Deutsch-
land der Kolonien?". Bald nachher traten zahlreiche Schriftsteller
hervor, die ihre überseeischen Erfahrungen mitteilten, Politiker
und Nationalökonomen nahmen das Problem auf, das in kurzer
Zeit so populär wurde, daß die Reichsregierung, auch der öffent-
lichen Meinung wegen, an den Zeichen der Zeit nicht meinte vor-
übergehen zu dürfen.
Die Fabrische Schrift hatte ihren Ausgang von der
deutschen Übervölkerung genommen, an deren Dasein damals in
der Periode des wirtschaftlichen Niederganges der Glaube wieder
verbreitet war, weiter von der an sie sich anschließenden Aus-
wanderung nach Nordamerika, wo die Deutschen nur zu leicht
ihr nationales Gepräge preisgaben und als Bauern ihrer alten Hei-
mat eine Getreidekonkurrenz bereiteten. Der zutreffende Schluß
für die Erhaltung des Deutschtums war die Aufforderung, Acker-
baukolonien zu gründen, und da Afrika nur für Handelsnieder-
lassungen geeignet erschien, wurde Südamerikas gemäßigte Zone
in Vorschlag gebracht. Das war freilich unpolitisch gedacht, da
die Brasilianer und Argentinier nicht im geringsten die Neigung
^5o V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
hatten, den Deutschen einen Teil ihres Landes zu überlassen, und
Nordamerika mit der Monroe-Doktrin opponierte, aber eine starke
Anregung des kolonialen Gedankens blieb der warm empfundenen
Schrift nicht aus.
Wir haben oben die deutsche Auswanderung bis zur Reichs-
gründung in kurzen Zügen erzählt. Die glänzende Konjunktur in
den Vereinigten Staaten hatte 1872 und 1873 noch zahlreiche
Deutsche über den Ozean gelockt. Dann lähmte die Verkehrs-
stockung das dortige Wirtschaftsleben bis 1879 f^^st noch mehr als
in Europa, die Arbeitsgelegenheit in der Industrie wurde immer
schlechter, zahlreiche gewalttätige Streiks, besonders bei den Eisen-
bahnen, brachten überwiegend den Arbeitern Mißerfolge, für die
Besiedelung des Westens gab es genug Leute im unzufriedenen
Osten. Die deutsche überseeische Auswanderung ließ rasch nach,
ging von 1 10 000 des Jahres 1873 auf ein Fünftel bis 1877 hin-
unter. Zwei Jahre später fing sie mit der amerikanischen ver-
besserten allgemeinen Konjunktur wieder an zu steigen, um dann
1882 mit 220902 Personen den Rekord des Jahrhunderts zu er-
reichen. Mit der Besserung der deutschen Erwerbsverhältnisse
und der Arbeiterversicherung ging sie wieder zurück. 1886 betrug
sie nur noch 83 000, aber da die Schutzzollpolitik erst nach und
nach den industriellen Aufschwung brachte, blieb die Zahl der
P^ortziehenden doch zunächst noch hoch und sank erst in dem fol-
genden Jahrzehnt wieder auf den Stand der Mitte der siebziger
Jahre, was bei der inzwischen gewachsenen Bevölkerung, prozent-
weise gerechnet, eine Verminderung bedeutete. Der aus Volks-
zählung, Geburten und Sterbefällen berechnete Wanderungsverlust
hat von 1881 — 1885 4,3 auf 1000 Einwohner betragen, von 1885 bis
1890 nur noch 1,4.
Die Forderung auf Kolonien war eine logische Konsequenz
des Reichsgedankens und der nationalen Wirtschaftspolitik. Wollte
man eine politische und wirtschaftliche Großmacht sein, so mußte
man nicht bloß europäische, sondern Weltpolitik treiben, wollte
man die deutsche Volkswirtschaft als Ganzes erstarken lassen,
mußte man in die Weltwirtschaft mit Handel, Schiffahrt, Kapital-
anlage, Banken, Niederlassungen und Filialen hinaus.
Es ist daher ein Irrtum, zu behaupten, daß man erst seit
1890 die große Bedeutung der Weltwirtschaft für das Reich er-
kannt habe. Seitdem der Reichskanzler begonnen hatte, sich den
Kolonien zuzuwenden, betrieb er neben der ihm hauptsächlichen
europäischen eine Weltpolitik. Auch auf diesem Gebiete hat die
folgende Generation nur das Erbe seines kraftvollen Eingreifens
angetreten.
VIII. Die deutsche Kolonialpolitik. 761
Der deutsche Liberalismus, der der Gründung des Reiches so
kräftig beigestanden, die Kleinstaaterei deshalb so oft angegriffen
hatte, weil sie den Deutschen in der Fremde keinen Schutz zu ver-
leihen vermochte, wollte, soweit die freihändlerische Demokratie
in ihm Einfluß gewonnen hatte, von Kolonien nichts wissen und
nahm in ihrer Bekämpfung die Bundesgenossenschaft der Sozial-
demokraten gern an. Die unmittelbaren Gründe der Ablehnung
jeder Kolonialpolitik lagen, neben einzelnen Fällen persönlichen
Getriebes wirtschaftlicher Konkurrenten, wie 1880 bei der Samoa-
vorlage, die zugunsten des in Zahlungsschwierigkeiten gelangten
Hauses Godeffroy eine Reichsgarantie in Aussicht nahm, und wie
bei der Dampfersubvention für die Post nach Ostasien und Austra-
lien 1884, welche man der Neu-Guinea-Gesellschaft nicht gönnte,
in der Abneigung gegen finanzielle Geldaufwendungen, die unver-
meidlich waren, und in dem freihändlerischen Argument, daß man
die Kolonialprodukte da einzukaufen hätte, wo sie am billigsten
seien, wobei erst zu erschließende Kolonien nicht in Frage kämen.
Die Demokratie endet wirtschaftspolitisch immer im Konsumenten-
individualismus, d. h. in dem Wohlbefinden der gegenwärtig leben-
den Menschen. Die zukünftigen Geschlechter mögen für sich sor-
gen. Das ist wenig national empfunden. Mögen andere Völker die
Erde unter sich teilen, der deutsche Michel soll die liberale Presse
lesen und sich mit dem Bewußtsein zu Bette legen, daß er klüger
als andere gewesen ist. Etwaige Bedenken gegen solche Ideen wur-
den zudem mit dem Argumente beschwichtigt, es seien ja doch nur
Sandwüsten und Fieberländer zu erwerben. 30 Jahre hat die
Kolonialopposition im Reichstag immer dasselbe gesagt — aller-
dings war ihr ein Erfolg damit nicht beschieden.
Es war vielmehr im deutschen Volke ein Jubel ausgebrochen,
als die schwarz-weiß-rote Fahne in Afrika und Australien gehißt
worden war, ein Völkerfrühling schien, wie der Reichskanzler sagte,
die deutschen Gaue zu durchziehen, mit Freude begrüßte er dieses
Erwachen des Nationalbewußtseins. Überall errichtete der jetzt
gegründete Kolonialverein Zweigverbände und wirkte durch Vor-
träge und seine Zeitschrift aufklärend und anfeuernd. Die Regie-
rung verstand die Bewegung recht, und B i s m a r c k war der Mann,
sie sicher und vorsichtig zu lenken. Jeden, der die Geschichte des
Erwerbes der deutschen Kolonien liest, muß seine diplomatische
Meisterschaft in der Benutzung aller vorhandenen Mittel und seine
Festigkeit mit höchster Bewunderung erfüllen. Deutschland hatte
nur eine schwache Flotte, eine Volksvertretung, die nicht recht
wollte, es stand der englischen und französischen Mißgunst gegen-
über, die die geringsten Landansprüche nicht zuzugeben geneigt
202 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reiohs 187 1 — 1890.
war. Die Australier tobten, der Kapstaat wurde aufgehetzt.
Trotzdem gelang das Werk vollkommen mit wenigen Kreuzern, die
gegen widerspenstige arabische Sultane und Negerhäuptlinge aus-
gesandt wurden, und mit geschickten Noten, die nach London
gingen, mit tüchtigen Männern, wie Nachtigal, Peters, Wiß-
mann, die vom Reich beauftragt waren oder, wo sie selbst die
Initiative ergriffen hatten, von ihm geschützt wurden.
Der Reichskanzler war alles andere eher als ein unbedingter
Kolonialschwärmer, der gleich ins Große gehen will. Er fing mit
Vorsicht im Kleinen an, ohne das Reich finanziell erheblich zu be-
lasten. „Unsere Absicht", erklärte er am 26. Juni 1884 im Reichs-
tage, „ist nicht, Provinzen zu gründen, sondern kaufmännische
Unternehmungen, aber in der höchsten Entwicklung auch solche,
die sich eine Souveränität, eine schließlich dem Deutschen Reiche
lehnbar bleibende erwerben, zu schützen in ihrer freien Entwick-
lung sowohl gegen die Angriffe aus der unmittelbaren Nachbar-
schaft, als auch gegen Bedrückung und Schädigung von selten
anderer europäischer Mächte".
Ehemals zu Zeiten des gespaltenen Deutschlands hatten schon
Private, wie in Nordamerika und Brasilien, Ländereien erworben,
um dorthin die Auswanderung zu leiten. Deutsche Missionare
hatten zur Heidenbekehrung in fremden Erdteilen ihre Nieder-
lassungen gegründet, Handelsgesellschaften zur Förderung der Aus-
fuhr einige Filialen im Auslande errichtet, deutsche Forscher waren
in das Innere von Afrika vorgedrungen und hatten auf den anzu-
knüpfenden Handel hingewiesen. Jetzt sollte die schützende Hand
des Reiches über solche Bestrebungen gehalten werden, wo es
völkerrechtlich zulässig war, ohne zugleich eine weitere private
Tätigkeit zu unterbinden. Es fehlte den Deutschen ganz an Er-
fahrung in der kolonialen Gesetzgebung und Verwaltung, es gab
kaum Beamte, die man hätte entsenden können. Daher sollten die
Unternehmer aus eigenem Vorgehen zunächst lernen, ob sie durch
den Handel mit den Eingeborenen oder durch die Anlage von
Kultivationen mit dortigen Arbeitskräften, oder durch Ansiedlung
von Europäern Erfolge gewinnen könnten. Erst, wenn der prak-
tische und dauernde Verkehr mit den „Schutzgebieten" — so wur-
den die Erwerbungen genannt — in sichere Bahnen gelenkt wäre,
sollte sich ein beschränktes Eingreifen der Reichsverwaltung an-
schließen. Diese Politik des „Kompagniensystems" ist bis 1890
festgehalten worden. Es stellte sich dann heraus, daß die Kolo-
nien mehr als kommerzielle Einrichtungen sein konnten. Die Kauf-
leute reichten nicht mehr aus, Beamte und einige Schutztruppen
mußten hinausgeschickt werden.
VIII. Die deutsche Kolonialpolitik. 753
Die erste völkerrechtliche Besitzergreifung erfolgte in Süd-
westafrika durch den Bremer Kaufmann Lüderitz in einem
Hafen des Namaqualandes, Angrapequeiia, einer Gegend, wohin
schon Anfang der vierziger Jahre eine Barmer Gesellschaft von
Kapstadt aus Missionare entsandt hatte. Von hier aus ist
Deutsch-Südwestafrika, der Wohnsitz der Hereros im
Norden, der Bastards, der Hottentotten im Süden, gegründet
worden, das schon im Frühjahr 1885 im großen ganzen seine
späteren Grenzen besaß. Dann folgten die westafrikanischen Er-
werbungen in Kamerun und Togoland, bei denen nicht bloß
Schwierigkeiten mit England, wie in Südwest, sondern auch mit
Frankreich zu überwinden waren, wobei der entsandte Generalkonsul
Dr. N achtigal sichdas höchste Verdiensterwarb. In der Südsee
wurden ebenfalls 1884 ein Teil von Neu-Guinea und einige Insel-
gruppen dem Reichsschutze unterstellt, deren Zugänglichkeit durch
die Bremer Lloydlinie erschlossen wurde. Im Stillen Ozean hatte
die schon erwähnte Firma Godeffroy in den fünfziger Jahren,
von Südamerika ausfahrend, lebhaften Handel angeknüpft und
Stationen errichtet. 1862 fuhren 29 eigene große Segelschiffe des
Hauses von Hamburg aus, und 100 kleine Schiffe hielten die Ver-
bindung zwischen den Inseln. Die „große Firma" erregte die
englische Eifersucht. Wäre 1880 die Reichssubvention gelungen,
mit Leichtigkeit hätten bald wichtige herrenlose Inseln zu Schutz-
gebieten gemacht werden können. Später wurde das Vorgehen er-
heblich erschwert. Schließlich woirde 1885 in Ostafrika auf
Zugreifen der „Gesellschaft für deutsche Kolonisation" ein großes
Schutzgebiet sichergestellt, zuerst durch Dr. Peters, der, von
Sansibar ausgehend, mit unvergleichlichem Mute und größter Zä-
higkeit die Landerwerbungsverträge abschloß und damit die künf-
tige Reichsherrschaft einleitete, die den Widerstand der ansässigen
kleinen arabischen, völkerrechtlich nicht anerkannten Machthaber
bald überwand. Durch das spätere Abkommen mit England
wurden das Sultanat Witu und die Rechte auf die Insel Sansibar
gegen den Besitz von Helgoland ausgetauscht. Dieser Vertrag ist
namentlich auch von selten Bismarcks heftig angegriffen worden.
Der Weltkrieg hat, nachdem diese Insel vor der Elbe- und Weser-
mündung stark befestigt worden war, ihn vom Standpunkt der
deutschen Seemacht aus gerechtfertigt. Es ist allerdings die Frage,
ob die Erschaffung der deutschen großen Kriegsflotte eine rich-
tige Politik gewesen ist. Wer sie verneint, wird auch den Erwerb
von Helgoland gering einschätzen, da der Felsen in deutschem Be-
sitz nur ein neues Motiv war, die Seerüstung zu verstärken.
364 ^' Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1881 — 1890.
Dem Vertrag ist es auch nachgerühmt worden, daß durch ihn
die kolonialen Streitigkeiten mit England zum Abschluß kamen,
wie das Kaiser Wilhelm II. in den ,, Ereignisse und Gestalten"
wiederum hervorgehoben hat. Eine englische Freundschaft konnte
freilich aus diesem Tauschgeschäft nicht entstehen, worauf Bis-
marck im dritten Bande der ,, Gedanken und Erinnerungen" hin-
weist, da bei dem Wechsel der parlamentarischen Majoritäten die
spätere an die Politik der früheren nicht gebunden sei.
Übrigens erinnert der Kaiser an gleicher Stelle daran, „daß
mit dem Aufblühen von Tanga, Dar-es-Salam usw. an der Küste
Afrikas der Wert Sansibars — als Hauptumschlagshafen — dahin
sein würde", mithin afrikanische Produkte direkt an der Küste
eingeladen und europäische dort ausgeladen werden könnten. Diese
Entwicklung hat tatsächlich stattgefunden.
In der nachbismarckschen Zeit wurden 1899 die Karo-
linen, die M a r i a n e n und die Palauinseln von Spanien um
25000000 Pesetas gekauft, 1900 wurde Deutsch-Sa moa
übernommen, 1 898 wurde das Kiautschougebiet von
China auf 99 Jahre gepachtet. Tsingtau, ein Haufen ersten Ranges
an der nordchinesischen Küste, kannte damals nur eine dörfliche
Niederlassung und wurde unter deutscher Leitung eine Stadt von
30000 Einwohnern. Die meisten sind Chinesen, die in besonderen
Quartieren wohnen und die Arbeiterschaft ausmachen. Die Ver-
waltung der Kolonie wurde dem Reichsmarineamt unterstellt, wäh-
rend seit 1890 die sonstigen kolonialen Besitzungen ihre Zentrale
in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes hatten, der ein
besonderer Kolonialrat von Sachverständigen beigegeben war.
Später wurde die Errichtung eines selbständigen Kolonialamtes
'notwendig.
Das gesamte Kolonialgebiet umfaßte schließlich 2 657 204
Quadratkilometer, die Bevölkerung wurde 19 10 auf 10,8 Millionen
angegeben, 1913 wurden 28846 Weiße, darunter 23952 Reichs-
deutsche gezählt. Durch den Staatsvertrag mit Frankreich 191 1
trat letzteres nach der Marokkokrise ein Stück seines westafrika-
nischen Kongogebietes ab, das mit Kamerun vereinigt wurde und
den Namen Neukamerun erhielt.
Der wirtschaftliche Fortschritt der Kolonien war zuerst nur
ein langsamer, dann aber, nachdem mancherlei Umgestaltungen
der Verwaltung vorgenommen worden waren, ein durchaus gün-
stiger. Nach der Denkschrift des Staatssekretärs des Kolonial-
amts Dernburg betrug 190S die Gesamtsumme der in den
Schutzgebieten angelegten Kapitale, mit Ausnahme von Kiautschou,
370 Millionen Mark. Davon waren 191 rentabel, 159 in der Ent-
VIII. Die deutsche Kolonialpolitik. 365
Wicklung begriffen, 12 unrentabel und 8 in Missionen angelegt. In
diese Summe sind die Schiffe eingerechnet, die dem Verkehr mit
den Kolonien dienen (65077800 Mark). Die Anlagen des Reichs
sind mit 60782340 Mark, der Erwerbsgesellschaften mit 1427 13985
Mark, der Einzelunternehmungen mit 66521000 Mark beziffert.
Kurz vor dem großen Kriege wurde die Kapitalanlage auf eine
halbe Milliarde angegeben. Sie hatte sich in 20 Jahren etwa
verzehnfacht. In gleicher Weise war der Außenhandel gewachsen.
Es ist genau das eingetreten, was im Jahre 1880 bei der
Samoavorlage der Reichstagsabgeordnete M o s 1 e prophetisch aus-
gesprochen hat. Es verdient wiederholt zu werden: „Ich habe
die Überzeugung, daß die Kolonialpohtik mit Naturnotwendig-
keit in ganz kurzen Jahren an uns herantritt, und daß sie dann
zuerst mit Fehlern und später mit Erfolg betrieben werden wird.
Das ist noch niemals dagewesen, daß ein Staat, wenn er einen
ganz neuen Weg unternommen hat, nun gleich auf diesem Wege
die reichsten Früchte überall erntet. Auch bei der Kolonialpolitik
werden Erfahrungen zu machen sein, große und schwere Erfahr-
ungen, aber das letzte Ende wird segensreich für Deutschland
sein".
Die wirtschaftliche Erschließung der Kolonien ist je nach
der Natur des Landes, des Klimas und der eingeborenen Bevölke-
rung verschieden ausgefallen. In Südwestafrika mit seinem
Steppencharakter war die Grundlage die Viehwirtschaft, die unter
den Verhältnissen der Gegenwart erst in Betrieben von der Größe
nicht unter 5000 Hektar lohnend ist. Diese großbäuerlichen
Farmen setzen ein Anlagekapital von 20 — 30000 Mark voraus.
Nach Abschätzung des verfügbaren Weidelandes würden 25000
Familien so Platz finden können. An dem Swapokfluß ist aus-
gezeichnetes Gartenland vorhanden, das für die Dattelpalme und
den Weinstock brauchbar ist. Der Bergbau im Norden der Ko-
lonie, ferner die Diamantengewinnung haben sich als ertrag-
bringend erwiesen und hatten eine Zukunft. Für eine große Be-
völkerung war zunächst kein Dasein gegeben. Doch mußte sich
das Wirtschaftsleben nach und nach intensiver gestalten, wenn
das Bahnnetz ausgebaut, genügend Wasser erschlossen war, einige
Mittelpunkte des Verkehrs entstanden waren. Der Fortschritt der
Kolonie ließ sich an den Viehzählungen von 1903 — 191 2 für Rind-
vieh, Schafe, Ziegen, an der wachsenden Diamanten- und Kupfer-
ausfuhr verfolgen. In dieser Periode ist die Gesamtausfuhr im
Werte von 3,9 Millionen auf mehr als das Zwölffache gestiegen.
Nicht minder hoffnungsreich hatte sich Ostafrika ent-
wickelt. In dem tropischen Klima war die Erzeugung von Kopra,
366 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
Kautschuk, Sisalhanf, Kaffee, Nutz- und Edelholz, Erdnüssen das
wichtigste. Für die Viehzucht waren Ländereien in kühlerer, hö-
herer Zone verwendbar. In den sehr hoch gelegenen Gegenden ist
eine intensivere Bauernansiedelung möglich.
Reicher von der Natur ist Kamerun ausgestattet, dessen
Fruchtbarkeit außerordentlich ist, und das vornehmlich unter der
Kultivation der Ölpalme, des Kakaos, des Kautschuks und des
Bau- und Nutzholzes ausgebeutet wurde. Der Export war in
raschem Steigen und hatte sich in den letzten lo Jahren mehr
als verdreifacht.
Die viel kleinere Kolonie Togo — etwa in der Größe
Bayerns, während Kamerun ohne das von Frankreich abgetretene
Stück den Flächeninhalt Deutschlands hat — produzierte ähnlich
wie die vorgenannte, daneben hatte man mit dem Anbau von
Baumwolle begonnen und ganz gute Ergebnisse erzielt. Man setzte
auf die Ausdehnung dieser Kultur große Hoffnungen, wenn auch
die bis 19 14 erzielten absoluten Quantitäten noch gering blieben.
Von den australischen Schutzgebieten ist Neu-Guinea als
die zukunftsreichste von allen Kolonien bezeichnet worden, da
sie sich für die Kokospalme, Guttapercha, Kautschuk, Tabak,
Baumwolle, Sisalhanf und Holz ganz besonders eignete. Auch
S a m o a , obwohl nur eine kleine Insel, zeigte eine steigende Aus-
fuhr in Kopra, Kakao und Kautschuk. Das Hauptprodukt der
vielen kleinen sonstigen Inseln ist diese Kopra, der Kern der
Dattelpalme, der zu Öl, Speisefett, Seife, Lichten, Futterkuchen
verarbeitet wird. Die Einfuhr davon nach Deutschland ist von
1907 — 1913 von 49785 auf 196598 Tonnen gesteigert worden.
Von mineralischen Rohstoffen hatten die Phosphate der j Inseln
Beachtung gefunden.
Das Kiautschougebiet hatte eine große Bedeutung für
den Handel mit China, insbesondere in der angrenzenden Provinz
Schantung, in der die Deutschen einige Bevorzugungen genossen.
Durch die Schantungbahn, die 1904 vollendet wurde, sind die
wertvollen Kohlenfelder der Provinz nutzbar gemacht worden.
Tsingtau zeigt, was in kurzem durch energische methodische An-
leitung und Unternehmung in Ostasien mit seinen reichen, billigen
Arbeitskräften geleistet werden kann. Eine moderne Stadt mit
gesundem Europäerquartier, mit Kais und Promenaden, mit elek-
trischen Anlagen, Großziegeleien, Straßenbahnen, Krankenhäusern,
Schulen, Missionen, Hotels ist auf einem öden Terrain geschaffen
worden. Die Krönung des Werkes war die deutsch-chinesische
Hochschule, von beiden Staaten gemeinsam errichtet. Die umlie-
genden kahlen Berge sind aufgeforstet worden. Mit dem bc-
VIII. Die deutsche Kolonialpolitik. ^Ö?
schränkten Landbesitz wurde sorgsam Haus gehalten, die Land-
ordnung von 1898 kennt das Vorkaufsrecht für das Reich und
eine Zuwachssteuer von 331/3 ''/o, um die Bodenspekulation zurück-
zuhalten. Unter den 36 chinesischen Seezollamtsstädten hat Tsing-
tau sich in 15 Jahren an die siebente Stelle emporgearbeitet. Die
Eroberung dieser Kulturstätte durch Japan im Herbst 191 4 ist
besonders nach diesen glänzendan Leistungen in ganz Deutsch-
land tief schmerzlich empfunden worden.
Aus dieser kurzen Übersicht ergibt sich, daß die deutschen
Schutzgebiete eine wertvolle Ergänzung der heimischen Volks-
wirtschaft werden konnten. Gewiß war bis 19 14 noch alles im
Werden, aber daß die Deutschen zu kolonisieren wußten, haben
sie bewiesen. An die Ausfuhr schließt sich die Einfuhr an. Der
Gesamthandel, der 1903 auf 117 Millionen Mark berechnet wurde,
hatte 191 3 die Höhe von 464 bereits erklommen. Ein weitge-
stecktes Ziel war, Deutschland von anderen überseeischen, tro-
pischen und subtropischen Gebieten einmal unabhängig zu machen,
deren Produkte wir, abgesehen von den sogenannten Kolonial-
waren, sowohl in der Industrie als auch in der Landwirtschaft,
in den Edelfuttermitteln gebrauchen, und deren Besitzer durch
Preisgestaltungen der Handelspolitik oder Vertrustung uns hohe
Tribute aufzuerlegen vermögen. Die Vorgänge des nordameri-
kanischen BaumwoU-, Tabak- und Petroleumtrusts sind warnende
Zeichen. Nur wenn Hoheitsrechte über den Standort der Pro-
duktion bestehen, kann die Gesetzgebung und die Verwaltung die
großen ökonomischen Interessen der Volksgesamtheit wahrnehmen.
Außerdem weiß niemand, was in dem Boden an mineralischen
Werten alles vorhanden ist. So waren die Diamanten in Südwest
eine ganz unerwartete Gabe. Nur derjenige Staat, der über viel
Land verfügt, wird eine wirtschaftliche Zukunft im internationalen
Verkehr haben können. Dieses Empfinden hat stets den Völkern
innegewohnt, wie es die Geschichte seit Jahrtausenden beweist.
Leider werden die Erfahrungen der Geschichte von den Völkern
zu leicht vergessen, um so mehr sollten die Historiker und Politiker
sie immer von neuem in Erinnerung bringen.
Die Kolonien waren nur unzureichend geschützt. Sie be-
saßen keine Militärmacht, die einmal dem Mutterlande eine Hilfe
hätte bringen können. Nicht einmal so viel Truppen wurden ihnen
bewilligt, daß sie sich gegen angreifende Nachbarn leidlich ver-
teidigen konnten. Die geschaffene Schutztruppe war ausschließlich
gedacht für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung unter
den Eingeborenen und für die Unterdrückung des Sklavenhandels.
Keine Spur von Militarismus war in den Kolonien zu finden.
758 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890,
Auch das ist eine geschichtliche Tatsache. Als nach Niederwerfung
des Hottentotten- und Hereroaufstandes die Reichsregierung den
Antrag stellte, in Südwestafrika eine mäßige Truppenmacht stehen
zu lassen, wurde er vom Reichstage abgelehnt. Dieser Aufstand
war nicht im geringsten durch grausame Behandlung der Ein-
geborenen veranlaßt worden, was die Engländer später lügne-
rischerweise in alle Welt hinausgeschrieen haben, obwohl sie als
die letzten, nach dem, was von ihnen seit Jahrhunderten von der
Eroberung Ostindiens bis zum Burenkrieg getan war, berechtigt
waren, auf uns einen Stein zu werfen. Wenn es auch wahr sein
mag, daß der Landhunger der deutschen Siedler zu , Grenzreibereien
hier und da ein Motiv gewesen ist, so waren doch die feind-
lichen Überfälle und Räubereien unbedingt zu unterdrücken, die
sich keine friedliche Kolonisation gefallen lassen darf.
Militärische Machtmittel über die bestehenden hinaus glaubte
man auch in einem großen Teile des afrikanischen Gebietes im
Hinblick auf den § ii der Kongoakte nicht zu benötigen, da man
im Falle eines Krieges der dort interessierten Mächte unterein-
ander die Neutralisierung zum Schutz der weißen Rasse fest-
gelegt hatte. Es war dies eine Bestimmung, die von Deutschlands
Feinden auf Englands Andringen weder in Kamerun noch Ost-
afrika beachtet worden ist. Die Engländer bewiesen auch hier,
daß das Völkerrecht ihnen nur Wort und Schall ist, worauf sie
hören, solange es ihnen paßt. Sie ignorierten vollkommen das
Solidaritätsgefühl der weißen Rasse, auf das im Verkehr mit
Farbigen so viel ankommt, als sie deutsche Kriegsgefangene von
Negern unter dem Zuschauen von Negerhorden öffentlich aus-
peitschen ließen und ihre Offiziere an die Spitze von farbigen,
zwangsweise ausgehobenen Regimentern stellten, die gegen den
Feind auf den Flandernschen Schlachtfeldern zur Bestialität und
Hinterlist angefeuert wurden. In der Nachkriegszeit haben die
Franzosen mit der „schwarzen Schmach", die sie über besetzte
deutsche Gebiete mit farbigen Truppen verhängten, den Beweis
erbracht, daß auch sie das Gemeinschaftsgefühl der weißen Rasse
mißachten, wenn sie ihr Deutschenhaß verblendet.
Die Handelspolitik der deutschen Kolonien war im Gegen-
satz zu der französischen und amerikanischen, ja selbst zu der
englischen, im ganzen genommen, eine liberale, die sich bis 191 4
bewährt hatte. Die ausländische Ware blieb der deutschen zoll-
politisch gleichgestellt, unter der Voraussetzung^, daß die möglichst
billige Einfuhr dem reinen und zunächst nicht abänderbaren Agrar-
land am schnellsten zum wirtschaftlichen Aufschwung verhelfen
werde. Das Prinzip der offenen Tür galt auch bei der Kapital-
VIII. Die deutsche Kolonialpolitik. t5q
anläge, die als ausländische bis zu 89 Millionen Mark, d. h.
auf mehr als ein Sechstel der gesamten, angewachsen war.'
Wegen der regelmäßigen Verbindung mit Deutschland strömten
übrigens Waren und Werte selbstverständlich von dort ganz über-
wiegend ein, wie das auch die freihändlerischen Kronkolonien der
Engländer erwiesen haben.
Auch im inneren Finanzwesen sind die Fremden den Reichs-
angehörigen gegenüber nicht benachteiligt gewesen. Nur den
Missionen sind einige Begünstigungen zuteil geworden.
Das Missionswesen hat in den Kolonien einen ungeahnten
Aufschwung erlebt. 1914 wirkten nach M. H. Solf in allen deut-
schen Kolonien zusammen 476 katholische Missionspriester, 305
Laienbrüder und 462 Missionsschwestern auf 232 Haupt- und 1680
Nebenstationen. Die protestantischen Missionsgesellschaften ver-
fügten über 231 Hauptstationen mit 346 Missionaren, 177 Laien,
12 Ärzten und 81 Schwestern. Für die Kolonisation waren die
Missionare deshalb von hervorragender, auch wirtschaftlicher Be-
deutung, als sie bei ihrer Kenntnis der Sitten, Lebensweise, des
Rechtes und der geistigen Vorstellungen der Eingeborenen zwi-
schen diesen und der Regierung bzw. dem Unternehmertum die
Verbindungsbrücke herzustellen verstanden. Unerhört ist es ge-
wesen, daß England im Kriege sich veranlaßt gesehen hat, das
deutsche kulturbringende Missionswerk zu zerstören. Ein brutaler
Faustschlag in das Gesicht der erprobten Rassenpolitik, eine kurz-
sichtige, sich rächende Handlung gegenüber der eigenen Zukunft!
In der kolonialen Siedelungs- und Arbeiterfrage mußten erst
manche Erfahrungen gewonnen werden, ehe man das Richtige
traf. Das Arbeitsverhältnis wurde durch Gesetze und Verord-
nungen streng geregelt. Willkürlichkeiten waren ausgeschlossen.
Jede übertriebene humanitäre Ordnung, die den Charakter der
Eingeborenen verkennt, galt indessen als eine Gefahr. Man ver-
stand zudem mit Recht, daß jeder Schematismus der Regelung,
der sich über alle Kolonien erstreckt, abzulehnen war. Denn die
eingeborenen Afrikaner zeigen nicht bloß große Rassenverschieden-
heiten, sondern stehen auch auf ganz verschiedener Stufe des ge-
sellschaftlichen und religiösen Lebens. Ihnen politische Rechte zu
verleihen, wird jeder verneinen, der weiß, wie es damit in den
Vereinigten Staaten gegangen ist, wo seit langem die dortige
Zivilisation unmittelbar, aber ohne Ergebnis für die politische Er-
ziehung, auf die Neger einwirkt. Der Neger fühlt sich, wo er in
Afrika mit den Weißen zusammenleben muß, am wohlsten, wenn
er wie ein großes Kind behandelt wird. Ein gütiger und ge-
rechter, aber auch, wenn nötig, strenger Herr kommt am wei-
A. Sartorius v. Walters hausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte 2. Aufl. 24
XJO V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
testen mit ihm. Patriarchisches Wohlwollen, freundliche Behand-
lung bei seinen kleinen Wünschen, verbunden mit der Achtung
der hergebrachten Sitten, Gebräuche, der Religion, der Stammes-
einrichtungen, der Rechtsbegriffe, führt nach der Überzeugung
der besten Kenner am ehesten zu dem Ziel der Verträglichkeit
und .Unterordnung.
Freilich war die Erziehung der Neger zu dauernder Arbeit
noch keineswegs damit gewährleistet. Da die Sklaverei unserem
Rechtsbewußtsein nicht entspricht, konnte als Arbeitssystem ent-
weder die Kontraktarbeit mit Bindung auf Jahre, oder das euro-
päische Lohnrecht in Frage kommen. Die erstere, wie sie bei den
asiatischen arbeitssamen Kulis, deren Heimat weit von der Arbeits-
stätte entfernt ist, zweckmäßig sein mag, paßte für die afrika-
nischen Eingeborenen nicht, die erst noch das Arbeiten lernen
mußten. Sie, die den steten Wechsel der Arbeit mit dem Nichtstun
als ein Bedürfnis empfanden, die in Sorglosigkeit und Trägheit
zurückfielen, wenn der Einfluß von oben aufhörte, würden ein-
fach daran zugrunde gegangen sein. Man mußte daher das Arbeits-
verhältnis mit kurzen Bindungsfristen nicht bloß als das mensch-
lichere, sondern auch als das wirtschaftlich produktivere Recht
gelten lassen und zudem Motive zu erwecken verstehen, welche
die freiwillige Wiederholung der Arbeit nach sich zogen. Es kam
vor allem darauf an, in ihrer und ihrer Familie Lebenshaltung
neue, jedoch ethisch gerechtfertigte Bedürfnisse einzuschieben, die
nur durch Warenkauf zu befriedigen waren. Der Lohn mußte
dann gesucht werden, weil auf seine Verwendung nicht verzichtet
werden konnte. Daneben haben H. von Wißmann und andere
die direkte Kopf- und Hüttensteuer empfohlen, die in Geld zu
zahlen war, also Lohnarbeit voraussetzte, und als Entgelt für
den gewährten Schutz gegen Sklavenjagden und Räubereien ge-
rechtfertigt wurde. Auch eine zeitweise militärische Dienstpflicht
mit ihrer Regelmäßigkeit und Disziplin ist als Erziehungsmittel
zur Ordnung und Arbeit vorgeschlagen worden.
Von sozialpolitischen Maßregeln wurde auf die größte Genauig-
keit in dem Halten des Arbeitsvertrages von selten der Arbeit-
geber, auf die Aufsicht über die Vermittler bei dem Anwerben
der Arbeiter und über die Kleinhändler zur Vermeidung einer
dauernden Verschuldung der Neger Gewicht gelegt. In Kamerun
wurde das Trägerwesen geordnet, in Samoa sind Farbigen-Kom-
missare bestellt worden, um das Arbeitsverhältnis zu überwachen,
eine Einrichtung, die dann auf andere Schutzgebiete übertragen
worden ist. Die Zeitdauer des Arbeitsvertrages war festgelegt,
die tägliche Arbeitszeit begrenzt worden. Der Lohn war in Geld
VIIL Die deutsche Kolonialpolitik. ^ 7 I
auszuzahlen. Dem Arbeitgeber sind Verpflichtungen auferlegt
worden für die Einrichtung gesunder Arbeitsräume, für Hilfe in
Krankheitsfällen nach bestimmten Vorschriften zu sorgen.
Die Meinung, daß das Lohnsystem zu vermeiden, und daß die
Zukunft der Kolonien ganz überwiegend auf dem Betrieb selbst-
wirtschaftender kleiner, eingeborener Eigentümer aufzubauen sei,
wurde vom produktionstechnischen Standpunkt aus als unhaltbar
erkannt. Die Neger mit ihrer Unkultur waren keine deutschen
Bauern, und selbst diese hätten der Führung des Großbetriebes
nicht entraten können, um zu einer intensiveren Wirtschaft über-
zugehen.
Der Zweck der Kolonien, große Gütermengen dem Welt-
markte und dem Mutterlande zuzuführen, war nur im Plantagen-
betrieb nach rationellen Grundsätzen und mit sorgsam registrierten
Erfahrungen für absehbare Zeit zu erreichen. Eine gleichmäßige,
handelstypische Ware, die Verarbeitung und die Verpackung
waren nur unter steter Aufsicht von Weißen zu erwarten. So machen
es die Holländer im Sundaarchipel, so die Engländer in Ceylon
und Vorderindien. Vielfach galt es als erwünscht, daß die Kulti-
vationen Monokulturen waren, auf die sich unter den heutigen
Weltmarktsverhältnissen ein größeres Kapital lieber einläßt. Der
Bergbau war selbstverständlich allein in einer umfangreichen, zen-
tralisierten Unternehmung denkbar. Das Landeigentum hat man
den Negern jedoch nicht etwa entziehen wollen. Man garantierte
ihnen so viel davon, daß sie auf ihm ihren Bedarf an Lebensmitteln
decken konnten, womit ihnen zugleich ein zureichendes Maß so-
zialer Freiheit zugesprochen wurde. Der Mehrerwerb an Land
sollte keineswegs verhindert werden, so daß der Anbau für den
Export demjenigen möglich wurde, dem die sittliche und intellek-
tuelle Eigenschaft dazu eigen war. Aber viel Land denen zu ge-
währen, die nichts damit anzufangen vermögen, war vom Übel.
Es folgte nur Raubbau und planloses Hin- und Herziehen auf den
Äckern. Die Männer ergeben sich leicht dem Müßiggang und
lassen Frauen und Kindern die Sorge der Familienernährung.
Überall wurde bestehender Kleingrundbesitz der Neger nicht
bloß anerkannt, sondern es wurde ihnen auch Land zugewiesen,
falls sie solches nicht besaßen. Der Verkauf oder die dingliche
Verschuldung solcher Heimstätten war entweder überhaupt nicht
zulässig oder wurde von der Genehmigung des Gouverneurs ab-
hängig gemacht. Die Einrichtung des Grundbuches war auf die
deutschen Schutzgebiete übertragen worden, sie war im Interesse
der weißen Besiedler geboten. In Zukunft sollte auch der Neger
davon Vorteil ziehen. Er konnte, seine Zuverlässigkeit vorausge-
24*
•3 "7 2 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1971 — 1890.
setzt, in das Grundbuch eingetragene Stücke ebenfalls erwerben.
Diese waren dann freies Eigentum. Der Heimstättebesitz konnte
nicht eingetragen werden, da er unverkäuflich und unverschuld-
bar war, es sei denn bei solchen Negerbauern, von denen sich vor-
aussetzen ließ, daß die Umwandlung ihres Bodens in freies Eigen-
tum ihnen Nutzen brachte. Diese Möglichkeit war vom sozialen
Standpunkt aus bedenklich, da die Nachkommen das vertun kön-
nen, was die Väter erspart haben.
Wenn es den überseeischen Schutzgebieten auch nach
30jährigem Bestehen nicht beschieden sein konnte, eine große An-
zahl von deutschen Auswanderern aufzunehmen, so hat das deutsche
Volk nicht darunter gelitten, weil es in dieser Zeit von jeder
Übervölkerung befreit gewesen ist. Für die Heimat verdiente üb-
rigens nicht bloß die Quantität der Kolonisten, sondern auch
ihre Qualität eine Beachtung. Diejenigen, welche das ruhige Da-
sein zu Hause mit der Halbkultur der Kolonie vertauschten, waren
meist Leute besonderer Energie, mochten auch Unternehmer- und
Abenteurernaturen nebeneinander herwandeln. Der Auslese in der
Heimat entsprach eine neue im Siedelungsgebiet. Wer sich dort
nicht bewährte, ging zugrunde, da jeder auf sich selbst weit mehr
gestellt war als in der sicheren sozialen Ordnung in Deutschland.
Diejenigen, welche zu Vermögen und Ansehen gelangten, waren
unter dem Einfluß der steten Selbstverantwortlichkeit zu unab-
hängigen Männern geworden, ihr Blick war politisch ausgeweitet,
und man konnte ihnen ruhig die Selbstverwaltung der Kolonie
innerhalb gewisser Schranken anvertrauen. Diejenigen, die nach
Deutschland zurückkehrten, waren am ehesten imstande, über die
Gesetzgebung der Schutzstaaten mitzusprechen. Den Typus des
Kolonialdeutschen neben dem Heimatsdeutschen zu besitzen, mußte
unserem Vaterlande nur Segen bringen. Die englische Gesellschaft
konnte als Parallele herangezogen werden. Wir brauchten deshalb
England nicht ohne weiteres zum Vorbilde zu nehmen. Die maß-
lose Überhebung der Engländer nicht nur über niedere Rassen,
sondern auch über alle Europäer lag unserem Wesen nicht und
sollte auch nicht herangezüchtet werden. Nirgends ist die englische
Heuchelei widerwärtiger als in der Eingeborenenpolitik ihrer tro-
pischen und subtropischen Kolonien. Mögen englische Missionare
auch anders zu beurteilen sein als Regierende und Geschäftsleute,
jeder Deutsche, der die Geschichte der englischen Kolonien in
Nordamerika und Westindien mit der Indianerausrottung und
Negersklaverei, die Ausdehnung der Herrschaft in Indien mit
ihren Greueln und die Leiden der Schwarzen und Australier bei
der Aufteilung von Afrika und der Besetzung von Australien kennt,
VIII. Die deutsche Kolonialpolitik. ^-j^
wird nur den heiligen Wunsch in sich aufflammen sehen, daß sein
Volk von solcher Kolonialpolitik für immer befreit bleibe.
Daß Deutschland aller seiner Kolonien nach dem großen
Krieg beraubt worden ist, ließe sich verstehen, wenn seine Feinde
deren bedürften, um leben zu können. Allein England und Frank-
reich haben mehr Land, als sie mit friedlicher Arbeit und ihrem
Kapital zu bewältigen vermögen. Blinder Haß, Raubgier und Angst
sind die Vernichter eines großen Kulturwerkes in Afrika geworden.
Die Erschließung des dunklen Erdteils für die Europäer unter dem
Gemeinschaftsgefühl der weißen Rasse sowie die Einbeziehung
seiner Einwohner in die Kulturwelt des Christentums und der
europäischen Gesittung sind Aufgaben, zu denen das Zusammen-
arbeiten aller europäischen Völker kaum ausreicht. Die Aus-
merzung der deutschen Kolonisatoren wird sich daher bald fühl-
bar machen und zu einer Stauung oder einem Stillstand führen,
die den Weltmonopolisten die Früchte ihres Raubzuges schmälern
wird, sintemal dem Deutschen Reiche die kolonialen Rohstoffe
und Genußmittel beschnitten werden. Hieß es während des
Krieges: Können wir Euch militärisch nicht unterkriegen, so tun
wir es mit dem Völkerbund, so heißt es nach der Besiegung, dieser
Bund soll durch seine Oberaufsicht dafür sorgen, daß die Deut-
schen in fremden Erdteilen niemals wieder Fuß fassen, weil sie es
nicht verdienen, daher die Annexion der deutschen Kolonien eine
Tat selbstloser Weltbeglückung sei. In verlogener und dummer
Weise wurde über die deutschen kolonialen Methoden abgeurteilt,
von denen es feststeht, daß sie in 30 Jahren zu glänzenden Resul-
taten geführt hatten. Das ist der eigentliche Grund, weshalb alles
zerstört werden soll, was daran erinnern könnte.
Literatur.
I. Fr. Nietz seile, Nachgelassene "Werke. Der Wille zur Macht, 1901.
Derselbe, Unzeitgemäße Betrachtungen I, 2. Aufl. i893.
E, Horneffer, Erkenntnis, Die Tragödie des Deutschen Volkes, 1919.
R. Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. VIII. 1888.
R. Muther, Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert, 1893.
II. Die Straßburger Post, Tageszeitung bis 1918.
A. Sartorius v. Waltershausen, Der Paragraph 11 des Frankfurter Friedens, igiS-
H. Herkner, Die oberelsässische Baumwollindustrie und ihre Arbeiter, 1887.
Die oberelsässische Baumwollindustrie und verwandte Zweige, Beilage zum Kon-
fektionär 28. Juni 1914.
Jahresberichte der industriellen Gesellschaft von Mülbausen bis 191 2.
Statistisches Jahrbuch für Elsaß-Lothringen bis 1914.
M. Hamburger, Standortsgeschichte der Baum Wollindustrie, 191 1.
W. Lochmüller, Zur Entwicklung der Baum Wollindustrie in Deutschland, 1906.
7-74 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 1871 — 1890.
Dr. Kreuzkamm, Das soziale und wirtschaftliche Element in der elsaß-lothringischen
Frage. Jahrb. f. Nat. u. Stat. III. F. Bd. XL.
Die wirtschaftliche Entwicklung Elsaß-Lothringens unter der deutschen Verwaltung,
191 1. Nachrichten des statistischen Landesamtes.
H. Germain, Die natürlichen Grundlagen der lothringischen Eisenindustrie und die
Verfassung vor 1870, 1913.
Das Reichsland Elsaß-Lothringen. Sammelwerk. Bd. I. 19 10.
Wohin gehört Elsaß-Lothringen? Von einigen Elsässem, 1915.
W. Kapp, Elsaß-Lothringens Autonomie. Denkschrift über die Zukunft des Reichs-
landes, 1 9 1 6.
J. Fr ick, Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Weinbaues, des Weinhandels im
Elsaß seit 187 1, 191 1.
L. Berkholz, Die Wirkung der Handelsverträge auf Landwirtschaft, Weinbau und
Gewerbe in Elsaß-Lothringen, 1902.
E. Thisse, Die technische Entwicklung der elsässischen Landwirtschaft in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 191 1.
Lothringen und seine Hauptstadt Metz, 1913.
R. Krzymowski, Die landwirtschaftlichen Wirtschaftssysteme Elsaß-Lothringens,
1914.
D. Langenbeck, Bericht über die Fortschritte der Landeskunde von Elsaß-Loth-
ringen 1900 — 19 10. III. Teil. Wirtschaftsgeographie. Mitteilungen der Ge-
sellschaft für Erdkunde und Kolonialwesen zu Straßburg i. E., 1918.
III. Verhandlungen der deutschen Handelstage 1861 und 1868.
A. Soetbeer, Deutsche Münzverfassung, 1874.
Derselbe, Deutsche Bankverfassung, 1876.
K. Helfferich, Die Reform des deutschen Geldwesens, 1898.
Derselbe, Zur Erneuerung des deutschen Bankgesetzes, 1899.
R. Koch, Die Reichsgesetzgebung über das Münz- und Notenbankwesen, 4. Aufl.
1900.
G. F. Knapp, Staatliche Theorie des Geldes, 1905.
W. Lotz, Geschichte und Kritik des deutschen Bankgesetzes, 1888.
M. Ströll, Über Gegenwart und Zukunft des deutschen Notenbankwesens, 1886.
Die Reichsbank 1876 — 1900, Denkschrift 1901.
J. Friedrich, Die Währungs- und Diskontopolitik der Reichsbank, 1895.
O. Hübner, Die Banken, 1853.
H. V. Poschinger, Bankwesen und Bankpolitik in Preußen 1878/79.
IV. u.V. Allgemeine Zeitung 1870 — 1880, Handelsbeilage.
G. Fr. Kolb, Handbuch der vergleichenden Statistik, 1675.
Max Wirth, Geschichte der Handelskrisen, 1874.
Joseph Neu wirth. Die Spekulationskrisis von 1873, 1874 (in Österreich).
F, Stöpel, Die Handelskrisis in Deutschland, 1875.
A. v. Mayer, Geschichte und Geographie der deutschen Eisenbahnen, 1891.
Dr. Strousberg und sein Wirken, von ihm selbst geschildert, 1876.
Zeitschrift für Kapital und Rente 1870 — 1876, herausgegeben von Freiherrn
von Danckelmann.
F. Per rot. Der Bank-, Börsen- und Aktienschwindel, 1873.
Derselbe, Die deutschen Eisenbahnen, 1876.
Otto Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, 1876.
Derselbe, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Deutschland, 1877.
W, Marr, Der Sieg des Judentums über das Germanentum, 1879.
E. v. Hartmann, Das Judentum in Gegenwart und Zukunft, 1885.
Literatur.
375
C. Wilmanns, Die „goldene" Internationale, 1876.
*Jul. Luebeck, Die wirtschaftliche Entwicklung Bayerns, 1919.
H. Wiermann, Der deutsche Reichstag, seine Größen und Parteien, 1884.
A. Sartorius v, Waltershausen, Zwischenstaatliche Wanderung und die Un-
gleichheit der Menschenrassen. Zeitschr. für Soz.-Wiss. 190g.
A. Held, Der Übergang der deutschen Bahnen an das Reich. Landw. Jahrbücher
1876.
Briefe und sozialpolitische Aufsätze von Dr. Rodbertus Jagetzow, herausgegeben
von R. Meyer, 1880,
Denkschrift über die preußischen Eisenbahnen. Drucksachen des Hauses der Ab-
geordneten 1879/81, Bd. I, Nr. 5.
Archiv für Eisenbahnwesen seit 1897.
Viktor Böhmert, EnquSte über die Reichseisenbahnfrage, 1876.
Deutschlands Eisenbahnen, die Reform und Vielheitlichkeit ihrer Verwaltung. Jahrb.
für Nat. u. Stat. 1901.
Paul Ritter, Eine deutsche Eisenbahngemeinschaft? Jahrb. für Nat. u. Stat. 1913.
H. Kirchhoff, Reichsbahn oder vereinigte Staatsbahnen, 1918.
VI. Ausgewählte Reden des Fürsten von Bismarck III, 1878 — 1881.
H. von Poschinger, Fürst Bismarck als Volkswirt, 5 Bände, 1889/90.
Die Handelspolitik des Deutschen Reiches vom Frankfurter Frieden bis zur
Gegenwart, 1899.
H. von Festenberg Packisch, Deutsche Zoll- und Handelspolitik 1873 — 1877,
1879.
M. Sering, Geschichte der preußisch-deutschen Eisenzölle von 1818 bis zur Gegen-
wart, 1882.
O. V. Aufseß, Die Zölle, Steuern und vertragsmäßigen auswärtigen Handelsbeziehungen
des Deutschen Reiches. Annalen des Deutschen Reiches. 1880.
C. Heiß, Die großen Einkommen in Deutschland. Ann. d. D. R., 1893.
R. Martin, Die Eisenindustrie in ihrem Kampf um den Absatzmarkt, 1904.
W. V. Kardorff, Gegen den Strom, 1878.
W. Lotz, Die Ideen der deutschen Handelspolitik von 1860 — 1891, 1892.
Alexander Peez, Die amerikanische Konkurrenz, 1881.
Rudolf Meyer, Ursachen der amerikanischen Konkurrenz, 1883.
Derselbe, Heimstätten- und andere Wirtschaftsgesetze der Vereinigten Staaten usw.,
1883.
M. Sering, Die landwirtschaftliche Konkurrenz Nordamerikas, 1887.
H. Semler, Die wahre Bedeutung und die wirklichen Ursachen der amerikanischen
Konkurrenz, 1881.
J. Wolf, Tatsachen und Aussichten der ostindischen Konkurrenz im Weizenhandel
1886.
J. Croner, Die Geschichte der agrarischen Bewegung in Deutschland, 1909.
Fr. Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Vorwort, 2. Aufl., 1892.
G. Tuch, Die Sonderstellung der deutschen Freihäfen, 1878.
Derselbe, Sonderstellung und Zollanschluß Hamburgs, Schm. J. B. 1882.
H. V. Treitschke, Der letzte Akt der Zollvereinsgeschichte, 2. Aufl., 1880.
Theodor Hansen, Hamburg und die zollpolitische Entwicklung Deutschlands im
19. Jahrhundert, 19 13.
VII. F. Mehring, Die deutsche Sozialdemokratie, 1879.
Zwölf Jahre Sozialistengesetz, 1890.
Nach zehn Jahren, Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes, London
1889.
•376 V. Abschnitt. Die Volkswirtschaft des Deutschen Reichs 187 1 — 1890.
H. von Scheel, Die Theorie der sozialen Frage, 187 1.
Derselbe, Unsere sozialpolitischen Parteien, 1878.
L. Bamberger, Deutschland und der Sozialismus, 1878.
Dr. Zacher, Die rote Internationale, 1884.
Fr. Engels, Ludwig Feuerbach, 1888.
O. Atzrott, Sozialdemokratische Druckschriften und Vereine, verboten auf Grund
des Reichsgesetzes, 1886.
"W. Krieter, Die Geheime Organisation der sozialdemokratischen Partei, 1887.
J. Corwey, Die deutsche Sozialdemokratie unter dem Ausnahmegesetze, 1884.
T. de Wyzewa, Die sozialistische Bewegung in Europa, 1892.
Abb 6 Winter er. Der Sozialismus in den letzten drei Jahren, 1882.
Derselbe, Der internationale Sozialismus von 1885 — 1890, 1891.
W. Lexis, Kathedersozialismus. Hw. d. Stw. 1910, Bd. V.
L. Pohle, Politik und Nationalökonomie. Zeitschr. f. Sozialwissenschaft, 19 10.
H. V. Treitschke, Der Sozialismus imd seine Gönner, 1875.
G. Schmoller, Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft, 1875.
A. Fleischmann, Die Arbeiteragitatoren des Kathedersozialismus, 1884.
A. Schaf fle. Die Quintessenz des Soziahsmus, 1879.
Derselbe, Die Aussichtslosiglceit der Sozialdemokratie, 1885.
Frh. V. Ketteier, Entwurf zu einem politischen Programm für die Katholiken im
Deutschen Reiche, 1873, 5- -^"fl-
Derselbe, Die Arbeiterfrage und das Christentum, 1890. 4. Aufl. Einl. von
Windthors t.
Reden und Aufsätze von Adolf Stock er, herausg. von R. Seeberg, 19 13.
H. B. Oppenheim, Hilfs- und Versicherungskassen der arbeitenden Klassen, 1875.
M. Hirsch, Die gegenseitigen Hilfslcassen, 1876.
L. Brentano, Die Arbeiterversicherung, 1879.
v. Landmann. Arbeiterschutzgesetzgebung (Deutschland). Hw. d. Stw. Bd. I.
C. Bornhak, Die deutsche Sozialgesetzgebung, 1900.
Honigmann und Manes, Arbeiterversicherung (Deutschland). Hw. d. Stw. Bd. L
L. Laas u. F. Zahn, Einrichtung und Wirkung der deutschen Arbeiterversicherung,
1900.
Die Reichsversicherungsordnung, Handausgabe von Manes usw., 191 2.
J. Schmöle, Die sozialdemokratischen Gewerkschaften, 1896.
W. Kulemann, Gewerkvereine (Deutschland). Hw. d. Stw., Bd. IV, mit Literatur-
angabe.
VIII. Deutsche Kolonialzeitung bis zur Gegenwart.
D. Fr. Fabri, Bedarf Deutschland der Kolonien? 1879.
Derselbe, Ein dunkler Punkt, 1880.
E. v. Weber, Vier Jahre in Afrika, 1871 — 1875, 1878.
Derselbe, Die Erweiterung des deutschen Wirtschaftsgebietes, 1879.
C. G. Büttner, Das Hinterland von Walfischbai und Angra Pequena, 1884.
B. Schwarz, Ein deutsches Indien, 1884.
Dr. Charpentier, Entwicklungsgeschichte der Kolonialpolitik des Deutschen Reichs,
1886.
A. Sartorius v. Waltershausen, Die Zukunft des Deutschtums in den Vereinigten
Staaten, 1895.
Derselbe, Hw. d. Stw. VI. Art. Negerfrage mit Literatur über die afrikanische
Arbeiterfrage,
v. Wißmann, Afrika, Schilderungen und Ratschläge, 1903.
C. Peters, Die Gründung von Ostafrika, 1906.
Literatur. , - .7
B. Dernburg, Die deutschen Kapitalinteressen in den deutschen Schutzgebieten, 1907.
H. ßöttger, Die neue Ära der deutschen Kolonialpolitik, 1907.
M. Fleischmann, Die Verwaltung der deutschen Kolonien, 1909.
Deutschland als Kolonialmacht, herausg. von P. Leutwein, 1914.
Denkschriften des Kolonialamtes.
Die Kolonien der europäischen Mächte und der Vereinigten Staaten von Amerika,
herausg. von der Deutschen Kolonialgesellschaft.
O. Jöhlinger, Die koloniale Handelspolitik der Weltmächte, 19 13.
A. Zimmermann, Geschichte der deutschen Kolonialpolilik, 1914.
P. Rohrbach, Deutsche Kolonialwirtschaft, 1909.
K. Herrfurt, Bismarck und die Kolonialpolitik, 1909.
Schrameier, Kiautschou, seine Entwicklung und Bedeutung, 191 5.
V. Grapow, Die deutsche Flagge im Stillen Ozean, 1916.
V. Valentin, Kolonialgescbichte der Neuzeit, 1915, mit Literatur.
W. H. Solf, Die deutsche Kolonialpolitik, Sammelwerk „Deutschland und der Welt-
krieg", 1915.
Derselbe, Kolonia'politik. Mein politisches Vermächtnis, 1919.
VI. Abschnitt.
Die Zeit von 1890 — 19 14.
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. Die
25 Jahre deutscher Geschichte, von 1890 — 191 4, waren gegenüber
den beiden vorausgehenden Jahrzehnten eine neue Zeit. Sie hatten
ihren Schwerpunkt weniger in politischen Ereignissen, als in privat-
und sozialwirtschaftlichen Tatsachen unter dem Heraufkommen
großen Reichtums. In der verflossenen Periode war der neuge-
wonnenen staatlichen Macht eine umfassende volkswirtschaftliche
Gesetzgebung entsprungen. Es lag keine. Veranlassung vor, von
der bewährten Richtung dieser Normen abzuweichen. Nur in der
Handelspolitik wurde der Versuch dazu gemacht, der indessen nach
einem Jahrzehnt scheiterte. Auf den Ausbau der sozial- und
verkehrspolitischen Gesetze nach 1890 wurde im vorigen Abschnitt
schon hingewiesen. In Einzelheiten wird das Reichsfinanzwesen
reformiert, neu sind das Börsengesetz und dasjenige über die Be-
aufsichtigung der Auswanderung.
Ein starkes Bindemittel in der Form des Zusammengehörig-
keitsgefühls brachte dem deutschen Einheitsgedanken das Bürger-
liche Gesetzbuch, das am i. Januar 1900 im ganzen Reich einge-
führt wurde. 1873 war der Antrag Laskers über eine einheit-
liche Rechtsgestaltung angenommen worden. Nach dem Erlaß
des Strafgesetzbuches von 1871 waren das Prozeßverfahren und
die Gerichtsverfassung schon Ende der siebziger Jahre geregelt
worden. Das Reichsgericht in Leipzig hatte mit seinen Entschei-
dungen die allgemeine Rechtsprechung beeinflußt. 20 Jahre wurde
an dem B.G.B. gemeinsam von Praktikern und Theoretikern ge-
arbeitet, und manche Gegnerschaft der Einzelstaaten konnte nur
schrittweise überwunden werden. 1894 war das große Werk in
seinem dritten Entwurf, in dem die weitgehendsten Gegensätze
zwischen dem römischen Recht und den Bedürfnissen der Gegen-
wart leidlich ausgeglichen worden waren, endlich geglückt, und
die zwei folgenden Jahre dienten den Arbeiten im Reichstag. In
der Kommission erfolgten einige wichtige Abänderungen über Ehe-
recht, Vereinsrecht und Testamentsform. Im Plenum redete
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. 379
man lebhaft eigentlich nur über Zivilehe, Ehescheidungsgründe und
— über den Hasenschaden auf den Feldern.
In der deutschen Verkehrswirtschaft wurden durch das Ein-
heitsrecht ungezählte Hemmungen beseitigt, was auch der Güter-
herstellung zugute kommen mußte. Die einzelnen aufgestellten
Rechtssätze befriedigten nicht durchweg, aber größtenteils, und
die Eingewöhnung in sie vollzog sich mit ruhiger Sicherheit. Neue
große Rechtsgedanken sind in dem Gesetzbuche nicht enthalten,
da es im wesentlichen eine Darstellung bringt, die auf die gemein-
rechtlichen Anschauungen der achtziger Jahre abgestimmt ist. 1897
erhielt auch das Handelsgesetzbuch einige dem neuen Wirt-
schaftsleben entsprechende Ergänzungen — Agenturwesen, Aktien-
gesellschaften, Lagergeschäft ~ und nahm mit dem Schutz der
Handlungsgehilfen und Lehrlinge eine soziale Tendenz in sich auf.
Ein Teil der alten Bestimmungen des Gesetzes wurde in das B.G.B.
.übergeführt.
Die Entlassung des Fürsten von Bismarck aus dem
Amte des Reichskanzlers bedeutete, wie man das damals allgemein
aussprach, einen neuen Kurs in der Politik. Das stimmte in einiger
Hinsicht für die innere Verwaltung, auf die in dem nächsten Kapitel
eingegangen werden soll. Für die auswärtige Politik läßt sich der
Ausdruck nur in beschränkter Weise anwenden, da sie eigentlich
ohne Kurs gewesen ist. Sie wird in ihrem Ziel immer unsicherer,
will es mit keinem verderben und drängt damit Deutschland aus
dem Kreis der entscheidenden Mächte heraus. Sie verfeindet sich
sov/ohl mit England als auch mit Rußland, statt sich mit einem
von beiden bei der ungebrochenen Revanchelust der Franzosen
gutzustellen oder zu verbünden. Das Ergebnis des Zauderns und
der verpaßten Gelegenheiten war der Weltkrieg, in dessen Aus-
gang sich die deutsche Ziellosigkeit furchtbar gerächt hat.
Der Dreibund, das große Erbe der früheren Staatskunst,
garantiert einstweilen noch die Ruhe, aber, nachdem mit Rußland
der Rückversicherungsvertrag gelöst ist — mit dem das Zaren-
reich die Neutralität Deutschland zusichert, wenn dieses von
Frankreich angegriffen wird, während Deutschland neutral bleibt,
wenn Österreich-Ungarn Rußland angreift — , durch den neuen
Reichskanzler von C a p r i v i , dem dies Verhältnis zu kompliziert
ist, alliieren sich das demokratische Frankreich und das absolut
monarchische Rußland, das von jenem Milliarden über Milliarden
empfängt, um sich für den Krieg nach Westen vorzubereiten. Daß
militärischer Ruhm und Revanche für Sedan das Wichtigste in
dem Leben der gallischen Nation waren, hätten die Deutschen
daraus lernen sollen, daß die sparsamen Franzosen eine erheb-
2 8o VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
liehe Quote ihrer Erübrigungen jährlich opferten, und daß unter
der Allianz die russische Autokratie ihrem republikanischen Emp-
finden nicht im geringsten anstößig war.
Während des spanisch-amerikanischen Krieges und während
des Burenkrieges wird eine unklare Gefühlspolitik von den deut-
schen Staatsmännern getrieben, die die Nordamerikaner wie die
Engländer gegen das Reich aufbringt und von beiden als etwas
Feindseliges ausgelegt und nicht vergessen worden ist. Dann folgt
die Einkreisung König Eduards VII., die Deutschland völlig
isolieren soll und Italien wankelmütig macht. Der japanisch-rus-
sische Feldzug schiebt die Gefahr für das Reich noch einige Jahre
hinaus. Der Marokkostreit ist ein Vorbote der kommenden Dinge,
in Algeciras wird es von der Gegenkoalition diplomatisch ge-
schlagen. Der Balkankrieg geht mit seiner Verörtlichung noch
glücklich vorüber, da Rußland mit seiner Rüstung noch nicht
fertig ist.
Der lange Friede brachte eine beispiellos rasche wirtschaft-
liche Entwicklung, die in der Übertreibung des Industrialismus
und Kapitalismus eine nicht unangezweifelte Gabe gewesen ist. Sie
führte mit Notwendigkeit zu einer weltwirtschaftlichen Ausbreitung
durch Außenhandel, Auslandskapital, Auslandsbanken, zu strafferer
Verwaltung der Kolonien, zu erhöhtem Schutz der Auslandsdeut-
schen. Das alles konnte zwar von großem Nutzen sein, wenn es
glückte, mit England sich zu verständigen. Man berauschte sich
an den gewonnenen Ergebnissen der Güterherstellung, ohne die
Gefahr zu erkennen, die man damit heraufbeschwor. England,
das das ganze Jahrhundert die wirtschaftlichen Fortschritte
Deutschlands scheel angesehen hatte, wurde dessen Feind, je mehr
die Wirtschaftskräfte Deutschlands erstarkten und je größer die
deutsche Kriegsflotte wurde. Ihr Aufbau unter zeitgemäßer Tech-
nik entsteht durch das persönliche Eingreifen des Kaisers und
wird durch die politische Geschicklichkeit des Fürsten Bülow
ermöglicht. Die Flotte soll so stark werden, daß sie allen ein-
zelnen feindlichen Staaten gegenüber eine achtungsgebietende
Macht ist. Gegen England ist sie ausschließlich als Verteidigungs-
waffe gedacht, um Deutschlands Gestade gegen einen Überfall zu
sichern, und daher bedeutete diese Wehr für das deutsche Volk ein
neues nationales Ziel, dem sich keine Partei, außer der sozialdemo-
kratischen, verschließen wollte. In England hat man an diese
Defensive nie glauben wollen und hielt die eigene insulare
Lage für immer mehr gefährdet, wenn Deutschland seine Flotte
um einige Schiffe vermehrte. War daher eine Verständigung nicht
möglich, so galt es wenigstens für das Reich, um den Rang inner-
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. ßgl
halb der europäischen Staaten zu behaupten, den Anschluß an
Rußland zu suchen. Auch das ist nicht geschehen oder nicht ge-
glückt. Hätte man sich mit England geeinigt, so brauchte deshalb
die überseeische Politik nicht vernachlässigt zu werden. Sie konnte
aber nur segensreich werden, wenn sie in der gesamten auswärtigen
Politik fundiert war, daher sie der erste Kanzler des Reiches mit
so großer Mäßigung verwaltete. Will man die auswärtige Politik
Deutschlands vom Standpunkt der Schwäche des einseitigen In-
dustrielandes aus würdigen, so wird man sie von dem Bedürfnis
nach Siedelungsland orientiert sein lassen. Suchte man dieses in
Osteuropa, so mußte man sich mit England dauernd vertragen,
also von einer großen Flotte Abstand nehmen, sollte es in über-
seeischen Besitzungen gesucht werden, so brauchte man Anschluß
an Rußland und eine starke Flotte.
„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es
zu besitzen", dies Wort hatte nicht bloß hier, sondern auch im
Verhältnis zu Österreich-Ungarn zu gelten. Denn dieser habs-
burgische Kaiserstaat, den eigentlich nur noch die Persönlichkeit
des alten Kaisers zusammenhielt, zersetzte sich in seinen natio-
nalistischen Streitigkeiten zusehends. Das Bündnis mit ihm verlor
täglich an Wert, je mehr die Auflösung fortschritt. Statt zu einer
Neuorientierung in der Politik zu greifen, ließ sich das auswärtige
Amt in Berlin, dem man zudem vorwarf, daß es unter einer Doppel-
regierung leide und sich durch Entsendung unfähiger Diplomaten
auszeichne, von den Österreichern hinhalten, mit denen man wahr-
haftig das ganze Jahrhundert hindurch keine guten Erfahrungen
gemacht hatte. Wie sehr Bismarck davon überzeugt war, daß das
Bündnis mit der Donaumonarchie nur für eine bestimmte Zeit
passend sei, kann man in seinen „Gedanken und Erinnerungen'"
nachlesen. Er konnte nicht voraussehen, was alles die Zukunft
bringen werde, aber die Schwächen und Gefahren, die der Alliierte
besaß und von ihm drohten, sind in seinen warnenden Worten aufs
deutlichste enthalten. Die Revision des deutsch-österreichischen
Vertrages war mindestens geboten, statt unter dem Stichwort der
„Nibelungentreue" durch dick und dünn mit einem zweifelhaften
Verbündeten zu gehen.
Jetzt, nach dem für Deutschland unglücklich ausgehenden
Weltkrieg, erfüllt der Zusammenbruch des Bismarckschen Werkes
alle wahren Patrioten mit tiefstem Leid. Wir müssen uns sagen
lassen, daß jene Epoche der wehrhaften, aufbauenden, erfolg-
reichen Staatskunst als Grundlage eines organisch fortzubildenden
Dauerwerkes vergeblich gewesen, daß Deutschland zu einer Ohn-
macht wieder verurteilt ist, wie es sie nach Karl und Otto dem
ß82 ^I- Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Großen, nach den staufischen Kaisern, nacl^ dem an die Refor-
mation sich anschließenden dreißigjährigen Krieg, nach Friedrich
dem Großen, also nach Höhepunkten des politischen und geistigen
Lebens, hat erdulden müssen. Das ist freilich nur zu wahr, aber
dennoch kann das, was diese Männer leisteten, die immer den
deutschen Sondergeist zu bändigen und zu leiten wußten, als ein
unschätzbares, vorbildliches Gut festgehalten werden. Versenken
wir uns in den Gedanken Zarathustras, den Ring der Ewigkeit, so
erleben jene hohen Zeiten eine ewige Wiederkunft oder sind un-
zerstörbar und ebenso Selbstzweck in dem Ganzen wie alles andere
Geschehen. Es ist ein ähnlicher Trost, wie ihn Schiller dem
großen Augenblick in seiner Vergänglichkeit verliehen hat, der
sich seines Namens Ewigkeit vorausnimmt:
„Denn wer den Besten seiner Zeit genug
getan, der hat gelebt für alle Zeiten."
Im Inneren Deutschlands verfügte die Gesellschaft über einen
reichen, aufgespeicherten Schatz von wirtschaftlichen Mitteln. Ihn
jetzt nutzbar zu machen, wird die bewußte Aufgabe. Alle Welt ist
so in Wirtschaftswillen befangen, daß sich der Gedanke des
Bremsens ganz dem Gesichtsfelde entrückt. Es ist eine Periode
einzig in ihrer Art, und es bleibt fraglich, ob sie je wiederkehren
wird. Der neue große Reichtum hat sich in allen Klassen der Ge-
sellschaft sein Lager bereitet. Die Masse der Bevölkerung, Lohn-
arbeiter in Stadt und Land, Handwerker und Kleinbauern, An-
gestellte mit privater und öffentlicher Verpflichtung, Kleinkäuf-
leute, Wirte, Transportbesorger aller Art, persönlichen Dienst
Leistende haben durch reichlichere Lebenshaltung gewonnen, durch
bessere Wohnung, Ernährung, Kleidung, durch öffentliche Hygiene
sich physiologisch gehoben. Auch in den höheren Mittelklassen
bringt die Wohlhabenheit gute Früchte, wenn auch daneben nicht
zu verkennen ist, daß die Überschätzung der materiellen Lebens-
güter die Wertung der geistigen zurückdrängt. Noch mehr ist
letzteres der Fall in den obersten großstädtischen Schichten, die
sich in einem raffinierten Luxus ergehen, dem kein gesteigertes
körperliches und seelisches Gutbefinden entsprechen kann. Sie
sind ebensoweit von der Lebensweisheit entfernt, daß das Glück
in dem Sich-selbst-Genügen liegt, wie die politische Anschauung
des Tages von dem Wert der Autarkie für die vom Feinde be-
drohte Volkswirtschaft unter der berauschenden Statistik des
Außenhandels.
Eine Nation, die im ganzen so wohlhabend wird, ist durch-
aus friedlich gesonnen. Sie wollte die drohenden Wolken nicht
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. 383
sehen, die sich am Horizont der auswärtigen Politik auftürmten.
Warnende Stimmen wurden überhört, und man tröstete sich da-
mit, daß gesteigertes wirtschaftliches Wohl vermehrte Wehrkraft
wäre, was aber, ganz abgesehen von der Unzulänglichkeit des
Beweisgrundes, im Hinblick auf die wachsende Abhängigkeit vom
wirtschaftlichen Auslande, zu allgemein gedacht worden war. Die
Landarmee wurde zwar von Zeit zu Zeit vergrößert, aber von einer
praktisch durchgeführten allgemeinen Wehrpflicht konnte kaum
mehr die Rede sein, selbst nachdem an die Stelle der dreijährigen
die zweijährige Dienstzeit getreten war. Die Opposition tat so, als
ob das Reich die Militärlast kaum mehr zu tragen vermöge, obwohl
es täglich reicher wurde, wenn auch nicht an Staatsfinanzen, da
die Steuertechnik rückständig blieb.
Die innere Politik des ganzen Zeitraumes ist arm an neuen
Gedanken und Zielen und entbehrt des fruchtbaren Ausgleichs
unter den Berufsständen. Die Verständigung zwischen Landwirt-
schaft und Industrie, das „politische Kartell" Bismarcks, geht
unter seinem ersten Nachfolger verloren, der „Bülowsche Block"
bringt nur vorübergehend ein Ergebnis für die Landesverteidigung
und die Kolonien, da die zu weit gespannte Brücke zwischen
rechts und links ohne Mittelpfeiler die Belastung nicht erträgt.
Die Parteien bekämpfen sich in unendlichem, verbitterndem Streit,
wobei die Volksvertretung an Ansehen einbüßt. Sachverständige
Männer werden im Reichstag selten, schön redende Berufsparla-
mentarier bieten keinen Ersatz. Hamburg z. B., die größte Han-
delsstadt des europäischen Festlandes, entsendet nur Sozialdemo-
kraten nach Berlin. Die Großindustrien entbehren der sie ver-
teidigenden Volksvertreter. Die Verhandlungen erschöpfen sich oft
in zu eiligen, juristisch und sachlich unklaren Vereinbarungen,
damit nur die Volksboten, unter denen immer weniger Ernst-
arbeiter sind, nach einem behaglichen Dasein in der vergnügungs-
reichen Hauptstadt, wo ihnen seit 1906 die Tagegelder aus der
Reichskasse nicht mehr wie ehedem vorenthalten sind, um sie
wenigstens zu der Teilnahme an den Sitzungen zu bewegen, recht-
zeitig in die Ferien gehen können.
Die höchste Intelligenz und der zähe schaffende Wille des
deutschen Volkes steckt im Wirtschaftsleben und in der praktisch
verwendbaren Wissenschaft. Die Kongreßberichte der Indus-
triellen, der Bankiers, der Gelehrten würden davon schon genug
Kunde geben, wenn nicht Chroniken und Statistiken gleichzeitig
das Neugeschaffene aufgezeichnet hätten.
Die geistige Bildung wird durch das allgemeine zielbewußte
Erwerben und durch den Reichtum bis in die Wolle gefärbt. Dem
284 ^^- Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Öffentlichen Unterricht in Volksschule, Gymnasium und Universität
strömt der quantitative Aufwand für Lehrstätten, Lehrer und Lehr-
mittel zu. Von 187.1 — 19 II vermehrt sich die Zahl der Volks-
schulen in Preußen von 33130 auf 38684, und auf einen Lehrer
kommen 82,9 bzw. 56,3 Schulkinder, während auf 100 Schulen 141
bzw. 301 Lehrer entfallen. 1913 besitzt Deutschland nur 0,4 %o
Analphabeten, Frankreich 30, Italien 306. Auf den höheren Schulen
wird die Richtung auf die Berufsvorbildung begünstigt. Die Natur-
wissenschaften laufen den Geisteswissenschaften den Rang ab. Der
Altphilologe verliert seinen Einfluß auf die heranwachsende Jugend
und wird auf die Sorge um seinen eigenen Nachwuchs hingewiesen.
Die jungen Juristen glauben nach Einführung des neuen Rechts
der lateinischen Pandektenvorbereitung nicht mehr zu bedürfen.
Die klassischen, antiken Ideale, die schon mit der Erstarkung des
Deutschtums unter der Reichsgründung verblaßten, sind um so
schwerer zu beleben, je mehr die alten Sprachen durch die prak-
tische Nachfrage nach neuzeitlichen den intensiven Unterricht in
der Schule nicht behaupten können. Der Glaube an die formale
Bildungsfähigkeit des Lateinischen wird untergraben in dem Maße,
als die Ersatzmittel Vertrauen genießen. Der Kaiser setzt sich für
den veränderten Lehrgang ein, und die Errungenschaften des rasch
fortschreitenden Wirtschaftslebens scheinen ihm Recht zu geben.
Die Universitäten mit 13997 Studenten um 1869 zählen deren um
1913 60095. Die neuen Hochschulen für Technik, Landwirtschaft,
Bergbau, Forstwesen werden den alten gleichwertig, und die Han-
delshochschulen nehmen den gleichen Anlauf dazu. Der Universitas
tritt der Spezialismus entgegen. Die Fürsorge der Regierungen
für neue medizinische, chemische, physikalische und sonstige natur-
wissenschaftliche Anstalten macht sich in dem Staatshaushalt an-
schaulich, während die Gelder für die alten führenden Einrich-
tungen nur langsam und zögernd vorgeschlagen und bewilligt
werden. Der Dr. ing. tritt zu den alten gelehrten Graden der Aus-
zeichnung hinzu. Frankfurt a. M. wird als neue Universität ge-
gründet, auf privaten Mitteln als einem Zeichen des Reichtums.
Niemals haben die Universitätslehrer größere Freiheit des Lehrens
und Schreibens genossen, als in dem hier besprochenen Zeitraum.
So segensreich dies für die Wissenschaft war, ihr Grund lag we-
niger in einer hochherzigen, toleranten Politik, als in einer Kon-
fliktscheu, die immer eine Schwäche des Staates ist.
Das künstlerische Leben der Nation kann und will sich der
tonangebenden Technik nicht entziehen. Das Kunstgewerbe nutzt
die Vielartigkeit der Stoffe und der maschinellen Herstellung aus
und wirft Bücher mit reich ausgestaltetem Schmuck und billige
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. ^85
Bildreproduktionen von großer Vollendung auf den Markt. Die
Textilmuster, die Tapeten, das Plakat zeichnen sich durch künstle-
rische Entwürfe aus. Selbständige Kunstgewerbeausstellungen üben
faszinierende Anziehung auf die Massen aus, da sie die Luxus-
wünsche jeder Abstufung zu befriedigen imstande sind, wenn sie
nur das Prädikat des Modernen als Reklameschild auszuhängen
wissen. Der kunstgewerbliche Anhang der Kunstausstellungen
nimmt immer weiteren Raum ein, um zu beweisen, daß die Fabrik
der individuellen Fertigkeit nicht nachstehen will. Der deutsche
Werkbund ist eine Vereinigung von Industriellen, Kaufleuten,
Künstlern und Kunstindustriellen, die das Zusammenarbeiten von
Kunst und Industrie sich zum Ziele genommen hat. Die Museen
füllen sich mit Altertümern, an denen sich das Stilgefühl bilden
soll. Man powert zu dem Zweck das Schloß, das Bauernhaus, die
Kirchen aus, in der sozialen Befangenheit, der Großstadt auf solche
Weise zu einer Veredelung zu verhelfen.
Es ist ein Zeichen der Zeit, die Unterdrückung der Qualität
zugunsten der Quantität, der geistigen Originahtät durch verblüf-
fendes maschinelles Können. Musikinstrumente, wie Grammo-
phone und Pianolas, Theaterausstattungsstücke mit Beleuchtungs-
effekten und Massenaufgebot von Statisten, Kinematographen mit
ihren in Minuten sich vollziehenden Schauerromanen machen dem
Klaviervirtuosen, der alten harmlosen und doch gediegenen Volks-
posse, dem geistreichen Lustspiel erfolgreiche Konkurrenz.
Für öffentliche Bauten, Kirchen, Brunnen, Denkmäler ist ge-
nug Geld vorhanden. Nur hier und da glückt dem Architekten
oder dem Bildhauer der Wurf. Seit 1900 wird man im Bau etwas
einfacher und wendet sich gegen die Überschätzung der nach-
geahmten Stilformen. Neu ist die Verbindung von Eisen und Stein
in den Riesenwerken der Bahnhöfe und Kaufhäuser, die durch ihre
Bogenspannungen und Tausende von Menschen fassenden Hallen
imponiert. Das Wertheimsche Warenhaus Messeis in Berlin
verbindet damit die edle Form, die ein Vorbild auch für andere
Städte geworden ist. Es ist das Warenhaus eine Neukonstruktion
für seinen Handelszweck, die die Stockwerktrennung überwindet
und in dem Innenraum mit gewaltiger Höhe den zusammenhängen-
den, übersichtlichen Betrieb gestattet. Auch die Warenhäuser
T i e t z und Oberpollinger in München haben gelungene Archi-
tektonik und praktische Einrichtung zu verbinden gewußt. Ein
Gegenstück ist das Bürohaus, das in jedem seiner vielen Stock-
werke abgeschlossene Geschäftsräume für Agenten, Versicherungs-
unternehmungen, Immobilienhändler, Rechtsanwälte usw. enthält
und nur ausnahmsweise sich einen architektonischen Aufwand
A. Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. ^0
ß86 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
leistet, vielmehr meist durch Nüchternheit, Größe und Höhe, ohne
es jedoch den amerikanischen Wolkenkratzern gleichzutun, auf-
fällt. Die Passage mit ihren Kaufläden wurde schon vereinzelt
vor 1890 durch ganze Häuserblocks hindurchgelegt. Jetzt wird
sie häufiger und vor allem erweitert und erhöht, wie z. B. in Leip-
zig, wo sich Meßpaläste in sie einschieben. Die Baukunst betätigt
sich künstlerisch sowohl an der Fassade wie in der Überwölbung
dieser gedeckten Straßen.
Im ganzen herrscht in den Städten der Eklektizismus vor, der
gelegentlich durch die ästhetische Romantik des Kaisers, wie bei
dem Berliner Dombau, nicht ohne Widerstreben und Nachteil der
Neues schaffen wollenden Künstler unterstützt wird. Eine Oppo-
sition gegen das Hergebrachte macht sich in einer Reihe deutscher
Mittelstädte und Residenzen mit beachtenswerten Bauten geltend.
Eine Unzahl von Porträtdenkmälern zieren die Friedhöfe und
Stadtanlagen, wobei die Künstler wohl verdienen, aber ohne rechte
innere iA.nteilnahme schaffen.
Es gibt im neuen Deutschland genug Talente in der Dicht-
kunst, der Musik, der Malerei, der Plastik, der Architektur. Die
Münchener Wochenschrift „Die Jugend" bewies es auf ihrem Ge-
biete. Aber es werden fast nur Werte für die Gegenwart ge-
schaffen, keine für die Unsterblichkeit, die der stillen, nicht der
reklamehaften Arbeit bedarf, nicht des Kompromißhandels und der
Preisüberforderung, sondern der inneren persönlichen tiefen Er-
regung und der stolzen Befriedigung.
Zwar hatten die jungen Literaten am Ende der achtziger Jahre
einen Anlauf zum Besseren genommen und sich in der materia-
listischen Welt der großen Industrie für ein ideales Streben ein-
gesetzt unter Ablehnung der Schreiberei aus dem Taumel der
Gründerjahre, aber sie leisteten doch nur dies, daß sie die deut-
schen Dichter der vergangenen Periode, wie G. Keller, C. F.
Meyer, W. R a a b e , wieder in das Gedächtnis der Nation riefen
und die großen Ausländer, namentlich die Skandinavier und
Russen, ihr bekannt machten. Ihr eigenes Schaffen war trotz
einzelner bedeutender Namen, an deren Spitze G. Hauptmann
zu nennen ist, doch nicht stark und allgemein genug, um ihrer Zeit
einen eigenen Stempel aufzuprägen.
Auf einer höheren Warte steht die Wissenschaft, namentlich
die Naturwissenschaft mit Einschluß der Medizin. Das ökono-
mische Zeitalter schiebt mehr denn je die Physik, die Chemie, die
Biologie, die Botanik in die Linie der praktischen Verwendbarkeit.
Sie müssen das Brauchbare bringen, wenn sie Ansehen genießen
wollen, und tun es auch, fördern damit die Einsicht in das Walten
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. aß?
der Natur. Entdeckungen, überraschende Synthesen, neue Me-
thoden und Werkzeuge führen zu glänzenden Ergebnissen und zu
deren Ausnutzung im großen, oft fabrikmäßigen Stil. Es sei nur
erinnert an die Röntgenstrahlen und an die Radiumfor-
schung, die den Konstitutionsgedanken der Materie modifiziert,
an die Versuche von Hertz, denen sich die drahtlose Telegraphie
von Braun und Slaby anschließt, an das Mikroskop von Abbe,
an die Prismenfernrohre der Zeisswerke, an die farbige Photo-
graphie, an die künstlichen Edelsteine, an die synthetischen Pflan-
zenriechstoffe und an den künstlichen Kampher, an die neuen Teer-
farbstoffe, an die Arzneimittel wie Pyramidon, Antipyrin, Aspirin,
Veronal. In der Heilkunde wirkt bahnbrechend R. Kochs Auf-
finden wichtiger Krankheitserreger, des Tuberkel- und Cholera-
bazillus, ferner der Ausbau der bakteriologischen Methode, die
manche andere Krankheiten aufklärt, das Heilserum, das Salvarsan,
die antiseptische und aseptische Wundbehandlung. Die soziale
Medizin und die öffentliche Hygiene werden neue Wissenschafts-
zweige und veranlassen gesetzliche und Verwaltungsmaßregeln
zur Bekämpfung der Infektionen durch Überwachung des Per-
sonen- und Warenverkehrs, des Trinkwassers, des Leichentrans-
portes, der Wohnungen. Auf die sozialgewerbliche Hygiene, die
andauernd fortgebildet wird, wurde schon bei der Darstellung der
Arbeiterversicherung hingewiesen. Die Bekämpfung des Alkoho-
lismus, der Tuberkulose, der Prostitution ist auch im Anschluß
daran nicht bloß eine individuelle, sondern eine soziale Angelegen-
heit geworden. Endlich ist auch noch die Veterinärmedizin zu
nennen, die mit dem Reichsviehseuchengesetz, der Fleischbeschau,
der Milchkontrolle ihre theoretischen Erkenntnisse der Seuchen-
forschung in die Praxis des Wirtschaftslebens umsetzt.
Die organische Entwicklungslehre, die in einer einheitlichen
Zellenlehre für Pflanzen und Tiere wurzelt, wird für die Land- und
Forstwirtschaft nutzbar gemacht. Sie stützt zugleich die alte mate-
rialistische Weltanschauung des i8. Jahrhunderts. Der Monismus
wird von naturwissenschaftlich Denkenden nach den Anregungen
Haeckels gepflegt, womit, wenn auch nur in oberflächlicher
Weise, die philosophische Lehre von der Einheit der Welt gegen
den Skeptizismus behauptet wird. Die Philosophie verbindet sich
als experimentelle mit der Physiologie, um exakte Ergebnisse über
die Tätigkeit der Seele zu gewinnen. Die Soziologie und die
Völkerpsychologie, die W. W u n d t in großen Zügen zusammen-
faßt, ergehen sich in ethischen Zielen, um das gegenwärtige Leben
zu meistern. Die Philosophie Fr. Nietzsches geht des Ur-
sprunges nach der Zeit, die hier geschildert wird, voraus, wenn
25*
7 88 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
auch ihre Kritik wohl auf sie paßt. Da ihre Psychologie und ihre
Zielsetzung tief und neu sind, bleibt sie weiten Kreisen, selbst der
Gebildeten, unverstanden und wird mit dem Schlagwort des Neu-
individualismus abgetan, aber ist doch genügend aufgenommen, um
als wertvoller Schatz für die Zukunft aufbewahrt zu werden.
Die Nationalökonomie arbeitet sich lebhaft in die Praxis
des Tages ein und wandelt in ihren Lehrsätzen und Vorschlägen
die oft verschlungenen Pfade des Spezialismus. Der ungeheuere,
aufgestapelte Stoff der empirischen Forschung wird in Sammel-
werken (Handwörterbuch der Staats Wissenschaften), d. h. alphabe-
tisch, nicht nach großen Gesichtspunkten, konzentriert. Die Nach-
frage nach jungen, in Seminaren rasch fertigen Nationalökonomen
geht ins Große von seiten der Banken, der Industriesyndikate, der
Handelskammern, der statistischen Büros, der Kommunalverwaltun-
gen. Die auf den Universitäten lernenden Juristen fangen an, auch
Volkswirtschaftslehre zu studieren, die ihnen, wenigstens in Nord-
deutschland, 20 Jahre früher ganz fern lag. Seitens der großen,
rasch anschwellenden Zahl der Fachleute in den Redaktionen der
Zeitungen, auf den Hochschulen, im freien schriftstellerischen Beruf
wird gegenüber den sechziger Jahren, in denen die ,, Volkswirte"
die positiven, realen, historischen, statistischen Kenntnisse vernach-
lässigten und mit dem leichten Gepäck der manchesterlichen Lehr-
sätze ihre Wanderung in die Volkswirtschaftspolitik antraten, der
relative Wert aller wirtschaftlichen Maßnahmen stark betont, wo-
mit übereilte Schlüsse allerdings vermieden, andererseits zu große
Bedenklichkeiten in unentschlossenen Naturen aufgezogen wurden.
Die theoretische Wissenschaft hat keine so bedeutenden
Namen wie in der vorangehenden Periode aufzuweisen, da die Auf-
stellung einheitlicher Systeme bei dem Übermaß an guter Spezial-
literatur nicht glückt und zugleich dem Eklektizismus Vorschub ge-
leistet wird (v. P h i li p po V i c h , Grundriß der politischen Öko-
nomie, J. Conrad, Grundriß zum Studium der politischen Öko-
nomie). Doch fehlte es auch nicht am Neuen.
Denn es konnte nicht ausbleiben, daß die gewonnenen Ein-
sichten der organischen Naturwissenschaft auf die soziale Wissen-
schaft und damit auch auf die Nationalökonomie zurückwirkten.
Hatte schon A. Schäffle 1875 i^i seinem Werke „Bau und Leben
des sozialen Körpers" das Wirtschaftsleben durch bis ins einzelne
gehende Analogien aus der organischen Natur verständlich zu
machen unternommen, so treten seit den neunziger Jahren Sozio-
logen auf, die, wie O. Amnion (Die Gesellschaftsordnung und
ihre natürlichen Grundlagen, 1895), W. Schallmeyer (Ver-
erbung und Auslese im Lebenslauf der Völker, 1903), an Darwin
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. ßSo
und an dessen wirksamsten Überträger auf das Soziale, H.
Spencer, anknüpften, um die Naturgesetze der Biologie auf die
Volkswirtschaft anzuwenden. Wenn es auch ein Irrtum war, den
sozialen Menschen mit seiner geschichtlichen Vergangenheit und
seiner selbstgeschaffenen Umgebung von Recht, Sitte und Moral
nicht als etwas Eigenartiges unter den Lebewesen zu nehmen, worin
schon M a 1 1 h u s gefehlt hatte, und wenn auch die praktischen
Folgerungen oft recht willkürlich, daher sehr verschieden gezogen
wurden, so war doch nicht zu verkennen, daß neue Gesichts-
punkte in die Nationalökonomie gelangten, wie die der Auslese
und Anpassung, der Ungleichheit der Rassen und Individuen, der
Vererbung der Eigenschaften, insbesondere der sozialen und indivi-
duellen Grundtriebe.
Die historische Nationalökonomie entzog sich dieser An-
regung nicht, um so weniger, als die Naturwissenschaft einen
Entwicklungsgang lehrte. Von anderen Gesetzmäßigkeiten, die das
ökonomische Leben der Gegenwart durchziehen, wollte sie indessen
nicht viel wissen, weil sie sie zu sehr an die bekämpfte liberale
Schule erinnerten. Unbestrittene Herrscherin ist sie in Deutschland
keineswegs geblieben. Wurde nicht allein die Dogmatik der so-
genannten klassischen Nationalökonomie, wenn auch kritisch und
vertieft, wieder belebt, wie von F. J. Neumann und H.
Dietzel, so war es vor allem die österreichische Schule, die
durch die Ausführungen von K. Menger (Untersuchungen über
die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Ökonomie
insbesondere, 1883), von E. Böhm von Bawerk (Kapital und
Kapitalzins, 1884— 1889), von F. von Wieser (Der natürhche
Wert, 1889) den Versuch machte, die volkswirtschaftliche Ver-
teilung, insbesondere Wert, Preis und Zins, als unabhängig von
der sozialen Verfassung der Völker aus einer Lehre der Bedürf-'
nisse und des Nutzens der Güter zu erklären. Konnte es ihr auch
nicht gelingen, obwohl sie den Glauben daran hatte, die geschicht-
lichen Voraussetzungen jedes Wirtschaftens aus der Theorie zu eli-
minieren, so wirkte sie doch befruchtend auf den Gedanken ein,
die reine Wirtschaftslehre von der praktischen schärfer als bisher
abzugrenzen und den bisher arg vernachlässigten Begriff des sub-
jektiven Wertes (Grenznutzentheorie) in die vordere Linie der öko-
nomischen Grundbegriffe zu rücken, wohin er gehört. Einen An-
hang en bloc fanden die Österreicher im Reiche nirgends, während
einzelne Lehren bereitwillig anerkannt A\iirden.
Das ökonomische Zeitalter mit seinen immer von neuem auf-
tauchenden sozialen Fragen bestimmte auch Männer der katho-
lischen Religion und Kirche wieder, ihre Lebensanschauung zum
igo VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Ausgang frischer Forschungen zu machen (G. Ratzinger, Die
Volkswirtschaft und ihre sittlichen Grundlagen, 1895, Pesch,
Lehrbuch der Nationalökonomie, 2. Aufl., 191 4). Indem hier Staat,
Eigentum, Lohnarbeit und Gewinn als unantastbar nachgewiesen
wurden, wobei sie auch aus kirchlichen Dogmen und der Bibel be-
gründet wurden, waren die praktischen Forderungen ähnlich, wie
sie die oben mitgeteilte christlichsoziale Bewegung der siebziger
Jahre vertreten hatte und standen denen des Kathetersozialismus
nahe. Diese ethische Richtung blieb keineswegs unangefochten
(I. Wolf, L. Fohle, A. Voigt, P. Arndt, R. Ehrenberg),
sei es, daß man die Ausbeutungslehre bestritt, die einseitige Politik
zugunsten der Schwachen im Wirtschaftsleben als nicht unbedingt
im Gesamtwohl liegend kritisierte, sei es, daß man den aus der Ge-
schichte gebrachten Beweis bestimmter sozialer Ziele nicht zugab,
sei es, daß man die Theorie von den Wünschen des SeinsoUens
völlig loszulösen für das allein Wissenschaftliche hielt.
Die Vielseitigkeit und Vieldeutigkeit der zahlreichen deutschen
nationalökonomischen Richtungen trug nicht dazu bei, das An-
sehen der Wissenschaft unter den Praktikern zu heben, die inner-
halb der Interessenkämpfe tätig selbstbewußt dastanden. Dennoch
wurde die Nationalökonomie immer wieder angegangen, ihr Wort
zu sprechen, das in der so überwiegend wirtschaftlichen Epoche
dringend benötigt wurde. Sie mißgeachtet und hochgeachtet
gleichzeitig zu sehen, ist einer der Widersprüche, an denen die Zeit
von 1890 — 191 4 krankte.
Fassen wir die ganze geistige Bewegung des ökonomischen
Zeitalters von 1890 — ^1914 in Deutschland zusammen, so herrschen
Form und Technik in allen Einzelgebieten des Avissenschaftlichen
und künstlerischen Schaffens nach besonderer für sich stehender
Vollendung und Routine vor, während die Einheit einer seelischen
Auffassung, als Ausdruck eines ideellen Gesamtzieles, dem Emp-
finden der Nation mangelt, so daß die großen Synthesen der
Lebenserkenntnis ausbleiben.
Die Lebenshaltung des ganzen Volkes verändert sich. Man
wohnt geräumiger, komfortabler, gesunder, freilich keineswegs
immer geschmackvoller als ehedem. Wer auf ein langes Leben
zurückblickt, erinnert sich der alten Städte der sechziger Jahre,
deren Grenze noch mit der mittelalterlichen Stadtmauer zusammen-
fiel. Heute haben wir die enggassige Altstadt mit ihren gotischen
Kirchen und ihren Befestigungstürmen, und die Neustadt mit
breiten Straßen, schattigen Alleen, breiten Plätzen, Parkanlagen
und Vorhausgärten nebeneinander. Wir treffen überall dies
I. Einleitung. Das ökononjische Zeitalter. 5 g j
Doppelbild solange ungetrübt an, bis der Geschäftsgeist die male-
rische Vergangenheit mit Kaufhaus-Hotel-Bankpalastlinien durch-
schneidet und die neuen Quartiere in häßliche Mietskasernen und
uniforme Reihen von Ein- oder Zweifamilien-Arbeiterhäusern aus-
laufen läßt.
Früher unterschied man das Bürgerhaus in der Stadt, das
Schloß der Gutsherren und das Bauernhaus auf dem Lande. In
Nord und Süd, in der Ebene und im Gebirge hatten die sozialen
Klassen ihr je nach ihrem Wohlstand in Größe, Form und Dauer-
haftigkeit abgestuftes, besonderes Heim. Die Gegenwart bringt
neue Typen, die teils dem leichten Nah- und Fernverkehr, teils den
Raumbedürfnissen der Großstadt angepaßt sind: Unweit der häß-
lichen Fabrik, die nur nach praktischen Gesichtspunkten erbaut ist,
das Fabrikantenhaus mit Kontors im Erdgeschoß und Wohn-
räumen in den Stockwerken, das Vorstadtarbeiterhaus, das Miets-
haus mit vielen kleinen Abteilen für Unbemittelte, die vorstädtische
Villa mit Garten, die Sommervilla an der See, im Wald, in den
Bergen, das Etagenmiethaus für die Wohlhabenden mit seinen
Graden des einfachen und des Fassadenbaues, die herrschaftliche
und hochherrschaftliche Wohnung. Die letztere steigert ihr Raf-
finement unaufhörlich. Die Zeitungsanzeigen geben ein Bild da-
von: „Zu vermieten. Eine hochherrschaftliche Wohnung mit 12
Zimmern und Zubehör. Bad, Zentralheizung, heißes, fließendes
Wasser das ganze Jahr. Gas, Elektrizität, Telefon, geräumige
Terrasse, Wintergarten, Autogarage, Haltestelle der Straßenbahn
und der Automobile. Post nebenan, Friseur, Zahnarzt, Wäscherin,
Büglerin im Hause. Filiale eines bekannten Traiteurs gegenüber".
Wer einmal im Goethehaus zu Weimar war, wird sich des
ganz primitiven Schlafzimmers — 2,5 — 3,5 Meter — mit einer
schmalen kurzen Bettstelle aus Fichtenholz und des Tischchens mit
dem winzigen Waschbecken erinnern, das sich an den ebenfalls
höchst einfachen Arbeitsraum Sr. Exzellenz, des Staatsministers,
anschloß (vgl. W. Bode, Das Leben in Altweimar). Der Dichter
war weder Asket noch Purist. Er lebte deshalb auf solcher Stufe
des intimen Wohnens, über die heute ein Subalternbeamter hinaus
ist, weil man es damals in Bürgerkreisen nicht anders gewohnt
war. Der Komfort der Schlafräume ist als sanitäre Einrichtung be-
sonders nach 1900 erst von England und Amerika in die deutschen
Städte herübergekommen, von der man 191 4 in Frankreich und
Italien noch wenig kannte. Die Empfangsräume des Goethehauses
waren hingegen stilvoll mit Kunstgegenständen, Geschenken aus
aller Welt, reich gefüllt und geschmückt, und der feierliche
Treppenaufgang, auf dem sich die Besucher in würdige Stimmung
ßQ2 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
versetzten, erinnerte etwas im kleinen an die alte Palastkultur
Italiens. In den alten deutschen mauerumgrenzten Reichsstädten
wohnte man in kleinen Häusern und engen Zimmern, die man im
Winter warm halten konnte. Die heutige weiträumige Privat-
wohnung setzt die offene Stadt und die reichliche Kohlenzufuhr
voraus. Der Großbau bestand ehemals nur für Kirchen und Rats-
häuser, entsprechend der Menschenzahl, die sie aufnehmen mußten.
Heute werden unter der kommunalen Dezentralisation nur mittel-
große Kirchen gebaut für einen geringen Stadtabschnitt, dessen
Bewohner sie leicht und bequem erreichen sollen.
Die ehemalige strenge Verörtlichung des Hausgeschmackes
ist durch das Durcheinanderwürfeln der Bevölkerung und der alten
Klassen beseitigt worden. In den Dörfern entstehen saubere, gerad-
linige städtische Häuser und auf den ländlichen Hügeln und an
den Seen städtische Paläste, in der Stadt Gebäude im Burg- und
Bauernstil, von Försterwohnungen und Schwe'zerhäusern. In diese
Buntheit wird willkürlich die historische Form eingezwängt. In
den vornehmen Westquartieren Berlins schließt sich das Haus im
Pittigeschmack an das deutsche Giebelhaus mit imitiertem Fach-
werk an, an das mit Karyatiden überlastete Barockgebäude das
gotische Schlößchen mit unbesteigbaren Türmen, das Biedermeier-
haus, die Empire- und Louis Seize-, die Rokkoko-Fassade. Das
ökonomische Jahrhundert mit seinen sozialen Verwerfungen ist der
Hintergrund zu diesen Verirrungen. Da sind zunächst die vielen
Leute, denen das Geschäft nicht die Muße gönnt, über die Gestalt
des eigenen Heims nachzudenken. Massenhaft werden Häuser auf
Spekulation gebaut, die den Architekten gestattet, ihre Laune aus-
zulassen. Dann das Übertrumpfenwollen im Werte des Stein-
materials, in der Zahl der Balkons, „weil man's hat", das Protzen-
tum der neugeschaffenen Millionäre, um ihr Dasein zu beweisen.
Der reichgewordene Mann vom Lande erfüllt die alte Sehnsucht
nach dem Schloß über seinem Heimatdorfe in der breiten städti-
schen Straße. Der Städter trägt die Bequemlichkeit seiner bis-
herigen Behausung an das Meeresufer oder in die Berge.
Dem äußeren Ansehen entspricht die innere Ausstattung der
Räume an Charakterlosigkeit des geschmacklosen Durcheinanders.
Neben dem Speisezimmer mit schweren gotischen Möbeln ist das
türkische Kabinett als Rauchzimmer, neben dem Arbeitszimmer des
Hausherrn mit Klubsesseln und Aktenschrank des amerikanischen
Office der Rokkokosalon der Gnädigen. Vergessen wir nicht einen
Augenblick, daß wir weltwirtschaftlich leben. Persische Teppiche,
chinesische Vasen, japanische Bronzen, ein indischer Buddha, Photo-
graphien vom alten Rom, afrikanische Jagdtrophäen dürfen nicht
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. ßgß
fehlen. Dazwischen werden Antiquitäten gestopft, echte und
falsche, Madonnen auf Goldgrund, lothringisches Bauerngeschirr
und venezianische Gläser. An die weltwirtschaftliche Verflechtung
Deutschlands erinnert der Verbrauch stündlich. Kaffee, Tee,
Kakao, Südfrüchte, Südweine, türkischer Tabak wurden um die
Mitte des 19. Jahrhunderts nur für die Wohlhabenden eingeführt,
um 1900 sind sie Gemeingut aller Volksschichten. Die Bekleidung
kann aus russischem Leder, australischer Wolle, japanischer Seide,
ägyptischer Baumwolle, irischem Flachs gefertigt sein. Fremde
Ganzfabrikate umgeben das individuelle Dasein, die amerikanische
Füllfeder, der Schweizer Chronometer, die böhmische Wäsche, der
Wiener Hut.
In drei Beziehungen hat sich der Bedürfnisstand verändert:
quantitativ, qualitativ, sozial. Über den durchschnittlichen
Verbrauch der Massengüter in den letzten Jahrzehnten und
auch früher gibt uns die Statistik einige Auskunft. Bei dem Zucker
hat er sich von 1870— 1876 bis 1907/8 von 6 kg auf 17,1 gehoben,
bei dem Kaffee von 1841 — 1845 bis 1908 verzweiundeinhalbfacht,
bei ausländischen Gev»ürzen von 1840 — 19 10 verdreifacht, bei dem
Kakao vom ersten Drittel des Jahrhunderts bis zu seinem Schluß
Verdreißigfacht. 1872/73 kamen auf den Kopf 78 1 Bier, 1899
bis 1903 123,4, 10 Jahre später, infolge der Antialkoholbewegung,
des Kampfes gegen den Frühschoppen, etwas weniger des bei sol-
cher Konsumtion volksverdummenden Getränkes. Der Branntwein
hat 1889 den Höhepunkt des durchschnittlichen Verbrauchs über-
schritten. Der Fleischverbrauch wurde 18 16 auf 17,3 kg für den
Kopf berechnet, 1840 auf 21,6, 1873 auf 29,5, 1892 auf 32,5, 1900
auf 46,2, 191 2 auf 52,3. Die letztere ungemeine Steigerung, die
physiologisch und ethisch ebenso gepriesen als verabscheut wurde,
kam der Nation erst bei der Rationierung während des Weltkrieges
zum Bewußtsein, als man sich auf den Stand der Großeltern zu-
rückzuschrauben genötigt sah. Für Weizen, Roggen, Gerste, Kar-
toffeln war die Angabe durchschnittlich der Jahre 1890— 191 4
90,9, 147,7, 80,1 und 600, für 1913 — 1914 von 95,5, 153, i>
103,0, 702,2 kg. Es kamen an Reis auf den Kopf 1836 — 1840
0,18 kg, 1851 — 1858 0,81, 1898 2,51, 1906— 1910 2,58, an Petroleum
1866 — 1870 1,87, 1908 17,97 kg, an Baumwolle in denselben Jahren
1,8 und 6,79, hier die Ausfuhr mit einbegriffen.
Die Qualität der Lebenshaltung verwandelt sich in der
Weise, daß das mehr Haltbare, Nahrhafte, Gefällige vordringt, vor
allem, daß der Verbrauch wechselt. Das Brot wird in vielerlei
Sorten und Mischungen und Ausmahlgraden auf den Tisch ge-
bracht, das Bier wird malzhaltiger in mehreren Farben gebraut.
2Q4 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
das Fleisch mehr vom Mastvieh genommen, das Wild, in Wald
und Feld gefüttert und gepflegt, ist regelmäßig auf dem städtischen
Markt, Kaffee, Kakao, Tee haben ihre eigene Tageszeit in den
Haushaltungen, die Speisekarten in den Gasthäusern werden lange
Listen, die Weinkarten mit Goldschnitt schwellen zu ganzen Bü-
chern in- und ausländischer Getränke ian. Seit 1890 beginnt der
Massenverbrauch der russischen und ägyptischen Zigarette, die
Importzigarren variieren nach Hunderten von Sorten. Gemüse-,
Pilz-, Fruchtkonserven, Marmeladen und Fruchtsäfte bringen die
Fabriken für den ganzen Winter. Die Frühjahrsprodukte von Süd-
frankreich, Italien, Algier, Ägypten erscheinen im Februar für das
Diner der Reichen, die Tropen, Subtropen und die südliche Halb-
kugel versorgen die nördliche mit Bananen, Ananas, Orangen das
Jahr hindurch. Seefischhandlungen kennt jede größere Stadt, und
Steinbutt und Seezungen kommen im Schwarzwald neben den Fo-
rellen, am Bodensee neben dem Felchen auf die Gasttafel. Nicht
minder vielseitig versorgt die Industrie die Haushaltungen bis zum
kleinsten Bedürfnis. Ein Sofa, das um 1830 als ein unerhörter
Luxus des Buchhändlers Freiherrn von Cotta in Tübingen von Pro-
fessoren und Studenten verachtet wurde, schmückt jede „gute
Stube" des kleinen Mannes. Bücher, Bilder, Teppiche, Gardinen,
kunstgewerbliche Gegenstände aus Glas, Ton oder Metall, Öl-
drucke und Kollektionen von Ansichtspostkarten gehören eben-
falls zu ihrer Ausstattung. Allgemein haben helle große Glas-
fenster die trüben kleinen Scheiben verdrängt, die Aufgänge in
den Häusern sind keine steilen Stiegen mehr, der alte deutsche
Rauchfang ist durch den russischen Kamin ersetzt worden, der
kleine Kachelofen durch den Dauerbrenner, den Gasofen, die Zen-
tralheizung. Vor 100 Jahren erhellten zwei oder drei Talgkerzen
das Abendzimmer des wohlhabenden Mannes. Die Lichtputzschere
war ein wichtiges Requisit der Haushaltung. Dunkel war es auf
dem Bürgersteig. Glücklich schätzte sich der verirrte, weg-
suchende Wanderer, wenn ein schmaler, matter Lichtstreif aus
einem Hause fiel oder ihm eine Dame begegnete, die sich von
ihrem Dienstmädchen mit der schwankenden Laterne heimleuchten
ließ, oder der Nachtvv^ächter, der die Stunde ausrief.
Im Lichtmeer erstrahlen 191 3 die großen Verkehrsadern
der nächtlichen Hauptstadt. Unter den taghell funkelnden Bogen-
lampen wird die neueste Abendzeitung gelesen. Die Schaufenster
mit hundert weißen und farbigen Lampen, die beweglichen, inter-
mittierenden Reklamelichter, die Scheinwerfer, die erleuchteten
Etagen, in denen eine Handbewegung genügt, um sie mit zahl-
reichen elektrischen Glühfäden in Glanz zu tauchen, verleihen den
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. 3Q5
Öffentlichen Plätzen den zauberhaften Schimmer eines Ballsaales,
gegen den der Vollmond ein stümpernder Lichtbringer wird.
Für die Demokratisierung der Bedürfnisse ist die
erste Voraussetzung die Zunahme des allgemeinen Wohl-
standes, die zweite die Konkurrenz in der Begehrlichkeit. An Sonn-
tagen weitere Ausflüge zu machen, versteht auch die Familie mit
bescheidenen Mitteln zu ermöglichen. Der Handwerker und der
Kleinkaufmann sparen für eine Sommerreise an die See oder ins
Gebirge. Für eine Tageszeitung und ein Wochenblatt muß Geld
geschafft werden. Theater, Kino, Kaffeehaus- und Bierhauskonzert
werden von allen Klassen besucht. Man läßt sich und seine Kinder
jedes Jahr einmal photographieren. Es wäre interessant, zu wissen,
wie viele Klaviere in Deutschland stehen, wieviel Fahrräder benutzt
werden, wieviel Buben keine Schlitt- oder Rollschuhe besitzen.
Volksbäder, auch für den Winter, hat die Großstadt. Ebenso Sport-
plätze für die gesamte Jugend. Eine Uhr, ein Portemonnaie, eine
Füllfeder trägt jeder Geschäftsmann bei sich, im Büro hat er seine
Schreibmaschine, jede Hausfrau führt ihre Ledertasche beim Aus-
gang zu Besorgungen. Die Jagd war ehemals ein Vergnügen des
Adels, jetzt gibt es große Jagdpachtgesellschaften von Klein-
bürgern oder Bauern. Wie viele Familien gehen einmal wöchent-
lich in ein Restaurant und lassen dort reichliches Geld für Speisen
und Getränke aufgehen! Die allbekannten technischen Fortschritte
sind Allgemeingut geworden. Gas, das von Auer von Wels-
bach 1880 erfundene, von Cerhaltigen Erden ausströmende Gas-
glühlicht, die in der Nernst- und Tantallampe wirksame Elektri-
zität erleuchten auch die kleinen Wohnungen. Wasserleitungen,
Wasserklosett, Gaskocher, Fensterläden, Rouleaux, eiserne Bett-
stellen mit Roßhaarmatratzen, elektrische Glocke sind fast selbst-
verständliche Einrichtungen. In der Bekleidung wird das Unter-
zeug auch für den gewöhnlichen Mann üblich. Taschen- und Hals-
tuch trägt jeder Städter, der gutsitzende Schnürstiefel tritt an
Stelle des Schaft- und Zugstiefels. Filzhut, Strohhut, Mütze
braucht man nach der Jahreszeit, mit Regenschirm und Mantel
schützt sich auch der Fabrikarbeiter. Die Mode herrscht bei der
Männerkleidung nur in den reichen Klassen, in der Frauenwelt
überall. Früher unterlag ihrer Tyrannei nur die wohlhabende
Frau. Heute muß diese weit schneller zum Wechsel übergehen,
weil ihr Dienstmädchen das Neueste ihr nachmacht.
Über der gut versorgten Massenschicht hebt sich die
schmalere des höheren, genießenden Wohllebens hervor, welche
zweiter Klasse in der Eisenbahn fährt, die Sommerpensionen in
der Schweiz und an der Nord- und Ostsee bezieht, den Parkett-
•igö VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
platz im Theater benutzt und die Söhne auf das Gymnasium schickt.
Neben dem Arbeitsverdienst des FamiHenhauptes ist in der Regel
einiges Vermögen da. Alle diese Leute glauben auf der goldenen
Mittelstraße zu wandeln und stellen das Ideal der bürgerlichen
Demokratie dar: eine genügsame, moralische, behagliche Herde.
Doch klaffen ihnen Abgründe auf beiden Seiten der Straße. Sie
schauen rechts mit Begehrlichkeit auf die höchste kleine Schicht
der ganz Reichen mit ihrem individuell launenhaften, alles über-
bietenden Willen zum Raffinement an Toilette, Diners, Autofahrten,
Festlichkeiten, zum Sport des Sammeins von Gemälden und Pre-
ziosen. Links droht die Gefahr, in das Proletariat zu versinken,,
wenn sie sich nicht mit aller Zähigkeit halten. Die „upper tens"
vergleichen sich mit den Renaissancemenschen, sind es aber nicht,
weder in der vornehmen Sitte, noch im Kunstgeschmack, noch in
der geistvollen Konversation. Ausnahmen bestätigen nur die Regel.
Sie wollen mehr sein als andere, daher gebärden sie sich, wie ihr
Klassenname zeigt, gern international, d. h. als Engländer oder
Amerikaner.
Manchem läßt das Erwerbsleben keine ruhige Minute, denn,
wer nicht immer dabei ist, kommt zu kurz. Andere sind erschöpft
oder mit Erschöpfung erblich belastet. Sie alle bedürfen der
raschen Nervenerregung von außen her, die sie aus sich selbst
nicht zu gewinnen vermögen. Der Lärm auf der Straße ist ihnen
ein Bedürfnis, ebenso wie das Amüsieren um jeden Preis in dem
Großstadttaumel. Diejenigen, die den Kopf hochhalten, sind von
eisernem Fleiß und von rücksichtslosem Geschäftsegoismus durch-
drungen. ^ ' l)
Der Wertsetzung aller menschlichen Tätigkeit wurde der Maß-
stab des Geldmachens aufgedrängt. Was bringt ein wissenschaft-
liches Lehrbuch ein, was eine Oper, was eine neue Therapeutik?
Diese Frage schrieen die Händler den Autoren solange in die
Ohren, bis diese selbst anfingen, diese ,, Vernunft des Zeitalters"'
nicht mehr ernstlich zu bezweifeln. Wie tief der brutale und
quantitativ schätzende Sinn von Angebot und Nachfrage die Nation
in wenigen Jahrzehnten durchseucht hatte, hat dann die Schieber-
epidemie in und nach dem großen Kriege zu erschreckendem Aus-
druck gebracht. Die Industriellen wurden vom Handel aus zu-
nächst in die Stromwelle des LTmsatzes so hineingezogen, daß sie
ihre geschäftliche Individualität preiszugeben nicht zögerten und
sich Verkaufsstellen schufen, von denen der einzelne in fühlbare
Abhängigkeit geriet. Die Landwirtschaft konnte in ihrer Zersplit-
terung hier nicht folgen, wenn sie auch ihrem Genossenschafts-
wesen eine verschärfte, auf Gewinn gerichtete Wendung zu geben
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. ony
sich anschickte. Als aber die Ernährungsnot des Krieges herauf-
kam, machte sie von dem ihr tauglichen Mittel der Zurückhaltung
im Angebot Gebrauch, um auch ihrerseits dem händlerischen Mo-
loch zu opfern. Die Städter waren dann über die Herzlosigkeit der
Bauern entrüstet, wobei sie vergaßen, daß sie 20 Jahre die Profit-
wut als höchste Lebensaufgabe in Wort und Tat verherrlicht und
sich über die Landleute moquiert hatten, die nicht ,, modern" emp-
finden wollten.
Fast noch schlimmer war es für die Nation, daß aus allen
Kreisen die befähigsten Köpfe in den Dienst des ökonomischen
Produzierens und Umsetzens hineingezogen wurden, und andere
höhere Berufe dementsprechend verarmten. Nur der viel ge-
schmähte Militarismus bildete in seiner Anziehung noch eine Art
des Gegengewichts und rechtfertigte sich damit ethisch, wenn er
als einziges Schutzmittel Deutschlands im Umkreise von lauter
P'einden es noch nötig gehabt hätte, sein Dasein zu rechtfertigen.
Auch die politisch Begabten, an denen unser Volk wahrlich keinen
Überfluß besitzt, verschwanden aus der Regierung und machten
Leuten zweiten Ranges Platz, die das Ungewitter nicht vorfühlten,
das sich international zusammenballte. Die Kraftausgabe jeden
Volkes ist beschränkt, gibt es sich voll auf einem Gebiete aus, so
ist die Lücke auf einem anderen unvermeidlich.
Typisch für das Hasten und Wagen aller ist die Schnellig-
keit und Vielartigkeit der persönlichen Fortbewegung. Um 1895
wird das Fahrrad ein verbreitetes Vergnügungs- und Sport-, bald
ein notwendiges Verkehrsmittel, eine deutsche Erfindung insofern,
als der badische Oberförster D r a i s das Laufrad, und der Schwein-
furter Instrumentenmacher Fischer die Tretkurbel erfanden.
Erst als der irische Arzt Dunlop den luftgefüllten Gummireifen
hinzufügte, wurde die Maschine praktisch. 5 Jahre später kommt
das Automobil und bald danach das Motorrad in den allgemeinen
Gebrauch. Die Schnellzüge steigern mit ihren Riesenlokomotiven
ihre Geschwindigkeit bis über 100 km die Stunde, die elektrischen
Straßenbahnen, die alle 5 oder 3 Minuten passieren, treten an die
Stelle der Pferdebahnen, in denen man zwar gemütlich fuhr, auf
die man dafür eine Viertelstunde lang zu warten hatte. Die Groß-
städte umgeben Rundbahnen, und Vorortbahnen schließen sich
an die Linien der inneren Stadt an. Die Hoch- und Untergrund-
bahn wird zur Entlastung des Straßenverkehrs notwendig. Die
großen Überseedampfer mit Stockwerken, wie Luxuspaläste, ver-
doppeln fast ihre Geschwindigkeit gegen 1880, der Aufzug fährt
in die höchsten Häuser hinauf, hohe Berggipfel lassen sich in
einer Stunde mit der Drahtbahn erreichen. Die Zeit steht „im
7q8 vi. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Zeichen des Verkehrs". Wer nicht in Geschäften reist, tut es zum
Vergnügen. In 14 Tagen im Zickzackkurs mit dem Automobil
durch Europa! Das Monopolhotel mit seinem schweren Stil der
achtziger Jahre macht in den neunziger dem Grandhotel mit dem
„Jugendstil" Platz. Wieder nach 10 Jahren lebt die vornehme
Reisewelt im Palasthotel des amerikanischen Millionärgeschmacks.
Endlich nach vielen Versuchen wird am Ende der Epoche die
Luft erobert. Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatten
von Dalberg, der spätere Kurfürst von Mainz, und der Phy-
siker Kratzenstein Lenkballons mit Handkurbelantrieb und
Steuer, unabhängig von einem französischen Plan, erdacht, ohne
ihre Ideen in die Praxis umsetzen zu können. Luftschiff und Flug-
zeug schicken sich jetzt an, ein Beförderungsmittel zu werden. Da
kommt der Weltkrieg herauf und stellt sie einstweilen in den aus-
schließlichen Dienst der Auskundschaft und des Bombenangriffes.
Das starre Luftschiff System des Grafen Zeppelin wird dank
der unermüdlichen, selbstlosen Tätigkeit des Erfinders andauernd
verbessert und läuft dem halbstarren, das für kleinere Fahrzeuge
brauchbar bleibt, den Rang ab. Dem Berliner Luftfahrforscher
Lilienthal gelingt der Gleitflug von mehreren hundert Metern
schon im Anfang der neunziger Jahre, und die Anfänge der Flug-
maschine gehen darauf zurück. In Frankreich und Amerika werden
Luftfahrzeuge, schwerer als die Luft, mit Motoren versehen und
fliegen wie Vögel in die Höhe, um im Äther zu verschwinden. Die
Deutschen ahmen diese Neuerungen nach und bringen während ^des
Weltkrieges selbständig Eigenartiges daneben.
Es ist erstaunlich, was Deutschland in 25 Jahren wirtschaft-
lich und technisch geleistet hat, fast noch erstaunlicher muß es
erscheinen, daß es das Volk physisch überhaupt ausgehalten hat.
Gewiß hat das rasche Reichwerden, Überhasten der Arbeit, über-
triebenes Genießen in einzelnen Kreisen einen Niedergang an
Leibeskraft gebracht. Im Vergleich zu der Gesamtheit war er nur
bei wenigen. Denn welche Menge natürlicher und moralischer
Energie ihr ungebrochen zur Verfügung stand, hat sich am Ab-
schluß der Periode, als es sich um das Dasein der Nation han-
delte, herausgestellt. Der Grund ist, daß der steigende Wohlstand
allen Volksschichten zugeflossen ist. Die Opferwilligkeit an Blut
und Gut sondergleichen wird auch daraus verständlich, daß die
Volkswirtschaft eine Einrichtung geworden war, an der alle ihre
Glieder lebhaften und tiefen Anteil hatten.
Will man eine richtige Einsicht in den gewaltigen Auf-
schwung der Volkswirtschaft gewinnen, wird man nicht übersehen
dürfen, daß er kein isolierter, kein nur Deutschland allein an-
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. igg
gehender Vorgang gewesen ist. Ganz Europa ist, wie von 1850
bis 1873, so von 1895 — 1914 im raschen Vordringen begriffen,
und auch viele überseeischen Staaten waren in gleicher Lage. Wir
können daher die ganze Bewegung auch international zu verstehen
suchen, da eine Volkswirtschaft auf die andere eingewirkt hat, nach-
dem in allen neue Ideen, neue Mittel, neue Mächte sich regten. In-
dessen, Deutschland hat bei dem Aufstieg obenan gestanden, hat
viel, vielleicht das meiste gegeben, hat dafür im Austausch auch
viel empfangen. Es blieb selbst während des Krieges der Lehr-
meister seiner Feinde. Es wurde aber auch durch die ganze Epoche
wegen seiner Erfolge beneidet, und der Haß der Zurückbleibenden
trat feindselig hervor.
Die Entwicklung des ökonomischen Zeitalters spiegelt sich in
dem Tun und Treiben der Reichshauptstadt Berlin wieder, die
ein Brennpunkt des industriellen und kommerziellen Lebens ge-
blieben war. Wir haben in früheren Abschnitten ihrer mehrfach
gedacht, und so mögen hier noch einige Ergänzungen aus der
neuesten Zeit Platz greifen, wobei wir auf das umfangreiche „Ber-
liner Jahrbuch für Handel und Industrie" verweisen, das als Be-
richt der Ältesten der Kaufmannschaft herausgegeben wird.
Die Bevölkerung der eigentlichen alten Binnenstadt wächst
von 1578794 am i. Dezember 1890 auf 2708267 um 1913. Die
Vermehrung vollzieht sich immer langsamer, und es bleibt in ein-
zelnen Jahren auch der Rückgang nicht aus. Anders ist es mit
Großberlin, d. h., wenn wir den alten Kern von seinem Vorstadt-
kranz umsäumt denken, der nicht bloß örtlich den alten Mittel-
punkt umschlossen hält, so daß fast aller dazwischen liegender
Boden, der vordem Gartenland und Heide war, überbaut worden
oder von städtischen Straßenanlagen wenigstens durchzogen ist,
sondern sich auch immerfort weiter ausweitet, so daß ein Halb-
messer von bald 8 km erreicht ist. An der Peripherie ist Raum
für menschliche Wohnungen und für den Wald von Fabrikschorn-
steinen genug, während man im Innern nur noch in die Höhe
bauen kann. Mit Schöneberg, Lichtenberg, Wilmersdorf, Char-
lottenburg, Neukölln, Rixdorf, Teltow und Niederbarnim hatte die
Reichshauptstadt 1890 fast 2, 191 3 4 1/5 Millionen Einwohner. Die
ersten drei sind zuerst in das alte Weichbild eingemeindet worden.
Großberlin pflegt in 39 Postorten den postalischen Fern-
und Nachbarverkehr, dessen Postüberweisungen und Postscheck-
zahlungen für 1909 und 19 10 derart ermittelt worden sind, daß die
Summe der Konteninhaber in diesen zwei Jahren von 2 423 auf
5 720, der Gesamtumsatz von 2375,2 Millionen Mark auf 4328,8
400 ^^- Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
gestiegen ist, ein Betrag, der erst dadurch in das richtige Licht
gerückt wird, daß der entsprechende Verkehr im ganzen Reichs-
postgebiete nur das 4 — 5 fache beträgt.
Berlin kann sich neben Paris, London, New York sehen lassen,
nicht bloß wegen seiner Ausdehnung, sondern auch wegen seiner
Volks- und weltwirtschaftlichen Bedeutung, die sich in ihren Ein-
und Ausfuhren, ihren Wertumsätzen und in dem Zusammenströmen
der Menschen aus aller Herren Länder kund tut. Nach dem
Bericht der Gewerbeaufsichtsbeamten des Landespolizeibezirkes
Berlin wurden 1901 10740 Fabriken gezählt, 1913 21 061. Die
meisten Gewerbegruppen der Statistik sind vertreten. Die wich-
tigsten sind das Bekleidungsgewerbe, die Maschinen-, Eisen-, Me-
tall-, die elektrische Industrie, der Wagenbau aller Art, die Bier-
brauerei. Dann folgen die Gewerbe, die Papier, Tapeten, Möbel,
musikalische Instrumente, Schmucksachen, Kautschuckwaren,
Seife, Chemikalien, wohlriechende Wasser, Schirme, Posamentier-
waren, Linoleum, Porzellan, Öfen, Tonwaren, Marmorwaren, Hand-
schuhe, Asphalt, Dachpappe, Goldleisten, Geldschränke herstellen.
Um 1910 betrug die Kohlenzufuhr 5,75 Millionen Tonnen, von
denen mehr als Y5 t^^i^ der Bahn zugeführt wurden. Auf der Berlin-
Charlottenburger Wasserstraße kamen in Berlin Gegenstände zu
Berg als mit 2711695,5, zu Tal 2485108 Tonnen an, in Char-
lottenburg 755135 und 1772626. Abgegangen sind im ganzen
zu Wasser 683 000 Tonnen. Trotz aller heute üblichen Ferndis-
position über die Ware, die Berlin als Welthandelsplatz durch
Börse und Großkaufleute vermittelt, ist die Stadt noch ein be-
deutender Stapelplatz, von dem aus Getreide, Hülsenfrüchte,
Mehl, Sämereien, Eier, Felle, Häute, Kolonialwaren, Wolle wieder
ausgeführt werden, nicht bloß nach dem übrigen Deutschland,
sondern auch nach Frankreich, England, Österreich, Skandi-
navien. Dieser Umsatz wurde 1903 auf 130000 Tonnen Getreide
geschätzt, auf 630000 Schock Eier, auf 15 — 20 Millionen Mark
in Häuten und Fellen.
Was eine solche Millionenstadt verbraucht, geht u. a. daraus
hervor, daß 1910 auf ihrem Markt 240071 Rinder, 1333910
Schweine, 197828 Kälber, 628951 Schafe aufgetrieben wurden.
Im Jahre 1890 unterstanden dem Steueramt der Stadt 82 Bier-
brauereien, die 105943 hl obergäriges und 1992777 untergäriges
Bier brauten. 19 10 waren in Berlin, Charlottenburg, Pankow, Neu-
kölln iio Brauereien mit einem Produkt 1084602 hl obergärigen
und 4034880 untergärigen Bieres. Eingeführt und in der Stadt
erzeugt wurden 378 278 368 1 Milch, der Jahresumsatz von Fischen
durch die Fischauktionen betrug allein 35 792 Ztr.
I. Einleitung. Das ökonomische Zeitalter. 40 1
Wenn man sich die Bewältigung solcher Massen veranschau-
licht, versteht man, daß der städtische Handel rasch umgebildet
werden mußte. Die Vorwärtsbewegung der kaufmännischen
Technik im Kleinhandel hat keinen Augenblick geruht. Waren-
häuser und Spezialgeschäfte wetteiferten mit Gewerbehöfen und
Handelsstätten, die sich über das Stadtgebiet verbreiteten. 1908
wurden 300 Geschäftspaläste mit luxuriöser Ausstattung gezählt.
Die vornehme Straße „Unter den Linden" hat ihre alten bekannten
Häuser verschwinden sehen und hochaufragende Neubauten erster
Berliner Firmen, Hotels und Ausstellungsgebäude an deren Stelle
treten lassen. Die Millionen dazu waren zur Verfügung, für den
Bodenwert wurden märchenhafte Preise gezahlt. Die Rente der An-
lage hatte der Umsatz im großen, der sich hier zusammendrängen
sollte, aufzubringen.
Die kaufmännische Propaganda wurde durch die Ausstattung
der Schaufenster mit ihren Farbenanordnungen und Beleuchtungs-
effekten gesteigert. Der Schaufensterwettbewerb kehrte seit 1909
regelmäßig wieder, dem das großstädtische, auf das neueste er-
pichte Publikum seine Huldigung darbrachte. Vorträge über die
Geschmacksbildung des Kaufmanns wurden veranstaltet, und Aus-
stellungen in großer Zahl gehören seit 1900 zu dem dauernden In-
ventar des industriellen, künstlerischen und kaufmännischen Ber-
lins. Sie haben sich als Fachausstellungen bewährt, während man
von den gemischten, wie die Weltausstellungen es sind, wegen
ihrer das Geschäft nicht deckenden enormen Kosten nicht viel
hören wollte. Abgesehen von kleinen und privaten Unternehmen
ersterer Art, die sich gar nicht zählen lassen, schwankten die
großen jährlich zwischen 30 und 50, die mit der Schaffung perma-
nenter Ausstellungsgebäude für das Publikum leicht auffindbar
wurden. Es beteiligten sich die Kunst- und Handelsgärtnereien,
deren Blumensäle bis zur Spezialisierung mit Orchideen gingen,
die Tierzucht mit ihren bienenwirtschaftlichen, Geflügel-, Hunde-,
Geweih-, Kaninchen-, Mastviehausstellungen; die Maschinen-, Elek-
trizitäts-, Seifen-, Papier-, Leder-, Holz- und Schnitzstoff-, Nah-
rungsmittel-, die polygraphische, die Spielzeug-, die Instrumenten-
industrie; das Bekleidungsgewerbe mit Unterabteilungen für
Wäscherei, Plätterei, Moden, Spitzen, Schuhen, Pelzwaren, Schlei-
fen, Posamentierwaren, Haartrachten, Reformbekleidung; das
Kunstgewerbe und die Kunst der Gemälde und Plastik, die Anti-
quitäten, die Liebhaberkunst für echte alte Gobelins und für Be-
gräbnisschmuck.
Die Ausstellungen hatten den Zweck, besonders auch auf die
Fremden einzuwirken, deren polizeilich gemeldete Zahl in der
A.Sartorius v. Walters hausen. Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 26
A02 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
ersten Hälfte der neunziger Jahre die halbe, 1905 die ganze Million
und 19 13 wieder die Hälfte derselben mehr ausmachte. Für sie und
die Einheimischen wurden die Personenbeförderungsmittel immer
ausreichender zur Verfügung gestellt. In den letzten 6 Jahren vor
dem Kriege erfüllt der Kraftwagen mit seiner Hast und seinem
Lärmen alle großen Verkehrsadern. 1908 zählte Großberlin 1121
Kraftdroschken neben 7592 Pferdedroschken erster Klasse mit
Fahrtanzeiger, während gleichzeitig die alte Fahrgelegenheit zweiter
Klasse für diejenigen Leute, die Zeit haben, sich nur noch auf 239
belief. Neben 934 alten Omnibussen sind 146 Kraftomnibusse im
Betrieb. Straßenbahnwagen laufen 3209. Im Jahre 1914 zählt die
Statistik 2489 Kraftdroschken, 341 Kraftomnibusse. Automobile
wurden im ganzen 5494 ermittelt, zu denen noch 747 Motorräder
hinzukamen. Während des Krieges blieb nur ein kleiner Bestand
zurück, da die Heeresverwaltung beschlagnahmte, was sie an Ma-
schinen, Wagen und Gummireifen nur benutzen konnte. Um so
mehr Personen hatten die städtischen elektrischen und Dampfeisen-
bahnen zu befördern, deren Verkehr schon vorher gewaltig empor-
geschnellt war.
Großberlin schloß 1913 rund i/^g der deutschen Reichsbevöl-
kerung in sich ein. Das war bald soviel als Württemberg, Baden
und Hessen zusammen Einwohner hatten. Mit dieser Quote war
aber weder diejenige an der gesamten Produktivkraft, noch die
an dem nationalen Reichtum identisch. Verschiedene Berechnungen
kamen überein, daß der städtische Bodenwert der Reichshaupt-
stadt etwa Ve dessen aller Städte ausmachte. Der Wertanteil an
mobilen Vermögen wird dem nicht nachgestanden haben, was man
aus der großen Zahl der Millionäre hat schließen wollen. Groß-
berlin zahlte 191 1 1/4 der direkten Staatssteuern Preußens, soviel
wie die sieben Provinzen des Ostens und Schleswig-Holstein. Das
städtische Budget war größer als das württembergische um
51 Millionen Mark, das 249 Millionen Mark 1911/12 betragen
hatte.
II. Der neue Kurs. Im Winter 1889/90 ging das Be-
streben der Reichsregierung dahin, das Sozialistengesetz, das im-
mer von 3 zu 3 Jahren verlängert worden war, zu einem dauernden,
milderen umzugestalten, jedoch, obwohl unter Verstärkung der so-
genannten richterlichen Garantien, den kleinen Belagerungszustand
mit den Ausweisungen, beizubehalten. Die Vorlage würde wohl in
dieser oder einer anderen Form im Reichstage angenommen wor-
den sein, wenn sich der Reichskanzler für sie eingesetzt hätte. Er
kam zwar nach Berlin, aber nicht in die Sitzung. Man erfuhr bald,
was das bedeutete. Es bereitete sich die Kanzlerkrise vor, deren
II. Der neue Kurs.
403
Vorbote die Stockung der Regierungsmaschine war. Der Aus-
weisungspargraph wurde von der Majorität abgelehnt, und nun
stimmten die Konservativen gegen das ganze Gesetz, das sie ohne
ihn für wertlos erklärten, und brachten es zu Fall.
Kaiser Wilhelm II. hatte sich mit jugendlichem Feuer
der Lösung der Arbeiterfrage und neuen sozialpolitischen Maß-
regeln zugewandt. Das Sozialistengesetz paßte in diese versöhn-
liche Stimmung nicht hinein. Im Februar 1890 hatte Bismarck
das preußische Handelsministerium niedergelegt, das er seit
10 Jahren verwaltete, wohl im Hinblick darauf, daß er über die
hier gesteckten Ziele der Sozialpolitik nicht hinausgehen wollte,
doch blieb er Reichskanler, da er es für seine Pflicht hielt, die aus^
wärtige Politik im Interesse des Reiches fortzuführen, die nie-
mand wie er nach seinen Erfahrungen zu meistern vermochte.
Um die Ungeduld des Kaisers einigermaßen zu befriedigen, redi-
gierte er zwei Kaiserliche Erlasse, die alsbald veröffentlicht wur-
den, der eine an den Reichskanzler, der andere an den neuen
Handelsminister Freiherrn von Berlepsch gerichtet. Der
erstere enthält die Zusicherung, der Kaiser sei entschlossen, zur
Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter die Hand zu bieten,
soweit dies möglich sei, ohne die Industrie in ihrer Konkurrenz-
fähigkeit auf dem Weltmarkte zu schädigen. Zu dem Zwecke seien
zwischenstaatliche Verständigungen erforderlich, zu deren Anbah-
nung eine Konferenz von Staatenabgeordneten in Aussicht zu neh-
men sei. Der zweite bezieht sich auf Reformen in Deutschland,
die die Versicherungs- und Fabrikgesetzgebung ausbauen und
sozialpolitische Musteranstalten in staatlichen Bergwerken und Eini-
gungsämter schaffen sollen. Der Reichskanzler hoffte, daß die
Beratungen in der internationalen Konferenz bzw. in dem Staatsrat
durch sachverständige Männer ein Gegengewicht gegen die unver-
antwortlichen Ratschläge bilden würden, die dem Kaiser erteilt
worden seien. Darin hatte er sich jedoch getäuscht, wie das im
dritten Bande der „Gedanken imd Erinnerungen" ausgeführt wird.
Die Konferenz wurde in höflichem Entgegenkommen von
England, Frankreich, Österreich-L^ngarn, Italien, der Schweiz, Hol-
land, Belgien, Luxemburg, Portugal und den drei nordischen Staa-
ten beschickt. Die Verhandlungen drehten sich um die Sonntags-
ruhe, die Beschränkung der Arbeitszeit von Frauen, Kindern,
Jugendlichen, die Regelung der Arbeit in den Bergwerken. Man
einigte sich über einige Maßregeln, deren Überwachung den ein-
zelnen Staaten zufallen sollte. Spätere Zusammenkünfte wurden
zum Austausch der gemachten Erfahrungen vorbehalten. Niemand
übernahm eine Verpflichtung, so daß keine praktischen Ergebnisse
404
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
hervorgetreten sind. Ein Minimum zwischenstaatlich zu sichern
wäre möglich gewesen, soweit es den bereits bestehenden Gesetzen
entsprach. Das hätte freilich wenig geändert, fand aber trotzdem
keine Zustimmung, da man sich im Auslande grundsätzlich, et-
waiger neuer künftiger Forderungen wegen, nicht festlegen wollte.
Denn eine internationale Arbeiterschutzgesetzgebung hat nur einen
Wert unter annähernd gleichgestellten, in einem Beharrungszu-
stande befindlichen Industrieländern. Diese Voraussetzung fehlte,
Technik, wirtschaftliche Organisation und Kapitalmacht waren un-
gleich, und vieles war in der Umbildung.
Jede Uniformität bedeutenden Arbeiterschutzes mußte ein sehr
verschiedener Eingriff in die industriellen Kosten der einzelnen
Länder bringen. Differenzen mögen innerhalb eines großen Einzel-
staates auch vorhanden sein, aber hier lassen sich Ausgleichungen
durch die Handels-, Steuer- und Transportpolitik finden, ganz ab-
gesehen davon, daß eine staatliche Überwachung der Vorschriften
sicherer als die völkerrechtliche ist.
Der zweite Entwurf hatte Erfolg, zunächst im Staatsrat, der
um Personen verstärkt worden war, die dem neuen Kurs der
kaiserlichen Politik zustimmten und weiterhin im Reichstage.
Die Novelle von 1891 bringt Bestimmungen über die Sonn-
tagsruhe und die zulässige Sonntagsarbeit, den 11 stündigen Maxi-
malarbeitstag für erwachsene weibliche Arbeiter, obligatorische
Arbeitsordnung für größere Betriebe, die Arbeitsbücher jugend-
licher Personen und die Neuorganisation von Gewerbegerichten,
die in allen Gemeinden von über 20000 Einwohnern zu er-
richten sind.
Die neuen Belastungen waren für die Industrie nicht sehr
erheblich, wo sie ausnahmsweise schärfer einschnitten, wurden sie
mit der unter dem Zollschutz gebesserten Lage gerechtfertigt. Von
1888— 1890 war zwar gut verdient worden, aber der allgemeine Auf-
schwung des Geschäftes fehlte noch. Die ersparten Einkommen
trugen daher auch dazu bei, in diesen drei Jahren eine Kapital-
anlage im Ausland vorzunehmen, die sich bloß nach dem Emis-
sionskurs der Effekten berechnet, auf 1432 Millionen Mark belief.
Große Aufträge nicht nur von Deutschland waren den Rüstungs-
industrien zugeflossen, der Ausbau der Kleinbahnen hatte der Mon-
tanindustrie zu verdienen gegeben. Schon im Sommer 1890 schlug
die nicht ausreichend gefestigte Konjunktur wieder um unter dem
Einfluß des Zusammenbruches des englischen Hauses Baring
Brothers und der Errichtung des nordamerikanischen Hoch-
schutzzolles.
11. Der neue Kurs.
405
Die Arbeitslöhne sanken. Trotzdem jubelte die Sozialdemo-
kratie. Das gegen sie gerichtete Gesetz war gefallen. Bei der
Reichstagswahl von 1890 hatte sie gegen die vorhergehende ihre
Stimmenabgabe verdoppelt, der scharfe Wechsel der Geschäftslage
war ihr ein willkommener Anlaß, ihre Zusammenbruchstheorie
wieder hervorzuholen. Der Parteitag in Halle, der erste wieder
auf deutschem Boden, war ein Freudenfest, bei dem die Partei in
Anlehnung an die Reichstagswahlkreise neu organisiert wurde.
Das Gothaer Programm wurde noch ein Jahr beibehalten, dann
1891 durch das des nächsten Parteitages ersetzt. Das Erfurter
Programm adoptiert die Marxsche Entwicklungslehre, be-
hauptet ganz allgemein den Untergang der Kleinbetriebe, das
Monopol der großen und deren Besitzer, denen alle Vorteile der
wachsenden Gütererzeugung zuflössen, während gleichzeitig das
Proletariat der Unsicherheit der Existenz, des Elends, des Druckes,
der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung verfalle. Die
Armee der überschüssigen Arbeiter werde immer massenhafter,
die Krisen erhöhten sich zum Normalzustand der Gesellschaft.
Wir werden weiterhin im einzelnen erzählen, wie in den
nächsten 24 Jahren die Wirklichkeit des wirtschaftlichen deutschen
Lebens den Beweis des Gegenteils von alledem erbracht hat. Die
Kunst der Führer mußte also dauernd darauf bedacht sein, die
Wahrheit zu verschleiern und die Begehrlichkeit nach immer neuen
Lebensbedürfnissen und mehr Macht hervorzurufen. Das war die
Antwort der Partei auf die sozialpolitischen Reformen des Reiches
und des Entgegenkommens des Kaisers.
Das Zukunftsziel wird in dem Programm im phrasenhaften
Dunkel gelassen: Das Privateigentum an Produktionsmitteln soll
in gesellschaftliches und die Warenproduktion in eine sozialistische
umgewandelt werden. Das Wort Staat wird ängstlich vermieden,
als ob die künftige Gesellschaft ohne politische Machtorganisation
bestehen könne. Es wird daher die alte Wendung von der völker-
beglückenden Internationalität der Arbeiterklasse aufgewärmt, durch
welche die Menschheit von allen Klassenunterschieden und jeder
Herrschaft befreit werden soll. Das Mittel, die neue Gesellschaft
zu begründen, ist die Arbeiterdiktatur, wobei der Vorgang der
Revolution mit Stillschweigen übergangen wird. Die neuen Macht-
haber haben sich nach Vollendung ihrer Aufgabe zu verneinen,
d. h. die gewonnene Macht aufzugeben, und die erträumte Gleich-
heit allen auf den Tisch zu legen. Man vergleiche damit die Ge-
schehnisse in Rußland und Deutschland im Jahre 1918!
Höchst problematisch klingen auch die Gegenwartsforde-
rungen: Volkswehr an Stelle des stehenden Heeres, Schlichtung
^o6 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
aller internationalen Streitigkeiten durch Schiedsgerichte, Unent-
geltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistandes, Abschaf-
fung aller indirekten Steuern und der Zölle. Andere Programm-
punkte entfernen sich nicht von denen der bürgerlichen Demo-
kratie, endlich sind einige erreichbare verzeichnet, die auf den
Arbeiterschutz gerichtet sind, den achtstündigen Normalarbeits-
tag der Erwachsenen, Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder unter
14 Jahren, Nachtarbeit nur in Ausnahmefällen und 36 Stunden
Ruhepause jede Woche.
Indem die Sozialdemokratie den bestehenden Staat allein als
eine Ausbeutungsmaschine schmähte, fehlte ihr zugleich jedes Ver-
ständnis für die politische Organisation des deutschen Volkes
im Kreise anderer, wie dies in dem letzten Jahrhundert müh-
sam aufgerichtet worden, und von der das Wohl jeder Familie ab-
hängig war. Fast bei jedem volkswirtschaftspolitischen Vorschlage,
der in den nachfolgenden 24 Jahren von selten des Reiches ge-
macht wurde, verhielt sich die Partei ablehnend, jedenfalls, wenn
es sich um das Wohl der Arbeiter handelte, weil das Gebotene zu
wenig sei, und weil die Führer ihr Brot verloren hätten, wenn
ihre Wähler zur Zufriedenheit neigten. Es gab zwar manche Ab-
stufung des Radikalismus unter den Genossen, aber nach außen
gelang es doch stets, den streng negierenden Charakter aufrecht
zu erhalten. Nur die weiter unten zu würdigenden Gewerkschaften
können den Anspruch erheben, sich der Stimme der mäßigenden
Vernunft nicht ganz verschlossen zu haben. Aber auch sie er-
zogen nur Parteiführer, keine Staatsmänner.
In den Tagen, als die internationale Konferenz für den Ar-
beiterschutz tagte, war B i s m a r c k als Reichskanzler entlassen
worden. Die Ursachen und die Ereignisse des Konflikts zwischen
Kaiser und Kanzler sind durch die bekannten Veröffentlichungen
unzweifelhaft festgestellt worden. Für die deutsche Wirtschafts-
geschichte ergaben sich aus der Veränderung der inneren und
äußeren Politik, die der Entlassung folgte, erhebliche Einwir-
kungen. Die Sozialpolitik Wilhelms IL wurde in der soeben
angegebenen Weise verwirklicht. Nicht minder eingreifend als
die soziale wurde die Handelspolitik betroffen. Die Anregung
dazu soll der Oberbürgermeister von Frankfurt, Miquel, der be-
kannte Parlamentarier und spätere Finanzminister, dem Kaiser
gegeben haben. Der Umschwung vollzog sich bald, der in keiner
Weise von dem über den neuen Kurs grollenden Alten im Sachsen-
walde gebilligt wurde. Bismarck hatte nach späteren Äußerungen
seines Sohnes im Reichstage die Absicht gehabt, die autonome
Zollpolitik zunächst noch fortzusetzen, den Tarif weiter zu er-
II. Der neue Kurs. 407
höhen, um für Deutschland vorteilhafte Handelsverträge zum Ab-
schluß bringen zu können. Auf diese Weise hätten sich die Inter-
essen der Ausfuhrindustrie mit dem Schutz aller heimischen Pro-
duktivkräfte vereinigen lassen, ein Plan, der später mit dem Zoll-
tarifgesetz von 1902 und den sich ihm angepaßten Handelsver-
trägen aufgenommen wurde.
Den neuen Männern, dem Reichskanzler von Caprivi und
dem Staatssekretär von Marschall, war einerseits das System
des autonomen Tarifs in Verbindung mit seinen Meistbegünsti-
gungsverträgen zu wenig durchsichtig und schien ihnen nur von
einem Meister der Diplomatie gehandhabt werden zu können, für
den sie sich nicht wohl halten mochten. Andererseits wurden der
augenblickliche Rückgang derAusfuhrindustrie, der eine Folge der
Krise war, und der leidliche Stand der Landwirtschaft, die eine
gute Ernte hinter sich hatte, überschätzt. So kam es, daß die Füh-
rung der deutschen Handelspolitik, obwohl sie vor radikalen Um-
wälzungen zurückschreckte, sich in das Lager des Liberalismus
begab, wo sie mit offenen Armen von allen den Elementen auf-
genommen wurde, die sich im Haß gegen das alte Regime zu-
sammengefunden hatten. Das Ideal der nationalen allgemeinen
Berücksichtigung der großen Berufsstände wurde fallen gelassen,
und eine Politik in Angriff genommen, die, wenn fortgesetzt, zu
einem einseitigen Industrie- und Handelsstaat führen mußte. Es ist
das Verdienst des späteren Reichskanzlers von Bülow, hier
Halt geboten zu haben, was später, als der Weltkrieg die Richtig-
keit bewiesen hatte, auch von gegnerischer Seite anerkannt werden
mußte.
Die einfachere und bequemere Politik der Regierung war der
baldige Abschluß langfristiger Handelsverträge mit Tarifbindung.
Die bestehenden reinen Meistbegünstigungen liefen 1892 ab, und
man besorgte, daß überall Ausschließungen bevorständen, wenn
man nicht einlenkte. Ein Krieg aller gegen alle sei, wie Caprivi
betonte, unvermeidlich, unter dem die Deutschen am schlimmsten
leiden würden. Frankreich war im Begriff, einen hohen Maximal-
und Minimaltarif aufzustellen, die Vereinigten Staaten ergriffen mit
der Mac Kinley Bill Prohibitionen, und Rußland hatte im Zoll-
krieg mit Deutschland den Wareneingang ungemein erschwert.
Wenn man nun auch annahm, daß Österreich-Ungarn und die
kleinen europäischen Staaten sich ebenfalls abzusondern an-
schickten, so war doch durchaus nicht einzusehen, warum Deutsch-
land, das mehr als die übrigen Staaten in den letzten 10 Jahren
wirtschaftlich erstarkt war, nicht auch so lange hätte für sich
gehen können, bis die übrigen nachgaben. Die neue Politik war
4o8 VT. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
kleinmütig und ganz in der Gegenwart der Wirtschaftskrise be-
fangen. „Wir müssen exportieren", sagte der Reichskanzler, „ent-
weder wir exportieren Waren oder wir exportieren Menschen. Der
innere Markt genügt nicht mehr". Fehlte es an Nahrung, so wäre
das Nächstliegende gewesen, die Landwirtschaft zu heben, damit
sie das Fehlende ergänze. Daß dies in großzügiger Weise mög-
lich war, hat das neue Jahrhundert erwiesen. Aber man wollte
nichts von Preissteigerungen hören und alles vermeiden, was äußer-
lich mit der Sozialpolitik nicht im Einklang war.
Theoretisch richtiger war das Argument, das auch von zahl-
reichen Handelskammern vertreten wurde, die Ausfuhrindustrie
bedürfe beständigerer Verhältnisse, die durch die Tarifbindung
möglich würden. Hier lag aber eine Übertreibung vor, da Eng-
land gar nicht daran dachte, seinen Freihandel abzuschaffen, die
englischen Kolonien die Meistbegünstigung noch gewährten, da
Holland sich nicht rührte, und Frankreich, wie alle überseeischen
Staaten, an erster Stelle die nordamerikanische Union, als Tarif-
vertragsstaaten gar nicht in Betracht kamen. Man würde auch
noch einige Jahre wie bisher ausgekommen sein.
Eine dritte Rechtfertigung, deren sich die neue Richtung be-
diente, war der engere Zusammenschluß der mitteleuropäischen
Staaten, sowohl gegen Rußland und Nordamerika, vielleicht auch
gegen das britische Weltreich. Aus diesem Gedanken hätte sich
allerdings eine neue Handelspolitik herleiten lassen. Aber dann
mußte die Sache ganz anders angefaßt werden. Es kam nicht bloß
darauf an, daß sich Staaten untereinander Zugeständnisse mach-
ten, sondern daß sie sich in gemeinsamer Abwehr zusammen-
schlössen. Das ist nicht geschehen. Vielmehr wurde von Deutsch-
land an Rußland, die Vereinigten Staaten, England die Meist-
begünstigung gewährt, statt daß der Generaltarif gegen sie gel-
tend gemacht wurde. Die Idee, den Generaltarif der Vertrags-
staaten einheitlich zu gestalten, wurde gar nicht einmal erwogen.
Die ersten Verhandlungen mit Österreich-Ungarn gehen auf
den Sommer 1890 zurück, als gelegentlich des schlesischen Kaiser-
manövers die Kaiser im Schloß Rohnstock zusammenkamen, wo
die enge politische Verbindung beider Mächte gefeiert wurde, nach-
dem der Bismarcksche Rückversicherungsvertrag mit Rußland, der
ein gutes Gegengewicht gegen österreichische Ansprüche war, et-
waige Sonderwünsche der Donaumonarchie zu befriedigen, leichten
Mutes von Caprivi preisgegeben war. Der Abschluß zögerte sich
bis zum Dezember 1891 hinaus. In der Zwischenzeit wurden auch
Vereinbarungen mit Italien, der Schweiz und Belgien angebahnt.
Die Verträge wurden auf 12 Jahre festgelegt und hatten bei Nicht-
II. Der neue Kurs. 40g
kündigung von Jahr zu Jahr fortzulaufen. Tatsächlich sind sie
erst 1906 erloschen.
In dem Vertrage mit Österreich-Ungarn wurde deut-
scherseits die Herabsetzung der Getreidezölle (Weizen und
Roggen von 5 auf 3,50 Mark, Hafer von 4 auf 2,80, Gerste von
2,25 auf 2, Mais von 2 auf 1,60) und der Zölle auf Hopfen,
Holz, Fleisch, Geflügel, Vieh, verschiedene Rohstoffe, Halbfabri-
kate und einige Fabrikate (Papier, Porzellan, grobe Schmuck-
sachen) zugestanden. Österreich setzte dafür seine Textilzölle
durchschnittlich um 20 0/0 herab und machte auch für Glas-, Ton-,
Eisenwaren, Maschinen, Instmmente u. a. m. einige Zugeständ-
nisse. Bezüglich der Salzdurchfuhr nach dem Orient gab es die
erwünschten Erleichterungen. Die beiderseitige Freiheit von Tran-
sitzöllen, die Verkehrserleichterungen im Grenzverkehr und Verein-
barungen über das Eisenbahnwesen wurden aufrecht erhalten.
Während in diesem Handelsvertrag Industrie- und AgrarzöUe
gegeneinander aufgerechnet wurden, konnten in dem mit der
Schweiz und Belgien nur die ersteren gegenseitig ermäßigt
werden. In dem deutsch-italienischen Abkommen erhielten
die deutsche chemische Großindustrie, das WoU-, Eisen- und Seiden-
gewerbe Vorteile, Italien hingegen solche auf agrarem Gebiete, je-
doch nicht für Getreide oder Vieh, das in keinem Belang expor-
tiert wird, sondern für Geflügel, Eier, Wein und Südfrüchte.
Deutschland büßte einen Teil seiner Finanzzölle ein, was bei dem
Stand des Etats nicht gerade erwünscht war, handelspolitisch ließ
sich indessen nicht mit Unrecht hervorheben, daß man der natür-
lichen, klimatisch bedingten, internationalen Produktionsverteilung
Rechnung getragen hätte.
Wie oben erwähnt, befand sich das Reich mit Rußland
seit Jahren in einem Zollkrieg. Im Juli 1891 hatte letzteres einen
neuen Tarif erlassen, der ersterem mehrere Ausfuhrunmöglich-
keiten auflegte. Als nun das ungarische Getreide gegen geringeren
Zoll als das russische nach Deutschland eingehen durfte, wurde
die russische Ausfuhr schwer geschädigt. Daher erließ Rußland
einen Maximaltarif, den es gegen seinen Gegner anwandte, wäh-
rend es gleichzeitig Frankreich eine Ermäßigung für einige Luxus-
gegenstände und landwirtschaftliche Maschinen gegen Herab-
setzung des Petroleumzolles einräumte. Jetzt machte das Reich von
dem Kampfzollparagraphen Gebrauch, weil Produkte deutschen Ur-
sprungs schlechter als dieselben anderer Herkunft behandelt wur-
den. Die Antwort war eine 50 0/0 ige Erhöhung des gesamten rus-
sischen Maximaltarifs und die Steigerung der Hafenabgaben für
deutsche Schiffe. Hiergegen richtete sich als Retorsion eine
Aio VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
preußische Verordnung, daß unter Berufung auf die Seuchengefahr
die Einfuhr von Heu und Stroh aus Rußland verboten wurde, und
daß das Reich den Zuschlagszoll von 50 0/0 auch auf Finnland
ausdehnte.
Die Notlage der ausführenden Landwirtschaft, die Schwan-
kungen des Rubelkurses und die Schwierigkeit, die Schuldzinsen
im Ausland zu zahlen, veranlaßten das Zarenreich zum Einlenken.
Die Verhandlungen begannen im Herbst 1893, und im März 1894
wurde für 10 Jahre ein Handelsvertrag abgeschlossen, der an
Rußland die Meistbegünstigung, auf die es ein Hauptgewicht legen
mußte, da die Vereinigten Staaten sie auch besaßen, an Deutsch-
land nach Aufhebung aller Zuschläge eine Ermäßigung der In-
dustriezölle von 1891 in 218 Positionen gab. Bezüglich der Zoll-
abfertigung, des Grenzverkehrs und der Schiffahrt wurde ein er-
leichtertes Verfahren verabredet.
Obwohl die deutsche Industrie mehr erwartet hatte, denn die
russischen Abgaben blieben immer noch recht hoch, hatte Deutsch-
land doch insofern einen Sieg in dem zehnjährigen Kampf davon-
getragen, als Rußland zum ersten Male genötigt worden war, auf
seine autonome Absperrungspolitik zu verzichten. Der Zollkrieg
der letzten Jahre hatte von deutscher Seite deshalb so erfolgreich
geführt werden können, weil ihr als Rüstzeug die handelspolitische
Gesetzgebung von 1879 — 1887 zu Gebote stand. Wenn man ge-
sagt hat, daß das Reich von 1890 — 191 4 von dem reichen Erbe
der Bismarckschen Zeit zehren konnte, so war das hier bewahr-
heitet worden.
Ihre Unzufriedenheit mit den neuen Verträgen, namentlich dem
russischen, veranlaßte die Vertreter der deutschen Landwirtschaft
zu einer heftigen Opposition im Reichstage. Sie konnten nicht
durchdringen, da ihnen die Industrie nicht zu Hilfe kam, die ihr
Schäflein bereits ins Trockene gebracht hatte. Die Reichsregie-
rung erkannte die Verstärkung der russischen Konkurrenz an da-
durch, daß sowohl die Staffeltarife der preußischen Eisenbahnen
für Getreide und Mühlenfabrikate beseitigt wurden, womit im In-
teresse der west- und süddeutschen Landwirte eine Verteuerung er-
zielt wurde, als auch dadurch, daß dem Überschuß an Getreide
über den Bedarf in den deutschen Ostseeprovinzen durch Auf-
hebung des Identitätsnachweises und Zulassung von Einfuhr-
scheinen eine Ausfuhrerleichterung zuteil wurde.
Der neue Kurs in der Wirtschaftspolitik kam mit dem Rück-
tritt des Grafen Caprivi, der schon im Oktober 1894 erfolgte,
zum Stillstand. Der Kanzler, dessen Verdienste bei der Durch-
setzung der Militärvorlage von 1893 bedeutende gewesen sind, in-
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. a j i
dem die Friedenspräsenzstärke erhöht und zugleich die zweijährige
statt der dreijährigen Dienstpflicht für die Fußtruppen und Feld-
artillerie eingeführt wurde, hatte keine glückliche Hand in seiner
sonstigen Politik bekundet. Der Gegensatz der Parteien und der
Zwiespalt zwischen Agrar- und Industriestaat waren verschärft
worden, die Sozialdemokratie wurde anspruchsvoller denn je. Eine
„Umsturzvorlage" wurde vorbereitet, die der Kanzler nicht gut-
heißen konnte, was zu seiner Entlassung führte.
Die deutsche Volkswirtschaft war in den vier Jahren 1890 bis
1894 in keiner guten Lage. Die Handelsverträge konnten der
Industrie noch nicht die ihnen eigenen partiellen Vorteile bringen.
Die auswärtige Konkurrenz versetzte die Landwirtschaft in eine
verschärfte Notlage. Die Konjunktur war nach der Krise von
1890 in der Eisen- und Textilindustrie rückläufig. Neue för-
dernde Gesetze von Bedeutung für den inneren Verkehr sind nicht
erlassen worden.
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stel-
lung in der Weltwirtschaft. Die deutsche Handelsstatistik
von 1892 — 1895 zeigt, daß die Einfuhrzahlen ungefähr dieselben
bleiben, die für die Ausfuhr schwanken, im Durchschnitt dem An-
fangsjahr gleichstehen. Die folgenden 5 Jahre bringen eine Hoch-
konjunktur, die zugleich weltwirtschaftlicher Art ist. Die Ein-
fuhr erhöht sich um i 1/2, die Ausfuhr um i Milliarde Mark. Dann
folgen 2 Jahre mäßigen Rückschlages. Von 1903 — 1906 kehren
die guten Zeiten zurück, die Einfuhr steigt weiter um 2,1, die Aus-
fuhr um 1,3 Milliarden. Das Überwiegen der Rohstoffe für die
Industrie, Lebensmittel für die Bevölkerung, Futtermittel für die
Tiere bei der Einfuhr und der Fabrikate bei der Ausfuhr bringen
das Wesen des einseitigen Industriestaates verschärft zum Aus-
druck. Die Quoten dieser Warengruppen haben sich seit 1889
zwar nur wenig geändert, wohl aber die absoluten Zahlen, die als
solche die steigende Gefahr der Abhängigkeit vom Auslande her-
vorkehren. Deutschland deckt seinen auswärtigen Bedarf keines-
wegs vollständig mit Waren. Der Ausgleich der passiven Han-
delsbilanz erfolgt durch Leistungen der Handelsmarine, Zinsen
und Dividenden vom Auslandskapital, Unternehmergewinne Deut-
scher in der Fremde, Rimessen von Auswanderern, durch die Frem-
denindustrie, in geringem Maße auch durch Finanzierungen, Bör-
sen- und andere Vermittelungsgewinne im Auslande. Die inter-
nationale Forderungsbilanz wird, da der Ausgleich durch
diese Überschüsse nach und nach übertroffen wird, stark aktiv, so
daß ohne Schwierigkeiten neue Kapitalanlagen und Unternehm-
ungen in fremden Ländern vorgenommen werden können.
4 1 2
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Dieser Zustand des weltwirtschaftlichen Austausches mochte
solange hingehen, als die Ausfuhrquote der Fabrikate im Vergleich
zur Einfuhr nicht nachließ, die Seeschiffahrt und das Geldgeschäft
anwuchsen und der Friede gesichert war. Der letztere Punkt
wurde besonders von freihändlerischer Seite leicht genommen, den
Krieg nach drei Fronten hielt man für unmöglich, Vorbereitungen
für eine volkswirtschaftliche Mobilmachung in dem Handel, der
Landwirtschaft, der Industrie zu treffen, für überflüssig. Quos Deus
perdere vult, dementat prius. Man sah nur die eine helle Seite des
geübten Systems: Die Aufhäufung des Reichtums, das Wachstum
des Einkommens. Der Industriestaat gleicht einer elektrischen
Stadtbeleuchtung. Wieviel schöner und wohlhabender sieht es
unter ihr zu Nacht aus als ehemals bei Gas und Petroleum. Nun
kommt ein Gewitter, die Zentrale versagt, jede Straße, jedes Haus
liegt im Dunkel, und es fehlt jeglicher Ersatz. So kann auch dem
Industriestaat plötzlich das Licht abgedreht werden, wenn ihm
die Rohstoffzufuhr und die Auslandsforderungen durch Waffen-
gewalt unterbunden werden.
Die Landwirtschaft erhob ihre warnende Stimme gegen das
englische unter ganz anderen Verhältnissen geschaffene Vorbild des
verstärkten Industrie- und Handelsstaates und nahm den parla-
mentarischen Kampf gegen die für es schwärmenden Linksliberalen
und Sozialdemokraten auf. Die Preise des Getreides waren in der
Mitte der neunziger Jahre unter dem Druck des Weltmarktes immer
weiter gesunken. Für Preußen alten Bestandes wurden folgende
Durchschnittszahlen in Tonne und Mark veröffentlicht:
Jahre
Weizen
Roggen
Gerste
Hafer
1886— 1890 . .
1891 — 1895 . ,
1896 — 1900 . .
1901 — 1995 . .
173.9
165,5
160,9
163,9
143,0
148,5
134-9
138.2
138.4
142.5
137,9
140,7
135,2
143,4
135,1
140,9
Zu dieser bedenklichen Lage des Körnerbaues kam die Zucker-
überproduktion hinzu, und Handelsgewächse, wie Hopfen, Tabak,
Hanf, Flachs, hatten ebenfalls schlechte Konjunktur. Hingegen
waren die Preise der Hülsenfrüchte, des Fleisches, Geflügels, der
Milch, Eier, Butter, des Specks, Obstes, Gemüses gestiegen. Das
nutzten vorwiegend die Kleinproduzenten in der Nähe der Groß-
städte aus, während die Großgrundbesitzer des Ostens darin keinen
Ausgleich finden konnten. Von ihren politischen Gegnern wurde
immer der Vorschlag wiederholt, die Großbetriebe möchten zu
diesen gewinnbringenden Produktionen übergehen. Es wurde mit
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. ^^ j •!
Recht erwidert, daß das bei dem Mangel an stetigen Arbeits-
kräften nicht anginge, und wenn er selbst schwinden sollte, der
Preisdruck für die gewinnbringenden Produkte infolge der Mehr-
produktion nicht ausbleiben werde, während Deutschland dann
mehr Getreide einzuführen genötigt sei.
Unter der Reichskanzlerschaft des Fürsten von Hohen-
1 o h e und mehr noch des Fürsten von Bülow erkannte die
deutsche Regierung die schwierige Lage großer Teile der deut-
schen Landwirtschaft an, zugleich auch, daß die Vermehrung der
Getreideerzeugung erwünscht sei, um Deutschland selbständiger
in der Weltwirtschaft zu machen.
Die deutschen Landwirte hatten sich schon vor dem Abschluß
des russischen Handelsvertrages eine starke Kampforganisation in
dem „Bunde der Landwirte" geschaffen. Parteipolitik sollte
mit ihr nicht verbunden werden, wie das zuerst in einem Aufruf
des Generalpächters Ruprecht-Ransern 1 892 in der „Land-
wirtschaftlichen Tierzucht" hervorgehoben war: „Wir müssen In-
teressenpolitik treiben; haben wir doch den Mut, den Namen
Agrarier, den die landwirtschaftsfeindliche Presse uns so oft unbe-
rechtigt gegeben hat, nun mit Recht zu tragen, deshalb müssen wir
aufhören, liberal, ultramontan oder konservativ zu sein und zu
wählen, vielmehr müssen wir uns zu einer großen agrarischen
Partei zusammenschließen und dadurch mehr Einfluß auf die
Parlamente und Gestzgebung zu gewinnen suchen". 1895 zählte
der Bund 188000, 1908 290 000 Mitglieder. In einem Zenralverband,
Provinzial- und Kreisverbände gegliedert, zeichnete er sich durch
eine seltene deutsche Eigenschaft, die Einmütigkeit, aus. Der 1909
gegiründete Bauernbund, der sich von ihm ablöste und für innere
Kolonisation verstärkt eintreten wollte, hat ihn nicht erheblich ge-
schädigt, da die Absplitterung seine Kampfziele nicht preisgab.
Ursprünglich von Ostelbiern gegründet, nahm der Bund der Land-
wirte bald auch Vertreter von West- und Süddeutschland auf. Er
hat die Großlandwirtschaft zunächst verteidigt, aber sich auch un-
gezählten kleinen Landbesitzern nützlich erwiesen, so daß er bei
diesen Vertrauen genoß. Seine Tätigkeit war oft rücksichtslos, so
daß seine demokratischen Gegner ihn moralisch angriffen, wenn
ihre ökonomischen Argumente hinfällig waren. Er betonte je nach
den Zeitumständen das eine oder andere seiner Programmziele.
Genügender Zollschutz steht an der Spitze, dann folgt die Forde-
rung der steuerlichen Entlastung, des Schutzes gegen Viehseuchen,
der geeigneteren Verschuldungsform, der Sicherung gegen Kon-
traktbruch ländlicher Arbeiter.
AiA VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Zwei wirtschaftspolitische Ansprüche liegen außerhalb des un-
mittelbaren Kreises landwirtschaftlicher Angelegenheiten, die Ein-
führung der Doppelwährung und die Bekämpfung der Börse, na-
mentlich der Produktenbörse. Beide haben sich als ein wenig
glückliches Einschiebsel im Programm erwiesen. Die Doppelwäh-
rung sollte die Preise landwirtschaftlicher Erzeugnisse heben, wo-
bei man übersah, daß eine Preisverschiebung nach oben alle
Waren und auch die Arbeitslöhne erfassen werde, abgesehen da-
von, daß mit der Beseitigung der Goldwährung dem Außenhandel
ein Moment der Stetigkeit entzogen wurde, worunter auch der Ge-
treide- und Viehhandel leiden mußte. Auf die Börse werden wir
weiter unten einzugehen haben. Nach dem Abschluß des Handels-
vertrages mit Rußland kam der Antrag Kanitz. Der Ein- und
Verkauf des zum Verbrauch im Zollgebiet bestimmten ausländi-
schen Getreides sollte ausschließlich für Rechnung des Reiches
getätigt werden, worauf für den Verbrauch Mindestpreise festge-
setzt werden sollten, die den Landwirten die Deckung der Kosten
nebst angemessenem Gewinn gestatten würden. Da Deutschland
damals genötigt war, 2,2 Millionen Tonnen Weizen, 0,46 Roggen,
0,43 Hafer, 1,4 Gerste, 0,8 Mais aus dem Auslande zu beziehen,
rechnete man damit, daß die Monopolpreise die allgemeinen wer-
den würden. Dem Reiche werde durch den zentralisierten Ein-
kauf große Einnahme verschafft und seiner Finanznot damit abge-
holfen werden. Es sei Deutschland die Möglichkeit, Vorräte für
den Kriegsfall zu sammeln und die Aushungerung des Landes zu
verhindern, gegeben.
Der Antrag wurde im Reichstag abgelehnt, und auch die Re-
gierung sprach sich gegen ihn ia<us. Die Hauptschwierigkeiten
sah man zunächst darin, daß staatliche Beamte weder ihrer Aus-
bildung nach, noch in ihrer nach oben hin verantwortlichen Stel-
lung gute Getreidehändler wären, ferner, daß die mit dem Mono-
pol geplante Unterdrückung des Terminhandels zu großen Preis-
schwankungen beim Einkauf führen müßte. Ebenso wichtig er-
schien es der liberalen Opposition, daß der garantierte Mindest-
preis beim Steigen des Weltmarktpreises erhöht werden müßte,
und es fraglich sei, ob die technische Fortbildung der Landwirt7
Schaft gesichert bliebe, wenn die Gefahren der Minderung der be-
stehenden Rente als Anreiz zum Fortschritt ausgeschlossen wür-
den. Die Ansammlung von Beständen für die Kriegsnot wäre
auch ohne den Staat als einem Dauerhändler denkbar. Leider
wurde die Verwirklichung der letzteren Maßregel nicht einmal
versucht.
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. 4 1 e
Nachdem dieses sogenannte große Mittel zum Schutze der
Landwirtschaft sich als politisch unerreichbar erwiesen hatte,
wurde bis zur Abänderung des Zolltarifs für kleine Mittel ununter-
brochen agitiert. Zu den erfolgreichen gehörten die Einführung
der offenen Ausfuhrvergütungen für Zucker, nachdem die unter
Zahlung der Materialsteuer verdeckten fortgefallen waren, ferner
die staatlichen Schutzmaßregeln für die landwirtschaftlichen
Branntweinbrennereien, die sogenannte Liebesgabe, ferner das Süß-
stoffgesetz, das die Saccharinindustrie und Einfuhr verbot und nur
für Apotheker kleine Mengen zu verkaufen gestattete, die Ver-
kürzung der Zollkredite der Getreidehändler von 7 auf 4 Monate
und die Einschränkung der gemischten Getreidetransitlager und
Mühlenkonten. Die bestehenden Vergünstigungen der Händler
wurden deshalb angefochten, weil sie die Spekulation in den er-
leichterten Besitz von großen Vorräten zu setzen geeignet seien,
die bei dem Wechsel der Konjunktur zum Preisdruck auf den
Binnenmärkten benutzt werden könnten.
Industrie und Handel standen dem Bund der Landwirte stark
ablehnend gegenüber. Aber erst viel später, 1909, schufen sie sich
eine Gegenorganisation in dem Hansabund, der 2 Jahre nach
seinem Bestehen 250000 Mitglieder und 625 Ortsgruppen zählte,
durch Vorträge und Presse gegen die angebliche agrarische Über-
hebung scharf machte, der Ausdruck für einen unliebsamen Gegen-
satz war, den die Bismarcksche Handelspolitik so glücklich ge-
trennt gehalten hatte.
Inzwischen war die Zeit herangekommen, daß die Vorberei-
tungen für neu abzuschließende Handelsverträge geschaffen wer-
den mußten. Der Zolltarif von 1879 ^^ seinen späteren Ab-
änderungen, der noch auf den preußischen von 18 18 zurückging,
konnte schon rein formell den Ansprüchen der Gegenwart nicht
mehr genügen, nachdem soviele neue Waren in den Handel ge-
bracht worden, Preisverschiebungen eingetreten und 'die Kräfte
des Auslandes nicht dieselben geblieben waren. Nicht bloß der
Bund der Landwirte, auch die Zentralstelle für die Vorbereitung
von Handelsverträgen, ein Organ für den seit 1897 bestehenden
Handelsvertragsverein, der, ursprünglich zur Sicherung der In-
teressen der chemischen Industrie begründet, diejenigen der ge-
kannten Ausfuhrindustrie und des Außenhandels im freihändle
tischen Sinne wahrnahm (Herausgeber der Korrespondenz zuerst
Dr. Vosberg-Rekow, später Dr. W. Borgius), traten mit
Vorschlägen technischer Verbesserung hervor. 1897 wurde ein wirt-
schaftlicher Ausschuß zur Begutachtung wirtschaftspolitischer Maß-
nahmen von der Reichsregierung einberufen, bestehend aus 30
AI 6 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1 914.
Vertretern der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels, wel-
cher unter der Leitung des Staatssekretärs des Innern, Grafen
Posadowsky, in 100 Sitzungen 2000 Sachverständige vernahm.
Ein ungeheures Material wurde gesammelt und verarbeitet, auf
Grund dessen der neue Zolltarif vom 25. Dezember 1902 ge-
schaffen worden ist.
Diese neue Aufstellung zeichnet sich durch formelle Vor-
trefflichkeit aus, gilt als Ergebnis höchst sachverständiger Ein-
sicht in die Vielseitigkeit der deutschen Produktion und als eine
Zusammenfassung aller Vorzüge, die sich den Zollgesetzen der
wichtigsten Länder nachrühmen lassen. Aus dem feingegliederten
Tarif mit seiner weitgehenden Spezialisierung ergibt sich eine
leichtere Verständigung bei dem Abschluß der Verträge als bis-
her, da sich die Zugeständnisse unter Berücksichtigung der aus-
ländischen Sonderproduktion genauer abmessen lassen, eine ge-
rechtere Zollauflegung, weil die Waren schärfer nach der Qualität
und damit vielfach mittelbar nach dem Werte abgestuft sind, die
Leichtigkeit und Sicherheit der Zollerhebung und die Verein-
fachung der Schlichtung bei Zollstreitigkeiten. Bedenkt man, daß
in 19 Abschnitten 946 Sätze mit vielen Unterabteilungen des rein
sachlichen Tarifs aufgestellt worden sind, so werden nur wenige
Waren vorhanden sein, die als nicht genannte Zollfreiheit ge-
nießen, woraus schon die verstärkte schutzzöllnerische Tendenz
folgt. Aber auch in den Geldsätzen sind zahlreiche Erhöhungen
gegeben, um den Unterhändlern eine geeignete Handhabe beim
Abschluß künftiger Verträge zu ermöglichen.
Der Tarif trägt indessen den Charakter des Hochschutz-
zolles nicht, er will in Deutschland die Doppelnatur des Agrar-
und Industriestaates fördern, d. h. der Industrie auf dem Vertrags-
wege die Ausfuhr erleichtern, der Landwirtschaft mehr helfen
als bisher, die auswärtige Konkurrenz zu bestehen. Zu dem letz-
teren Zweck wird ein Doppeltarif aufgestellt. Ein unantastbarer
Minimaltarif für Roggen, Weizen, Spelz, Malzgerste und Hafer,
der gegen den bisherigen Zustand eine Erhöhung von 10 — 20 M.
für die Tonne brachte, soll den Vertrags- und Meistbegünstigungs-
staaten eingeräumt werden, während nach dem Maximaltarif bei
der Einfuhr aus allen anderen Ländern zu erheben ist, deren
Bedeutung, wie man mit Recht annahm, ganz zurücktreten werde.
Außerdem werden die Stückwertzölle für Pferde und die Ge-
wichtzölle für die übrigen Viehgattungen erhöht. Der Kampf-
zollparagraph erhält eine Verdoppelung, die Zollkredite für Ge-
treide und Hülsenfrüchte fallen fort, der Bundesrat wird anordnen,
an welchen Plätzen die gemischten Transitlager fortbestehen dür-
IIL Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. aij
fen. Die Einfuhrscheine von 1894 erhielten eine Erweiterung.
Sie hatten sich für die Landwirtschaft, die Müllerei und den Aus-
fuhrhandel bewährt.
Da ein Zoll den Preis des für den Bedarf nicht ausreichen--
den inländischen Getreides erhöht, können die Händler zu dem
Weltmarktspreis nur im Zwischenverkehr ausführen, d. h. wenn
sie bezolltes Getreide weitergeben und den Zoll zurückvergütet
erhalten. 1880 wurde gemäß des Aintrages Stollberg-
Ricke rt bei der Ausfuhr gestattet, die Identität der eingeführten
Ware nicht mehr nachzuweisen und statt dessen also auch ge-
mischtes Getreide — in der Praxis handelte es sich um die
Mischung von russischem und deutschem Korn, die eine gute
Handelsware darstellte — zur Ausfuhr zu bringen. Doch wurde
im Anfang der neunziger Jahre in den Hafenstädten der Ostsee
nur wenig Gebrauch davon gemacht.
Nun liegen in Deutschland die Verhältnisse so, daß der
Westen auf der Rheinstraße, in Duisburg, Mainz und vor allem in
Mannheim das meiste fremde Getreide bezieht. Der Osten hin-
gegen hat einen Überschuß über den eigenen Verbrauch, der bei
vorhandener Absatzschwierigkeit oft zum Preisdruck führt, wäh-
rend die Getreidepreise im Westen und Südwesten des Reiches
stets höher als im Osten stehen. Der Ausgleich konnte sich bei
den hohen Kosten der Bahn- und Schiffsverfrachtung und aus-
wärtigen Konkurrenz nicht durchsetzen.
Dieser Schwierigkeit wurde durch das oben genannte Ein-
fuhrscheingesetz von 1894 begegnet. Bei jeder Ausfuhr von Weizen,
Roggen, Hafer, Hülsenfrüchten, Gerste, Raps, Rübsaat, Rübsen
und Mühlenfabrikaten, soweit sie 500 kg überschreitet, wird der
Zoll durch Einfuhrschein vergütet, der binnen 6 Monaten zur Zoll-
zahlung einer entsprechenden Menge derselben Warengattung
irgendwo berechtigt und übertragbar ist. Die Scheine sind bei einer
kleinen Wertherabsetzung an den Getreideeinfuhrstellen immer ver-
käuflich, und der Überschuß in Königsberg, Danzig, Stettin usw.
kann also zu dem Weltmarktpreis annähernd ausgeführt werden.
Der Erfolg dieser Maßregel war der erwünschte. Während 1891
nur 3371 dz Weizen, 1342 dz Roggen, 3729 dz Hafer und
38992 dz Gerste zur Ausfuhr gelangten, war diese 1904 auf 330483
Tonnen Weizen, 359871 Roggen, 290124 Hafer, 42685 Gerste an-
gewachsen. Für die Landwirte des Ostens wurde auf diese Weise
eine Preiserhöhung erzielt, und außerdem hatten Handel und Schiff-
fahrt ihren Vorteil gefunden.
Es ist der Einrichtung der Vorwurf gemacht worden, daß sie
eine Exportprämie in sich berge. Das ist aber nur dann der
A. Sartorius v. Walters hausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2 Aufl. 27
4i8 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Fall, wenn die Differenz zwischen dem deutschen Ausfuhrhafen-
preis und dem Weltmarktpreis geringer als der Zollbetrag ist.
Sobald diese Konjunktur eintritt, steigt die Ausfuhr und damit der
Inlandpreis bis zu der Höhe, bei der die Prämie verschwindet.
Das Zollgesetz von 1902 bringt nun noch eine weitere Er-
leichterung für diese Art des Geschäftes. Wer z. B. Roggen aus-
führte, konnte nach der bisherigen Gesetzgebung nur Roggen
gleicher Menge einführen. Jetzt wurde bestimmt, daß der Einfuhr-
schein auf die anderen landwirtschaftlichen Produkte übertragbar
war, die unter der Vergünstigung ebenfalls standen. So konnte das
Hauptprodukt des Ostens, der Roggen, etwa nach Schweden gehen,
und die Hauptbrotfrucht des Westens, der Weizen, ebenso das
Weizenmehl, konnten von Holland gegen Einfuhrschein in das
Land kommen. Das Geschäft war 191 2 so bedeutend geworden,
daß 811 673 Tonnen Roggen, 507481 Weizen, 496706 Hafer, 53386
Gerste und 346 379 Mehl zum Export kamen. Die Müllerei war
neben der Landwirtschaft gefördert worden. Denn es betrug die
Mehleinfuhr im gleichen Jahre nur 17279 Tonnen. Für das aus-
gehende Mehl war entsprechend Rohstoff ins Land genommen
worden. Die Voraussetzung zu alledem war die auf der deutschen
landwirtschaftlichen Fläche vermehrte Produktion, die zudem durch
die Einfuhrscheine eine starke Anregung gefunden hatte.
Zwei durch den Reichstag in das neue Zollgesetz eingescho-
bene Bestimmungen sind kein glücklicher Griff gewesen. Um
den städtischen Verbrauchern eine Erleichterung zu verschaffen,
falls der Schutzzoll das Getreide verteuerte, wurde der Oktroi
auf Getreide, Mehl, Fleisch und Fett usw. den Gemeinden von
1900 an zu erheben verboten. Das war eine große finanzielle
Schwächung für viele, und der Zweck wurde nicht erreicht. Die
Preise der Lebensmittel gingen um den Oktroi nicht zurück, da
Großhändler, Metzger, Bäcker, Transporteure, Kleinverkäufer, die
ehemals alle etwas von der Abgabe übernommen hatten, jeder für
sich ein geringes aufzuschlagen vermochten, was die Verbraucher
nicht verhindern konnten.
Der § 15 des Zollgesetzes (lex Trimborn) bestimmt, daß
die Nettozollerträge bei Weizen, Roggen, Mehl und Fleisch über
den Durchschnitt von 1898 — 1903 auf den Kopf der Bevölkerung
zur Erleichterung der Durchführung einer Witwen- und Waisen-
pension im Anschluß an die Arbeiterversicherung zu verwenden
seien. War diese Maßregel schon vom Standpunkt des Etats be-
denklich, weil der Grundsatz der einheitlichen Regelung der
Einnahmen und Ausgaben nach festen, aber für beide besonderen
Linien durchbrochen wurde, so führte sie auch zu keinem Ergebnis,
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. 41g
da 1906, 1908, 1909 keine Überschüsse erzielt wurden. Gute Ernten
und die fortschreitenden Roherträge der Landwirtschaft setzten
trotz der steigenden Bevölkerung die Zolleinnahmen herab. Die
Folge war, daß die Reichsversicherungsordnung feste Zuschüsse
für die Hinterbliebenenversorgung dem Reich auflegte.
Nach der Verabschiedung des Tarifgesetzes im Reichstage
beginnen die Verhandlungen mit dem Ausland um die Handelsver-
träge zu erneuern. Die mit den sieben Staaten, Italien, Belgien^
Rußland, Rumänien, der Schweiz, Serbien und Österreich-Ungarn
verabredeten werden dem Reichstag gemeinsam im Februar 1905
vorgelegt und von dem Grafen Posadowsky als ein einheit-
liches Ganzes verteidigt. Sie, zu denen später diejenigen mit Bul-
garien, Schweden, Portugal, Japan hinzukommen, enthalten Bin-
dungen und gegenseitige Meistbegünstigung und gelten bis 191 7.
Die Verhandlungen sind schwierig, besonders mit den Staaten, die
durch die AgrarzöUe betroffen werden. Die deutsche Industrie
prophezeit daher, da sie zu kurz gekommen sei, für sich erschwer-
ten Absatz. Doch sind die Befürchtungen unbegründet gewesen,
die Schwierigkeit wird überwunden, und in bezug auf Rußland ist
der Pessimismus überhauupt nicht am Platze, weil die russischen
Industriellen höchst ungehalten sind und behaupten, daß ihre Re-
gierung in der Notlage des japanischen Krieges zu nachgiebig
■gewesen sei.
Die neuen Verträge hießen Zusatzverträge, weil die Grund-
lagen der alten erhalten blieben, nur in den Bindungen und Er-
mäßigungen des Tarifs sind viele Abänderungen vorhanden. So-
weit wie möglich sind die sonstigen Bestimmungen, wie bei der
Beseitigung der Ein-, Durch- und Ausfuhrverbote, untereinander
ausgeglichen und ungenaue und zweifelhafte Wendungen durch
präzisere ersetzt worden. Eine Neuerung ist die Schiedsgerichts-
klausel für Meinungsverschiedenheiten in Tariffragen, die für Ruß-
land nicht gilt. Ihre Ausdehnung auf andere Gebiete des Zoll-
wesens wurde abgelehnt, da man erst den Erfolg dieses völker-
orechtlichen Versuchs abwarten wollte.
Die vier späteren Verträge — mit Griechenland war der von
1884 fortgesetzt worden — brachten Deutschland wenig Gewinn,
weil in der Meistbegünstigung, die den Gegenkontrahenten zuteil
wurde, schon der Hauptinhalt möglicher Konzessionen vorweg-
genommen war, woraus der Schluß gezogen wurde, daß alle Tarif-
handelsverträge, wenn sie vollen Nutzen bringen sollen, gleich-
zeitig zur Erledigung kommen müssen.
Neben den Tarifverträgen bestehen in großer Zahl die reinen
Meistbegünstigungen, die teils neu festgelegt wurden, teils als
27*
A20 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
frühere fortliefen. Sie sind nicht ganz gleichartig. Als beider-
seits vollkommen gelten sie im Verkehr mit Dänemark, Norwegen,
den Niederlanden, Frankreich (Frankfurter Frieden, s. oben),
Großbritannien, Montenegro, der Türkei, in Afrika mit Ägypten,
Liberia, Marokko und Abessinien, in Asien mit Persien und Indien,
in Amerika mit Mexiko, Ekuador, Paraguay, Bolivien, Venezuela
und den Vereinigten Staaten. Auch Argentinien und Chile kann
man dahin in der Hauptsache rechnen, obwohl sie keinen An-
spruch auf Erleichterungen haben, die von anderen Ländern gegen
Gegenleistungen gewährt worden sind.
Die Meistbegünstigung nicht in vollem Maße besitzt Deutsch-
land in Spanien, das Portugal eine bestimmte Vorzugsbehandlung
gewährt, das gleiche gilt von Guatemala, Honduras, Nicaragua,
San Salvador, die sich untereinander einige Rechte vorbehalten
haben. Die englischen Kolonien, außer Indien, bevorzugen die
Einfuhr aus dem Mutterlande und untereinander. Im übrigen gilt
die Meistbegünstigung. Die französischen Kolonien sind ebenso
zu beurteilen. Die Vereinigten Staaten behandeln ihre Kolonien
als Anhang des eigenen Zollgebietes. Portoriko und Hawaii ge-
nießen deutscherseits die Meistbegünstigung.
Aus dieser Übersicht ergibt sich, daß nur wenige Staaten dem
deutschen Generaltarif unterstellt geblieben sind. Dahin gehören
China und Slam, die auf Grund der Verträge von 1861 und 1862 an
Deutschland die Meistbegünstigung einseitig gewährt haben, fer-
ner Costarika, die Philippinen und amerikanisch Samoa. Die Ein-
seitigkeit der beiden erstgenannten Staaten bedeutet materiell für
sie kaum eine Benachteiligung, da die von dort eingebrachten
Waren entweder zollfrei oder überhaupt kein Gegenstand der Zoll-
Tierabsetzung sind.
Die völkerrechtlichen Beziehungen in der deutschen Handels-
politik sind kompliziert, wodurch der Zollverwaltung Schwierig-
keiten erwachsen. Dazu kommt, daß manche Waren durch den
Zwischenhandel eingehen und die Anwendung von Ursprungszeug-
nissen lästig ist; ferner, daß die Kündigung des Verhältnisses
von verschiedenen Fristen und Terminen abhängt und die reine
Meistbegünstigung das Moment der Stetigkeit ausschließt, da die
berechtigten Staaten bei ihrer autonomen Zollsetzung nach Be-
lieben ihren Tarif wandeln können.
Die Klausel der Meistbegünstigung hatte manche Gegner in
Deutschland, deren Ideal die rechtliche Vorzugsbehandlung inner-
halb derselben ist. Die letztere soll den Gegenseitigkeitsverkehr
mit einzelnen Staaten besonders zur Ausbildung bringen und doch
das andere Prinzip nicht ganz preisgeben. So verlockend dieser
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. . ^21
Kompromißgedanke sein mag, seiner Verwirklichung steht das
Hemmnis fremder Abwehrmaßregeln entgegen, also die Gefahr,
daß die Weltwirtschaft zerstückelt wird. Schon beim Abschluß
der Tarifverträge ist man bemüht gewesen, die Konzessionen zu
spezialisieren, um dem Gegenkontrahenten möglichst das zu geben,
was ihm durch die Meistbegünstigung von dritter Seite nicht
streitig gemacht werden kann. Vielleicht kann man mit dieser
Methode noch mehr erreichen, wenn der Tarif weiter verfeinert
wird, doch zuviel wird man sich bei der heutigen raschen Verall-
gemeinerung der Technik der Warenherstellung durch die Industrie-
länder davon nicht versprechen.
Die Politik der unbeschränkten Meistbegünstigung hat für die
Ausfuhrindustrie großen Nutzen gebracht. Manche schöne Position
hat Deutschland zwischen 1892 und 1914, z. B. auf dem Markte
von Südamerika und in Indien, gewonnen. Sie wirkte ähnlich wie
der Freihandel: den fortgeschrittenen, zu denen die Deutschen ge-
hörten, hatte sie am meisten zu bieten.
Die Statistik des deutschen Spezialhandels, ohne Edelmetall,
ist nach dem Abschluß der neuen Verträge diese:
I. Millionen M.
Jahre
Einfuhr
Ausfuhr
1906
8021,9
6 359,0
1907
8 744,9
6845,2
1908
7 664,0
6398,6
1909
8 520,1
6 592,2
1910
8934.1
7 474-7
1911
9 705,7
8 106,1
1912
10 691,8
8 956,8
1913
10770,3
10096,5
Die beiden ersten Jahre liegen noch in der allgemeinen gün-
stigen Weltkonjunktur, die 1902 eingesetzt hatte, dann folgen zwei
schlechtere Jahre nach einer wirtschaftlichen Katastrophe in den
Vereinigten Staaten. Seit 1910 setzt wiederum der Aufschwung
ein, der in den ersten Monaten 1914 zu Ende zu gehen schien.
In der ganzen Reihe, besonders der Ausfuhr, ist eine gewaltige
Steigerung gegeben, die man bei den Ursachen des Weltkrieges
nicht übersehen darf.
Unterscheiden wir nach Tarifvertrags- und Meistbegünsti-
gungsstaaten, so gilt für die ersteren:
422
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
II. Einfuhr und Ausfuhr. Tarif Vertragsstaaten .
Jahre
1901
1904
1907
1910
1913
Einfuhr Millionen M
% der Gesamteinfuhr ....
Ausfuhr Millionen M
% der Gesamtausfuhr ....
2138,5
37,4
J695.3
37,6
2410,2
35.1
1999,2
37.6
3164,2
36,3
274'.3
40,0
3282,8
36.5
3041,0
41,4
3593.8
33,3
4181,6
41.4
Die Einfuhr geht danach prozentuell zurück, wenn sie auch
absolut gestiegen ist. Das wird daraus verständlich, daß unter
den 12 Tarif Vertragsstaaten nur einer ist, Rußland, der die Aus-
fuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln stark steigern konnte, in
der ganzen Periode um 740,2 Millionen Mark. Die Ausfuhrent-
wicklung spricht zugunsten der Vertragspolitik in den absoluten
und relativen Zahlen. Ein anderes Bild geben nun die Meist-
begünstigungsstaaten :
III. Einfuhr und Ausfuhr. Meistbegünstigungsstaaten.
Jahre
1901
1904
1907
1910
1913
Einfuhr Millionen M
% der Gesamteinfuhr ....
Ausfuhr Millionen M
% der Gesamtausfuhr ....
3181,1
55.7
2507,8
55,5
3957,2
57,6
2935,5
55.1
4975.9
56,5
364M
53,0
4786,9
53,7
3948,7
52,7
6005,0
57,7
5165.9
51.5
Die Ein- und Ausfuhrmengen überwiegen diejenigen aus den
Tarifv^ertragsstaaten. Sie bringen absolut eine erhebliche Vermeh-
rung, relativ tritt das gleiche bei der Einfuhr hervor, während
die Ausfuhr umgekehrt steht. Obwohl England und Amerika in
der ganzen Zeitspanne für 800 Millionen Mark mehr zu uns ein-
führen, so sinkt doch ihre Quote um etwa 5 0/0, ein Beweis, daß
Deutschland mehr in das weltwirtschaftliche Getriebe der ganzen
Erde verflochten ist. Der Prozentsatz steigt für Ägypten, Türkei,
Britisch-Afrika, Britisch-Indien, Niederländisch-Indien, Argentinien,
Chile, Kanada, Australien. Die Ausfuhr nach manchen Kolonial-
und jungen überseeischen Staaten ist ebenfalls relativ in die Höhe
gegangen, in anderen gleichgeblieben, woraus auch hier das Viel-
seitigerwerden des deutschen Handels und der Schiffahrt zu
ersehen ist.
Die Ganzfabrikate machen wie früher den Schwerpunkt der
Ausfuhr aus. Die prozentuale Zusammenfassung gegenüber an-
deren Kategorien ist folgende:
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in
der Weltwirtschaft.
423
IV.
Jahr
Rohstoffe Halbfertige
Fertige Waren
Nahrungs-
und Genußmittel
1909
1913
15.5 ".0
'SfO 11,3
63.3
63.3
10,0
10.3
Eine Veränderung ist kaum eingetreten. Daß die letzte Ab-
teilung auf der Höhe bleiben konnte, erklärt sich aus dem Fort-
schritt der Landwirtschaft. Die Exporteure von Halbfabrikaten,
die syndiziert sind, waren mit der Handelspolitik zufrieden, we-
niger diejenigen von Ganzfabrikaten. Der absolute Betrag war
auch für sie vermehrt worden, doch behaupteten viele, daß ihr
Gewinn dem nicht entspreche. Die steigenden Kosten der Roh-
stoffe, Halbfabrikate, Löhne hätten ihn beeinträchtigt, während die
Konkurrenz im Ausland sehr drückend sei. Das ist die Klage
aller Aufuhrindustrie, da die Überproduktion bei ihr am leich-
testen .eintritt.
Die Reihenfolge der wichtigsten Staaten für die Ausfuhr-
mengen hat sich von 1906 — 191 3 verschoben. Im ersten Jahre
ist sie diese: Großbritannien, Österreich-Ungarn, Vereinigte Staa-
ten, Niederlande, Rußland, Frankreich, Schweiz, Belgien, Italien.
Im zweiten blieben auch England und Österreich an der Spitze und
Italien am Ende. Den beiden ersteren folgen Rußland, Frank-
reich, die Vereinigten Staaten, die Niederlande, Belgien, die
Schweiz. Bei den Einfuhrländern ist 1906 diese Rangordnung:
Die Vereinigten Staaten, Rußland, Großbritannien, Österreich-Un-
garn, Frankreich, Argentinien, Britisch-lndien. 1913 ist sie ebenso,
nur. daß die beiden letztgenannten ihre Stellung getauscht haben.
Wenn wir nach Erdteilen spezialisieren und bis zum An-
fang der hier geschilderten Periode zurückgreifen, so erfahren
wir, wie der deutsche Handel viel mehr außereuropäisch ge-
worden ist:
V.
Erdteile
18
Einfuhr
?9
Ausfuhr
1912
Einfuhr Ausfuhr
1. Europa
2. Afrika
3. Asien
4. Amerika
5. Australien und Polynesien .
2-5
79.5
0,9
3.1
15.6
0,9
20,5
77.1
0,7
2,6
18,9
0,7
22,9
56,2
4,5
9.4
27,0
2,9
43.8
75-4
2,1
4,8
16,7
1,0
24,6
Diese weltwirtschaftliche Ausweitung tritt bei den gegebenen
Prozentziffern mehr in der Einfuhr als der Ausfuhr hervor, weil
424 ^^* Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Europa sich durchweg mehr industrialisiert hat, doch ist die Zu-
nahme bei der Ausfuhr unter 2 — 5 absolut ansehnlich, da ein
Wachsen von 743,5 Millionen Mark auf 2201,8 das Ergebnis ge-
wesen ist.
Da sich aus Tabelle I eine raschere Steigerung der Aus- als
der Einfuhr ergibt, so wurde die Handelsbilanz weniger passiv, und
da die sonstigen Auslandseinnahmen sich ebenfalls vergrößerten,
so wuchs die Aktivität der Forderungsbilanz an. Da nun diese
Beträge nicht eingezogen wurden, denn das Gegenteil hätte sich
aus der Handelsbilanz ergeben müssen, mußten die Kapitalanlagen
im Ausland wachsen. Wenn man also die letzteren bekämpft, weil
es volkswirtschaftlicher sei, das Kapital im Inlande zu investieren,
so ist das, wenn das Exportgeschäft fortwährend wächst, nur mög-
lich, wenn man die Einfuhr noch schneller zunehmen läßt.
In der langen Friedenszeit wurde das Völkerrecht zur gegen-
seitigen Förderung der wirtschaftlichen Ansprüche mehrfach aus-
gestaltet. Seit der Reichsgründung ist von Deutschland öfters
der Anstoß dazu gegeben worden. Der Weltpostverein wurde
bereits oben erwähnt. Seinem Gedanken, den postalischen Ver-
kehr möglichst einheitlich und billig werden zu lassen, schließt
sich für Depeschen der allgemeine Telegraphenverein an, neben
welchem besondere Vereinbarungen für drahtlose Telegraphie und
submarine Kabel bestehen. Weiter sind die Übereinkommen über
Schiffahrt und Fischerei auf dem offenen Meer und gemeinsamen
Flüssen zu nennen, über die Ausnutzung der letzteren zu elektri-
schen Kraftanlagen, den Eisenbahnfrachtverkehr, Automobilver-
kehr, Schutz des gewerblichen und geistigen Eigentums, die Ein-
tragung von Fabrik- und Handelsmarken, Eintreibung von pri-
vaten ausländischen Forderungen, Beseitigung der Zuckerprämien
(Brüsseler Konvention).
Die Beurteilung der deutschen Handelspolitik wird dadurch
erschwert, daß die Veränderungen des Außenhandels nicht allein
durch das deutsche Zollwesen bestimmt gewesen sind. Großen Ein-
fluß hat die nationale und internationale Konjunktur gehabt, fer-
ner das Verhalten des Auslandes außerhalb des Umkreises seiner
Vertragsverpflichtungen, endlich das produktionstechnische und
ökonomisch-organisatorische Fortschreiten der Länder, das sich
keineswegs gleichmäßig vollzogen hat.
Im allgemeinen kann man sagen, daß im Verhältnis zu
Österreich-Ungarn die frohen Erwartungen, die von beiden
Seiten an den Vertrag von 1891 geknüpft wurden, nicht in Erfül-
lung gegangen sind. Somit sind auch die Schäden, von denen sich
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. 425
die deutschen Agrarier bedroht fühlten, nicht eingetreten. Die Ge-
treideausfuhr blieb für die Donaumonarchie nur bei der Brau-
gerste bedeutsam. Die übrigen Feldfrüchte wurden von der volks-
verdichteten und industrialisierten Westhälfte beansprucht. Ungarn
würde unter intensiverer Wirtschaft mehr haben ausführen können,
deren Aufkommen aber die niedrigen Weltmarktpreise, der Kapi-
talmangel, der hohe heimische Zinsfuß, die mangelnde Bildung der
Arbeiter und Unternehmer hintanhielten. Auch die Industrie war
mit dem Absatz in Deutschland unzufrieden. Sie war, einige Spe-
zialitäten, wie die Gablonzer Glasindustrie, das Leinengewerbe,
die Haarhutindustrie, diejenige für gebogene Möbel, Handschuhe,
Papier und einige Porzellanartikel ausgenommen, im Verhältnis
zu Deutschland zurückgeblieben, besonders in Eisen, Stahl, che-
mischen Produkten und Elektrizitätsverwendung. Österreich ist
von dem Weltmeer entfernt, die innere Verkehrswirtschaft wird
durch das Alpengebiet erschwert, der ewige Nationalitätenstreit
hemmt die Entwicklung der wirtschaftlichen Energie und läßt in
den Parlamenten die industrielle und soziale Fürsorge zurück-
treten. Die Unsicherheit über den Ausgleich mit Ungarn ist im-
mer nur auf wenige Jahre gebannt, und die Währungs- und Fi-
nanzreformen kommen zu keinem Abschluß. So bleibt der all-
gemeine Aufschwung, der 1895 ^^ ^^^ Weltwirtschaft einsetzte,
unter dem Durchschnitt. Diese Rückständigkeit bedeutet bis zum
Jahrhundertwechsel zugleich eine zurückbleibende Kaufkraft gegen-
über den deutschen Waren. Die Ausfuhr aus dem Reich war von
1893 — 1899 nur um 45 Millionen Mark gestiegen.
In dem nachfolgenden Jahrzehnt hatte sich der Austausch
zwischen beiden Staaten gebessert. Die deutsche Ausfuhr hob
sich von 1903— 1912 von 649,3 auf 1035,3, die Einfuhr von 754,8
auf 829,6 Millionen Mark. Der Fortschritt war um so auffallender,
als beide Staaten seit 1906 erhöhte Zollsätze anwandten.
Der alte Zollunionplan war nach seinem oben erzählten
Scheitern noch nicht ganz vergessen worden. 1880 hatte der unga-
rische Abgeordnete Guido von Baußnern in diesem Sinne
an Bismarck geschrieben, der im Hinweis auf den § 1 1 des
Frankfurter Friedens und den notwendigen Schutz der deutschen
Landwirtschaft jedes Eingehen auf den Vorschlag ablehnte. Der
Kanzler war schon früher ein Gegner des Unionsgedankens, be-
sonders wegen der Schwierigkeit der Zollverteilung, gewesen, jetzt
mochte er zudem besorgen, daß die politische Allianz durch wirt-
schaftliche Mißtöne gefährdet werden könne: Denn die öster-
reichischen Großindustriellen beanspruchten nicht schwächeren,
sondern stärkeren Schutz gegen den glänzenden Aufstieg ihrer
426 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
deutschen Mitbewerber. Dennoch fehlten auch in späteren Jahren
theoretische Erörterungen zum Zwecke gegenseitiger Annäherung
nicht, die, wenn auch nicht auf zollpolitischem Gebiete, so doch auf
manchem anderen in dem 1903 geschaffenen mitteleuropäischen
Wirtschaftsverein gepflegt wurden. Im ersten Jahre des Welt-
krieges wurde der Zollunionsgedanke in beiden Ländern wieder
eifrig diskutiert, um dem in der Waffenbrüderschaft erprobten
politischen Bündnis für die Zukunft Festigkeit zu verleihen, da an-
geblich die deutsche Landwirtschaft und die österreichische In-
dustrie so gekräftigt seien, daß sie im Freihandel mit dem be-
freundeten Nachbar verkehren könnten. Doch war das eine en-
thusiastische Übertreibung, der es an Gegnerschaft nicht mangelte,
zumal sich auch staatsrechtliche, finanzpolitische und verwaltungs-
technische Schwierigkeiten auftürmten. Vorarbeiten zur wirtschaft-
lichen gegenseitigen Anpassung wurden von beiden Regierungen
in Angriff genommen, als der Wirtschaftskrieg der Alliierten gegen
die Zentralmächte Europas auf den Pariser Konferenzen verkündet
wurde, bis der Zusammenbruch des habsburgischen Nationalitäten-
staates und des Deutschen Reiches alle solche Projekte begrub.
Die Ergebnisse des Handelsvertrages mit Belgien von 1891
wurden von deutscher Seite im ganzen günstig beurteilt. Die Aus-
fuhr war während der Jahre der Hochkonjunktur von 1895^ — ^9^1
von 159 auf 236 Millionen Mark gestiegen, während die geringere
Einfuhr auf dem bisherigen Stand verharrte. Das folgende Jahr-
zehnt hindurch hält die aktive Handelsbilanz Deutschlands auf-
recht; 1908 betrug die Ausfuhr 322,8, die Einfuhr 262,1 Millionen
Mark, 191 2 493,3 bzw. 386,6. Belgien deckt sein Passivum durch
Transporteinnahmen seiner Eisenbahnen, durch Zwischenhandel,
Zinsforderungen in Deutschland angelegter Kapitalien, Ein- und
Auswanderungsvermittelung und Fremdenverkehr seiner Seebäder.
Für 191 3 hat man den Durchfuhrverkehr, soweit er aus Deutsch-
land stammt, auf 800 Millionen Mark, soweit er dahin geht, auf
580 geschätzt. Er steht und fällt mit Antwerpen, das vermöge
seiner geographischen Lage, des ihm angeschlossenen dichten
Eisenbahnnetzes und seiner Kanalverbindungen zu einem europä-
ischen Ausfuhrhafen ersten Ranges geworden ist, so daß es 80 0/0
der seewärts eingeführten Tonnenmenge beim Ausgange zu ver-
laden mag, während Hamburg nur über 48, Rotterdam über 28 0/0
verfügen. Daher gestalten sich die Exportfrachtsätze in Antwerpen
besonders niedrig, und Liniendampfer verschiedener Nationen lau-
fen andauernd ein, um hier ihre Ladung zu vervollständigen.
Der gegenseitige Spezialhandel zwischen Belgien und dem
Reich setzt sich aus vielen, nicht gerade großen Posten zusammen,
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. 427
die je nach der Preisgestaltung und Qualität hinüber- und her-
übergehen, wie Steinkohlen, Koks, Thomasschlacke, Pelzwerk,
Tischlerarbeiten, Motorwagen, Lederwaren, Abfälle bearbeiteter
Baumwolle, Maschinen, Rindshäute, Ölkuchen. Von Belgien her
überwiegen im übrigen Halbfabrikate und Abfälle, von der an-
deren Seite Ganzfabrikate, Lebensmittel, wie Kartoffeln, Obst,
Fische, Getreide, Bier finden daneben in mannigfachem Wechsel
einen Austausch.
Die belgische Volkswirtschaft ist in sich selbst nicht beson-
ders befestigt. Sie ist als Industrieland einseitiger als Deutsch-
land, selbst als England, bedarf der großen Getreideeinfuhr, um
ihre sehr dichte Bevölkerung zu ernähren und die der meisten
Rohstoffe für ihre Werke. Sie ist zu klein, um erfolgreich ein
volles Schutzsystem durchzuführen, auch ist der innere Markt bei
der gedrückten Lage der Arbeiter nicht recht aufnahmefähig. Der
Gegensatz zwischen Flamen und Wallonen durchzieht die Wirt-
schaftspolitik, indem die ersteren der staatlichen Unterstützung für
ihre Gewerbe im nördlichen Belgien entbehren, die sich die an-
deren vermöge ihres politischen Übergewichts im Süden verschafft
haben.
Die wirtschaftlichen Beziehungen zum Reich waren 191 4
auch, abgesehen von dem besprochenen Handel, enge. Im See-
verkehr von Antwerpen herrschte die deutsche Flagge vor, die
besten Quais an der Scheide gehörten deutschen Gesellschaften.
Auch im Binnenverkehr auf dem Fluß und dem Kanal genoß das
deutsche Schiff großes Ansehen. Der Markt von Antwerpen hatte
bei der Deckung des deutschen Bedarfs an Wolle, Tabak, Kaut-
schuk große Einnahmen. Das Verbandwesen der deutschen Mon-
tanindustrie hatte auf die belgischen Unternehmungen überge-
griffen. Deutsche Metall-, Waffen- und elektrische Industrien waren
bei belgischen gleicher Art beteiligt. Banken beider Länder ar-
beiteten vielfach zusammen, die großen Berliner besaßen Filialen.
Alle diese Verbindungen würden noch weiter gediehen sein, wenn
nicht England und Frankreich politische Gegensätze in sie hinein-
izutragen verstanden hätten.
Die günstige Lage des Königreichs an der verkehrsreichen
Straße des Weltmeeres hatte dessen Wirtschaftsleben an erster
Stelle zu seiner neuzeitlichen Höhe geführt. Das deutsche Hinter-
land besaß das größte Interesse daran, von ihr nicht abgeschnürt
zu werden, wie umgekehrt Belgien auf dieses angewiesen war.
Auch für die Niederlande ist Deutschland das große
Hinterland, ausschließlicher noch als für Belgien, das auch von
Frankreich gespeist wird. Rotterdam ist vor allem Einfuhrhafen
428 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
von Massenprodukten und Ümschlagstelle von dem See- in das
Rheinflußschiff. Das Königreich ist Agrar-, Handels- und Schiff-
fahrtsstaat und daher nicht auf dieselbe Handelspolitik eingestellt
als das industriereiche Belgien, obwohl die Kleinheit des Gebietes,
die Meereslage, verbunden mit dem Durchgangsverkehr, auch hier
charakteristisch sind. Solange beide Staaten vereinigt waren,
wurde zugunsten des Südwestens ein mäßiger Schutzzoll gepflegt,
seit der Trennung sind die holländischen Zölle nur als finanzielle
zu verstehen. Die Landwirtschaft stützt sich auf Viehhaltung,
Butter, Milch, Käse, Gemüse, Obst, Kartoffeln und Pferdezucht
und bedarf bei den hohen Preisen daheim und in den angrenzen-
den Industrieländern und bei der Zugänglichkeit des offenen eng-
lischen Marktes des staatlichen Schutzes nicht. Getreide zum
menschlichen Verbrauch und zur Viehfütterung wird zollfrei ein-
geführt.
Von der nicht stark ausgebildeten Industrie sind die Baum-
woll- und Wollfabriken durch den monopolistischen Vertrieb der
Handelsmaatschappij in den Kolonien geschützt. Das Schiffsbau-
gewerbe und der Handel fühlen sich unter dem Freihandel wohl.
Es lag daher nicht im Interesse Hollands, einen Tarifvertrag
mit dem Reiche abzuschließen, und auch dieses kam bei der frei-
händlerischen Tendenz des Nachbarn nicht zu kurz. Die gegen-
seitige volle Meistbegünstigung geht auf den Vertrag von 1851
zurück, der vom Reiche übernommen wurde. Spezielle Abmach-
ungen waren wiederholt wegen der Rheinschiffahrt erforderlich,
die zum Wohl beider Länder immer freier gestaltet wurde. Die
Niederlande verkauften an Deutschland vorzugsweise ihre land-
wirtschaftlichen Produkte und Fische und kauften dafür Fabrikate,
Steinkohlen, neuerdings auch Hafer und Roggen. Um ihre passive
Handelsbilanz zu verstehen, mußte man den kolonialen Export aus
Ost- und Westindien hinzurechnen. Dann wurde sie schon wesent-
lich gemindert. Die fehlende Differenz wurde durch Schiffahrt
und Handel gedeckt. Hinzu kam noch, daß die Holländer von
altersher große Kapitalgeber gewesen sind. Das damit verbun-
dene Rentnertum hatte im 18. Jahrhundert die produktive Kraft
des Volkes erschlaffen lassen. Im 19. hat die deutsche Volkswirt-
schaft und das weltwirtschaftliche Getriebe das Geschäft zu neuen
Taten angeregt. Die Amsterdamer Börse hat zahlreiche Verbin-
dungen mit deutschen Plätzen und wiederholt mit dem Effekten-
geschäft für deutsche Rechnung verdient.
Als während des Burenkrieges die Stimmung England feind-
lich gesinnt war, wurde sie deutschfreundlicher als sie sonst zu
sein pflegt. Damals tauchte das Problem einer deutsch-hollän-
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. 420
dischen Zollunion in der Presse und in der wissenschaftlichen Lite-
ratur auf. Die praktische Möglichkeit vom wirtschaftlichen Stand-
punkte wurde zugegeben, unter den sich ändernden politischen
Verhältnissen blieb die Sache jedoch im Stadium der öffentlichen
Diskussion stecken. Die deutsche auswärtige Politik seit 1890 kann
man auch hier als eine solche der verpaßten Gelegenheit be-
izeichnen.
Der Handelsvertrag mit Italien hat seinen Zweck, den
Austausch italienischer landwirtschaftlicher Spezialprodukte gegen
deutsche industrielle, die in Italien wenig zur Herstellung ge-
langen, von 1891 — 1903 ziemlich erfüllt. Die Gesamtziffern sind
gewachsen, mehr zugunsten Italiens als Deutschlands. In der
zweiten Vertragsperiode wachsen die Mengen und Werte von beiden
Seiten weiter. Die Warenzusammensetzung bleibt fast dieselbe,
aber die Handelsbilanz steht jetzt aktiv für das Reich. Deutsche
Kapitalien fassen südlich der Alpen stärker Fuß. Die Banca com-
merciale Italiana von 1894 ist auf ihnen errichtet. Die großen
Fortschritte der deutschen industriellen Technik werden von den
Italienern ähnlichen Geschäftes mit Sorge betrachtet. Das Auf-
flammen des Deutschenhasses in Norditalien um 191 5 fand darin
seine materielle Grundlage.
Von der wirtschaftlichen Warte aus gesehen, ist das Verhält-
nis zwischen Deutschland und Italien durch zwei Parallelerschei-
nungen bestimmt. Beide haben einen besonders agrarischen Lan-
desteil, das erstere im Osten, das zweite im Süden, beide haben
eine Exportindustrie, das erste vornehmlich westlich der Elbe, das
zweite am Fuße der Alpen. Bei allen Handelsverträgen stehen also
zweifache Interessen in Frage. Der Unterschied ist jedoch der, daß
in Deutschland nur der Schutz der Landwirtschaft gefordert wird,
in Italien neben dem Getreidezoll die Ausfuhrerleichterung für die
landwirtschaftlichen Spezialprodukte, wie Südfrüchte, Wein, Öl, Roh-
seide. Beide Handelsverträge waren daher auf einem Kompromiß
nicht bloß der Interessen beider Länder, sondern auch derjenigen
innerhalb der Länder — Deutschland empfängt auch Eier, Ge-
flügel, Käse, frisches Obst aus Italien — aufgebaut. Je mehr nun
die italienische Industrie vorankam, auch in Mittelitalien und selbst
im Süden, wo sie sich übrigens an die Landwirtschaft anlehnt, um
so schwieriger mußte sich das Einvernehmen unter beiden Ländern
gestalten. Da Deutschland von der Industrie südlich der Alpen
im eigenen Lande nicht viel zu fürchten hatte, so blieb ihm das
Wohlwollen am Vertrag, Italien suchte seine Lage dadurch zu ver-
bessern, daß es bestrebt war, im östlichen Mittelmeer seine Export-
fähigkeit zu begründen, da ihm das westliche von Frankreich vor-
430 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
weggenommen war. So wird, auch von dieser Seite her, der Er-
werb von Tripolitanien und der Wert der Adriabeherrschung ver-
ständlich, ebenso wie der Bruch des Dreibundes und der kriege-
rische Ausfall gegen Österreich, wenn auch die im Volke seit
langem hochgepäppelte imperialistische Großmannssucht, von ge-
wissenlosen Politikern aufgepeitscht, die eigentliche Veranlassung
zu der Entscheidung, sich der Entente anzuschließen, ge-
worden ist.
Das zwischenstaatlich-wirtschaftliche Verhältnis des Reiches
zu der Schweiz ist insofern demjenigen zu Belgien ähnlich, als
beide Kleinstaaten sind, den industriellen Export besonders pflegen
und im Zusammenhang damit eine passive Handelsbilanz haben.
Die Durchfuhr ist hingegen in Belgien wegen seiner ozeanischen
Lage stärker ausgebildet, obwohl die Gotthardbahn und der Hafen
von Genua der Eidgenossenschaft nicht wenig bedeuten. In der
freihändlerischen Periode Europas war das Geschäft für die Schweiz
günstig, und viele Unternehmungen des arbeitsamen und wirt-
schaftskundigen Volkes gelangten zur Blüte. Als nun die großen
Grenzländer zum Schutzzoll zurückkehrten, kam die Schweiz
zunächst in Schwierigkeiten, deren sie jedoch dank der unter jenen
so eifrigen Konkurrenz und der politischen Gegensätze Herr ge-
blieben ist. Als sie z. B. zwischen 1893 und 1895 mit Frankreich
in einen Zollkrieg verwickelt \^alrde, vermochte sie das meiste von
dem, was sie bisher von dort bezog, aus Deutschland und Italien
zu decken, die ihr handelspolitisch entgegenkamen. Die Kleinen
können mächtig sein, wenn sich die Großen streiten.
Mit dem Handelsvertrag von 1891 war man in Deutschland
nicht zufrieden, da die Republik ihre Zollsätze vorher erhöht hatte,
und von diesen nur etwas zurückging, während der deutsche Gene-
raltarif nicht verändert worden war. Die Hauptbedenken erhob
die elsässische Baum Wollindustrie wegen des Garnzolles. Doch
waren sie eine Übertreibung, da damals die reichsländische Fein-
garnspinnerei fast nur für die Weberei im eigenen, engeren Gebiete
tätig, also an der Ausfuhr nach Altdeutschland wenig interessiert
war. 1894 bezog man im Reich für 6 Millionen Mark Baumwoll-
garn aus der Schweiz bei einer Gesamteinfuhr von 136 Millionen
Mark. Auch die Käseeinfuhr, der sich die bayerischen und würt-
tembergischen Algäuer widersetzten, war in dem gleichen Jahre
nur 5,9 Millionen Mark und wurde weiterhin ertragen, als von
ihnen das Produkt verbessert wurde.
Ebenso wie im Verkehr mit Belgien tauschten Deutschland
und die Schweiz dauernd mancherlei Waren gleicher Bezeichnung
untereinander aus, wie Anilinfarbstoffe, Baumwollgewebe, Sammet,
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. a^ i
Bücher, Farbdrucke, Wollwaren, Gemälde, Maschinen, Obst,
Seide, Vieh, Steine, Garne. Die Zahl der sonstigen Gegenstände
des Handels ist groß. Die Schweiz hat auch Spezialitäten, wie
Uhren, Aluminium, seidene Zeuge, das erwähnte Feingarn, Käse
und Kühe. Dafür gehen aus dem Reiche die Sonderprodukte
Kohlen, Koks, Eisen und Stahl und deren Fabrikate. Die Handels-
bilanz der Schweiz ist an sich passiv, 19 13 z. B. war die Einfuhr
1540,6 Millionen Mark, die Ausfuhr nur 1000,7. Davon entfielen
auf den Verkehr mit Deutschland 536,1 bzw. 213,3. ^^ ^^^^
Saldo zu decken, ist die Fremdenindustrie dieses europäischen
Sanatoriums, die Kapitalanlage im Ausland, der Durchgangsver-
kehr und die Rimesse vieler außerhalb ihres Vaterlandes tätiger
Schweizer ausreichend.
Zwischen Frankreich und Deutschland war die völker-
rechtliche Bindung der Handelspolitik im Frankfurter Frieden fest-
gelegt worden. Ihre militärische Niederlage von 1870 haben die
Franzosen nicht einen Tag vergessen. Die Revancheidee zur
Wiedereroberung von Elsaß-Lothringen hat daher auch das han-
delspolitische Verhältnis zu dem Reiche andauernd getrübt und
dem beiderstaatlichen Austausch das entzogen, dessen es immer
bedürftig ist: Stetigkeit in der gegenseitigen rücksichtsvollen Be-
handlung.
Sehr oft ist französischerseits die Behauptung gehört worden,
Bismarck habe den Besiegten übervorteilt, um ihm ein industrielles
Sedan zu bereiten. Die deutschen Zollreformen von 1879 und 1902
werden als eine Fortsetzung dieses hinterlistigen Planes gedeutet,
obwohl allgemeine volkswirtschaftliche Notwendigkeiten zu ihnen
geführt hatten. Die Franzosen halten sich für den politischen und
kulturellen Mittelpunkt der Welt und glauben daher, alle Völker
hätten nichts anderes zu tun, als sich mit ihnen zu beschäftigen.
Im Jahre 19 13 machte der Handel mit Frankreich nur 1/17 von
dem deutschen Außenhandel aus, dessen Umfang zudem von dem
inneren weit übertroffen wurde.
Der Wirtschaftsverkehr zwischen beiden Ländern ist sowohl
wegen der Nachbarschaft, als auch wegen der Verschiedenheit
der Urproduktionen einer bedeutenden Weiterbildung fähig, an-
dererseits ist der Wettbewerb bei dem Absatz vieler industrieller
Ganzfabrikate unvermeidbar. Beide Nationen suchen gerade diese
Waren vom eigenen Gebiete fernzuhalten, und es ist dem nur ent-
sprechend, daß die wichtigsten Posten der Einfuhr in beiden Län-
dern wenig mit ihnen zu tun haben. Nach der deutschen Statistik
von 19 13 sind die Masseneinfuhrgüter aus Frankreich Felle zu
Pelzwerk, Eisenerze, Rindshäute, rohe Schafwolle, Kreuzzuchtkamm-
AZ2 VI, Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
garn, Schaf- und Lammleder, unedle Metalle, wie Chrom, Wolfram,
ferner Kleesaal, Wein, Gemüse, Ölkuchen, Florettseidengespinnste.
Aus Deutschlaand gehen ebenfalls Felle zu Pelzwerk, dann Koks,
Steinkohlen, Weizen, Hafer, Roheisen, Zellstoff, Chlorkalium, Ben-
zol. Sehen wir jedoch von diesen Rohstoffen, Halbfabrikaten, Nah-
rungs- und Genußmitteln ab, so ist die deutsche Fabrikateinfuhr
in Frankreich größer als die fanzösische in Deutschland. Das
ist aber wesentlich nur ein Ergebnis der letzten Jahre, in denen
die deutschen Fertigprodukte ihren Siegeszug durch die Weltwirt-
schaft angetreten haben. Die Handelsbilanz steht mit 200 Mil-
lionen Mark zugunsten Deutschlands. Das Akti\njm war seit 1871
keineswegs immer gegeben. Daher war auch die Beurteilung des
§ 1 1 des Frankfurter Friedens in beiden Ländern zeitweise ver-
schieden, obwohl dieser nur neben anderen Tatsachen, wie der all-
gemeinen weltwirtschaftlichen Konjunktur, der sonstigen Handels-
politik, dem produktiven Auf- und Abgehen innerhalb der Ge-
werbe gewürdigt werden kann. In der Zeit der liberalen deut-
schen Handelsverträge und des passiven Freihandels bis 1879 zog
Frankreich einige Vorteile aus der Meistbegünstigung, während
Deutschland bei den niedrigen Preisen unter der Welthandels-
krise mit französischen Waren überschüttet wurde. In der Periode
der autonomen Zollpolitik des Reiches wurde die französische Ein-
fuhr zurückgedrängt, da Deutschland sich selbst besser versorgte,
unter den Capri vischen Handelsverträgen wurde die franzö-
sische Handelsbilanz wieder aktiv, als sich Frankreich gleichzeitig
mittels seines Minimaltarifes von 1892 besonders gegen Deutsch-
land wandte. Der neue deutsche Tarif von 1902 und die sich
an ihn anschließenden Verträge leiten die Periode ein, in der, wie
gesagt, der deutschen Ausfuhr ein neuer Vorstoß glückt.
Die volkswirtschaftliche Entwicklung ist seit 1871 in beiden
Ländern eine verschieden starke gewesen. Wenn Deutschland zu-
weilen im Verkehr mit Frankreich nicht gut abgeschnitten hat, so
hat es den Schaden mit den Vorteilen in anderen Ländern leicht
wettgemacht und sich durch Frankreich in seinem inneren Fort-
schritt nicht aufhalten lassen. Umgekehrt ist dieses relativ zurück-
geblieben und hat das Vordringen des deutschen Absatzes unlieb-
sam empfunden. Es fehltte an eigener Kraft, dagegen mit tech-
nischen Erfindungen und neuen Betriebsformen bei dem Aufsuchen
neuer Verkaufsgebiete anzukämpfen. Man schob alle Schuld auf
die moralisch verwerfliche Konkurrenz des Ostfeindes, die durch
staatliche Mittel zu beseitigen sei. Objektive französische National-
ökonomen erkannten zwar in dem Stillstand der Bevölkerung ein
schweres inneres Übel, das dem heimischen Markt die Lebhaftig-
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. ^^j
keit des Umsatzes entzog, den Drang, mit den hergebrachten For-
men des Erwerbs zu brechen, nicht aufkommen ließ und die Ar-
beitslöhne erhöhte, ohne die Arbeitskraft zu steigern. Aber die
Politiker konnten sich nicht entschließen, gerade aus diesem Punkte
heraus die Überlegenheit des deutschen Lebens anzuerkennen und
waren des Beifalls sicher, wenn sie mit Empfehlung von Zollschi-
kanen und der Boykottierung ihre Zeit verschwendeten, vorausge-
setzt, daß nur der verhaßte Nachbar damit unangenehm getroffen
wurde. Der Krieg von 19 14 mußte daher auch wirtschaftspoli-
tisch höchst populär sein.
Im Jahre 1 865 hatte der Zollverein mit Großbritannien
unter dem Prinzip der gegenseitigen Meistbegünstigung einen Han-
delsvertrag geschlossen, der sich auf alle Teile des britischen
Weltreiches erstreckte. In den folgenden 32 Jahren, während
deren der Vertrag fortbestand, hat sich nun weltwirtschaftlich
viel ereignet. Der ungeheuere Vorsprung des englischen Wirt-
schaftslebens war dem europäischen Kontinent gegenüber nicht
mehr aufrecht zu erhalten, Deutschland war nicht mehr der arme
geduldete Verwandte, es war ein selbstbewußter freier Mann ge-
worden.
Es kann den Volkswirtschaften wie den einzelnen Unterneh-
mungen gehen. Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den
Himmel wachsen. Hemmungen von innen vereinigen sich mit
Widerständen von außen. Der in England aufgespeicherte Reich-
tum und die vom Ausland zufließenden Kapitalgewinne entzogen
zahlreiche führende Familien der produktiven Arbeit und kehrten
die Eigenschaft des Rentnerstaates hervor. Nachdem die Landwirt-
schaft zum großen Teil unter dem Freihandel der Industrie aufge-
opfert worden war, wurde auch diese hinter den Handel und den
Geldgeschäft zurückgestellt. Sie wuchs zwar noch weiter, aber
langsamer als in der Vergangenheit. Gleichzeitig reckten die
jungen Industrieriesen, die Vereinigten Staaten und Deutschland,
ihre Glieder und griffen in die Weltwirtschaft ein. Auch andere
Länder wollten zeigen, was sie vermochten. Man hat berechnet,
daß 1867/68 England 24 0/0 des gesamten Welthandels inne hatte,
1882 nur noch 19,5, 1893 18, daß 1868 53,60/0 aller geförderten
Kohlen auf seine Gruben entfielen, 1883 noch 40,7, 1893 35, daß es
1860/61 50 0/0 der gesamten Baumwollernte verarbeitete, 1895 nicht
ganz 30.
In dem J. C hamb e riain sehen Reformversuche lebte die
alte Idee des internationalen Industriemonopols der Insel wieder
auf, jetzt beschränkt auf das britische Weltreich, das machthungrig
im Verlaufe der letzten Jahrzehnte immer weiter ausgedehnt wor-
A. Sartorius v. Wa Itershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 28
434 ^^' Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
den war, um neue Absatzländer der Zukunft zu sichern. Es sollten
sich zunächst Mutterland und Kolonien durch sich gegenseitig be-
günstigende, also fremde Staaten abwehrende Differentialzölle an-
einander schließen, und ein Reichszollverein war als die Krönung
des Werkes geplant. Das großangelegte Projekt scheiterte an dem
Widerstand des Handels, des Geldkapitals, der Banken sowohl,
als auch an der Arbeiterdemokratie, die eine Verteuerung des Le-
bens befürchtete. Die Anpassung an die Weltwirtschaft des 20.
Jahrhunderts wurde daher in steigender Einseitigkeit gesucht; die
Spezialindustrien, die Schiffahrt, der Zwischenhandel, das inter-
nationale Darlehns- und Zahlungsgeschäft wurden kapitalistisch
verstärkt. Der Welthandel wuchs rascher als die eigene Erzeu-
gung. Es ist daher weniger der Handels- als der Produktionsneid
gewesen, der die Engländer gegen das deutsche Reich immer feind-
licher gestimmt hat. Man griff zu zahlreichen verdeckten Mitteln,
den Freihandel zu stützen. Es sei an das Handelsmarkengesetz,
an die Änderung des Patentwesens, an die Bevorzugung englischer
Lieferanten bei öffentlichen Bauten in den Kronkolonien, an die
Kapitalanleihe an das Ausland unter onerosen Verpflichtungen zu-
gunsten der heimischen Industrie erinnert.
1897 wurde der Handelsvertrag mit Deutschland gekündigt,
um den Kolonien die Möglichkeit zu geben, die englische Einfuhr
vor der deutschen bevorzugen zu können. Wurde auch die wechsel-
seitige Differenzierung Chamberlains nicht verwirklicht, so
gewährten doch die meisten Kolonien dem Mutterlande einseitig
Vorteile, zuerst Kanada, das sich damit mit Deutschland in Zoll-
streitigkeiten verwickelte, die erst 19 10 durch ein Abkommen der-
art beigelegt wurden, daß der deutschen Ware nur wenig Erleich-
terung, wohl aber der Schiffahrt einige Vorteile eingeräumt wur-
den, — dann auch Südafrika, Australien, Neuseeland und mehrere
westindische Kronkolonien. Ein neuer Handelsvertrag zwischen
dem Reich und England ist nicht zustande gekommen. Da dem
ersteren an dem englischen Freihandel viel gelegen war und in
Ostindien die Meistbegünstigung blieb, wurde deutscherseits der
Bundesrat gesetzlich ermächtigt, den Angehörigen und den Erzeug-
nissen des Vereinigten Königreichs sowie dessen Kolonien und
auswärtigen Besitzungen diejenigen Rechte zu gestatten, die die
Meistbegünstigten genießen. Es war dies ein Handelsprovisorium,
das bis 19 10 auf Kanada keine Anwendung fand, dann auf 25
wichtige kanadische Ausfuhrgüter erstreckt wurde. Es wurde nach
seinem Ablauf immer wieder erneuert, bis der Krieg ihm ein Ende
bereitet hat.
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. a^c
Deutschland und England sind vornehmlich auf dritten Märk-
ten in heftiger Konkurrenz miteinander befangen gewesen, wie bei
dem Verkauf von Eisen- und Stahlwaren, Maschinen, Schiffen,
Kabeln, wollenen und baumwollenen Geweben, Strümpfen, Glas,
Papier. Es hat zudem jedes Land seine besonderen Güter, die auf
diesen Märkten friedlich nebeneinander gehen. Beide Länder haben
sich durch das ganze verflossene Jahrhundert in starkem Aus-
tausch befunden. Bilanzziffern und Warenarten haben gewechselt.
So lange der Zollverein landwirtschaftliche Produkte ausführte,
gingen große Posten davon nach England, das Fabrikate dafür
hingab, später ist noch viel Zucker vom Reich ausgeführt worden,
in den letzten Jahren wieder Hafer, dann Margarine, die frische
Kartoffel, während von England Heringe und frische Seefische
kamen. Mancherlei Gegenstände werden nach der Preiskonjunktur
gegenseitig bezogen, z. B. Ölkuchen, Felle, Kammgarn, Baumwoll-
gewebe. Im übrigen zeigt England im ganzen einen starken Ab-
satz von Halbfabrikaten, wie Roheisen, Baumwoll-, Alpaka-, Leinen-
garn, Kautschuk, während Deutschland mehr Ganzfabrikate aus-
sendet, Kinderspielzeug, Farben, Eisendraht, Klaviere, Spitzen, elek-
trische Apparate, Kleider, Öfen, Uhren.
Um die Handelsbilanz richtig zu verstehen, darf man beide
Länder nicht allein gegenüberstellen. Die Ein- und Ausfuhren
der englischen Kolonien wird man richtiger einrechnen. Aus den
letzteren kommen vorzugsweise industrielle Rohstoffe, Lebens- und
Genußmittel, während sie dafür Fabrikate hinnehmen. Der Ge-
samthandel betrug von 1909 — 191 2 in Millionen Mark (deutsche
Statistik) :
Einfuhr aus dem Ausfuhr nach dem
britischen Gesamtreiche britischen Gesamtreiche
1909 1505.0 1255,3
1910 1733. 1 1392,8
1911 1787. 1 1459.5
191 2 2000,5 1510,0
Das Weltreich kann sich daher über die Wertsummen seiner
Ausfuhr nicht beklagen. Deutschland war Englands bester Kunde
in Europa und mußte die Differenz der Handelsbilanz mit Wert-
papieren, Transportleistungen, Verkäufen an reisende Engländer in
Deutschland, Dividenden und Zinsen ausgleichen. Die wirtschaft-
liche Sorge Englands beruhte neben der Zunahme der deutschen
industriellen Ausfuhr überhaupt auf der wachsenden deutschen
Handelsmarine. In deutschen Häfen kamen 1911 5058 englische
Schiffe mit 5 7997 273 Registertonnen an, in denen des englischen
28*
436 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890— 1914.
Mutterlandes 5357 deutsche Schiffe mit 7 012 391 Regsitertonnen.
Der größere deutsche Betrieb des einzelnen Schiffes wird aus diesen
Zahlen ersichtlich. Diesen Tonnenmengen entspricht, daß Deutsch-
land nach England mehr ausführt als von dort bezieht. Die Han-
delsbilanz steht zu dem Inselstaat allein aktiv. Der Überschuß
war in den letzten Jahren etwa 300 Millionen Mark.
Einfacher als mit dem vielgestaltigen englischen Weltreich
ist der auswärtige Wirtschaftsverkehr Deutschlands mit Rußland
gewesen. Für den Ausfuhrhandel ist das letztere Agrarland aus-
schließlich, mit seinem Verkauf von Lebensmitteln, Futtermitteln,
Holz und Handelsgewächsen, wie Hanf, Flachs, Flachswerg, Zucker-
rübensamen. An zweiter Stelle stehen, und in wachsenden Be-
trägen, Eisen-, Mangan-, Platinerze, mineralische Schmieröle, Fette,
Häute, Borsten, Rohbenzin. Die Einfuhr aus Deutschland setzte
sich in der Hauptsache aus Ganzfabrikaten zusammen, von denen
die wichtigsten waren: Maschinen, Lokomotiven, grobe und feine
Eisenwaren, Instrumente, alle Arten von Leder, chemische Pro-
dukte, Farbstoffe, Waren aus edlem Metall, Messing, Kupfer, Per-
sonenmotorwagen, elektrische Vorrichtungen, Wollgewebe. Die rus-
sische Industrie war in den letzten 50 Jahren erstarkt, so daß sie
auf manchem Gebiete, z. B. der Textile und Waffen, den inneren
Bedarf immer mehr deckte, unzureichend war sie für die feine
Technik und für den Luxusbedarf. Ihre Fortschritte wurden u. a.
durch die steigende Einfuhr von Roh- und Hilfsstoffen aus Deutsch-
land ersichtlich, die zum Teil auf den Zwischenhandel entfielen:
Steinkohlen, Zink, Koks, Seiden- und Wollumpen, Silber, Baum-
wolle, Kautschuk und Guttapercha, Schafwolle, Blei, Indigo. Für
den Export nach Deutschland hat sie keine Bedeutung erlangt.
Der Handelsvertrag von 1894 hatte bis 1898, solange die Kon-
junktur in Rußland günstig war, Deutschland Nutzen gebracht.
Die Ausfuhr, namentlich an Maschinen, diente indessen auch dazu,
die Industriekraft des östlichen Nachbars zu heben. Die deutschen
Exporteure haben weiterhin keinen ganz leichten Stand gehabt,
insbesondere nach 1906 nicht, als der russische Zolltarif erhöht
worden war. Umgekehrt hat die Landwirtschaft des östlichen
Deutschlands unter dem Druck der russischen Konkurrenz in den
neunziger Jahren gelitten, im nächsten Jahrzehnt aber die Roggen-
und Hafereinfuhr durch Verstärkung der eigenen Produktion ge-
mindert. Der wichtigste landwirtschaftliche Einfuhrartikel war
191 3 Futtergerste, dann folgten Weizen, Eier, Federvieh, Butter,
Kleie, Ölkuchen, Schweine, Mais.
Rußland war ein ausgesprochener Schuldnerstaat in der Welt-
wirtschaft. Der Staatskredit beruhte zum größten Teil auf Aus-
in. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. 477
landsmitteln, ihm folgte die Eisenbahnschuld, dann diejenige der
industriellen Unternehmungen und Banken. Sind bei der politischen
Allianz auch die Franzosen die hauptsächlichsten Geldgeber ge-
wesen, so waren doch auch die deutschen Forderungen nicht ge-
ring. Die Handelsbilanz war für das Deutsche Reich dauernd pas-
siv. Seine Ausfuhr war 1894 194,8 Millionen Mark, die Einfuhr
543,9, 1904 315,5 und 818,7, 1913 880 und 1426,6. Die zu zahlen-
den Zinsen und Gewinne aus Rußland glichen die Differenz nicht
ganz aus, einiges brachte der Fracht- und Personenverkehr auf der
Ostsee und der Fremdenverkehr in Deutschland, der Rest wurde
vermutlich dadurch beglichen, daß aus Deutschland ein Teil der
Verpflichtungen an Rußland durch Vermittelung anderer Länder,
gegen die Deutsche Forderungen haben, bezahlt wurde.
In dem Maße, als die deutsche Volkswirtschaft den dichtbe-
völkerten Handels- und Industriestaat hervorkehrte, ist sie mehr
und mehr von der russischen Einfuhr abhängig geworden, anderer-
seits war aber auch das Zarenreich als Schuldnerstaat auf Deutsch-
lands Entgegenkommen angewiesen. Bei gutem Willen war also
ein Handelsvertragsverhältnis im andauernd wechselseitigen In-
teresse.
Ein gefährlicher Gegner Deutschlands im internationalen Wirt-
schaftsverkehr sind die Vereinigten Staaten von Amerika,
einmal insoweit sie ganz Europa bedrohen, dann wegen des be-
sonderen Wettbewerbes, der gegen das deutsche Auslandsgeschäft
gerichtet ist.
Daß die nordamerikanische Union durch die Natur besser
ausgestattet ist als Europa, wird niemand behaupten wollen. Man
mag den Reichtum an Bodenschätzen in beiden gleichsetzen, für
den Verkehr an Gedanken und Gütern ist die feingegliederte alte
Welt besser ausgerüstet als der plumpe Kontinent der neuen. Das
europäische Klima, bedingt durch den Golfstrom und die günstige
Verteilung der Ländermassen, ist weniger dem Gegensätzlichen
ausgeliefert als das nordamerikanische, das im Westen durch das
kontinentale Hochplateau, im Osten durch das Aufeinanderprallen
des arktischen und des südlichen warmen Luftstromes bestimmt
wird. An Bevölkerungszahl sind die Vereinigten Staaten trotz rascher
Zuwanderung dem westlichen Europa unterlegen und ebenso an
wertvollen Rasseneigenschaften. Schon die 12 Millionen Neger
sind ein unassimilierbarer Bestandteil des Volkes, die Weißen
sind zum Teil eine Mischrasse unausgeglichener Elemente aller
europäischen Nationen. Ehemals, als fast nur Nordeuropäer an-
kamen, und die Auswanderung noch eine Auslese starker Indivi-
dualitäten war, war es anders. Es schien sich ein Volk von Unter-
438 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
nehmern, Erfindern, politischen Neuerern mit neuen Idealen der
Freiheit zu bilden. In den letzten Jahrzehnten ist es im Begriff,
in ein Völkerchaos sich umzuwandeln, die alteingewanderten Fa-
milien sterben aus. Europa mit seinem Reichtum an Sondervöl-
kern, die zu festen Typen im langen Verlauf der Geschichte ge-
worden sind, ist ein sicherer Boden für die Kultur, freilich nicht
für irgendeine Gesamtpolitik.
Die amerikanische wirtschaftliche Gefahr, von der man in
den letzten 40 Jahren soviel gesprochen hat, wird geringer in dem
Maße, als sich das Volkstum der Yankees verflacht. Aber sie ist
dennoch vorhanden und auch nicht leicht zu nehmen. Der Grund
der Überlegenheit liegt in der Größe des Einheitsstaates, der das
zerrissene, sich bekämpfende Europa gegenübersteht. Die Union
ist durch eine einheitliche Zollinie umschlossen, innerhalb wel-
cher der große Markt der Produktion Stetigkeit und Fortschritt
verbürgt.
Die Brutalität der amerikanischen Handelspolitik würde un-
möglich gewesen sein, wenn sie nicht die Maxime „divida et im-
pera" gegen Europa hätte anwenden können. Darunter hat auch
das Deutsche Reich zu leiden gehabt. Zu den Zeiten des Zollvereins
war die Union ein Roh- und Hilfsstoffe versendender Agrarstaat,
dazu nicht innerpolitisch geschlossen wegen der freihändlerischen
Sezession des Südens. Nicht einmal ein Handelsvertrag wurde
deutscherseits für nötig erachtet, man behalf sich mit dem alten
preußischen von 1828. Bald nach der Gründung des Reichs setzt
die amerikanische Getreidekonkurrenz ein. Dann beginnt die ame-
rikanische Industrie rasch voranzukommen. Die Mac Kinley-Bill
wird zu diesem Zweck erlassen, die 12 Jahre gültige Dingley-Bill
übertrumpft sie noch, und der Payne-Alderich-Tarif geht mit sei-
nem Minimalsatz wiederum über die letztere hinaus. Die europä-
ischen Staaten gewähren sich gegenseitig die Meistbegünstigung
und räumen sie auch den Amerikanern in steter Konkurrenz unter-
einander ein. So Deutschland in der Saratoga-Konvention von 1891,
in den späteren Abkommen von 1900, 1906, 19 10, 19 13. Die Ame-
rikaner treiben bei der anwachsenden Selbstgenügsamkeit ihrer
Volkswirtschaft autonome Zollpolitik, die sie abändern, wenn es
ihnen paßt. Deutschland kann sich nur mit einzelnen Maßregeln
wehren, etwa wenn die nordamerikanische Einfuhr zu gesundheits-
polizeilichen Bedenken Veranlassung bietet. So wurde schon unter
Bismarck 1885 ein Einfuhrverbot amerikanischen Schweine-
fleisches wegen der Trichinengefahr erlassen, 1895 wurde die Ein-
fuhr von Rindern, bei denen Texasfieber festgestellt war, unter-
bunden, 1897 folgte die Erschwerung des Obsteinganges, die
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. ^^g
mit der Einschleppung der San Jose-Schildlaus motiviert wurde.
Amerikanischerseits wurden Repressalien gegen deutschen Zucker
und Wein gebraucht, vor allem wurde mit Zollschikanen geant-
wortet, die sich bei dem üblichen Wertzollsystem als willkürliche
Schätzung der eingeführten Waren auslösten. Zu einem offenen
Zollkrieg ist es niemals gekommen. Das Reich gab regelmäßig
nach, weil immer zu fürchten stand, gegenüber England, Frank-
reich, Österreich, Belgien und der Schweiz differenziert zu werden.
Und das war unter den gegebenen Verhältnissen das klügste, was
es tun konnte, da die gemeinsame Aktion der europäischen Völker,
die oft empfohlen wurde, nicht kam.
Aber auch abgesehen von der Handelspolitik ist Deutschland
von der amerikanischen Produktion abhängig. Es bedarf der
Baumwolle, des Kupfers, des Erdöls und der Lebensmittel und
muß oft die Produkte mit hohen Preisen bezahlen, die von Trusts
der Produzenten, Ringen der Kaufleute und Börsenspekulanten dik-
tiert werden.
Seit 20 Jahren war die Union bemüht, eine Ausnahmestellung
in der Weltwirtschaft zu erobern: zugleich Großexporteur von Roh-
stoffen und Lebensmitteln einerseits, von Fabrikaten andererseits
zu sein. Das ist ihr bei ihrer noch dünnen Bevölkerung und bei
ihrem Industrieschutz, dem die Vorbedingungen nicht fehlten, ge-
lungen. Deutschland bezog von Industrieprodukten zwar nur Ma-
schinen verschiedener Art in Menge, aber empfand auf manchem
überseeischen Markt das Vordringen der Amerikaner. Die Folge
der Doppelseitigkeit der Ausfuhr ist die dauernd aktive Handels-
bilanz der Vereinigten Staaten, die besonders stark 1898 — 1900
war und dann noch verstärkt in den ersten Jahren des Weltkrieges
hervortrat. Das deutsche Passivum schwankte von 1900 — 191 2 zwi-
schen 500 und 800 Millionen Mark jährlich, 191 3 belief es sich auf
eine Milliarde. Der Unterschied wurde durch Gewinn und Divi-
denden der Kapitalanlagen in den Vereinigten Staaten, durch Ver-
sendung von Effekten, durch die deutsche Handelsmarine auf dem
Atlantischen Ozean, durch Ausgaben reisender Amerikaner in
Deutschland, durch Gewinn von Auslandsbanken und Sendungen
der Auswanderer gedeckt.
Bei dem Verkehr Deutschlands mit den südamerikani-
schen Staaten steht Argentinien an der Spitze, dann folgt Bra-
silien, weiter Chile. Sie alle sind Agrar- und Rohstoffländer und
demgemäß ist der Austausch gegen Ganzfabrikate selbstverständ-
lich. Sie sind Schuldnerländer und haben aktive Handelsbilanzen.
Eine aridere Gruppe des Außenhandels bilden die nordischen
Staaten, die Produkte der Land- und Forstwirtschaft, des Berg-
440 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
baues und der Fischerei liefern, Schweden auch Zellulose, be-
hauene Steine, grobe Tischlerarbeiten, Norwegen Norgesalpeten.
Sie erhalten die feineren Waren der Metall-, Textil-, Leder-, che-
mischen und elektrischen Industrie von Deutschland, das dabei
der englischen Konkurrenz unterstellt ist. In Südosteuropa
versenden P^.umänien, Bulgarien, Griechenland, Serbien, die Tür-
kei als Agrarländer mancherlei Produkte je nach Bodenbeschaffen-
heit und Klima. Hier hatte das exportierende Deutschland be-
sonders die österreichische Konkurrenz zu bestehen, aber auch
England und Frankreich erschienen auf den Märkten, die auf dem
Wasserwege erreichbar sind. Auf die Entwicklung des nahen
Orients wurden große Hoffnungen gesetzt, denen die Deutschen
bei dem Bau der anatolischen und der Bagdadbahn nachhingen.
Mit dem fernen Orient, mit China und Japan war der deutsche
Außenverkehr gut vorangekommen. Der Stützpunkt Kiautschou
wurde sehr wertvoll und würde noch mehr bedeutet haben, wenn
China ruhigere innerpolitische Zustände gehabt hätte. Nach beiden
Staaten versandte Deutschland, meist in eigenen Schiffen, Ganz-
fabrikate, empfing Roh- und Hilfsstoffe, von China auch Tee, von
Japan einige Spezialprodukte seiner Industrie aus Flachs, Stroh,
Seide, Bast, Holz, Ton und Metall.
Wir sind am Ende unserer Übersicht. Fassen wir nach
Warenarten zusammen, so sind 19 13 die wichtigsten Posten der
Einfuhr der Wertreihe nach: Baumwolle, Weizen, Schaf v.olle,
Gerste, Kupfer, Rindshäute, Eisenerze, Kaffee; der Ausfuhr nach:
Maschinen, Eisenwaren, Baumwoll- und Wollwaren, Zucker, Papier,
seidene und chemische Produkte.
Die weltwirtschaftliche Fähigkeit des Deutschen Reichs be-
ruht nicht bloß auf seinem Außenhandel, sondern auch auf der
weiter unten zu besprechenden Handelsmarine, seiner auswärtigen
Kapitalanlage und der Niederlassung Deutscher in der Fremde,
als Unternehmer, Angestellte und Arbeiter.
Die Kapitalanlage erscheint in verschiedenen Formen.
Entweder sind es deutsche Unternehmer, die als Kaufleute, Ban-
kiers, Besitzer von Landgütern, Bergwerken, Plantagen, Industrien,
Schiffen im Ausland Geschäfte betreiben, mit eigenen oder in
Deutschland geliehenen Geldmitteln. Zu ihnen gehören auch die
Gesellschaften, die in Deutschland ihren Sitz haben und mit aus-
ländischen Filialen arbeiten. Oder das deutsche Kapital steckt in
Unternehmungen von Ausländern bzw. ist fremden Staaten geliehen
worden. Ein Hauptanlageland sind die Vereinigten Staaten ge-
wesen, wobei nicht zu übersehen ist, daß große Schiebungen hin
und zurück über den Atlantischen Ozean stattgefunden haben. Auch
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. ^^i
diese Vorgänge sind ein Stück deutscher Wirtschaftsgeschichte,
das freilich mehr vom Schuldner- als vom Gläubigerland bestimmt
worden ist.
Vor dem Sezessionskrieg befanden sich, wie früher erwähnt
wurde, schon Beträge amerikanischer Effekten in deutschem Be-
sitz. Während desselben war namentlich Frankfurt a. M. durch die
Vermittelung New Yorker Niederlassungen seiner Bankhäuser,
Lazarus Speyer und Ellisen, Seligmann und Stettenheimer, Emit-
tent der 6 o/o igen nördlichen Bundesanleihen, und weiterhin, Ende
der sechziger Jahre, als das amerikanische Bahnnetz im großen von
den Bürgern des siegreichen Nordens in Angriff genommen wurde,
auch von Eisenbahnobligationen. Am Schluß der achtziger Jahre
war der größte Teil der Bundesschuldverschreibungen, die in-
zwischen im Kurs gestiegen und stark getilgt worden waren, nach
Amerika heimgewandert. Die Summte der Bahnwerte wuchs weiter,
je mehr der weite Westen erschlossen wurde. In der | zweiten Hälfte
der neunziger Jahre, als die amerikanische Handelsbilanz eine sehr
hohe Aktivität angenommen hatte und die fälligen Wechsel bezahlt
werden mußten, strömten große Beträge von Aktien und Obliga-
tionen in das Ausgabeland zurück, 60 — 80 0/0 des Besitzes, zum Teil
auch bedingt durch die starke deutsche Nachfrage nach Kapital zu
eigener produktiver Verwendung. Aber in dem nächsten Jahrzehnt
traten die Amerikaner wieder als Kapitalsucher in Deutschland auf,
und die Börsen verzeichneten zahlreiche neue Effekten. Im Ver-
laufe der 50 jährigen Periode haben viele einzelne deutsche Kapita-
listen an amerikanischen Werten verloren, andere gewonnen. Die
Bilanz zwischen beiden Nationen dürfte zugunsten des Gläubigers
stehen, da die Sanierungen der Aktiengesellschaften, die leider mehr
als erwünscht nötig wurden, schließlich unter dem Aufschwung der
transatlantischen Volkswirtschaft überwiegend geglückt sind.
Über den Umfang der deutschen Kapitalien im Ausland
gingen die Schätzungen auseinander. Die zuverlässigsten Angaben
rechneten am Anfang des Jahrhunderts 20 — 25 Milliarden Mark,
vor Ausbruch des Krieges etwa 10 mehr. Gut 2/5 werden die Ef-
fektenform besessen haben. Der Nutzen und das Wesen des Aus-
landskapitals war in dem letzten Jahrzehnt, in dem sich die Theorie
und die politische Praxis mit ihnen beschäftigt hat, umstritten.
Man meinte zuerst, dies Kapital werde einmal als vorzüglich finan-
zielles Mobilmachungsinstrument zur Verwendung gelangen können,
wenn bei der Auflage innerer Kriegsanleihen andere Werte nicht
verfügbar seien. Die Erfahrung lehrte seine Illiquidität 19 14 beim
Kriegsausbruch, ebenso wie schon 1870; immerhin aber auch seinen
hohen Wert als einer Reserve für internationale Zahlungen im
AA2 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
späteren Kriegsverlaufe. Volkswirtschaftlich lernte man seine ex-
portfördernde Eigenschaft schätzen. Es gibt Länder genug, die
wohl kaufen wollen, es aber nur unter langfristigem Kredit ver-
mögen. Die Aufgabe war mithin, das Warenausfuhrland zugleich
zum Gläubigerland zu machen, also Waren- und Kapitalausfuhr
irgendwie zu verbinden. Auch seine politische Seite wurde nicht
verkannt, indem es als Schrittmacher für politische Einflüsse in
schwachen Schuldnerstaaten diente, außerdem ein Band war,
Allianzen zu befestigen und ein Werkzeug, Verbündete zu unter-
stützen. Für eine umfassendere Einsicht in seine Natur ergab sich
weiter: die ganze volks- und sozialwirtschaftliche Struktur des
Gläubiger- und Schuldnerstaates konnte durch seine Macht in be-
stimmte Bahnen gelenkt werden, bei jenem, indem es als Renten-
vermögen eine Besitzerklasse schaffen kann, die sich der produk-
tiven Wirtschaft entzieht, bei diesem, indem es die Grundlage zu
neuer Kraftentfaltung wird, die die Abzahlung der Schulden er-
möglicht und Konkurrent des Gläubigers auf dem Weltmarkt wird.
Wie die Gütererzeugung über den eigenen Bedarf, eines Volkes
zum Außenhandel drängt, so auch das Kapital, das sich mit dem
vielseitigen, nutzenbringenden Streben des Volkes, Gläubigerstaat
in der Weltwirtschaft zu werden, verbindet. Die Kunst der Staats-
männer und der führenden Banken ist, weniger dem Expansions-
trieb der Geldgeber einen Zügel anzulegen, als der Anlage, eine
solche örtliche Richtung zu geben, die dem volkswirtschaftlichen
und weltpolitischen Gesamtbedürfnis angepaßt ist.
Die gleiche Kontrolle sollte auch für die Menschen gelten, die
dauernd oder vorübergehend die Heimat verlassen, um sich in
fremden Staaten wirtschaftlich zu betätigen. In den vorhergehen-
den Kapiteln haben wir uns wiederholt mit der Auswanderung
beschäftigt. Sie als nationales Problem zu werten, ist in den ersten
zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts kaum versucht worden. Man
blieb in individualistischen, das Wohl der einzelnen Person an-
gehenden Erwägungen stecken. Im allgemeinen schien man froh
zu sein, von überflüssigen Essern und politisch Unzufriedenen be-
freit zu werden. Späterhin jedoch erfüllte es die rasch anwachsende
Industrie und die Landwirtschaft mit Sorge, wenn nützliche Ar-
beitskräfte das Land verließen. Die Gründung des Reichs und
seine notwendige Machtstellung führt auf den Gedanken, daß die
Auswanderung die nationale Volkskraft vermindert und andere auf-
steigende Länder kräftigt. Eine Warnung sind die Vereinigten
Staaten, in denen Millionen Deutscher zu Amerikanern geworden
sind, und von denen nur ein kleiner Rest als Deutsch-Amerikaner
Treue der alten Heimat gehalten hat.
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. 44^
Bei denen, die Deutschland verlassen, kann man folgende
Arten unterscheiden: i. Die eigentlichen Auswanderer, die nicht
zurückkehren wollen. In den ersten Jahren ihres Fortseins haben
sie noch Beziehungen zum Vaterland, lassen sich Waren von dort
kommen, an denen ihr Geschmack hängt. Geht es ihnen gut, so
werden sie gefährlich dadurch, daß sie Verwandte und Freunde
nach sich ziehen. Von denen, die es zu nichts bringen, kehrt ein
kleiner Teil zurück und das ist meist ein unerwünschtes Element der
Heimat. 2. Diejenigen, die nur auf Zeit fortgehen, im Ausland ver-
dienen und mit dem Erwerb später daheim leben und arbeiten
wollen. Die meisten sind die eigentlichen Wanderarbeiter, neben
ihnen stehen Kleinunternehmer, Künstler, Techniker, Ingenieure,
Geschäftsleiter, Zeitungsleute. 3. Die Auslandsunternehmer, die
dauernd größere Betriebe errichten oder Filialen deutscher Werke
und Banken vorstehen. Sie leben lange Zeit im Ausland, und wenn
sie zurückkehren, übergeben sie ihr Geschäft einem Sohne oder
werden durch andere Ausgesandte ersetzt. Sie bleiben National-
deutsche, wie die unter 2. genannten, und haben für die heimische
Volkswirtschaft die Bedeutung, daß sie neue Verkehrsbeziehungen
anknüpfen, die Warenausfuhr erleichtern, die Kapitalanlagen ver-
mitteln, den Geist der deutschen Kultur fremden Völkern ver-
ständlich machen, das deutsche Volksvermögen durch ihre Erspar-
nisse vermehren. 4. Die Handelsreisenden, die Männer, die zu
wissenschaftlichen Zwecken ausreisen, dann die Vergnügungs!-
reisenden, deren Ziffer mit dem deutschen Wohlstand enorm ge-
wachsen ist und die der Schweiz, Italien, Österreich, Belgien, Paris
große Summen zu verdienen gaben, die die Zureiseländer in ihrer
Forderungsbilanz als Aktivum zu buchen haben.
Die überseeische Auswanderung über deutsche und fremde
Häfen ist seit Mitte der neunziger Jahre stark zurückgegangen. Die
günstigen heimischen Erwerbsverhältnisse und die Arbeiterversiche-
rung dürfen als die entscheidenden Gründe gelten, was man um so
mehr, zugeben wird, wenn man die günstigen Jahre in Nordamerika
nicht übersieht, die ihre Anziehungskraft auf Italiener, Ungarn,
Russen ausgeübt haben, Deutschland gegenüber ohne Wirkung ge-
blieben sind. 1894 wanderten noch 40964 oder 0,80*^/00, um 1900
noch 22309 oder o,4o0/qq Deutsche aus. Die niedrigste relative Zahl
ist 1912 mit 0,28 o/qo erreicht worden. Welcher Unterschied mit 188 1
und 1882, in welchen Jahren das Reich 4,86 und 4,45 auf 1000 Ein-
wohner verloren hatte! Die meisten gingen auch in der neuesten
Zeit noch in die Vereinigten Staaten, z. B. um 1900 19703, wäh-
rend Brasilien 364, das übrige Amerika 474, Australien 196, Afrika
548, Asien 178 Personen als Reiseziel angegeben hatten. Die
444 ^^- Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Reeder in Hamburg und Bremen hatten mit dem Ausfall der deut-
schen Auswanderung einen solchen in ihrem Geschäft. Aber dieser
wurde reichlich kompensiert durch die Beförderung von Leuten an-
derer Nationalität. Von diesen zählte man 1900 160 129, 1905
244787, 1913 413857. Russen und Österreich-Ungarer machten
den Hauptbestandteil aus.
Mit der speziellen gesetzlichen Ordnung des Aus-
wanderungswesens hat das Deutsche Reich lange gezögert,
erst dann damit begonnen, als das Abwandern gering geworden
war. Die prinzipielle Freiheit für das Individuum, seine Heimat
aufzugeben, war rechtlich vom Norddeutschen Bund anerkannt
und vom Reich übernommen worden. Die Einsicht, daß man die
Leute nicht festhalten könne, wenn man es auch wolle, war dabei
weniger maßgebend gewesen als der liberale Zug der Zeit. Nur
im Hinblick auf die militärische Dienstpflicht waren Beschräuir
kungen aufgelegt. Da zu der Kompetenz des Reichs „die Koloni-
sation und die Auswanderung nach außerdeutschen Ländern" ge-
hören, wurden mehrfach Versuche gemacht, wie 1878 und 1892,
die gesamte Materie gesetzlich zu regeln. Es mißglückte jedes-
mal, bis 1897 endlich ein umfassender Entwurf vom Reichstage
angenommen wurde. Nur beschränkt zulässig ist die Auswande-
rung in der Zeit der aktiven Dienstpflicht vom 17. — 25. Lebens-
jahre, ferner verboten Personen, deren Verhaftung oder Festnahme
von einer Gerichts- oder Polizeibehörde angeordnet ist und Reichs-
angehörigen, für welche von fremden Regierungen oder von
Kolonisationsgesellschaften der Beförderungspreis ganz oder teil-
weise bezahlt wird. Die letztere Bestimmung will Mißbräuche ver-
hindern, die in der Vergangenheit mehrfach beobachtet worden
waren und zu einer schmählichen Ausbeutung Deutscher, z. B. in
Südamerika, geführt hatten. Die meisten Vorschriften des Ge-
setzes beziehen sich auf die Aufsicht des überseeischen Transports.
Die Auswanderungsunternehmer, die nur Reeder sein dürfen, wo-
mit das Geschäft an wenige Orte gebunden und leicht überwachbar
ist, und die binnenländischen Agenten, deren sich der Wanderer
bedienen muß, sind konzessionspflichtig und haben Kautionen zu
stellen, die Seetüchtigkeit der Schiffe und der Gesundheitszustand
der sich Einschiffenden steht unter Kontrolle.
Wichtig ist der sogenannte Spezialisierungsparagraph, nach
dem die Auswanderung nach bestimmten Orten verhindert, also
jedenfalls, da auch über deutsche Nachbarländer überseeisch aus-
gewandert werden kann, stark beschränkt werden kann, woraus
dann das Abströmen nach anderen Einwanderungsgebieten be-
günstigt wird. Damit ist nicht bloß ein Schutz der abziehenden
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. ^^c
Person oder Familie gegeben, sondern auch allgemein wirtschaft-
liche und nationale Interessen können berücksichtigt werden. Län-
dern, die Deutschland weltpolitisch oder weltwirtschaftlich schä-
digen, kann eine etwa erwünschte Versorgung mit deutschen Ar-
beitskräften entzogen werden, und das Reich hat bei internatio-
nalen wirtschaftlichen Verhandlungen einen wertvollen Trumpf in
der Hand. Ein Gebrauch ist bisher von dieser Maßregel nicht
gemacht worden.
Über die Zahl der Auslandsdeutschen liegen mehr-
fach Untersuchungen vor. Das Material ist ziemlich lückenhaft.
Das Handbuch des Alldeutschen Verbandes von 1905 hat 89403 500
deutsche Sprachangehörige, R. Höniger für 1910 96 Millionen
für die ganze Erde berechnet. Um diese Summe handelt es sich
bei der Reichsstatistik nicht . Sie beschäftigt sich vielmehr mit
den im Ausland lebenden Reichsgebürtigen und denen, die unter
deutscher Reichsangehörigkeit leben. Vergleicht man die Zählung
von 1890 mit der von 1900, so ist die Summe der Reichsdeutschen
in fast allen europäischen Ländern gestiegen, besonders auffällig"
in der Schweiz, in Italien, Spanien, Luxemburg, Norwegen, Schwe-
den. In England ist ein geringer Rückgang. Dasselbe gilt von
den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, nach welchen die
Auswanderung nachgelassen hat. Um die Jahrhundertwende wur-
den 3029514 deutsche Reichsgebürtige im Ausland, außerdem
450392 Personen dort ermittelt, die zwar nicht im Reiche ge-
boren, aber die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. 2,6 Millionen
entfielen auf die nordamerikanische Union, die Schweiz 168238,
Rußland 151 102, Österreich 106364, Frankreich 90746, Groß-
britannien 53402, Belgien 53408, Italien 10745.
Der Beruf der Auslandsdeutschen ist je nach Ländern ver-
schieden. In Nordamerika ist er an erster Stelle der Zahl nach
Landwirtschaft, es folgt der mittelschichtige produktive Gewerbe-
stand in den Großstädten, dann der Handel. Da sich in dem letz-
teren auch die Großkaufleute befinden, dürfte jedoch seine Be-
deutung für die deutsche Volkswirtschaft die wichtigste sein. In
der Schweiz beschäftigt die meisten Erwerbstätigen die Industrie,
an zweiter Stelle stehen die weiblichen Dienstboten, in Rußland
tritt ebenfalls die Industrie in den Vordergrund, in der die meisten
als Vorarbeiter und gelernte Arbeiter tätig sind, im Handel sind
viele selbständig, vor allem in den Ostseeprovinzen und in Polen.
Auch in Österreich besitzt die Industrie die größte Anziehungs-
kraft, dann kommt der Handel, dann die Landwirtschaft. Die Ver-
teilung ist in den Kronländern sehr ungleich. Die Industriellen
findet man vor allem in Böhmen und Niederösterreich, die Land-
446 VI- Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
wirte in Schlesien, Böhmen und Oberösterreich, die Kaufleute in
Wien. In England sind die Deutschen vornehmlich Handwerker,
Kellner und Matrosen, die Frauen häusliche Dienstboten, Lehre-
rinnen, Schneiderinnen, Putzmacherinnen. In Belgien folgen auf-
einander Industrie, Handel, freie Berufe, in Italien stehen sich In-
dustrielle, Kaufleute und Dienstboten etwa gleich, über Frankreich
liegen keine zuverlässigen Angaben vor.
Der Weltverkehr in Personen ist nun nicht einseitig. Es
findet ein Bevölkerungsaustausch statt, der sich keineswegs in
gleichen Ziffern betätigt. 1880 zählte Deutschland 300000 Aus-
länder, 1890 433000, 1900 77^737, 1910 1259873. Von der letzten
Summe waren 634983 Österreicher, 144 175 Holländer, 137697
Russen, 104204 Italiener, 68257 Schweizer. Dabei ist zu beachten,
daß die Zählung am i. Dezember stattfand, an welchem Tage
viele Wanderarbeiter schon wieder zu Hause waren. 1906 waren
allein in Preußen 600 000 ausländische Arbeiter beschäftigt wor-
den, davon 2/^ in der Landwirtschaft, ^/^ in der Industrie, 1908 im
Reich eine Million, 191 2 mindestens 1,2 Millionen.
Die anderen Nationen standen sehr den vorgenannten gegen-
über zurück, obwohl England, Frankreich, die Vereinigten Staaten,
Belgien sehr große Warensendungen nach Deutschland machten.
Aus Großbritannien und Irland stammten nur 18 319, aus Frank-
reich 19 140, aus der nordamerikanischen Union 17 572, aus Belgien
13 455. In den letzten 10 Jahren war in dieser Zahl kaum eine Ver-
änderung eingetreten, woraus man schließen darf, daß der Welt-
krieg schon seine Schatten vorausgeworfen hat. Die Russen und
Polen waren vorwiegend Landarbeiter, die Engländer, Belgier,
Amerikaner wählten Handel und Industrie, die Italiener und Fran-
zosen die Industrie und den Bergbau, die Österreicher die In-
dustrie und die Landwirtschaft. So fand die zwischenstaatliche
Produktionsverteilung nach Agrar-, Industrie-, Handelsstaaten auch
in diesem Arbeitsaufsuchen einen Ausdruck.
Von den Ausländern halten sich verhältnismäßig viele des
Erwerbs wegen in Deutschland auf. Man ermittelte 1900 unter
ihnen 65,5 Erwerbstätige und 34,5 Angehörige, während die Reichs-
bevölkerung das Verhältnis von 45,2 zu 54,8 besaß. Die Luxusein-
wanderung, d. h. ein Zuströmen reicher, viel Geld ausgebender
Leute infolge der Annehmlichkeiten, die Deutschland darbot, zeig-
ten 1909 die Städte Wiesbaden, Wilmersdorf und Aachen mit 4,20/0
der Ortsbevölkerung, Charlottenburg mit 3,5, Bonn und Görlitz
mit 2,6. Die höchsten Arbeiterprozente hatten die Orte Duisburg,
Recklinghausen, Oberhausen, Mülheim, Landsberg a. d. W., Har-
burg. Im ganzen war jedoch das rheinisch-westfälische Kohlenge-
III. Die Handelspolitik und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. aa"]
biet nicht reich an Fremden und erreichte den Reichsdurchschnitt
nicht. Die Plätze waren hier durch die Preußisch-Polen bereits
besetzt.
Die Verflechtung Deutschlands in die Weltwirtschaft war
nach dem hier Erzählten recht fortgeschritten. Der Vorstoß von
1895 — 191 4 wird bekundet durch die wachsenden Zahlen des
Warenhandels, der Handelsmarine, des positiven Saldos der Forde-
rungsbilanz, durch das Ausgeprägtsein des Aktivhandels, den Zu-
stand des Gläubigerstaates, die Aussendung und die Aufnahme
zahlreicher Unternehmer und Arbeiter, durch die Erfolge in den
Kolonien. Die wirtschaftliche Beweglichkeit auf so vielen Gebieten
entsprach dem deutschen unternehmenden Geiste durchaus.
Man mag, soweit die staatlichen Organe in Mittätigkeit ge-
treten sind, von einer Weltwirtschaftspolitik des Reichs
bei allen diesen Dingen und Vorkommnissen sprechen. Imperia-
lismus im ausgeprägten Sinne lag nicht vor. Hat es überhaupt je
einen deutschen Imperialismus gegeben, den uns die Feinde seit
1914, um den ihrigen zu verschleiern, vorgeworfen haben?
Deutschland war der machtvollste Staat im westlichen konti-
nentalen Europa, allein gestellt militärisch und wirtschaftlich, stär-
ker als Österreich-Ungarn oder Frankreich oder Italien. Außer-
dem hatte es einen Überschuß an Bevölkerung und Wirtschafts-
mitteln, die es, je mehr es an der Weltwirtschaft teilnahm, in diese
hineinwerfen mußte. Daraus folgte aber keineswegs, daß es sich
eine beherrschende Vormachtstellung über viele, geschweige denn
alle Völker der Erde, aneignen wollte. Schon der Blick auf die
Landkarte mußte solche Ideen, wenn sie einmal in phantasie-
reichen Köpfen auftauchten, dem Spotte anheimgeben. Deutsch-
land liegt nicht am Weltmeer, dessen Zugang zudem von den bri-
tischen Inseln aus verriegelt werden konnte, wobei vielleicht Belgien
oder Holland Hilfsdienste leisten würden. Im Osten dräuete der
russische Koloß, dessen Armeen und Wirtschaftskräfte von Jahr
zu Jahr anwuchsen und eine landbesiedelnde Expansion im öst-
lichen Europa unmöglich machten.
Der Wille zur Macht ist, wie die Weltgeschichte auf jedem
ihrer Blätter ohne Ausnahme lehrt, jedem politischen Gebilde im
Umkreise anderer eigen. Aber es wäre verkehrt, ihn in Deutsch-
land von gleicher Heftigkeit und Ausschließlichkeit anzunehmen
wie in England, dessen Bürger sich als gottbegnadete Rasse mora-
lisch allen Völkern überlegen wähnen, oder wie in den Vereinigten
Staaten, deren Bewohner glauben, daß sie, vermöge ihrer Regie-
rungsformen, ein solches Übergewicht im geschichtlichen Werden
besitzen, daß sich alle anderen Länder dieser ethischen Macht zu
AAg VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
beugen hätten, oder wie in Frankreich, das sich in Ruhmessucht so
verzehrt, daß jeder andere Staat ihm nur Mittel zu diesem Zweck
erscheint, oder endhch wie in der russischen InteUigenz, die rück-
blickend auf die Ausdehnung ihres Machtgebietes während der
letzten 200 Jahre den „morschen Westen" als eine ebenso sichere
Beute beanspruchte, wie den ganzen asiatischen Erdteil.
Deutschland war diesen Imperialismen gegenüber immer in
der Abwehr, und der Weltkrieg war nichts anderes, als ein mili-
tärisch nicht gut und politisch miserabel vorbereiteter Verteidi-
gungskrieg, was auch immer eine feindliche Diplomatie oder die
geschichtlich nicht g"ut orientierte deutsche Demokratie sagen mö-
gen. Es strebte dahin, auch „einen Platz an der Sonne" zu be-
sitzen und nur so sich zu erweitern, als es die Lebensnotwendig-
keit und die eigene Befähigung geboten. Mehr konnte es nicht
wollen, da es nicht mehr in sich hatte. Denn es mangelte ihm von
Natur ein solches starkes Gesamtgefühl, um wie einst der Römer
„civis Romanus sum" zu sagen. Das deutsche Volk hat niemals
geographisch geschlossene Grenzen besessen, offen sind seine Flan-
ken gelegt, um fremden Einfluß und fremde Rassen einströmen zu
lassen und um ihm eine unzuverlässige Grenzbevölkerung in Polen,
Schleswig und Elsaß-Lothringen zu bescheren, während England,
Frankreich, Italien, die Vereinigten Staaten von dem sie umspülen-
den Meere beschützt werden.
Man hat den Alldeutschen Imperialismus angedichtet, aber
wie schon ihr Name sagt, ihr Ziel war nur ein nationales, ethno-
graphisches. Sie wollen alle Deutschen der Erde zusammenfassen,
was freilich zunächst utopisch sein mußte, da sie die eigene Volks-
seele nicht genug kannten und was, wenn es überhaupt möglich ist,
nur unter einer langen Schule des Leidens, die zum Zusammen-
schluß drängt, aussichtsreicher werden kann. Das deutsche Wesen
wurzelt in einer Fülle von Individualitäten und Stämmen und ist
reich an inneren Widersprüchen des Kosmopolitismus und Natio-
nalismus, der gemütvollen Tiefe und der politischen Leichtgläubig-
keit, des hergebrachten allgemeinen Gehorchens und des Mangels
an politischen Befehlen, so daß es die Konzentration des staat-
lichen Willens nur erreicht, wenn das Glück ihm ein politisches
Genie zuwirft, während seine Feinde bei ihrer natürlichen Ge-
schlossenheit mit Talenten auskommen können.
Blickten die Alldeutschen auf die Glanzzeit des mittelalter-
lichen Reichs zurück, das nur locker gefügt zu sein brauchte, weil
es auf der tatsächlich gegebenen kriegerischen Überlegenheit der
jugendlichen Germanen weit sicher beruhte, die im Weltkriege 191 4
bis 191 8 sich noch einmal in den Nachkommen bewährte, so
IV. Die Landwirtschaft. 44g
wollten sie mit diesem geschichtlichen Hinweis daran erinnern,
daß die Deutschen nicht immer bloß ein Völkerkonglomerat ge-
wesen waren, wollten nicht etwas beleben, was ein für allemal
tot war.
Es ist daher verständlich, daß der deutsche Machtwille vor-
wiegend im Wirtschaftlichen und Kulturellen, nicht im Politischen
aufging, und wenn nach seiner Befriedigung mehr als dies gefor-
dert wurde, so konnte das nichts anderes sein, als bloß den großen
Nachbarstaaten politisch ebenbürtig zu werden.
IV. Die Landwirtschaft. Für die Landwirtschaft hat
sich der Zollschutz von 1879 — 191 4 in der Weise segensreich er-
wiesen, daß sie in der ersten Hälfte des Zeitraumes den Stand
ihrer bisherigen Produktivität leidlich behaupten, in der zweiten
darüber hinausgehen konnte. Sie hat es nicht nötig gehabt, was ihr
der zweite Kanzler des Reiches riet, den Wert ihres Besitzes abzu-
schreiben, den Sandboden wieder mit Kiefern anzuschonen und im
feuchten Klima die Weiden auszudehnen. Durch die Berufs- und
Betriebszählungen von 1882, 1897 und 1907 und durch andere
jährliche oder mehrjährliche Erhebungen über Bodenbenutzung,
Anbau, Ernte, Viehhaltung, Schlachtung, Außenhandel ist in sie ein
Einblick gewonnen worden, aus dem, wenn auch die Zahlen nicht
immer fehlerfrei sein mögen, manche quantitative Beurteilung bei
der nachfolgenden Darstellung geschöpft werden konnte.
Verschiedene Kräfte sind zusammengefaßt worden, um ihre
neue Blüte hervorzubringen: wissenschaftliche Erfahrungen, tech-
nische Erfindungen, wirtschaftliche Organisationen. Die Intelli-
genz und Energie der Betriebsleiter sind ebenso wie die erhöhte
Leistungsfähigkeit der Arbeiter zu beachten. Man wird alles unter
der Erhaltung und Steigerung der Reinerträge wie ehedem zu
würdigen haben, d. h. ohne die durch den Zoll und die ver-
stärkte heimische Nachfrage erhöhten Preise hätte der Fortschritt
nicht einsetzen können.
Die landwirtschaftliche, angewandte Wissenschaft strebte in
Anlehnung an die Naturwissenschaft voran, wobei sie die einseitig
chemische Behandlungsweise durch die Agrikulturphysik, die Bak-
teriologie, die Biologie glücklich ergänzte. Die Wahlzucht in der
Tierhaltung wurde neben der Rassenzucht betont, die Auswahl des
Saatgetreides sorgsam gehandhabt, die vielartige Kunstdüngung
nach der Bodenbeschaffenheit abgestuft.
Das von Schulz-Lupitz erfundene System, durch den An-
bau stickstoffsammelnder Pflanzen unter Zugabe von Kali und
Phosphorsäure die leichten Sandböden zu bereichern, und das von
Rimpau-Cunrau angewandte, Stickstoff reichen Niederungs-
A. Sartorius v. Waltershausen Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 29
45 O VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
mooren durch Entwässerung und Sandbedeckung Erträge an Futter-
gewächsen, Hackfrüchten und Getreide abzugewinnen, fanden jetzt
weite Verbreitung. Erfolgreich wurde die Verunkrautung des Bo-
dens durch verbesserte Ackergeräte und Maschinen sowohl, als
auch durch chemische Bespritzungsmittel, die auch die Parasiten
vernichteten, bekämpft. Die eingeführte Tiefkultur, die dem
Pflanzenwurzeln besseren Standort als die Flachkultur bietet und
dem Boden gestattet, Feuchtigkeitsmengen für trockene Zeiten auf-
zuspeichern, wurde ebenso zum Gemeingute intelligenter Land-
wirte wie die Pflanzenzüchtung von ganzen Beständen, nicht
bloß die von Individuen, die der Gärtner früher schon kannte
(v. Lochow) oder wie die richtige Auswahl der von der Natur
gegebenen festen Formen aus der Masse statt der Erzielung der
die Vererbung leicht ausschließenden Variation.
Die Landwirtschaft weist nicht so glänzende Ergebnisse wie
Industrie und Handel auf, steht jedoch in den letzten Jahren vor
dem Krieg so im Zeichen des Aufschwunges, daß sie auf alle üb-
rigen Erwerbszweige als Abnehmer glücklich zurückwirken kann.
Das schließt nicht aus, daßMie deutschen Landwirte nicht noch
mancherlei Wünsche hatten, und wir werden sehen, wo sie der
Schuh drückte.
Aus den Nachweisen seit 1890 ergibt sich, daß die ihnen
dienliche Fläche um eine Million Hektar gewachsen ist, in-
dem Teile des Öd- und Unlandes der Kultur zugeführt worden sind.
Sie umfaßt rund 2/3 des Reichsgebietes, und eine Erweiterung wird
nur dadurch möglich, daß, ohne Waldgebiet zu opfern, das mehr
als 1/4 der Gesamtfläche bildet, die großen, nicht bestellten Moor-
flächen mit einem Umfange von 2000000 ha, die vor allem in
Norddeutschland liegen, herangezogen werden, neben denen auch
unbebauter Nichtmoorboden, der dem Moore nach seiner natür-
lichen Vegetation nahe steht, zur Verwendung vorhanden ist. Die
hier ermöglichten Wiesen schätzt man als ausreichend, um 2 1/2 Mil-
lionen Stück Großvieh zu ernähren und ein verheißungsvolles Neu-
land für ']'}) 000 Siedlerfamilien zu werden. Voraussetzung eines
ersten großen Erfolges ist der gesetzlich geordnete Abbau des
Torfes und der Schutz gegen Bodenverwüstung, ferner vorbild-
liche Inanspruchnahme der Arbeit auf Domanialboden und die
regelmäßige Einsetzung von Geldbeträgen zu diesem Zwecke in
die Etats. Mit dem „Verein zur Förderung der Moorkultur im
Deutschen Reiche" ist ein Organ geschaffen worden, das alle ein-
schlägigen Fragen erforscht und die gewonnenen Erfahrungen
praktisch verwertet.
Die Bestellung der Fläche hat sich seit 1870 in ihrer Zu-
IV. Die Landwirtschaft. ^ej
sammensetzung aus Ackerland und Wiesen wenig verändert, die
Weinberge haben sich etwas vermindert, der Gartenbau und die
reichen Weiden vermehrt, die geringen Weiden und die Hutungen
haben abgenommen. Schon die letztere Tatsache läßt auf eine in-
tensivere Betriebsführung schließen, die sich zudem aus
der weiteren Einschränkung der Brache und der Ackerweide, die
zusammen 1878 14,70/0 ausmachten, auf 8,70/0 um 1900 ergibt. Der
so gewonnenen Fläche entspricht ein vermehrter Anbau von Hack-
und Hülsenfrüchten, Gemüse, Futterpflanzen und Getreide, mit
dem das auch sonst beglaubigte Zurückweichen der alten Drei-
felderwirtschaft und anderer extensiver Systeme bis auf geringe
Reste zusammenstimmt.
Die zunehmende Intensität ließe sich dadurch anzweifeln, daß
man den Rückgang der gesamten landwirtschaftlichen Bevölkerung
hervorhebt. 1882 zählte die Landwirtschaft i. w. S., d. h. mit Ein-
schluß der Forstwirtschaft und Fischerei 19225455 Köpfe, 1895
18 501 307, 1907 17 681 176. Das waren bei der ersten Zählung
42,5, bei der letzten 29,60/0 'der Gesamtbevölkerung' Der Schluß
hieraus auf die sinkende Arbeitsintensität wäre indessen übereilt.
Denn zerlegt man die Berufsangehörigen in Erwerbstätige, Fa-
milienzugehörige und häusliche Dienstboten, so ergibt sich die
Hauptabnahme in der letzten Gruppe, eine mäßigere in der zweiten,
keine in der wichtigen ersten. Wahrscheinlich ist, daß die Zahl der
mithelfenden Familienangehörigen, stark bestimmt durch den
Arbeitermangel auf dem Lande, relativ gegen früher gestiegen ist.
Die statistischen Angaben sind, um diesen Schluß genau quantitativ
zu ziehen, mit Vorsicht aufzunehmen, da sie zum Teil auf einer
schärferen Erfassung der Arbeitstätigkeit überhaupt beruhen
dürften.
Die Zahl der weiblichen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft
hat um so mehr zugenommen, als die Männer vom Lande abwan-
derten. Die Summe derjenigen Personen, die im Nebenberufe
landwirtschaftlich tätig waren, stieg von 1895 — 1907 um 1952985,
während in den 13 Jahren vorher eine Abnahme festgestellt worden
war. Es dürfte das wesentlich mit der Ausnutzung der in der .Nähe
großer Städte gegründeten Kleinbetriebe zusammenhängen, die bei
der Preissteigerung der auf ihnen erzeugten Lebensmittel rentabel
wurde.
Übrigens wird man auch mit der erhöhten qualitativen Ar-
beitsintensität zu rechnen haben, die sich sowohl aus der besseren
Bezahlung der Lohnarbeiter, als auch aus Arbeitsspezialisierung
der Nicht-Ständigen, z. B. der Saisonarbeiter, herleitet.
Im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten zeigt sich, daß
29*
452 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
die meisten Landwirte immer mehr ihre ganze Kraft auf den
Hauptberuf gelegt haben, wodurch sie leistungsfähiger geworden
sind. Ihre nebenbetriebliche Tätigkeit schrumpft weiter ein, wie
das Bauen, Backen, Schlachten, die Jagd und Fischerei. Das in-
dustrielle Gebiet erzeugt nicht bloß für den persönlichen Verbrauch
der Landleute immer vielseitigeres, sondern auch hunderttausende
von Personen liefern die Vorbedingungen zur Landwirtschaft in
der Anfertigung von Maschinen, Werkzeugen, Wagen, künstlichem
Dünger usw. Auch der Transport der landwirtschaftlichen Pro-
dukte oder der vom Landwirt eingekauften Waren verselbständigt
sich, indem er der Eisenbahn, der Binnenschiffahrt, der Post über-
wiesen wird.
Die Kapitalintensität in der Landwirtschaft ist schon mit dem
Gesagten angedeutet. Einige Verbrauchsschätzungen liegen vor.
Die Mehrverwendung des Handelsdüngers ist von 1890 — ^1913 auf
gegen 70000000 dz berechnet worden. Die Kalisalze steigen von
2,1 auf 30,1, das Superphosphat von 5 auf 20, das Thomasmehl von
4 auf 22, der Chilesalpeter von 2,4 auf 5,6, das schwefelsaure Am-
moniak von 0,6 auf 4000000 dz. Der Wert sämtlicher dieser Stoffe
wird 1913 auf 573000000 Mark beziffert.
Die Maschine hat in der Landwirtschaft nicht wie in der Groß-
industrie den Betrieb gänzlich umgestaltet. Die in der Mitte des
Jahrhunderts bewährten Feldsysteme bestehen fort, nur die einzel-
nen Funktionen im Betriebe werden maschinell erleichtert. Die
Zunahme einiger Maschinenarten ist statistisch festgestellt. Von
1882 — 1907 stieg die Zahl der einfachen Dreschmaschinen von
268367 auf 947003, der Dampf dreschmaschinen von 75690 auf
488867, der Drill- und Säemaschinen von 63842 auf 290039,
der Mähmaschinen von 19634 auf 301325, der Dampfpflüge
von 836 auf 2995. Alle Maschinen kommen in verschiedenen
Typen vor, und die landwirtschaftlichen Ausstellungen zeigen die
fortlaufenden Verbesserungen. Wohl nirgends tritt die Rückwir-
kung des hochentwickelten Industrielandes uns deutlicher entgegen
als hier. Wie die Fabrik die Dampfkraft vielfach durch die elek-
trische und den Ölmotor ersetzt, so die Landwirtschaft die Loko-
mobile durch die Überlandzentrale, den Dampfpflug durch den
Motorpflug. Die Kataloge der Wanderausstellung der Deutschen
Landwirtschaftlichen Gesellschaft geben uns einen Einblick in die
moderne Technik, nennen breitwürfige und andere Säemaschinen,
Walzen, Drill- und Dibbel-, Mäh-, Hack-, Dampf dresch-, Motor-
dresch- und andere Dreschmaschinen, Häckselzerstäuber, Häcksel-
schneide-, Kartoffelpflanz-, Häufel- und Erntemaschinen, Dünger-
streuer, Strohbinder, Sackheber, Heuaufzüge. Eine Menge Einrich-
IV. Die Landwirtschaft.
453
tungen und Handwerkszeuge gibt es noch zur ersten Verarbeitung
der Erzeugnisse: Knochen-, Trester- und Schrotmühlen, Milch-
kühler und -Separatoren, Rübenschneider, Stroh-, Obst- und Wein-
pressen, Obstdörrer und -Schäler, Apfelzerteiler, Kartoffel- und
Getreidesortierer, Reb-, Obstbaum-, Hederichspritzer, Ölpressen,
Knochenbrecher, Kartoffeltrockner, Scheermaschinen, Viehfutter-
dämpfer, Strohleinenspinner, Brutöfen, Kipp-, Waldbahn-, Platt-
form-, Stockwerk-, Jauchewagen, Jauchepumpen, -Verteiler und
-Fässer.
Die Vereinheitlichung der Betriebsweise wird durch alle diese
Hilfsmittel hervorgebracht, wenn auch die Nivellierung innerhalb
der Industriezweige niemals erreicht werden kann. Wie verbreitet
die Maschinen sind, zeigt die Betriebsstatistik von 1907, die zwölf
Arten von ihnen zusammenfaßt. Von den Großbetrieben über
100 ha waren 97,4 0/0 mit solchen ausgestattet, von den Mittelbe-
trieben zu 20—100 ha 92,8 0/0, von denen mit 5—20 ha 72,5 0/0.'
Von den sich haltenden landwirtschaftlichen Nebengewerben,
der Spiritusbrennerei, der Zuckerfabrikation, der Stärke-
erzeugung, der Bierbrauerei, der Getreidemüllerei, Sägemüllerei,
Ziegelei, Kartoffeltrocknung, ist die erste sehr verbreitet. Sie ge-
stattet ein schwer versendbares Rohmaterial, die Kartoffel, an
Ort und Stelle zu einem Fernabsatzprodukt zu verarbeiten. Die
Kartoffeltrocknung zu Schnitzeln, Scheiben, Flocken, Mehl geht
aus demselben Bedürfnis hervor. Der Anbau ist durch beide Ver-
arbeitungen besonders im östlichen Deutschland stark angeregt
worden. Die großen Rückstände an Schlempe in der Brennerei
werden der örtlichen Viehernährung erhalten. Die Getreidebrennerei,
die vornehmlich im Westen des Reiches ihren Sitz hat, sowie die
Kartoffelbrennerei werden auch losgelöst von der Landwirtschaft
vorgenommen, doch trittt die Zahl dieser Großbetriebe zurück.
Die landwirtschaftlichen Nebenbetriebe werden steuerlich begün-
stigt und haben sich in der Spirituszentrale eine wirksame, monopol-
artige Verkaufsorganisation geschaffen. Der Alkoholverb rauch zum
Trinken ist seit 1906 etwa um 1/4 zurückgegangen, der zu gewerb-
artige Verkaufsorganisation geschaffen. Der Alkoholverbrauch zum
Trinken ist seit 1906 etwa um 1/4 zurückgegangen, der zu gewerb-
lichen Zwecken im denaturierten Zustande ist seitdem auf der glei-
chen Höhe geblieben und nimmt mehr als 1/3 der Produktion in
Anspruch (1910— 1911 1407000 hl, 1906/07 664000 = 1/4)- ^^^
Obstbrennerei, mit ihrem Hauptsitz in Südwestdeutschland, ist fast
durchweg ein Nebengeschäft der Kleinlandwirtschaft. Die Steuer-
statistik gibt seit 1906 über 50000 solcher Betriebe an, denen
1 5 000 mit der Verarbeitung mehlhaltiger Rohstoffe gegenüberstan-
A'^d. VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
den. Um die Technik der Spiritusfabrikation hat sich vor allem
Max Märcker verdient gemacht.
Die Kartoffelernte hat man in den letzten Jahren vor dem
Krieg auf etwa 450000000 dz durchschnittlich veranschlagt. Davon
kamen 163 auf die Viehfütterung, 130 auf den menschlichen Ver-
brauch, 65 auf die Saat, 46 auf die gewerbliche Verwendung. Der
große Rest von 45 ging jährlich bei der Aufbewahrung durch
Schwund, Fäulnis usw. zugrunde. Die Ausfuhr in das Ausland
konnte diesem Verluste nicht abhelfen, da sie nur aus dem Westen
Deutschlands in mäßigem Umfange stattfindet, der gewerbliche
Bedarf ließ sich nur langsam steigern, da der Alkohol schon öfters
im Zeichen der Überproduktion gestanden und die Herstellung von
Kartoffelstärke und Stärkezucker sich von 1890 — 191 3 verdoppelt,
d. h. auf 3 000 000 dz gehoben hatte.
Um die Jahrhundertwende begann man mit Versuchen, die
Kartoffel zu trocknen, sowohl um den Abgang zu vermeiden, als
auch, um einen Ausgleich von guten und schlechten Jahren durch
das haltbare Produkt, das in Schnitzeln, Flocken, Mehl der tieri-
schen und menschlichen Ernährung zu dienen geeignet ist, zu ge-
winnen. Die Erfolge mit dauernd verbesserten Einrichtungen
waren günstige, in vollem Maße wurden sie erst nach 19 14 in der
Nahrungsmittelnot unter der feindlichen Blockade ausgenutzt.
Die Entstehung des Zuckerrübenanbaues und der ver-
arbeitenden Fabriken haben wir in einem früheren Abschnitt kennen
gelernt. Das gesamte Gewerbe ist weiterhin fortgeschritten und
stellte auch eine wertvolle Ausfuhrware her. Die Technik der Ge-
winnung von Rohzucker ging weiter unter Anwendung des Strontian-
verfahrens, den Erfindungen von Carl Scheibler, voran, mit
denen es gelang, die Melasse zum guten Teil zu entzuckern, und
unter Bildung von Großbetrieben mit den stets neuesten maschi-
nellen Einrichtungen. Auch in der hier beschriebenen Zeit glückte
die vollkommenere Ausnutzung der Rübe. 1901/02 waren durch-
schnittlich für I kg Rohzucker 6,96 kg Rohrüben erforderlich,
1910/11 inur 6,08.
Die Hauptrübengebiete sind die Provinzen Sachsen, Schlesien,
Hannover, Schleswig-Holstein, ferner Braunschweig und Anhalt.
Die Zahl der Fabriken war ehemals größer. 1886/87 zählte man
456, 1908/09 342. Neben den Vorteilen des Großbetriebes hatten
auch die Auslage der Steuersummen und die lästige Steuerkontrolle
dazu beigetragen, die Zahl herabzusetzen. Die Rohmaterialsteuer
hatte zu dem System der gedeckten Ausfuhrprämien geführt, wo-
durch dem Fiskus Ausfälle entstanden, so daß der Übergang zur
Fabriksteuer notwendig wurde. Die Abschaffung der Prämien
IV. Die Landwirtschaft.
455
wurde 1903 durch die internationale Zuckerkonvention erreicht,
auf der sich die wichtigsten Zucker ausführenden Staaten zu der
gleichen Maßregel entschlossen. In Deutschland wurde gleichzeitig
die Steuer von 20 auf 14 Mark für den Doppelzentner ermäßigt,
wonach der innere Verbrauch rasch stieg. Die ganze Erzeugung
an Rohzucker betrug 1886/87 971000 Tonnen, 1910/11 2300000.
Ehedem war die Kultur über das Land sehr ungleich verteilt ge-
wesen, da man nur bestimmte Bodenarten für ertragreich hielt.
Unter der Benutzung neuer Düngemethoden sind auch andere Bö-
den mit Erfolg herangezogen worden.
War bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts die Zuckerfabri-
kation ein landwirtschaftliches Nebengewerbe gewesen, so war
später mit den immer größeren Kapitalansprüchen der Fabriken
die industrielle Verselbständigung mehr und mehr geboten. Die
Aktiengesellschaft, die Gesellschaft m. b. H., die eingetragene Ge-
nossenschaft werden notwendig. Es waren noch 1892/93 52834 ha
für landwirtschaftliche Fabrikunternehmer angebaut worden,
1913/14 nur noch 24876. Der sonstige bestellte Boden war hin-
gegen von 299172 auf 507967 angewachsen. Der Zusammenhang
zwischen Fabrik und landwirtschaftlichem Betrieb, der an der Rück-
gabe der ausgelaugten Schnitzel sehr interessiert ist, ist durch die
Gewinnbeteiligung des letzteren an ersterer gewahrt worden. Die
Landwirte sind die Aktionäre, Gesellschafter oder Genossenschafter
mit der Verpflichtung, eine bestimmte Zahl Hektar mit Rüben zu
bestellen und die Ernte abzuliefern, während sie an dem Gewinn
teilnehmen, sei es durch unmittelbare Ausschüttung desselben oder
durch Erhöhung des vertraglich festgestellten Mindestpreises der
gelieferten Rüben. Da bei der steten Geschäftsausdehnung der letz-
ten Jahrzehnte diese Kontingente nicht genügen, schließen die Fa-
briken Verträge auch mit nicht beteiligten Landwirten zur Bei-
bringung der sogenannten „Kaufrüben" ab. Hier ist, die Interessen-
gemeinschaft zwischen Anbauer und Verarbeiter nicht mehr vor-
handen, und Preisstreitigkeiten sind häufig. Die kleineren Land-
wirte klagen über den Druck des Großkapitals. Teilweise konnte
dieser Zukauf vermieden werden, durch die „Überrüben", die von
den Anteilsinhabern über ihr Kontingent hinaus auf Grund beson-
derer Abmachungen abgegeben werden. Die Kauf- und Überrüben
machen schon 1892/93 mehr als die Hälfte aller gelieferten aus.
Die Arbeitsteilung hat sich in der Zuckerfabrikation in der
Weise durchgesetzt, als Rohzuckerfabriken, Raffinerien, Melasse-
entzuckerungsanstalten und Weißzuckerfabriken unterschieden wer-
den. Die letztgenannten stellen billige Verbrauchssorten ohne vor-
hergehende Rohzuckergewinnung her.
456 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Zu dem Kapitalbestand der Landwirte gehören auch die A r -
beits-, Milch- und Schlachttiere. Von 1883— 191 2 ist die
Zahl der Pferde von 3 1/2 auf 4 1/2 Millionen Stück, des Rindviehes
von 153/4 auf 201/4, der Schweine von 9I/4 auf 22, der Ziegen von
2 1/2 auf 3 1/3 hinaufgegangen. Der Verkaufswert wurde 1883 auf
51/2? 19 14 gegen 10 Milliarden Mark veranschlagt. Bei einem zu
53,63 kg Fleisch auf den Kopf der Bevölkerung berechneten Ver-
brauch kommen nur 5 0/0 auf die Einfuhr, die des Seuchenschutzes
wegen mit Recht eingeschränkt wird. Es werden daher statt dessen
Futtermittel aus dem Auslande bezogen, um den heimischen Vieh-
stand auf der nötigen Höhe zu halten. Nur die Schafzucht ist um
13,3 Millionen Stück von 1883 — 191 2 zurückgegangen, die in die
intensiver werdenden Betriebsweisen nicht paßt. Wolle mußte da-
her in steigenden Mengen von außen beschafft werden. Wenn die
genannten erhöhten Viehziffern schon die Verstärkung des Kapitals
nachweisen, so wird dieselbe noch vollständiger sichtbar durch die
durchschnittliche Gewichtszunahme der Tiere, zum Teil vor allem
des Mastviehes. Sie stieg (Lebendgewicht) bei Rindern in der ge-
nannten Periode von 321 auf 360 kg, bei Schweinen von 116 auf
126, bei Schafen von 34 auf 42. Dabei war die Beschaffenheit des
Fleisches verfeinert worden, und, was für die Viehrente wichtig ist,
das Verkaufsvieh wurde in weniger Monaten schlachtreif. Die
besseren Futtermittel gestatteten einen rascheren Kapitalsumschlag.
Die Umgestaltung der Volkswirtschaft, soweit sie mit der Ver-
dichtung der Bevölkerung in der Großstadt zusammengeht, hat die
Molkereien, die bisher zu den landwirtschaftlichen Nebenbetrieben
gehörten, mehr und mehr in die Richtung gedrängt, gewerbliche
Anstalten zu werden. Die Vielseitigkeit der Produkte, die sich neben
feinster Milch, neben Butter und Käse in der pasteurisierten Dauer-
milch, der Kindermilch, dem gegorenen Kefir und Joghurt, der
kondensierten Milch, der Trockenmilch und dem Milchzucker kund-
gibt, war dazu ebenso eine Veranlassung, wie der Großbetrieb, der
durch die Sammelmolkereien der vielen kleinen Lieferungen vom
Lande geboten war, oder wie die staatliche Beaufsichtigung, die
zum Wohle der Volksgesundheit von der Wissenschaft der Bakterio-
logie gefordert wurde. Auch die erhebliche Einfuhr von Butter
und Käse und deren Preiserhöhung — 19 12 wurden 55 553 Tonnen
Butter, 194 991 dz Hart- und 19455 Weichkäse vor allem aus
Rußland, Holland, Dänemark und der Schweiz bezogen — , ver-
langten die äußerste Ökonomie in der Verwendung der Milch, deren
Mangel sich in den Großstädten zusehends fühlbar machte. Die
Margarinegesetze sind zum Schutze der Butterherstellung gegeben,
IV. Die Landwirtschaft.
457
lagen aber auch im Interesse der Verbraucher, so daß die anfäng-
liche Gegnerschaft gegen sie bald verschwand.
Über die Zunahme der vegetabilischen Roherträge in der
Landwirtschaft gibt die Reichsstatistik folgenden Aufschluß:
Im Durchschnitt der Jahre
1883— 1887
Anbau-
fläche
Helctar
Ernte-
menge
Tonnen
Ertrag p.
Hektar in
Dz.
Im Durchschnitt der Jahre
1908 — iqi2
Anbau-
fläche
Hektar
Ernte-
menge
Hektar
Ertrag p.
Hektar in
Dz.
Roggen , .
Weizen . .
Sommergerste
Kartoffeln
Hafer . . .
Wiesenheu .
5 830 200
1918 000
I 737 700
2912 800
3 785 000
5 905 100
5 867 800
2 585 200
2 232 800
25 459 200
4 291 000
16 874 600
10,0
13.4
12,8
87,4
11,3
28,5
6 168 261
I 911 768
I 604 1 16
3315 137
4317753
5989237
1 1 012 171
3 962 390
3 220 066
44 220 213
8 189 062
25024865
17.8
20,7
20,1
133-4
19,0
42,1
Wir haben hier eine durchschnittliche Steigerung von 65 0/0 in
25 Jahren vor uns, neben der diejenige der Reichsbevölkerung um
41 0/0 erwähnt sein mag. Die Emteerträgnisse, auf den Hektar be-
rechnet, überschreiten diejenigen anderer Länder:
Emtejahr
Land
Weizen
Ernte a
Roggen
if den Hektar in Dz.
Gerste 1 Hafer
Kartoffeln
1912
Deutschland
22,6
18,5
21,9
19,4
150-3
1912
Rußland
6,9
9.0
8,7
8,5
81,7
1912
Oesterreich-Ungarn
f 15,0
\ 12,7
14,6
11,6
i6,o
13.0
i3>o
10,4
100,2
84,4
1911
Frankreich
13,8
14,3
14.3
12,6
74,2
1912
Kanada
13.7
12,0
16,7
15,0
115,8
1912
Ver. Staaten
10,7
10,6
16,0
13,4
76,2
1912/13
Argentinien
9,3
—
—
14,1
—
1911/12
Br.-Indien
8,7
—
—
—
—
Die großen Agrarländer mit ihren weiten Flächen der exten-
siven Wirtschaft sind leicht verständlich, daß aber Frankreich,
früher das typische Land intensiven Mittel- und Kleinbetriebes, und
Österreich-Ungarn mit seiner wachsenden Bevölkerung und relativ
wenig Boden soweit hinter Deutschland zurückstehen, zeigt dessen
Energie und verbesserte Technik besonders auffällig.
Der deutsche Boden genügte trotz der hohen Roherträge der
Ernährung nicht, wie das die Außenhandelstabelle von 19 13 zeigt:
Tonnen
Roggen Weizen
Gerste
Hafer
Mais
Hülsen-
früchte
Hirse
Öl-
früchte
Roggen-
mehl
Weizen-
mehl
Einfuhr
Ausfuhr
352 542I2545959
934463I 538349
3238213
6 104
505022
661 653
918655
35
267 900
14 619
1747389
13574
1 000
225 102
17868
194756
4^8 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Weizen und Futtermittel werden vor allem benötigt, die Mül-
lerei ist so hoch entwickelt, daß eine Mehlausfuhr stattfindet. Ein-
geführt werden zudem große Mengen von Phosphaten und Chile-
und Norgesalpeter, ferner die obengenannten milchwirtschaftlichen
Erzeugnisse, Fette, Federvieh und Eier, die letzten vier ohne Stei-
gerung seit 1901. Der entscheidende Grund der noch notwendigen
Einfuhr lag darin, daß die Bevölkerung reichlicher und ausge-
wählter lebte als in der Vergangenheit. Bei der Ernährungsweise
der Großväter hätte die Generation vor dem Weltkriege mit der
Eigenerzeugung auskommen können. Während desselben mußte
nun die Produktion stark herabgesetzt werden.
„Das Gesetz der sinkenden Roherträge" besagt, daß die Mehr-
erzeugung von Produkt auf einer gegebenen Fläche von einer be-
stimmten Ertragshöhe an nur mit absoluten und relativ steigenden
Kosten möglich ist — wenigstens im allgemeinen, wenn auch bei
einzelnen Fortschritten der landwirtschaftlichen Technik vorüber-
gehend Ausnahmen zugestanden werden. Da die Kosten nebst
einem Gewinn in den Preisen Deckung finden müssen, war der
Schutzzoll geboten, falls man die Intensifizierung der Landwirt-
schaft erhalten wollte, der die Konkurrenz des auf reichem Boden
billiger erzeugenden Auslandes abschwächen sollte.
Die Schulze-Delitzschen Genossenschaften und
ihre gesetzliche Regelung sind früher besprochen worden. Blieb
auch ihr Schwerpunkt in dem Kreise der Handwerker und kleinen
Handelsleute, so griffen sie doch auch auf die Kleinlandwirtschaft
über. Grundsätzlich landwirtschaftlich ist die von Fr. W i 1 h.
Raiff eisen (1818 — 1888) begründete Genossenschaftsbewegung.
Im Hungerjahr 1847 begann Raiffeisen mit einem Kon-
sumverein zur Beschaffung von Brot und Getreide, 1849 in Flam-
mersfeld auf dem Westerwald mit dem Hilfs verein für unbemittelte
Landwirte, 1854 mit dem Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein. Die
christliche Nächstenliebe ist die Ethik seiner Vereine von Anfang
an gewesen. Die Vereinsführer sollen leben wie die Apostel, und
ihr erster ist für sein Lebenswerk ein leuchtendes Vorbild an Ge-
meinnützigkeit und Selbstlosigkeit gewesen.
Die Genossenschaften sind ihrer Entstehung nach ländliche
Darlehnskassenvereine, die den Mitgliedern billigen, lang- und
kurzfristigen Kredit geben, zugleich als Sparkassen dienen, deren
Einlagen der Klasse der Sparer im Darlehen wieder zugeführt
wird. Sie sollen dem kleinen Landwirt die Tilgung seiner Schulden
sowohl ermöglichen, als auch die Mittel gewähren, seinen Betrieb
IV. Die Landwirtschaft.
459
zu heben. Ihr ökonomisches Rückgrat ist wie bei Schulze die
Solidarhaft. Die Gemeinnützigkeit tritt u. a. dadurch hervor, daß
keine Dividenden gezahlt, daß Überschüsse zum Reservefonds ge-
schlagen werden, und die meisten Ämter Ehrenämter sind. Die
Vereine sind auf einen engen Bezirk, in der Regel die Gemeinde,
beschränkt, damit die Kreditwürdigkeit sicher geprüft, und die
Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Schuldners unmittelbar
beeinflußt und dieser selbst überwacht werden kann.
Die Kassen, die seit 1864 in Tätigkeit sind, haben ihren
Hauptsitz im Westen und Südwesten des Reiches, wo sie eine ihrer
ursprünglichen Aufgaben, die Bekämpfung der Bewucherung durch
jüdische Kleinhandelsleute, gelöst haben. Man kann von einem
vollen Erfolg hierbei erst in den letzten 30 Jahren sprechen, als die
Zahl der Genossenschaften groß geworden war. Das Wuchergesetz
von 1880, das gegen die Ausbeutung geschäftsunkundiger, in Geld-
not befindlicher Personen durch gewissenlose Geldverleiher erlassen
war, hatte die schlimmsten Formen des Geld-, Vieh-, Waren- und
Grundstückswuchers schon getroffen, die erzieherische Hauptarbeit
haben doch die Kreditvereine getan, indem sie die am Alten hän-
genden und gegen Neuerungen mißtrauischen Bauern aufgeklärt
und in die neuzeitliche Erwerbswirtschaft unter steter Hilfeleistung
eingeführt haben. Auch die Belebung des ehemals in Dorf- und
Markverbänden gepflegten, nie erloschenen Gemeingeistes wird
ihnen nachgerühmt. Der mit der Bauernbefreiung verschwundene
Schutzverband war in anderer Form wieder entstanden.
Die Genossenschaften haben sich keineswegs mit dem Kredit-
geben genug getan. 191 4 unterscheidet man: Rohstoff-, Warenein-
kauf-, Verkaufs-, Werk-, Magazin-, Produktiv-, Meierei-, Zuchtvieh-,
Weide-, Schlacht-, Bau-, Wohnungs-, Konsum-, Maschinenbeschaf-
fungs-, Brennerei-, Saatgutverteilungs-, Winzergenossenschaften.
Vielfach sind aus den einmal befestigten Verbänden neue mit an-
deren Zwecken hervorgegangen, wie z. B. die Versicherungs-, die
Kuhladen- und Sterbekassen. Im ganzen hat man das genossen-
schaftliche Prinzip in 50 Anwendungen nachgewiesen. Dieneuetsen
Bestrebungen gehen auf die Versorgung mit Elektrizität, mit Le-
bensmitteln, die auf dem Lande nicht hergestellt werden, mit Werk-
zeugen des Hausbedarfs und des Betriebes, endlich auf das Trock-
nenverfahren der Kartoffel.
1876 wurde die landwirtschaftliche Zentraldarlehnskasse er-
richtet, eine Aktiengesellschaft zur Regelung des Geldausgleichs,
da Geldmangel und Überschuß bei den einzelnen Genossenschaften
unvermeidlich waren. Nach mancherlei Zwischenfällen und Schwie-
rigkeiten hat sich dies Unternehmen im großen entwickelt und in
460 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
den letzten Jahren vor 19 14 durchschnittlich 6 Millionen Mark um-
gesetzt. Die Zusammenschließung ist auch sonst geschaffen wor-
den. 191 4 zählte man 28 landwirtschaftliche Rohstoff-, 62 Kredit-
und 27 Vereine für den Absatz landwirtschaftlicher Produkte, die
als Zentralen die angeschlossenen Ortsverbände unterstützten und
ihre kaufmännischen Ziele im großen zu erreichen suchten. Außer-
dem sind alle Genossenschaften in allgemeine Verbände zur Vertre-
tung ihrer Interessen zusammengefaßt worden. Die beiden größ-
ten waren der Offenbacher und der Neuwieder, die sich 1905 zu
einem Reichsverband vereinigten, womit die Vereinheitlichung aus
sich heraus vollendet war. Preußen hat seit 1895 die Genossen-
schaftsbewegung überhaupt, also auch die ländliche, durch die Er-
richtung einer Zentralgenossenschaftskasse gefördert, die mit einem
Kapital von 50 Millionen Mark ausgestattet wurde und zinsbare
Darlehen nur an Vereinigungen und Verbandskassen eingetragener
Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften gewährt.
Die Zahl der landwirtschaftlichen Genossenschaften, die im
Jahr nach dem Erlaß des Genossenschaftsgesetzes von 1889 3006
betrug, war Ende 19 13 auf 27675 angewachsen, so daß die Periode
des landwirtschaftlichen Aufschwunges mit der der aufsteigenden
Raiffeisenschen Genossenschaften zusammenfällt. Die Mitglied-
schaft wird auf 2I/2 Millionen veranschlagt. Dazu kamen etwa noch
I Million solcher Personen, die anderen Organisationen angehörten,
den Schulzeschen Volksbanken allein 200000, den Deich- und
Schutzwaldgenossensohaften, den Versicherungs-, Züchter-, Kon»
trollvereinen und Ortsbezugvereinen (Kasinos). Da nach der Zäh-
lung von 1907 5 3/^ Millionen landwirtschaftlicher Betriebe ermittelt
wurden, von denen also 3 1/2 Millionen Personen irgendeiner Ge-
nossenschaft angeschlossen waren, wird man ermessen können, wie
weit das Gemeinschaftsprinzip in Deutschland bereits in die Praxis
eingedrungen ist.
Die Raiffeisenkassen werden ländliche, nicht Bauernvereine
benannt, weil auch andere Personen, die auf dem Lande leben, in
ihnen mitwirken, wie Pfarrer, Lehrer, Gutsbesitzer, staatliche Ver-
waltungsbeamte, die alle vermöge ihrer Bildung besonders geeignet
sind, die Geschäfte zu leiten. In den genossenschaftlichen Brenne-
reien sind die Großlandwirte einflußreich. Auch Dorfhandwerker
und Landarbeiter sind, soweit sie Boden bewirtschaften, sonstige
Teilhaber, womit ihnen die Möglichkeit gegeben ist, zu sparen und
zum Kleinbauerntum aufzurücken. Die innere Kolonisation ist eben-
falls nicht übergangen. Genossenschaften haben in Bayern auf
Grund der dortigen Gesetzgebung zertrümmerte Güter übernom-
IV. Die Landwirtschaft. 46 1
men, neue Stellen geschaffen und durch ihren Kredit zu Neuansied-
lungen angeregt.
Man wird daher mit Recht sagen dürfen, daß die Genossen-
schaften die Gesamtheit der ländlich-wirtschaftlichen Aufgaben in
den Kreis ihres organisatorischen Willens einbezogen haben. Doch
ist daran festzuhalten, daß sie ihren Schwerpunkt in der Bauern-
schaft finden. Denn dieser sind durch den Zusammenschluß Vieler
Vorteile des kaufmännischen Großbetriebes, preiswert einzukaufen,
sicher zu verkaufen und billiger Zinssatz zuteil geworden.
Die Arbeit des Neuschaffens ist noch nicht abgeschlossen.
Nicht überall ist Befestigung des Angestrebten erzielt worden.
Krisen mannigfacher Art sind nicht ausgeblieben. Nicht immer
wurden die richtigen Vorstände gefunden, nicht selten hatte der
Verband seine Leistungsfähigkeit überschätzt, das Verständnis für
geld- und banktechnische Geschäfte ließ öfters zu wünschen übrig.
Wie das Genossenschaftswesen die Bauernbildung zum Ver-
ständnis der wirtschaftlichen Gegenwart gehoben hat, so wird man
auch dem öffentlichen Unterricht einen Anteil daran zu-
sprechen müssen. Die allgemeine, mehr mittelbar wirkende Schul-
bildung von der Volksschule bis zur Universität wurde durch die
Fachausbildung glücklich ergänzt. Eine Anzahl der alten landwirt-
schaftlichen Akademien, wie Möglin, Waldau, Regenwalde, Eldena,
wurden in den sechziger und siebziger Jahren, nachdem L i e b i g
heftig gegen sie polemisiert hatte, aufgelöst, und im Anschluß oder
in Verbindung mit den Universitäten richtete man neue Anstalten
ein, zuerst in Jena durch Fr. G. Schulze, dann in Halle durch
Jul. Kühn. Die natur- und staatswissenschaftliche Seite der Land-
wirtschaftslehre wurde so am besten gewahrt, ohne daß dabei die
das ganze Wissensgebiet umfassende praktische Disziplin zu kurz
gekommen wäre. Im Zusammenhang mit diesen Anstalten oder
auch selbständig wurden landwirtschaftliche Versuchsstationen an-
gelegt, deren Zahl um 1900 70 betrug. Sie haben sich zu einem
Reichsverband zusammengeschlossen und verfügen über eine Zeit-
schrift zum Austausch ihrer Erfahrungen.
Der Zustand in der hier besprochenen Epoche ist nun der
einer Zweiteilung geblieben. An Universitäten und technische Hoch-
schulen sind in Deutschland 9 Institute für die höhere Fachbildung
angegliedert worden, während noch 3 Akademien, Poppeisdorf,
Hohenheim und Weihenstephan und die Landwirtschaftliche Hoch-
schule als selbständige Einrichtungen fortbestehen und in Preußen
dem landwirtschaftlichen Ministerium unterstellt sind.
War so für die höhere Bildung des Großbetriebes gesorgt
worden, so wurde auch der Bauernsohn nicht vergessen. Die
462 VI. Abschnitt. Die Zeit voti 1890 — 1914.
früheren Ackerbauschulen — die erste war 1818 neben der Hohen-
heimer Akademie errichtet worden — hatten sich nur an die prak-
tische Ausbildung der Schüler gehalten. Der zweijährige Kursus war
zu zeitraubend. Man führte daher später zur ausschließlichen Beleh-
rung in der Theorie Winterschulen ein, die sich so bewährt haben,
daß man 1908 im Reich 279 zählte. Daneben bestehen die 200 nie-
deren Fachschulen mit kürzeren oder längeren Lehrzeiten, wie für
Wiesen-, Obst-, Wein-, Baum- und Gartenbau, für Molkerei, Haus-
haltung und Hufbeschlag, die für solche jungen Leute, die für die-
selben keine Zeit haben, durch Spezial- und Wanderkurse ergänzt
werden. Einen anderen Charakter tragen die 43 Landwirtschafts-
schulen (Mittelschulen) — die erste entstand in Hildesheim, beson-
ders den Bedürfnissen der Großbauernsöhne angepaßt — , welche
die allgemeine Schulbildung fortsetzen, zugleich die Landwirtschafts-
und Naturlehre pflegen und die Berechtigung zum Einjährig-Frei-
willigendienst ausstellen, nachdem sie der staatlichen Aufsicht unter-
worfen sind. Schließlich sind die bei weitem zahlreichsten, 1908
3224, ländlichen Fortbildungsschulen zu nennen, die in den Winter-
monaten die gleichen Ziele verfolgen. Während der höhere Unter-
richt, auch der der Kolonialschule in Witzenhausen, in der Hand
des Staates ruht, ist der mittlere und untere von Gemeinden, Ver-
einen und neuerdings von den Landwirtschaftskammern übernom-
men worden.
Die landwirtschaftliche Belehrung in Deutschland, die von kei-
nem Staat übertroffen wird, verdankt man einer dem Streit der Par-
teien entrückten Agrarpolitik, für die hohe Finanzmittel überall
bewilligt werden konnten. Staat und Landwirtschaft sind in
Preußen seit der Zeit Friedrichs des Großen in enger Füh-
lung gewesen. Wenn auch die Grundsätze manchen Wechsel erlebt
haben, so fehlte es nie an der Bestrebung, die technischen Fort-
schritte durch öffentliches Eingreifen zu verallgemeinern. Das
1842 von Friedrich Wilhelm IV. errichtete Landesökonomie-
Kollegium, das zugleich als Vermittler zwischen dem Ministerium
und den landwirtschaftlichen Vereinen diente, die durch
Belehrung, Versuche und Unterstützungen landwirtschaftliche Ver-
besserungen anbahnten, war zu diesem Zwecke entstanden. Die
vielen örtlichen Vereine haben sich nach und nach zusammenge-
schlossen. Überall gab es Zentralverbände, die sich in den großen
Staaten auf Provinzen, in den kleineren auf das Landesgebiet er-
streckten, 1872 erhielten sie in dem deutschen Landwirtschaf tsrat_,
in dem alle Einzelstaaten und die großen Provinzen vertreten sind,
eine Spitze, die für das Reich das war, was das Kollegium in
Preußen ist. Er tagt jährlich mit seinen 74 Mitgliedern in Berlin,
IV. Die Landwirtschaft. /163
die von den Hauptvereinen, später wesentlich von den Landwirt-
schaftskammern, gewählt wurden. Diese sind nach dem Gesetze
von 1894 obligatorisch für Preußen, dem andere Bundesstaaten
nachgefolgt sind. Sie haben Zielen ähnlich denen der Handelskam-
mern nachzugehen, besitzen das Recht zu Initiativanträgen bei der
Regierung, haben also nicht bloß auf Befragen Gutachten zu er-
statten. Sie bilden Ausschüsse für einzelne Fragen und besitzen die
Befugnis, zur Deckung ihrer Kosten Steuerzuschläge zu der Grund-
steuer zu erheben, und da sie auch staatliche Zuschüsse erhalten,
ist ihre Tätigkeit immer umfassender geworden. Indem die Mit-
glieder auf den Kreistagen gewählt werden, ist die Kammer eine
ganz ausschließliche Vertretung der Landwirtschaft nicht, zumal
auch die Regierung einen unmittelbaren Einfluß ausübt. 1898 wur-
den sie mit einer Zentralstelle zur Erledigung gemeinsamer Auf-
gaben ausgestattet. Die landwirtschaftlichen Vereine sind zwar als
provinziale mit den Kammern überflüssig geworden, im ganzen ist
aber ihre Zahl bei dem Eifer, Neues zu leisten, nicht zurückge-
gangen. Die unter ihnen besonders hervorzuhebende, 1885 von
M. Eydt gegründete Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft, in der
Praktiker und Theoretiker ihre Gedanken austauschen, findet neben
der Herausgabe eines Jahrbuches ihre Betätigung in den perio-
disch wiederkehrenden, großen Wanderausstellungen, deren 26.
1913 in Straßburg i. E. stattfand.
So sehr nun auch das Genossenschafts- und Vereinswesen und
der staatliche Unterricht den deutschen Landwirten anregend ge-
holfen haben, ihr Gewerbe intensiver und gewinnreicher zu machen,
so blieb doch dem einzelnen Wirt noch immer genug zu über-
denken, da fast jedes Gut nach natürlicher Beschaffenheit, Ver-
kehrslage und sozialer Umgebung eine Individualität ist. So ist
das Verantwortlichkeitsgefühl trotz aller öffentlich rechtlichen Für-
sorge den Landwirten geblieben, auch unter dem Schutzzoll, unter
dem die Konkurrenz und das Schwanken der Preiskonjunktur
keineswegs beseitigt wurden. Daher ist die Entwicklung zu der
Höhe, die 191 3 erreicht worden war, eine durchaus gesunde ge-
wesen. Eine Rückwirkung von dem kapitalistischen, industriellen
und kaufmännischen Geist, der seit 1890 Deutschland imprägnierte,
machte sich auch in der Landwirtschaft, besonders der im großen
betriebenen, geltend und zwang den einzelnen, sich neuzeitlich zu
verhalten, womit manche unerwarteten Anforderungen an seine
Selbstbestimmung gestellt wurden.
Die kapitalistische Betriebsweise ergreift die Landwirte um so
tiefer, je mehr sie verkehrsmäßig Waren produzieren. Die Eigen-
versorgung ist aber noch überall bestehen geblieben, wie das die
464 ^^' Absclinitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Kriegszeit recht deutlich vor Augen geführt hat, anders als in der
Industrie im weiteren Sinne und setzt der Gewinnrechnung eine
Grenze.
Industriell kaufmännisch verfahren diejenigen Gutsbesitzer am
meisten, die sich in freier Konjunkturwirtschaft dem Warenspezia,-
lismus zuwenden und die Arbeitskraft rein ökonomisch bewerten,
d. h. unter arbeitsteiliger Anstellung von Saisonarbeitern, unter
Akkordarbeit und unter Einschränkung des festen Bestandes an
Gesinde. Im ganzen ist dies Verfahren noch selten geblieben, was
für den sozial-konservativen Charakter des Gewerbes spricht, so
sehr dies auch technisch umgestaltet sein mochte.
Über die Veränderung der Eigentums-Verteilung des
zur Landwirtschaft benutzten Bodens seit der Zeit der neuen Han-
delspolitik von 1879 bis zur weltwirtschaftlichen Größe von In-
dustrie und Handel sind wir durch die Betriebsstatistiken
von 1882, 1895 ^^^ 1907 einigermaßen unterrichtet. Es fehlen die
Angaben der neuesten handelspolitischen Periode, so daß wir hier
auf die Schlußfolgerung aus Tatsachen der ähnlichen technisch-
ökonomischen Entwicklung wie in den Vorjahren angewiesen sind.
Diese Betriebs- ist keine Eigentumsstatistik. Es gibt Besitzer, die
über mehrere Betriebe verfügen, ferner kann ein Betrieb mehreren
Eigentümern zustehen, weiter sind in die Betriebe auch die Pach-
tungen eingerechnet, wobei es vorkommt, daß ein Besitzer mehrere
Pächter hat, wie umgekehrt auch ein Pächter mehrere Güter zu-
sammen pachten kann, die verschiedenen Eigentümern gehören.
Die hierdurch gegebenen Abweichungen der Betriebs- von den Be-
sitzgrößen sind auf Grund verschiedener Untersuchungen bei dem
Klein- und Mittelbetrieb und bei der Abgrenzung beider vom Groß-
betrieb als unbedeutend anzusehen, nur innerhalb der verschiedenen
Abteilungen der Großbetriebe werden sie eine gewisse Beachtung
verdienen, so daß wir die Zahl der großen Besitzungen geringer
als diejenige der Betriebe annehmen müssen. Da jedoch in Deutsch-
land ^n gleicher Weise bei den Betriebszählungen festgestellt wurde,
daß die Selbstbewirtschaftung die Regel, die Pacht andauernd nur
bei 13 0/0 des Bodens vorkommt, außerdem die Zahl der Betriebs-
leiter (Administratoren) sich nicht verschoben hat, so wird man die
genannten Abweichungen bei den Zählungen von 1882, 1895, ^9^7
gleichsetzen, also diese letzteren auch miteinander vergleichen
dürfen. In sieben Größenklassen ergibt sich die folgende, prozen-
tuale Verteilung:
IV. Die Landwirtschaft.
465
Größenklassen
Von
100 Betrieben
Von
landw. benutzter Fläche
100 ha
der
Sesamtfläche
1907
1895
1882
1907
1895
1882
1907
1895
1882
unter 0,5 ha .
0.5— 2 „ . .
36.3
22,6
33.3
24.9
)58.o
1,1
4.3
4.5
}s.
1.4
4,3
1.2
4.4
}.4
2—5 .. • .
17.5
18,3
18,6
10,4
10,1
[0,0
10,0
9.5
9.5
5—20 „ . .
18,6
18,0
17.6
32,7
29.9
28,8
32.0
29,0
28,6
20 — 100 ,, . .
4.6
5.0
5.3
29.3
30.3
31. 1
29,3
30.4
30.9
100 und darüber . .
0,4
0,5
0.5
22,2
24,1
24.4
23.0
25.5
25,6
Darunter:
200 ha und darüber .
0,2
0,2
0.3
17.5
19.4
19,6
17.8
20,1
20,8
Gehen wir von 1882 aus, so ist die Zahl der Kleinbetriebe bis
zu 2 ha 58 0/0, absolut 3061 831, die der mittleren, kurz bäuerliche
genannt, von 2 — 100 ha, 41,50/0 oder 2189522, die der Großbe-
triebe über 100 ha, 0,50/0 oder 38949. Dieser Aufbau erscheint
durchaus gesund. Die große Zahl der kleinen ist einem Stadt- und
industriereichen Lande selbstverständlich und erwünscht. B i s -
marck hat sich 1882 so ausgesprochen, daß er die Besorgnis für
grundlos halte, daß die Beförderung von Grundstücksteilungen zur
Vermehrung des Proletariats beitragen könne. Der Besitzer eines
noch so kleinen Grundeigentums sei immer besser und unabhängiger
gestellt als der besitzlose Proletarier. Die dann folgende Quote
der Mittelbetriebe ist so hoch gegenüber der der Großbetriebe,
83mal so stark, daß jedenfalls von einer Überzahl der großen
Herren nicht gesprochen werden kann. 1895 hat sich in der Be-
triebszahlverteilung kaum etwas geändert, 1907 ist die Kleinbe-
triebsquote auf Kosten der übrigen um 0,9 0/0 gewachsen.
Es haben sich von 1882 — 1907 Industrie und Handel sehr ver-
stärkt. Die gehobene Lage der gewerblichen Lohnarbeiter und
vieler Kleingewerbetreibenden findet einen Ausdruck darin, daß
die Zahl der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe um 316678 ge-
stiegen ist. Die kleinsten Besitzer gehören überwiegend der land-
wirtschaftlichen Bevölkerung nicht an. Bei den Zwergbetrieben unter
0,5 ha wurden 96 0/0, bei den etwas größeren Kleinstellenbetrieben
72 0/0 als nebengewerbliche ermittelt. Die Zunahme der ganzen Be-
triebszahl kann nicht als eine durchschnittliche Verschlechterung
der Lage der Besitzer gedeutet werden, weil die Intensität der Be-
wirtschaftung zugenommen hat. Da die kleinsten Inhaber fast nur
für den eigenen Bedarf produzieren, sind sie reichlicher versorgt
als ehedem. Die in den städtischen Gewerben vielfach abgekürzte
Arbeitszeit hat für den Nebenbetrieb in Gärten, Laubenkolonien,
Kartoffelparzellen manche Stunde erübrigt, deren Verwendung eine
Quelle ökonomischen und gesundheitlichen Wohlbefindens ist. 1907
A. Sartorius v. Waltershausen Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 30
466 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
wurden mehr als eine Million Arbeiter und sonstige unselbständige
Personen in der Industrie mit landwirtschaftlicher Nebenarbeit
angeschrieben. Auch die Arbeiterschaft im Verkehrsgewerbe, die
Gast- und Schankwirte, Rentner der Arbeiterversicherung und
Kleinkaufleute haben sich mehr mit Landstückchen versehen. Da-
gegen haben die selbständigen Personen im Verarbeitungsgewerbe
eine Einbuße erlitten, was mit dem Rückgang des Handwerks auf
dem Lande erklärt wird.
Die soziale Beurteilung nach Betriebszahlen ist individualistisch
und daher nicht ausreichend. Wählt man den Standpunkt der land-
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, wird man die Flächenmengen
heranziehen müssen, die von den einzelnen Größengruppen gehalten
werden. Nach der Aufnahme von 1882 waren Acker- und
Gartenland, Wiesen, Weiden und Weinberge nur zu 5,7 0/0 in der
Hand von Kleinbesitzern, 69,9 in der Hand der mittleren und 24,4
in der von großen. Die deutsche Wissenschaft vertritt seit langem
eine Mischung aller drei unter der Voraussetzung, daß die mittlere
Klasse die stärkste ist. Der Wert des tatkräftigen Bauernstandes
beruht auf der Tatsache konservativer Gesinnung, ohne die, wie
die Geschichte zeigt, ein Staatswesen nicht gedeihen kann. Er ist
für die Wehrhaftigkeit nicht gering zu veranschlagen, wie die Er-
gebnisse des Heeresergänzungsgeschäftes gezeigt haben, ist ferner
der Vermittler der technischen Fortschritte zwischen großen und
kleinen Anwesen, der Jungbrunnen für die Menschen verzehrenden
Städte. Das wußte schon Goethe, als er Eckermann gegen-
über äußerte: „Unser Landvolk hat sich freilich fortwährend in
guter Kraft erhalten und wird hoffentlich noch lange imstande
sein, uns nicht allein tüchtige Reiter zu liefern, sondern uns auch
vor gänzlichem Verfall und Verderben zu sichern. Es ist als ein
Depot zu betrachten, aus dem sich die Kräfte der sinkenden
Menschheit immer wieder ergänzen und auffrischen". W. H.Riehl
erörtert in seinem Buche über die bürgerliche Gesellschaft, wie
Bauernsitten und Anschauungen in der Gesundheit der Landleute
wurzeln: „Es ist darum gut, wenn viele nachgeborene Bauernsöhne
zum Gewerbestand übergehen, weil solchergestalt der städtischen
Bevölkerung neue Nervenkraft zugeführt, die Landgemeinde selbst
aber vor übermäßiger Güterzersplitterung und der damit untrenn-
bar verbundenen, die Nerven abschwächenden Kartoffelexistenz
bewahrt wird".
Der Kleinbesitz ist oben schon gewürdigt worden. Der große
ist ebenfalls der Erhalter von Staat und Gesellschaft, hat insbe-
sondere in Preußen aus den nachgeborenen Söhnen die Offizier-
korps und den Beamtenstand immer wieder aufgefüllt. Er ist der
IV. Die Landwirtschaft. 467
Führer des landwirtschaftlichen Fortschrittes, hat Zeit, ihn zu
studieren, die Mittel, die künftigen Besitzer auf die Universitäten
zu schicken. Er ist der geborene Vertreter der landwirtschaft-
lichen Interessen in den Parlamenten und der Gründer des Vereins-
wesens.
Von 1882— 1907 zeigt die Verteilung, daß die Fläche der
Kleinbetriebe etwas verringert, der Mittelbetriebe von 69,9 auf
72,4 0/0 erhöht worden ist, recht auffällig bei 5—20 ha, etwas we-
niger bei 2 — 5 und unter Abnahme bei 20—100. Der Betrieb von
über 100 ha ist von 24,4 0/0 auf 22,2, über 200 ha von 19,6 auf 17,5
gesunken. Seine Bedeutung wird sozial noch etwas gewichtiger,
wenn statt der landwirtschaftlich benutaten die Gesamtfläche, d. h.
mit Einschluß der besessenen Waldfläche, berücksichtigt wird.
Unter den Verhältnissen der sinkenden Quote der großen Be-
sitzungen gewinnt die Erhaltung der Landfideikom misse
eine neue Beleuchtung. Denn bisher wurde auch von denen, die
große Landgüter neben anderen volkswirtschaftlich für erwünscht
hielten, behauptet, daß diese Flächen sich auch ohne die rechtliche
Gebundenheit, Unveräußerlichkeit, Unteilbarkeit, Unverschuldbar-
keit und ohne gesetzliche Individualsukzession halten könnten.
Unter der Agrarkrise und dem wachsenden Kapitalreichtum der
letzten 30 Jahre ist das nicht der Fall gewesen, und niemand weiß,
wie es weiter gehen wird. Die Gesamtfläche der gebundenen
Großgüter in Preußen betrug 1895 2102000 ha, 1906 2239100,
1912 2449225. Diese Vermehrung ist nur i/g von dem, was der
Großbetrieb nach der vorgenannten Statistik verloren hat, ist stär-
ker im Osten als im Westen des Staates. Östlich der Elbe hat
Schlesien die größte Ziffer der Fideikommisse, westlich derselben
Westfalen. Bürgerliche, die in Bayern fehlen, bestanden 191 2 136.
Jedoch ist nicht zu übersehen, daß die bürgerlichen Begründer mit
der Stiftung öfters den Adel erhalten haben. Man wird nicht
fehlgehen, wenn man die Neubildung mit dem wachsenden Reich-
tum Deutschlands verbindet. Familien, die mit mobilen Vermögen
viel verdient haben, erwerben ohne volle Berücksichtigung der Er-
tragsfähigkeit, d. h. zu ausnahmshohen Preisen, ihnen bequem
gelegene, landschaftlich schöne Güter. Man hat diese Schaffung von
Luxusgütern beklagt und ihren Besitzern die Übernahme der so-
zialen und ökonomischen Pflichten abgesprochen, ohne welche das
Privilegium keinen Sinn habe. Nicht mit vollem Recht. Diejenigen,
die, durch hohen Preis angelockt, verkaufen, beweisen, daß sie dem
Individualismus verfallen sind und ihre bisherigen sozialen Pflich-
ten nicht erfüllen wollen. Mögen die Neuerwerber, die ihren Reich-
tum ihrer Familie zu erhalten bemüht sind, den Geist des großen
30*
^68 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Landbesitzes auch nicht erfassen, obwohl sie wenigstens dem Be-
triebe große Kapitalien zuführen, ihre Söhne und Enkel sehen ihn
in sich lebendig werden. Die Erbesteilung des Gesamtvermögens
führt schon dahin, das Gut streng als Erwerbsquelle zu werten. Die
Beziehungen zu Bauernnachbarn und Arbeitern entstehen langsam,
aber sicher, mit der Ansässigmachung. Eine Landaristokratie hält
sich auch von Einseitigkeiten fern, wenn sie sich aus anderen
Schichten des Volkes ergänzt. Man kann jedoch den preußischen
Gesetzentwurf von 191 3 verstehen, nach dem die Bindung einem
Gute nur dann gewährt werden soll, wenn es 30 Jahre in dem Be-
sitz der Familie gewesen ist. Vom Standpunkt der richtigen Wirt-
schaftsführung dürfte es geboten sein, die Fideikommisse bis zu
einer mäßigen Höhe hypothekarisch belasten zu können, wobei
unter Haftung der Gesamterträge neben der Zinszahlung eine
Amortisation durchgeführt wird, und daß begrenzte Teilverkäufe
zulässig sind.
Die eigentliche Gegnerschaft der Fideikommisse ist die poli-
tische Demokratie, die die Sonderstellung einer Gruppe von Mit-
bürgern nicht dulden will. Um ihrem Glaubenssatz ein ökono-
misches Relief zu geben, wird die ungenügende Produktivität be-
hauptet, ohne daß sie erwiesen ist. Unter Zulassung des genannten
Meliorationskredits ist der Vorwurf noch weniger haltbar. Gerade
dann wird sich zeigen, daß dauernde Verbesserungen am ehesten
vorgenommen werden, falls die Sicherheit besteht, daß ihre Früchte
den Nachkommen des Aufwenders zufallen werden.
Bei der ökonomischen Bewertung ist nicht zu übersehen, daß
in dem gebundenen Boden viel Waldbesitz steckt, in Preußen 1905
46,40/0, in Bayern 54,8. Der Waldbetrieb gedeiht am besten im
großen nach festen Lehren, die die Forstwissenschaft aufstellt. Da
die Erhaltung des Waldes im Dienste der Volksgesundheit, des
Klimas, des Schutzes gegen Überschwemmung, Flugsand, Lawinen
gefordert wird, ist die Entziehung des Waldbodens aus dem frei
verfügbaren Privateigentum begründet.
In Deutschland bedeckt der Wald nach der letzten Aufnahme
27,7 0/0 der Reichsfläche, im Vergleich zu Süd- und Westeuropa eine
günstige Quote, die um so mehr Beachtung zu finden hat, als sie
vorzugsweise solchen Boden einschließt, der wegen seiner Höhen-
lage, Gestaltung der Oberfläche oder Feuchtigkeit für die Land-
wirtschaft wenig tauglich ist. Die Forsten sind in den letzten Jahr-
zehnten ungefähr auf dem gleichen Flächenstand gehalten worden.
Abholzungen der Privaten sind durch Neuanforstungen, vor allem
auf öffentlichem Land, ausgeglichen worden. Nach der Statistik
von 1900 waren 36,1 0/0 der Forsten d^r privat wirtschaftlichen Ver-
IV. Die Landwirtschaft. 460
waltung unterstellt, 31,9 waren Staatsforsten, die sich langsam ver-
mehrten, 16,1 gemeindliche, 1,8 Krön-, 1,5 Stiftungs-, 2,2 Genossen-
schaftsforsten, 10,4 gehörten zu Fideikommissen. Von den Bundes-
staaten hat Baden den relativ größten Waldbesitz mit 36,5 0/0 der
Gesamtfläche, es folgen Bayern mit 31,6, Hessen mit 3 1 , i , Württem-
berg mit 30,4, Sachsen mit 25,1, Preußen mit 23,7. Waldarm sind
die Gebiete an der Nordsee, Schleswig-Holstein, Hannover, Olden-
burg, die Hansestädte, wodurch die verhältnismäßig niedrige preu-
ßische Ziffer miterklärt wird.
Die Waldfläche der preußischen Fideikommisse ist von 1895
bis 1912 um 164 813 ha gewachsen, d. h, 16,9 0/0, die landwirtschaft-
liche nur 14,1. In 146 Kreisen des Staates haben diese Güter einen
höheren Waldbestand als 50 0/0 ihres Areals.
Die Bauern machen ihr Holz gern zu Geld, wenn die Preise
rasch steigen, wie es z. B. im Schwarzwald mit der Anlage der
Zellulosefabriken seit 1890 beobachtet wird. Obwohl dort gesetz-
liche Vorschriften zum Aufforsten in Kraft sind, so begegnet doch
deren energischen Ausführung manches Hemmnis der Trägheit
oder des üblen Willens. Die Fideikommisse hingegen werden der
Erhaltung des Waldes die gleiche Sorgfalt zuwenden wie die öffent-
lichrechtliche Bewirtschaftung, da ihr Interesse nicht in der Gegen-
wart aufgeht. Sie haben zugleich noch, wie Verhandlungen im
bayerischen Parlament ergeben haben, eine besondere Aufgabe zu
erfüllen. Die Gefahr der bürokratischen Verknöcherung, die dem
Staatsbetrieb drohen kann, ist bei dem Fideikommiß, das Neue-
rungen und Systemänderungen der Rente wegen zugänglich ist,
ausgeschlossen, so daß die von hier herstammenden Anregungen
auch der öffentlichen Waldbewirtschaftung von Nutzen sein werden.
Es ist auch daran zu erinnern, daß die Fideikommisse des
nationalpolitischen Einflusses nicht entbehren. In den Provinzen
Posen, Oberschlesien, Westpreußen sind sie ein Schutzmittel gegen
das Vordringen der Polen gewesen, und ihre dortige Vermehrung
der letzten 25 Jahre wird schon allein damit gerechtfertigt. Die
deutsche Ansiedelungspolitik in den Ostmarken geht auf Schaffung
von mittleren und kleinen Gütern, die großen werden durch die
Gebundenheit sicher in deutscher Hand gehalten. Der Ankauf
großer Güter durch die polnischen Volksbanken zum Zweck der
Parzellierung ist z. B. in den Kreisen Gleiwitz, Pleß, Tarnowitz und
Militsch wirkungslos gewesen, während im Kreise Glogau, wo die
Fideikommisse nicht so wie in den vorgenannten Kreisen vor-
handen sind, die Seßhaftmachung polnischer Leute rasch fortge-
schritten ist.
470 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Der den Fideikommissen eigene Gedanke, ein Landgut in der
Familie ungeteilt zu erhalten, gerechtfertigt durch den Ansporn zu
dauernden Betriebsverbesserungen, ist in den Kreisen der Groß-
und mittleren Bauern durch ganz Deutschland, wenn auch stärker
oder schwächer, verbreitet. Ausnahmen machen die Rheinprovinz,
der Regierungsbezirk Wiesbaden, Hohenzollern und Teile des frän-
kischen Bayerns. Um ihn zu erhalten, ist das testamentarische Ver-
fügungsrecht, die Übergabe seitens des alternden Besitzers an einen
Sohn und das Intestaterbrecht, soweit es als Anerbenrecht ge-
ordnet ist, dienlich. Auch die Geschlossenheit oder Unteilbarkeit
der Güter, wie sie im Königreich Sachsen, in thüringischen Staaten
und auf dem badischen Schwarzwald besteht, kommt dieser bäuer-
lichen Rechtssitte entgegen. Die neuere Agrarpolitik seit den
achtziger Jahren geht darauf hinaus, das Anerbenrecht entsprechend
den örtlichen Anschauungen zu befestigen und weiterzubilden. Das
Einführungsgesetz des B.G.B. läßt dementsprechend der Landes-
gesetzgebung freie Hand, setzt jedoch hinzu, daß die Testierfreiheit
durch sie nicht beeinträchtigt werden kann. In Preußen ist eine
Ordnung für die einzelnen Provinzen Gesetz, für Hannover seit
1880 und 1884, das Herzogtum Lauenburg 1881, Brandenburg 1882,
Schlesien 1884, Schleswig-Holstein 1886, den Regierungsbezirk
Kassel 1887, Westfalen 1895. Außerdem sind in gleicher Weise
tätig gewesen Oldenburg, Lübeck, Bremen, Waldeck, Altenburg,
Schaumburg-Lippe und Lippe. Die Einrichtung des Anerbenrechts
mit Vorzugsbehandlung des Anerben ist eine Abkehr vom römischen
Recht der gleichen Erbesteilung. Sie bedeutet die Einsicht, daß
die Landwirtschaft die Aufgabe der Volksversorgung hat, die man
dem Händlertum nicht überlassen kann, und daß die Gesellschaft
den Stand unabhängiger Bauern nicht preisgeben darf. Die Er-
haltung der hergebrachten Gutsgrößen wird daher angestrebt. Das
Anerbenrecht begünstigt den übernehmenden Erben, ohne dessen
Geschwister zu stark zu schädigen. Untersuchungen über West-
falen haben ergeben, daß dort von einer Herabdrückung der Ab-
gefundenen in das Proletariat nicht gesprochen werden kann. Ver-
breitet ist in ganz Deutschland die Sitte, daß die Töchter, soweit
sie sich auf dem Lande nicht verheiraten, gern in die Stadt ab-
wandern, wo sie die besten Dienstboten werden. Schon wegen ihrer
Ausbildung in dieser Stellung zur Führung des Haushalts haben sie
die besten Aussichten zur Verheiratung, wie das zahlenmäßig nach-
gewiesen ist, und dies um so mehr, falls sie ein Kapital oder eine
Rente von ihrem bäuerlichen Bruder zu beziehen haben. Von den
abgefundenen Söhnen waren in dem Deutschland des wirtschaft-
lichen Aufschwunges nach 1895 nach der westfälischen Enquete
IV. Die Landwirtschaft.
471
nur 1/4 in die Lohnarbeit bzw. das Gesinde eingetreten, gegen 3/^
waren in selbständiger Unternehmerstellung, die liberalen Berufe
und das Beamtentum eingerechnet.
Das Anerbenrecht in seinen einzelnen Bestimmungen, wie der
Gutsübernahmepreis, die Abfindungsquote, die Abschätzung des
Inventars, ist vielseitig. Es im übrigen obligatorisch, d. h. nicht
bedingt durch eine freiwillige Eintragung in eine Höferolle, zu
lassen, ist die Tendenz der neuesten Gesetzgebung, wie sie die-
jenige von 1896 für Westfalen und für die ostdeutschen Ansiede-
lungs- und Rentengüter erkennen läßt. Das Anerbenrecht ist kein
Mittel gegen übermäßige Verschuldung und zwangsweisen Verkauf.
Um hier zu helfen, hat die preußische Regierung einen Entwurf
der Stammgutordnung vorgelegt. Es können mit staatlicher Ge-
nehmigung Stammgüter gestiftet werden, von deren Ertrags-
wert 1/3 nicht verschuldet werden darf. Sie sind nur bis zu einer
bestimmten Ertragshöhe gestattet, müssen eine selbständige Fa-
mihennahrungsstelle ausmachen. Sie können mit Zustimmung der
Stammeserben abgesondert und aufgehoben werden. Mit der Erb-
folge hat diese Einrichtung nichts zu tun.
Man hat nachgewiesen, daß sich eine strengere kapitalistische
Rechnungsweise in den letzten Jahrzehnten bei der deutschen
Landwirtschaft durchgesetzt hat, mehr in der großen als der kleinen
Unternehmung. Geldwirtschaft, Steuerzahlung, Marktkonjunktur,
Verschuldung drängen in diese Richtung. Nach Marx wird die
Vollendung des Kapitalismus in der Landwirtschaft durch das
Pachtsystem gegeben, wobei er engHsche Erfahrungen verall-
gemeinert. Denn der Pächter sei ein Unternehmer, der durch Fa-
milientradition und andere seelische Beziehungen weniger als der
Eigentümer mit dem Boden verwachsen sei und daher die Natur-
kraft nur als Einnahmequelle werte. In Deutschland sitzen jedoch
die Landwirte, wie das die Aufnahme von 1907 wiederum bestätigt
hat, ganz überwiegend auf eigenem Boden. Die Großbauern
stehen an der Spitze, 75 0/0 ihrer Betriebe sind in ihrem ausscMieß-
lichen, 93 0/0 im vornehmlichen Besitze. Auch von den Großen
haben 74 0/0 die letztere Lage inne. Nur im Klein- und Parzellen-
betrieb ist die Verpachtung häufiger. In der Gesamtmasse des
Landes tritt sie sehr zurück. Denn es entfallen 86 0/0 desselben auf
eigenes, 13 0/0 auf Pacht-, i 0/0 auf sonstiges Land (Deputat-, Dienst-
halbpachtland, Besitz von Geistlichen, Förstern und anderen
Beamten) .
Die gesamten volkswirtschaftlichen Verhältnisse des Reiches
haben also auf die Verteilung des Agrarbodens nicht ungünstig
eingewirkt. Örtliche Ausnahmen werden zugegeben. So ist in
An 2 VI. Abschnitt. Die Zeit von i8go — 191 4.
Bayern über die Güterzertrümmerung geklagt worden, weshalb sich
eine neuere Gesetzgebung veranlaßt gesehen hat, in doppelter
Form einzugreifen, erstens den Verkäufer gegen die Überredungs-
machenschaften der Güterschlächter durch den Rücktritt vom Ver-
kauf zu schützen, zweitens Gemeinden und Genossenschaften ein
Vorkaufsrecht zuzugestehen.
Der Handel mit Gütern, die ungeteilt durch Kauf, Tausch,
Zwangsversteigerung den Besitz wechseln, ist nach preußischer
Statistik nicht in dem Umfange wie mit Güterstücken vorhanden.
Die Stückverkäufe sind namentlich in der Nähe der Städte und in
industriellen Gegenden häufig, aber auch durch Änderung der
Wirtschaftsweise, zweckmäßige Arrondierungen u. dgl. bedingt.
Immerhin ist der Besitzübergang ganzer Güter durch Kauf ein
recht ansehnlicher, da er von 1908 — 191 2 den Prozentsatz solcher
durch Erbgang überlassener, der 14,5 0/0 ausmachte, um 4,4 0/0
überschritt. In Mecklenburg, von dem behauptet wird, daß bald
die Hälfte des ritterschaftlichen Grundbesitzes in die Hand reicher
Hamburger gelangt sei, in Ost-Westpreußen und Posen wird der
Reichsdurchschnitt erheblich übertroffen.
Daß die agraren Schutzzölle dem Besitzwechsel entgegenge-
arbeitet haben, wird man dort zugeben, wo sie den Reinertrag er-
höht haben. Allein gerade über diese Bewegung ist schwer ein Ur-
teil zu fällen. Im allgemeinen wird der Großbetrieb des Körner-
baues von dem Zoll größeren Vorteil haben als der Kleinbetrieb,
weil er auf den Hektar größere Mengen erzielt — also für die
Volksernährung mit Getreide besonders wichtig ist, wie das der
Krieg nach 191 4 gezeigt hat — und eine erhöhte Quote zum Ver-
kauf über den eigenen Bedarf zur Verfügung hat. Allein das heißt
nur, daß er die Roherträge steigert, über die Höhe der Rentabilität
ist nichts ausgesagt, da es auf das Verhältnis der Kosten ankommt.
Wenn ein Großgrundbesitzer durch einen Zoll 10 000 Mark mehr
einnimmt als bisher, ein Bauer nur 1000, so kann dem letzteren
bei seinen relativ geringen Geldausgaben mehr genützt sein als
dem ersteren. Denn der Bauer wirtschaftet vor allem arbeits-
intensiv und mit Familienangehörigen in der Hauptsache, während
der Gutsbesitzer von der Kapitalintensität und der fremden Ar-
beitskraft, also Geldaufwendung, abhängig ist. Dazu kommt der
verschiedene Nutzen des Geldverbrauchs bei dem Vergleich der
qualitativ differenzierten üblichen Lebenshaltung. Der Bauer hat
z. B. bei der Erziehung und Unterstützung seiner Kinder verhält-
nismäßig geringere Ausgaben als der große Nachbar, dessen Söhne
im Staats- oder Militärdienst stehen. Jener braucht in der Stadt
weniger einzukaufen, da er an seiner alten Lebensweise mehr fest-
IV. Die Landwirtschaft.
473
halten kann als dieser, der bei seinen kulturellen Wechselbezie-
hungen zu der luxuriösen, industriellen oder kommerziellen Stadt
der steten Konkurrenz in der Steigerung der Bedürfnisse aus-
gesetzt ist.
Die Handelspolitik erstreckt sich nun auch auf Vieh, Handels-
gewächse, Milchprodukte, Geflügel, Obst und Gemüse. Hier ist
der Kleinbetrieb der vorwiegende Produzent, meist im Roh-, wohl
immer auch im Reinertrag dem größeren überlegen. Der Vieh-
bestand ist bei Betrieben von 2—100 ha für Pferde, Kühe,
Schweine, der Bestand von Ziegen und Federvieh in den Zwerg-
wirtschaften am größten, während die rückgängige Schafzucht nur
für recht große Güter paßt. Doch hat der Großbetrieb auch beim
Vieh seine besondere Aufgabe zu erfüllen, da er vermöge der bes-
seren Fütterung die besten Qualitäten Ochsenfleisches erzielt. Eine
Arbeitsteilung besteht auch insofern unter den Betriebsgrößen, als
der Bauer die Zuchtstuten vorwiegend hält, der Großbesitzer ihm
die Fohlen abnimmt und sie auf seinen Koppeln aufzieht. Um-
gekehrt werden die Ferkel bei der zweckmäßigen Eber- und Sau-
haltung auf großen Gütern produziert, während die Mästung und
der Marktverkauf vom kleinen Landwirt gern besorgt wird.
Für 1890 — 1900 wurde die Notlage der großen Landwirtschaft
auch von Gegnern der Getreidezölle zugegeben. Nach J. Conrad
ist sie, wenn auch eine Zunahme der Zwangsversteigerungen nicht
nachweisbar sei, da freiwillige Verkäufe ihnen vorbeugen konnten,
auch die Güterpreise nicht sinken, da viele Käufer durch die Renta-
bilität nicht allein bestimmt würden, sowohl aus dem Rückgang der
Pachtpreise als auch aus der Zunahme der unproduktiven Verschul-
dung zu folgern. Der von den Besitzern häufig ausgesprochene
Satz, daß die Produktionskosten nicht mehr gedeckt worden seien,
würde damit, wenn auch nicht allgemein, so doch teilweise be-
wiesen igewesen sein.
Die Arbeiterfrage auf dem Lande verlangt zunächst,
wie die in der Stadt, eine Antwort darauf, wie die ökonomische
Lage einer Klasse zu heben ist, ohne daß die Produktivkraft in der
Volkswirtschaft leidet. Die Forderung geht auf Lohnerhöhung,
Abkürzung der Arbeitszeit, bessere Bildung, geräumigere Woh-
nung, auf eigenen Landbesitz. Die industriellen Arbeiter greifen
zur Koalition, zum Streik, zur politischen Bewegung, um ihren
Zielen näherzukommen, die Landarbeiter leben zerstreut und sind
keine Schicht von gleichen Einheiten. Es bestehen noch mancher-
lei patriarchalische Beziehungen zu den Gutsbesitzern, Interessen-
verbindungen mit dem Landbesitz, Nebenbeschäftigungen, so daß
474 ^^' Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
das sozialdemokratische Gleichheitsideal ihnen nicht zusagt. Erst
unter der beispiellosen Aufhetzung nach der Revolution von 191 8
wurden Ausstände im agrarischen Osten bei den Landarbeitern in
Szene gesetzt. Die Unzufriedenen reagierten bis dahin bei der ge-
statteten Freizügigkeit gegen ihre Lage durch Fortzug vom Lande.
Bis 1895 war das Wanderziel vieler noch das Ausland, dann fast
nur die Stadt und der Industriebezirk.
Die Landwirte waren M-ehrlos gegen diese Bewegung, sie
konnten wesentlich erhöhte Löhne nicht zahlen, die Arbeit nicht
erleichtern, nicht durchweg an feste Stunden binden, Vergnügungen
der städtischen Ungebundenheit nicht auf das Land verpflanzen.
Sie vermochten die optimistischen Nachrichten über die Annehm-
lichkeiten der Stadt, das billige Reisen zu ihr, die Presse mit ihrer
städtischen Arbeitsnachfrage, den Militärdienst in den Garnisonen
nicht abzuändern. Die Freizügigkeit zu beschränken, würde nur
dahin geführt haben, die Abneigung gegen den bestehenden Zu-
stand ^u verschärfen.
Von 1885 — 1890 sind 840000 Menschen aus dem deutschen
Agrikulturgebiet abgewandert. 500000 davon haben das Industrie-
gebiet, vor allem Berlin, Brandenburg, die Hansestädte, das König-
reich Sachsen, die Rheinprovinz, Westfalen aufgenommen, der Rest
entfiel auf die Auswanderung. Von der Gesamtsumme kamen rund
600000 auf den Osten, 80000 auf die Mitte, 160000 auf den Süden
des Vaterlandes. Die statistische Aufnahme nach dem Geburtsorte
von 1907 ergab für Ostdeutschland einen Wanderungsverlust von
865107 Personen, für Mitteldeutschland von 177438, von Süd-
deutschland 38 191. Das Rheinland gewann 356000, Westfalen
288000, die Stadt Hamburg allein 316000, ganz Westdeutschland
über eine Million. Unter den Wanderern befinden sich vor allem
Leute in den besten Arbeitsjahren, Männer wie Frauen, die die Ar-
beitskraft der sie aufnehmenden Gebiete gewaltig steigern.
Der Zug nach dem Westen hat noch dadurch eine besondere
Färbung bekommen, daß in dem rheinisch-westfälischen Industrie-
gebiet starke polnische Kolonien entstanden sind. Es waren Polen
vorhanden in den Kreisen:
1890 1905
Recklinghausen Stadt . . . 716 9250
Recklinghausen Land . . . 4541 28672
Dortmund Land 1699 18423
Bochum Land 4^59 17 575
In demselben Zeitraum stieg die Zahl der Polen im Regie-
rungsbezirk Düsseldorf von 4672 auf 45623, Arnsberg von 20131*
IV. Die Landwirtschaft.
475
auf 97703, im Münsterlande von 5490 auf 40723. Auch Berlin
und seine Vororte erwiesen sich von großer Anziehungskraft für
die Polen, wo man eine Verdoppelung bis auf 24000 zählte, wäh-
rend Potsdam es von 9000 auf 30000 brachte. In der herabge-
setzten Vermehrung der polnischen Bevölkerung im Osten Deutsch-
lands machte sich diese Abwanderung für das Deutschtum an-
genehm fühlbar, von einer Germanisierung im Westen ließ sich
hingegen nicht viel merken, da die Polen ihre nationale Eigenart
in Sprache, Sitte und Glauben aufs zäheste behaupten konnten,
was sowohl aus ihrem niedrigen, sich abschließenden Kulturzustand
erklärt wurde, als auch dadurch, daß die deutschen Sozialdemo-
kraten keine Neigung zeigten, sich auf diesem vaterländischen
Wirkungsgebiete zu betätigen, und schließlich auch aus der bunt
nationalen Zusammenwürfelung der Industriebevölkerung dieser
Orte, in denen das Deutschtum oft gar nicht überwog. Die Kultur-
losigkeit solcher Gegenden, wie Hamborn, wo Thyssens Reich ist,
war 191 9 eine günstige Voraussetzung für spartakistische Umtriebe
und Umstürze.
Die Arbeitsverfassung auf dem Lande zeichnet sich dadurch
aus, daß sie vielartig und in einer fortdauernden Umwandlung be-
griffen ist. Die Kontrakte werden sowohl für das Jahr als auch
für Monate, Wochen, Tage, Stunden abgeschlossen, die tägliche
Arbeitszeit ist gemessen oder ungemessen, der Lohn besteht aus
Geld, Naturalien, Nutzungen von Wohnung, Land, Arbeitstieren,
Stallungen und in Pachtvergünstigungen. Der Arbeiter ist zu
Nebendiensten verpflichtet, die sich auch auf die Familie erstrecken
können oder nicht. Als Haupttypen lassen sich unterscheiden:
I . Die Verwalter oder Inspektoren, denen die Rechnungs-
führung und die Oberaufsicht eines großen Betriebes obliegt. Sie
erhalten neben Wohnung und Geld meist auch Naturalien. Sie
haben halb- oder vierteljährliche Kündigung. Die meisten (1907
74 0/0) sind unverheiratet. Wer von ihnen es vermag, macht sich in
reiferen Jahren selbständig, pachtet oder kauft sich an. Zugleich
mit dem Rückgang des Großbetriebes ist ihre Zahl im Abnehmen.
Die Wirtschafterinnen, Mamsells oder wie sie sonst heißen, haben
sich von 1895 — 1907 um 2000 vermindert, was aus der Vermehrung
der Molkereigenossenschaften erklärt wird, mit denen sie über-
flüssig werden. An die höheren schließen sich die meist verhei-
rateten unteren Aufsichtsbeamten an, Hofmeister, Baumeister,
Vögte genannt, die großenteils aus dem Gesinde hervorgegangen
sind, nach dessen Kontrakt leben, jedoch bessere Löhne und Woh-
nung erhalten. Sie kommen auch auf mittleren Gütern vor, deren
Besitzer ein selbstwirtschaftender Bauer nicht ist. Auf ganz großen
A^Ö VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Gütern gibt es besonderes Rechnungs- und Büropersonal, Ziegel-
meister, Brauereibeamte, auch Förster, alles Leute, die sich unter
der zunehmenden Arbeitsteilung von dem oberen Aufsichtspersonal
losgelöst haben. 2. Das Gesinde, die Knechte und Mägde, ge-
wöhnlich auf I Jahr gedungen, haben, wie die Dienstboten, zu
jeder Zeit dem Arbeitgeber zur Verfügung zu stehen, falls es die
Natur der übernommenen Obliegenheit fordert. Sie haben es vor
allem mit der an bestimmte Stunden nicht gebundenen Pflege der
Tiere zu tun, haben auch sonst mit zuzugreifen, bei Aussaat und
Ernte und bei der Bedienung der Maschinen, werden auch im in-
neren Haushalt verwendet. Sie erhalten Geldlohn, Wohnung und
Beköstigung. In bäuerlichen Wirtschaften nehmen sie am Fa-
milientisch teil, auf dem Gutshof essen die Unverheirateten in der
Gesindestube. Die Verheirateten, wie Hirten, Schäfer, der Quote
nach gering, führen eigenen Haushalt und bekommen Naturalien,
auch wohl Garten- und Ackerland zur Nutzung. Das Gesinde ist
im bäuerlichen Betrieb am häufigsten, da hier die Viehhaltung
relativ groß ist, und wird auch leidlich festgehalten, da die Bezie-
hungen zu der Bauernfamilie eng sind. Im ganzen hat sich ge-
zeigt, daß es in der Abnahme begriffen ist. In den 12 Jahren
nach 1895 verminderte sich die Zahl der Knechte um 360558, der
Mägde um 25610. Erster Grund ist Abneigung gegen die persön-
liche Abhängigkeit, wie beim Dienstboten. Die steigenden Lohnan-
sprüche und die nicht volle Beschäftigung im Winter macht dem
Großbetriebe das Gesinde recht teuer. Daher — dies der zweite
Grund — die Versuche, es durch andere Arbeitskraft zu ersetzen,
die mehr im Westen als im Osten Deutschlands Erfolg gehabt
haben. 3. Die kontraktlich auf Monate, meist i Jahr gebundenen
Gutstagelöhner, die Instleute des Ostens, auch Halb- oder
Feldgesinde genannt, da sie zwischen dem Hofgesinde und den
freien Tagelöhnern in der Mitte stehen, sind oben in der Periode
von 1833 — 1848 geschildert worden. Im ganzen ist diese Kategorie
rückgängig, da die alte Anteilswirtschaft in die kapitalistische
Geldrechnung nicht mehr paßt. Natural- und Geldlohn sind im
Vordringen. Die Statistik hat ihre Zahl nicht erfaßt. 1907 ergab
sich, daß die Summe der auf Deputatland angewiesenen Arbeiter,
in der sie enthalten sind, 201 462 Personen umfaßte, während
50 Jahre vorher das Instenverhältnis im Osten die entscheidende
Arbeitsform gewesen war. Etwas besser hat sich die Heuer-
lingsverfassung in Westfalen, die auch in Hannover und
Oldenburg, in etwas abweichender Art auch im Elsaß, vorkommt,
gehalten, nach der die Arbeiter auf dem Hof des Großbauern
wohnen und von ihm ein Stück Land billig pachten, wofür sie als
IV. Die Landwirtschaft.
477
Entgelt zu einem niedrigeren als dem ortsüblichen Lohn dauernde,
festgesetzte Arbeit leisten. Der Bauer unterstützt den Heuerling
in dessen Sonderbetrieb mit seinem Gespann, das diesem fehlt.
Diese Zeitpacht geht auch auf den Sohn über, ist historisch ge-
worden, beruht von altersher auf einem Vertrauensverhältnis und
ist daher nicht leicht nachzuahmen.
4. Die freien Arbeiter werden für jeden geleisteten Ar-
beitstag wie in der Industrie vornehmlich in Geld bezahlt. Die
Sitte bringt es vielfach mit sich, daß auch dieses Verhältnis ein
dauerndes ist. In der Nähe der Stadt befinden sich auch städti-
sche Leute darunter, die gelegentlich aushelfen. Die sozialökono-
mische Lage dieser Arbeiter ist verschieden, je nachdem sie Land
oder Wohnung zu eigen besitzen, eine Parzelle gepachtet haben
oder ganz proletarisch leben. Die Summe der Tagelöhner mit
einem irgendwie eigenen Besitze oder Betriebe hat sich von 1895
bis 1907 um 115 305 vermindert. Im Westen und in den Marsch-
gebieten der Nordsee wurden diese Leute noch häufiger als öst-
lich der Elbe angetroffen.
Die rein proletarischen Arbeiter sind durch die Wander-
arbeiter ergänzt worden. In den achtziger Jahren wurden sie
Sachsengänger genannt, das waren solche aus dem deutschen Osten,
besonders aus den polnischen Landesteilen, die den Westen, zu-
erst die Provinz Sachsen, aufsuchten, wo die Löhne höher als
daheim standen. Da sie bald nicht mehr ausreichten, traten Aus-
länder hinzu. Am häufigsten treffen wir sie in der Provinz Sachsen,
in Braunschweig und Anhalt, in den beiden Mecklenburg, Branden-
burg und Pommern an. Die Nationalfremden stammen meist aus
Russisch- und Österreichisch-Polen, weiter sind sie Ruthenen,
Kroaten, geringere Zahlen kommen aus Belgien, den Niederlan-
den, Dänemark, der Schweiz, wenige auch aus Italien, Luxemburg
und Frankreich. 1907 wurden 257329 Ausländer in der Landwirt-
schaft nachgewiesen, für 191 2/1 3 durch die Deutsche Feldarbeiter-
zentrale, die die Arbeit vermittelt und die Vermittelten legitimiert,
41 1706. Dazu kamen noch rund 100 000, die direkt oder durch
Privatagenten angeworben worden waren, so daß das Ergebnis
war, daß 1/2 Million ausländischer 3 Millionen einheimischer Land-
arbeiter gegenüberstand. Daß sich ein Lohndruck durch diese
ausländische Konkurrenz für die Einheimischen ergeben hat, ist
bei der gleichmäßigen und dauernden Nachfrage in den Sommer-
und Herbstmonaten, während derer diese Wanderarbeiter beschäf-
tigt werden, nicht anzunehmen, wenn auch das weitere Steigen
der Löhne durch sie hier und da aufgehalten sein mag. Anders
soll es in der Industrie gewesen sein, die auch 1/2 Million Aus-
AyS VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
länder im Dienst hatte und bei der die Arbeiter zeitweise mit
sinkender Konjunktur zu rechnen haben, in welcher das Angebot
der Ausländer mit ihrem niedrigen Bedürfnisstand zur ünterbie-
tung führen kann.
Die ausländischen Feldarbeiter kommen im Frühjahr und
müssen im Spätherbst Deutschland verlassen, da man das Deutsch-
tum vor dauernder Polen- und Russenansiedelung schützen will.
Unter B i s m a r c k wurde die Kontrolle streng geübt, später wurde
man laxer, je nachdem die Polenpolitik im Lande überhaupt ge-
handhabt wurde. Hauptsächlich werden die Leute bei der Hack-
frucht gebraucht, ein Teil auch bei der Heu- und Getreideernte..
Sie erhalten Geld, Naturalien und Wohnung auf dem Gute. Es
sind viel Frauen unter ihnen. Die Reisekosten werden ihnen vor-
geschossen. Sie stehen meist unter Aufsicht eines ihrer Sprache
mächtigen Anwerbers. Akkordarbeit ist nicht selten, die in den
letzten Jahren vor dem Kriege gut bezahlt wurde, namentlich dann,
wenn die Industrie ihre Ansprüche auf diese Arbeitskraft geltend
machte.
Es sind mancherlei Versuche und Vorschläge gemacht wor-
den, dem trotz dieser Zuwanderung bestehenden Arbeitermangel
auf dem Lande zu begegnen. Wertvoll, wenn auch nur innerhalb
bestimmter Grenzen, ist der Arbeitsnachweis gewesen, der von
Provinzen, Großstädten und der erwähnten Zentrale eingerichtet
worden ist. Uta die Jugendlichen auf dem Lande festzuhalten,
hat man das Alter des Eintrittes in die Fabrik heraufzusetzen emp-
fohlen. Im Anschluß daran denkt man an das Aufziehen unehe-
licher städtischer Kinder auf dem Lande, soweit sie der Armen-
pflege anheimfallen. Die Verlegung von Industrien auf das Land,
um Winterarbeit zu ermöglichen, die Vermehrung von Maschinen,
die ja schon reichlich dem Bedarf entsprechen, sind zu entfernt
liegende oder wirkende Mittel, um etwas Praktisches für die Gegen-
wart zu leisten.
Der durchgreifendste Gedanke, der die vorgenannten Wege
nicht ausschließt, lehnt sich an die Ursache der Abwanderung
an. Es soll die Lage der Landarbeiter so gestaltet werden, daß sie
den Willen zum Fortzug verlieren. Zu dem Zwecke wird vielerlei
miteinander vereint und nach Gegenden individualisiert werden
müssen. Zu den kleinen Mitteln rechnet man: den Schulunterricht
nach städtischem Muster, Einrichtungen von Spielen für Schul-
kinder, Belehrung und Unterhaltung, zweckmäßige Vergnügungen
für alle Landbewohner in der Freizeit, besonders im Winter,
Einführung von Fortbildungsschulen, Leseräumen u. a. m. Die
Kosten sollen von den Großlandwirten mit Unterstützung des
IV. Die Landwirtschaft.
479
Staates und der Gemeinden aufgebracht werden. Auf einem an-
deren Gebiete liegen gesetzliche Eingriffe in die Arbeitszeit und
andere Arbeitsbedingungen. Als wichtig erkannte man die Ver-
besserung des Wohnungswesens, insbesondere für die Einlieger
oder Einmieter. So ist in Mecklenburg mit dem Bau von Miet-
wohnungen in den Domanialdorfgemeinden begonnen unter Auf-
wendung öffentlicher Gelder, und die übrigen Gemeinden wurden
gehalten, dem nachzueifern. Eine solche Maßregel würde, wenn
ein Stück Gartenland und ein Stall mit vermietet wäre, der inneren
Kolonisation zugerechnet werden müssen.
Die innere Kolonisation, die vor allem das Land öst-
lich der Elbe angeht — im Westen kommen eigentlich nur die
Moorgründe in Frage — , ist eine an sich weitgehende, den Staat
und die Gesellschaft angehende Reform, die die Fürsorge, länd-
liche Arbeiter zu gewinnen, in sich einschließt. Sie muß in groß-
zügiger Weise als eine der wichtigsten volkswirtschaftlichen und
sozialpolitischen Aufgaben der Zeit aufgefaßt werden. Sie war im
17. Jahrhundert durch den Großen Kurfürsten, im 18. von den
preußischen Königen mit Eifer unter Ansetzung von Bauern-,
Häusler- und Arbeiterstellen betrieben worden, schlief aber mit
dem Liberalismus, der alles Heil von seiner Rechtsordnung er-
wartete, ein. Doch blieben die ehemaligen Erfolge unvergessen,
so daß man an Bewährtes theoretisch anknüpfen konnte.
Eine gesunde Schichtung der Ansiedler wird angestrebt.
Bauerngüter verschiedener Größe, Kleinstellen und Bauplätze,
Eigentum, Rentengut und Pacht, Heranziehen von Dorfhandwer-
kern mit etwas Landbesitz, Schulen, Gemeindehäuser, Kirchen,
Gemeindewald und Weiden, alles zusammen wird einem gemein-
samen Plan unterstellt. In einem solchen Dorf oder zugleich in
vielen Dörfern muß die Möglichkeit gegeben sein für ein Auf-
steigen nach oben, vom Häusler zum Kleinbauern, von diesem
zum Großbauern, vom proletarischen Arbeiter zum Besitzer, vom
Vollbauern zum Gutsbesitzer. Die beiden wichtigsten Vorbedin-
gungen sind der Erwerb des nötigen, technisch nicht schwer zu
bestellenden Bodens und das Heranziehen von geeigneten Per-
sonen. Die erstere ist wesentlich mit großen, nicht in befestigtem
Familienbesitz befindlichen Gütern und ungenügend produktiv be-
wirtschafteten Latifundien, und, wenn dies nicht ausreicht, aus
Domänen zu erfüllen. Sie hat eine Grenze zu finden in der Erhal-
tung der Großbetriebe, soweit sie volkswirtschaftlich und sozial
geboten ist. Die geeigneten Personen werden zunächst auf dem
Lande gefunden werden, womit ihrer Abwanderung vorgebeugt wird,
480 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
gedienten Unteroffizieren könnte statt der Zivilversorgung im Amt
der Landerwerb erleichtert werden. Die Rückwanderung aus der
Stadt muß immer wieder ins Auge gefaßt werden, selbst wenn
man sich zunächst nur wenig von ihr verspricht. Die Auswahl der
geeigneten Person ist schwierig. Sie erfordert viel Menschen-
kenntnis und Takt.
In Preußen hat man seit 30 Jahren von neuem begonnen. Die
Erfolge sind nicht glänzend, aber doch in einigen Landesteilen zu-
friedenstellend. Im Jahre 1886 wurde für die Provinzen Posen
und Westpreußen das Ansiedelungsgesetz erlassen. Sein Ausgangs-
punkt war ein nationalpolitischer. Der Staatsregierung wird ein
Betrag von 100 Millionen Mark zur Verfügung gestellt, um durch
die Ansässigmachung deutscher Bauern und Arbeiter dem vor-
drängenden Polentum einen Damm entgegenzusetzen. Durch die
Gesetze von 1898, 1902 und 1908 wurde die Summe bis auf
550 Millionen Mark erhöht. Nach dem letzten sollen ferner 50 Mil-
lionen Mark zur Schaffung von Rentengütern verwandt werden und
75 Millionen Mark zur Umgestaltung bäuerlicher Güter in An-
siedelungsrentengüter und zur Seßhaftmachung von Landarbeitern.
Bei jeder auf Erhaltung, Ausdehnung und Vertiefung des
nationalen Wesens, lals einer kulturellen Einheit, gerichteten Politik
ist die Stetigkeit das wichtigste Prinzip. Denn, wenn irgendwo,
ist hier die Hoffnung allein auf die Summierung von kleinen Er-
folgen zu setzen, wenn etwas Großes erreicht werden soll. Wäre
die deutsche Ostmarkenpolitik, mit der Friedrich der Große ent-
schlossen begonnen hatte, nicht zuerst von 181 5 — 30, dann wieder
nach 1840, weiter unter Caprivi durchbrochen worden, nachdem
sie B i s m a r c k so kräftig aufgenommen hatte, die Polenbedro-
hung, in der sich Sprache, Rasse, Konfession, nationales Emp-
finden zu einer festen Einheit verschmelzen, würde in Deutschland
einen Teil ihrer Gefahr verloren haben. Wir haben es hier nur
mit der Germanisierung der von Polen bewohnten Reichsteile zu
tun, soweit sie in die Wirtschaftsgeschichte hineinragt. Das ist in
doppelter Weise der Fall. Erstens lähmt der Gegensatz von Deut-
schen und Polen die die Landwirtschaft fördernden Einrichtungen.
Eine innere Kolonisation würde erleichtert worden sein, wenn nicht
Deutsche und Polen in steter Konkurrenz um die aufzukaufenden
und zu zerlegenden Güter befangen gewesen wären. Die Land-
banken, die landwirtschaftlichen Genossenschaften, die Vereine wür-
den leistungsfähiger gewesen sein, wenn der nationale Riß nicht
durch sie hindurch ginge. Die kommunalen Bestrebungen und das
Parteiwesen, das sich in den Dienst der agraren Interessen ge-
stellt hat, würden kräftiger dastehei>. Zweitens ist die nationale
IV. Die Landwirtschaft.
481
Sorge um das Deutschtum eine Veranlassung geworden, die länd-
liche Ansiedelung in bestimmten Gegenden besonders in Angriff zu
nehmen.
Die Ansiedelungskommission, der das Werk übertragen
wurde, sah sich bald mancher Schwierigkeit von polnischer Seite
gegenüber. Die ausgekauften Polen kamen in den Besitz großer
Kapitalien, die sie zum Neuerwerb von Land benutzten. Gleich-
zeitig entstanden polnische Landbanken, die ihrerseits sich be-
mühten, deutsche Grundstücke zur Ansiedelung der Polen zu er-
werben. Es ist ihnen das in solchem Maße gelungen, daß seit
1886 die Polen 81 000 ha mehr aus deutscher Hand als umgekehrt
erworben haben. Durch die starke Nachfrage nach Land wurde
dessen Preis emporgeschnellt und damit die Ansiedelung verteuert.
Dennoch sind die agrarpolitischen Erfolge der Ansiedelungskom-
mission dadurch gekennzeichnet, daß bis Ende 1907 13 617 An-
siedler als Rentengutsinhaber, Eigentümer und Gutspächter ange-
setzt worden sind. Die wichtigsten Rechtsformen waren, national-
politisch gedacht, die erste und die dritte, da die Kommission das
Wiederverkaufsrecht bei dem Tode oder bei Subhastation des
Landwirtes bzw. die Neu Verpachtung nicht aus der Hand gibt, also
dem Erwerb durch einen Polen vorbeugt. Es waren 616 Güter
von Großbesitzern mit 314484 ha und 422 Bauerngüter mit 20 899 ha
gekauft worden, zum erheblichen Teile auch aus deutscher Hand,
um den Übergang an Polen zu verhindern. Es kam gleichzeitig
darauf an, die Ansiedler so zu stellen, daß sie der Marktkonkur-
renz der Polen beim Verkauf der Produkte gewachsen waren. Zu
dem Zwecke waren deutsche Vereine und Genossenschaften zu er-
richten, der Vieh- und der Maschinenbestand zu heben. Der Dorf-
ansiedelung wurde besonderes Gewicht beigelegt. Bis 1907 ent-
standen 242 evangelische und 1 1 katholische Dörfer und 77 bzw.
8 waren im Bau.
Der Erfolg der Parzellierung polnischer Großgüter würde ein
günstigerer gewesen sein, wenn man nicht nach Bismarcks Ent-
lassung für einige Jahre die Zügel der Ostmarkenpolitik wieder
nachgelassen hätte. Von 1890 — 95 war die Lage der Landwirt-
schaft eine äußerst bedrängte, so daß der Gutserwerb relativ leicht
war. Statt dessen leistete C a p r i v i der polnischen Landbank Bei-
stand, um die polnischen Reichstagsabgeordneten für seine Militär-
vorlage zu gewinnen und verhalf den deutschfeindlichen Besitzern
zum Durchhalten in der Agrarkrise. Unter Miquel und Bülow
wurde der entgegengesetzte Kurs zwar wieder eingeschlagen, und
einige Ergebnisse blieben nicht aus. Da man fürchtete, daß der
freihändige Erwerb polnischer Güter nicht weiter zu erwarten sei,
A.Sartorius v. Walters hausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. Bl
a82 vi. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
wurde ein Enteignungsgesetz für notwendig erachtet, das freilich,
da es sich auf 70000 ha beschränkte, nur als eine halbe Maßregel
gelten konnte. Man glaubte, daß die Möglichkeit der Enteignung
ein genügendes Motiv für Gutsverkäufer sein werde, der Kom-
mission gegenüber nicht zu zurückhaltend zu sein. Allein man
hatte sich getäuscht. Dazu kam, daß die Regierung Bethmann-
H o 1 1 w e g nur in zwei untergeordneten Fällen von der Enteignung
Gebrauch gemacht hat, da sie vor allen Konflikten zurückscheute
und auf momentane Ausgleiche, nur um Ruhe zu haben, bedacht
war. Ein Parzellierungsgesetz, das für das Enteignungsgesetz eine
notwendige Ergänzung war, wurde zwar angekündigt, ist aber
nicht vorgelegt worden. Obwohl sich in Posen und Westpreußen
von 1900 — 1905 die Polen um 188000, die Deutschen um 97000
Köpfe vermehrt hatten, ließ man es zu, daß der Ansiedelungseifer
erkaltete. 19 13 wurde von den sich meldenden Ansiedlern nur das
zehnte Gesuch berücksichtigt, während man bei richtiger Politik
allen hätte Genüge tun können.
Die innere Kolonisation ohne nationales Beiwerk ist mit den
Rentengutsgesetzen von 1890 und 91 für den ganzen preußischen
Staat aufgenommen worden. Die Übertragung von privatem Grund-
besitz gegen eine feste Geldrente wird ohne Beschränkung recht-
lich gestattet und für die Errichtung von Rentengütern mittleren
und kleinen Umfanges der staatliche Rentenbankkredit verfügbar
gemacht. Mit der Vermittlung und Überwachung der neuen Ge-
bilde werden staatliche Behörden, die Generalkommissionen, be-
auftragt. Die Kolonisation ist verkaufslustigen Grundbesitzern
überlassen, der Kaufpreis wird in börsenmäßig absetzbaren, bis
3/4 des Wertes der Stelle bemessenen Staatsschuldverschreibungen
entrichtet, die der Staat den Rentengutsbauern unter der Bedingung
zu dem Zweck zur Verfügung stellt, daß sie mit ihren Einnahmen
für Zinszahlung und Amortisation aufkommen. Die ehemalige Ab-
lösungsgesetzgebung für die Bauern ist das Vorbild gewesen. Auch
gewährt die Rentenbank den Kolonisten zur erstmaligen Einrichtung
des Hofes und zum Hausbau unter ähnlichen Bedingungen Darlehen.
Da sich nun bald herausstellte, daß es Leute genug gab, die
Land herzugeben geneigt waren, aber im Vergleich dazu nur wenige;
die den ernstlichen Willen und die Fähigkeit besaßen, zu koloni-
sieren, so gelangte die eigentliche agrar-soziale Tätigkeit in die
Hand der Generalkommissionen. Sie ordneten die Grundbuch-,
Hypotheken-, Schul- und Kirchenangelegenheiten, unterstützten den
Verkäufer bei der Verwaltung des ausgeschiedenen, jedoch noch
nicht abgetretenen Bodens mit Zwischenkrediten vor der endgül-
tigen Aushändigung der Rentenbriefe, überwachten den Bau der
IV. Die Landwirtschaft. ^^83
neuen Gehöfte, betrieben die Anlage von Straßen, Gräben u. a. m.
Bisweilen stockte das Werk, und der Kolonisator, der das Gut
aufgeteilt hatte, verlor die Nutzung und wenn er, wie so oft, ver-
schuldet war, sein Vermögen. Umgekehrt fehlte es örtlich bis-
weilen an Landangebot, während die Nachfrage vorhanden war.
Dazu kamen manche Geldanforderungen, die die Generalkommission
nicht übernehmen oder der Verkäufer nicht leisten konnte. Um
diese Mängel zu beseitigen, sind provinzielle Ansiedelungsgesell-
schaften gegründet worden, die berufsmäßig sich mit der Koloni-
sation befaßten, aber das Geschäftsinteresse zurücktreten ließen.
Der Staat, andere öffentliche Korporationen, wie die Provinzial-
und Kreisverbände, die Seehandlung, Genossenschaftskassen, Spar-
kassen, die Landwirtschaftskammern, landwirtschaftliche Vereine,
auch Private, die gemeinnützige Zwecke verfolgen, waren die Teil-
haber. Nicht alle diese Gesellschaften haben fortbestanden, doch
ist das ganze Werk, dessen Schwierigkeiten immer mehr sichtbar
wurden, unter ihrer Initiative fortgeschritten. Einigen Erwerbs-
gesellschaften, die sich ebenfalls mit der Kolonisation befaßt ha-
ben, war ein Erfolg nicht beschieden. Bis zum Schlüsse des Jahres
1908 waren im ganzen 2259 Grundstücke zur Rentengutsbildung
verwendet worden. Die Gesamtfläche des noch verfügbaren, zur
Aufteilung vorgesehenen Bodens betrug 165316 ha. Der Größe
nach waren 1837 Güter unter 21/2 ha, 2188 von 2I/2 — 5, 379 1 von
5 — 10, 4620 von 10 — 25 und 1228 über 25 ausgeteilt worden. Um
die Möglichkeit eines Mangels an Landangebot zu beseitigen, hat man
ein staatliches Vorkaufsrecht bei Landverkäufen vorgeschlagen,
neben dem jede Art der Enteignung unnötig werde. Die Renten-
gutbildung führt wieder zu Zuständen zurück, die vor der liberalen
Epoche ähnlich vorhanden waren. Allerdings ist insofern ein
Unterschied, als ehedem ein Privater der Grundherr war, jetzt der
Staat es ist, und als das Gesetz den Bauern vor Willkür schützt
und die Ablösung zuläßt. Man sieht daraus, daß man dem Radika-
lismus bei wirtschaftlich-sozialen Reformen immer eine Dosis
Skepsis entgegenzubringen hat, da das langsam geschichtlich Ge-
wordene in der Regel ein sehr vielseitiges Ding ist und nicht ein-
seitig beurteilt werden darf.
Als Gesamtresultate können wir bis 19 10 festhalten: In den
östlichen Provinzen sind im ganzen 32 175 neue Stellen angesetzt
worden auf 438150 ha, womit, wie Sering bemerkt, viermal so
viel Land von dem mittleren und kleineren Besitz gewonnen wor-
den ist, als von 1816—59 von ihm durch freien Verkauf an den
Großen verloren war. Eine Fortsetzung des Werkes ist durchaus
geboten.
31*
484 ^^" Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Von den übrigen deutschen Staaten hat Mecklenburg-
Schwerin schon seit 1846 auf dem Domanialboden Ansiede-
lungen, namentlich von Kleinbauern, Büdnereien von 5 — 7 ha,
außerdem auch (s, oben) Arbeiterheimstätten begründet. Neuer-
dings sind auch von Gemeinden und Gesellschaften teils auf ritter-
schaftlichem, teils auf großbäuerlichem Grundbesitz unter Vermitt-
lung des öffentlichen Kredits der Landbank Stellen von ähnlicher
Größe geschaffen worden. Sie sind Einzelhöfe, die an neuen
Straßen in nicht zu weiter Entfernung voneinander angelegt sind,
so daß sie die Nachteile der Vereinsamung ausschließen. Wohn-
haus, Stall und Scheune liegen unter einem Dach. Göpel, Dresch-
und Schneidemaschine findet man bei diesen Ansiedlern durchweg,
die meist über zwei Pferde, drei Kühe und einige Schweine ver-
fügen. Die Arbeit wird von der Familie fast allein geleistet. Die
Wirtschaft ist meist intensiver als bei den alten Erbpächtern, den
dortigen Großbauern, die heute noch die alte Koppelwirtschaft
mit sieben Schlägen ausüben. Bei den Büdnern ist die Brache
meist ausgeschaltet und durch Hack- und Futterfrucht ersetzt wor-
den. Dort, wo die Absatzverhältnisse der Produkte günstig sind,
wie z. B. an den Badeorten der Ostsee, hat sich die Neugründung
dieser Bauernstellen, bei zugleich mäßiger Verzinsung und Amorti-
sierung des geliehenen Kapitals bewährt. Doch ist in Mecklen-
burg der raschen Ausdehnung der Rentengüter das Interesse des
ritterschaftlichen Großgrundbesitzes abträglich gewesen. Auch hat
die Preissteigerung des Landes in dem letzten Jahrzehnt, hervor-
gerufen durch die Nachfrage reicher Kapitalisten, wiederholt, auch
bei bestem Willen, Hindernisse bereitet.
In Bayern sind durch die Gesetzgebung von 1908 Staats-
gelder für die Gemeinden flüssig gemacht worden, die Boden er-
werben und Bauten ausführen wollen, um Arbeiter ansässig zu
machen. Es werden Parzellen bis zu 2 ha Größe aufgeteilt, auf
denen ein Wohn- und Wirtschaftsgebäude errichtet wird. Der
öffentliche Kredit, der in Scheinen der Landeskulturrentenbank
gewährt wird, wird auch gemeinnützigen Vereinen und Privaten,
wenn auch etwas beschränkter als den Gemeinden, zugänglich ge-
macht, falls sie Ansiedelungen vornehmen wollen. Die Ergebnisse
sind noch gering, da das Werk erst einige Jahre betrieben wird.
Für die Lösung der Landarbeiterfrage ist die Ansetzung von
Arbeiterheimstätten in den deutschen Staaten bisher in keiner
Weise ausreichend gewesen. Erst seit 1907 wurden die General-
kommissionen in Preußen angewiesen, auch kleinste Rentengüter
für landwirtschaftliche und gewerbliche Arbeiter zu errichten. Auch
die Forstverwaltung hat mit der Seßhaf tmachung von Waldarbeitern
IV. Die Landwirtschaft. 485
einige Versuche gemacht. Endlich sind, ebenfalls mit Unterstützung
des Staates, Genossenschaften und Gesellschaften in Preußen und
anderen Bundesstaaten gebildet worden, die in den Landgemeinden
Arbeiterwohnungen auf Landparzellen zu bauen bezwecken.
Alle diese Bestrebungen bieten, auch wenn man von der Ge-
ringfügigkeit des Geleisteten absieht, noch keine Garantie dafür,
daß die Arbeiter sich dem Großbetrieb zur Verfügung geben.
Leben die angesetzten Arbeiter in der Nähe der Stadt, so besteht
die Gefahr, daß sie dorthin tägHch zur Arbeit gehen und abends
zurückkehren. Ist die Entfernung groß, so kann die Familie auf
dem Lande bleiben und den eigenen Boden bestellen, während die
jungen kräftigen Männer für Monate, selbst für Jahre in der fernen
hochzahlenden Industrie Arbeit nehmen. Verdienen solche Leute,
und sind sie sparsam, so kaufen sie gern später eine etwas größere
Landstelle oder werden Rentenbauern. Dann vergrößert sich die
Schicht der Kleinbauern, was mit Freuden zu begrüßen ist. Der
Arbeitermangel auf dem Lande ist nicht verringert worden. Kein
anderes Ergebnis dürfte die von dem Bund der Landwirte ge-
gründete Prämiensparkasse haben, die den Arbeiter in die Lage
bringt, in verhältnismäßig frühen Jahren über ein Kapital zu ver-
fügen, das zum kleinen Landerwerb ausreichend ist.
Die Verlegung von Industrien auf das Land, die aus hygieni-
schen und politischen Gründen empfohlen worden ist, würde, wenn
nicht sehr vorsichtig ausgewählt wird, den Arbeitermangel auf
dem Lande nicht beseitigen, eher vermehren. Großbetriebe mit
großem Kapital würden in dieser Richtung unfehlbar wirken. An-
ders ist es mit kleinen Unternehmungen, die ohne Verluste im
Sommer stillgelegt werden können, also nur Winterarbeit kennen,
und die in der Umformung landwirtschaftlicher Erzeugnisse an
Ort und Stelle einen Vorteil gegenüber dem entfernten städtischen
Betrieb haben. Die so hoch entwickelte Werkzeugmaschinerie und
die Überlandzentralen gewähren ihnen günstige Vorbedingungen,
die sogar in den Bauernhäusern ausgenutzt werden könnten, so daß
sich die ehemalige, durch die städtische Fabrik aufgelöste Winter-
heimarbeit in neuer Form wieder aufnehmen ließe.
Die Bedeutung der deutschen Landwirtschaft innerhalb der
Volkswirtschaft ist in den letzten Jahren vor dem Kriege eine
andere geworden. Einerseits ist das Ausland nicht mehr mit bil-
ligen Nahrungsmitteln so stark auf dem Weltmarkt als vor der
Jahrhundertwende vertreten gewesen, da es immer mehr davon
selbst gebrauchte, und der Raubbau an den Naturkräften dem
Ende zuneigt. Andererseits ist mit der intensiveren Betriebsweise
in Deutschland immer mehr Kapital in den Feld-, Wiesen- und
486
VI. Abschnitt. Die Zeit von I890 — 19 14.
Gartenbau gesteckt worden. Die erhöhten Produktenpreise haben
die Einkommensquote des Landes im Vergleich zu der Stadt ver-
bessert. Hält diese Tendenz dauernd an, so wird der Zuzug zur
Stadt gehemmt werden und dies um so mehr, als sich weltwirt-
schaftliche Absatzschwierigkeiten für ihre Industrie auftürmen. Die
Löhne der Landarbeiter werden sich vergleichsweise zu denen der
Industriearbeiter höher stellen, weil sie bezahlt werden können.
Unter dieser günstigen Konjunktur ist die innere Kolonisation erst
recht zu pflegen, da sie darin eine Erleichterung finden wird.
V. Die Industrie. Der Industrie- und Handelsstaat im
Sinne L i s t s ist ein um Großindustrie und großen Außenhandel
bereicherter Agrarstaat. Die heutige Auffassung des Industrie-
staates lehnt sich an die zwischenstaatliche Produktionsverteilung
an. Wie man ehemals im kleinen zwischen Land und Stadt unter-
schied, die sich gegenseitig versorgend ergänzten, ebenso ist das
Verhältnis heute zwischen großen Staaten gedacht, von denen ein
Teil Rohstoffe und Lebensmittel hergibt, um von dem anderen
Fabrikate zu empfangen.
Es ist die Frage, inwieweit Deutschland von 1890 — 191 5 ein
solches einseitiges Gebilde eines Industriestaates geworden ist. Die
Berufsgliederung ist für Deutschland in drei Zählungen erfaßt
worden:
Berufe
Absolute
Zahl der Personen
Auf 1000 Einwohner
1907
1895
1882
1907
1895
1882
17 681 176
18 501 307
19225455
28,6
35,8
42.5
26386537
20 253 141
16058 080
42,8
39.1
35-5
8 278 239
5 966 846
4 531 080
13.4
".5
10,0
792 748
886 807
938 294
1.3
T.7
2,1
3 407 126
2835014
2 222 982
5,5
5.5
4,9
5 174703
3327069
2 246 222
6,4
6,4
5.0
A. Landwirtschaft einschl. Vieh-
zucht, Forstwirtschaft, Fischerei
B. Industrie einschl. Bei^bau und
Baugewerbe
C. Handel und Verkehr einschl.
Schank- und Gastwirtschaft .
D. Häuslicher Dienst, Lohnarbeit
wechselnder Art
E. Öffentlicher Dienst, freie Be-
rufsart
F. Ohne Beruf und Berufsnennung
Über den Rückgang der landwirtschaftlichen Bevölkerung ist
in dem vorigen Kapitel das Nötige gesagt worden. Im Zusammen-
hange des Ganzen bringt die Tabelle die Tatsache der starken ab-
soluten und relativen Zunahme von Industrie und Handel.
Die Statistik des Außenhandels ergibt, wenn man die Jahre
1895 — 1899 mit denen von 1910— 1913 vergleicht, daß die Einfuhr-
quote der Rohstoffe zur Bearbeitung um etwa 40/0 gestiegen ist.
V. Die Industrie.
487
während diejenige für Nahrungs- und Genußmittel um 50/0 ge-
ringer geworden ist. Gleichzeitig hat sich die Ausfuhr von letz-
teren um etwa 2 0/0, von Rohstoffen um etwa 60/0 vermindert, was
freilich nicht ganz genau zu stimmen braucht, da die Grenze zwi-
schen reinem Natur- und leicht angearbeitetem Stoff nicht immer
sicher zu ziehen ist. Die ungemeine Erhöhung der absoluten Ziffern
des Außenhandels — die Einfuhr hat sich von 1895 — 1913 von
4246 auf 10770, die Ausfuhr von 3424 auf 10096 Millionen Mark
gehoben — erweist die gewaltige Teilnahme Deutschlands an der
Weltwirtschaft. Daß das Reich im Bezug von Lebensmitteln we-
niger vom Auslande abhängig geworden ist, und daß seine indu-
strielle Leistungsfähigkeit so zugenommen hatte, brachte während
des Weltkrieges das Ergebnis, daß es 4 1/4 Jahre, von außen ab-
geschnitten, sich auf sich selbst verlassen konnte. Das genügte
zwar schließlich nicht, aber zeigte doch, daß es die höchst ein-
seitige Entwicklung zum Industriestaat, wie sie England und Bel-
gien kennen, nicht mitgemacht hatte.
Die Hauptzentren der Industrie liegen um 191 4 dort, wo sie
sich schon zur Zeit der Reichsgründung befunden hatten: im
Rheinland und in Westfalen, in Elsaß-Lothringen, Württemberg,
Baden, Hessen, in Bayern bei Nürnberg, Augsburg, Ludwigshafen
a. Rh., München, in Schlesien westlich der Oder, im Königreich
Sachsen und einigen thüringischen Staaten, in Berlin, Magdeburg,
Hannover, Hamburg, Altona, Harburg, Bremen, Frankfurt a. M.
und Umgebung, jedoch überall in viel größerer Ausdehnung als
damals und mit vermehrter Vielseitigkeit. Auch in anderen
Gegenden, die vor 50 Jahren rein agrarisch waren und nur das
Handwerk kannten, sind erfolgreiche Ansätze zu Großunterneh-
mungen vorhanden, wie in Preußens Ostprovinzen, in Unterfranken,
in der Provinz Hessen, Hannover und Schleswig-Holstein. In der
Montanindustrie haben Umgruppierungen Platz gegriffen. Der
alte Ruhrbezirk hat sich nördlich der Lippe erweitert und ist auch
im Osten und Westen ausgedehnt worden. Der Schwerpunkt der
Eisen- und Stahlwerke verschob sich mehr und mehr in das Mi-
nettegebiet des Reichslandes. 19 13 brachte es das Ruhrgebiet auf
8,2, das westdeutsche auf 7,8 Millionen Tonnen Roheisen. Beide
zusammen bestimmten die deutsche Ausfuhr an Eisenfabrikaten
jeder Art, während Schlesien sich vorzugsweise an den deutschen
Markt hielt, nur für Rußland einiges bedeutete. Ein Teil der west-
lichen Montanindustrie ist zum Rhein gewandert, wo die schwedi-
schen und spanischen Erze leicht beziehbar sind, und auf dem die
Kohle und Koks talaufwärts nach Süddeutschland, der Schweiz,
Italien, talabwärts nach Belgien und Holland verfrachtet werden.
^88 VI- Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
In Oberschlesien haben sich Eisenverarbeitung und Kohle, die hier
nahe beieinander liegen, hingegen an keiner Stelle getrennt.
Die Halbfabrikatindustrie ist von dem Ort der Rohstoffgewin-
nung immerhin noch in Abhängigkeit verblieben. Soweit sie eine
Massenproduktion übt, zieht sie Arbeiter aus allen Teilen Deutsch-
lands und auch des Auslandes heran, wobei sie nicht gerade wähle-
risch verfahren kann. Das wichtigste ist ihr die nötige Quantität
an Kräften. Für die Fertigindustrie ist am gleichen Ort kein
Platz, obwohl die Ersparung von Transportkosten der Vorprodukte
ihr dort ein Vorteil sein müßte. Auch ist keine Arbeiterschaft für
sie vorhanden, die am besten eine alteingesessene, gleichmäßig in-
telligente, dicht gesiedelte, an steten Wechsel der Produkte sich
leicht anpaßbare sein muß. So finden wir z. B. in Württemberg
und Sachsen unter Benutzung aus Preußen bezogenen Verarbei-
tungsmaterials die Entwicklung eines weitgehenden Industriespezia-
lismus überwiegend in Mittelbetrieben, von denen die meisten aus
kleinen, oft handwerksmäßigen Betrieben der ersten großen Pe-
riode des deutschen Aufschwunges 1850- 1873 herausgewachsen sind.
In Württemberg gehören hierher die Metall-, Messer-, Uhren-^
Trikot-, Korsettindustrie und verschiedene Zweige des Kunstge-
werbes; die Metallindustrie wieder gliedert sich in die der Edel-
metallwaren, der Legierung, der lackierten Blechwaren, der chirur-
gischen Instrumente, der eisernen Gartenmöbel, der Feilen, der
Kassenschränke. Andere Spezialbetriebe, wie die vorgenannten
meist örtlich getrennt, erzeugen Bettfedern, Linoleum, Verband-
stoffe, Eierteigwaren, Zichorie, Konserven, Kraftfahrzeuge, che-
mische Produkte, Holzmöbel, Kinderwagen, Klaviere, Harmonikas,
Stiefel, Wichse, Gelatine, Briefordner, Geschäftsbücher.
Ebenso ist der sächsische Schwerpunkt das Verfeinerungs-
gewerbe, das vielfach nicht bloß in Städten, sondern bis in Dörfer
hinab seine Sonderexistenz führt. Nach der Zählung von 191 1
waren im Königreich 30623 Fabriken mit 757518 Arbeitern. Be-
triebe mit mehr als 500 waren 147, die 128303 Arbeiter beschäf-
tigten. Die Textilindustrie ist weitgehend der beruflichen Arbeits-
teilung unterstellt, dann folgt die der Maschinen, Instrumente,
Apparate, weiter der Metallverarbeitung, der Bekleidung, der
Steine und Erden, der Nahrungs- und Genußmittel, der Holz- und
Schnitzstoffe. Es gibt Fabriken, die so spezialisiert sind, daß ein
Werk für Deutschland, selbst für den Erdball, ausreicht, wie z. B.
dasjenige, welches die Druckknöpfe für Damengarderobe oder ein-
zelne Maschinenteile für den Mühlenbau herstellt.
Das Machtverhältnis in der Preisgestaltung zwischen Haib-
und Fertigindustrie hat sich seit 1890 verschoben. Während vor-
V. Die Industrie.
489
dem die erstere, unter sich in starker Konkurrenz befangen, sich
von ihren Abnehmern den Preis vorschreiben lassen mußte, den
diese aus ihrem Verkehr mit den letzten Verbrauchern heraus kal-
kulierten, wurde sie jetzt exportfähig, in Kartellen organisiert und
Herrin auf dem deutschen Markt. Das hatte für die Verteilung
des örtlichen Reichtums die Konsequenz großer Verschiebungen,
die auch politisch als eine zunehmende Abhängigkeit von Preußen
.gedeutet ^wurden.
Die Statistik unterscheidet 16 große industrielle Gruppen, die
1907 abgestuft nach den in ihnen beschäftigten Personen
diese Reihenfolge gaben: Baugewerbe, Bekleidungsgewerbe, In-
dustrie der Nahrungs- und Genußmittel, der Maschinen, Instru-
mente und Apparate, Textilindustrie, Metallverarbeitung, Bergbau,
Hütten- und Salinenwesen, Industrie der Steine und Erden, der
Holz- und Schnitzstoffe. Diese 9 Gruppen beginnen mit i 576 804
Personen und gehen herab bis 773 624. Die folgenden 7 Gruppen
bewegen sich zwischen 256 511 und 29325. Sie sind die Reini-
gungs-, die Papier-, die polygraphische, die Leder-, die chemische
Industrie, die der Leuchtstoffe, Seifen, Fette, Firnisse und das
künstlerische Gewerbe. Einen anderen Einblick gewinnt man in
die volkswirtschaftliche Struktur der einzelnen Abteilungen, wenn
man die Zahl der Betriebe in jeder einzelnen untersucht. Im
Berg- und Hüttenwesen sind z. B. nur 4220 Betriebe vorhanden bei
879600, im Bekleidungsgewerbe hingegen 680140 Betriebe bei
1305 871 Beschäftigten. Der Zusammenhang zwischen Betriebs-
und Personenzahl ist geschichtlich interessant, weil er auf die Zu-
nahme des Großbetriebes ein Licht wirft. Für die 16 Industrie-
gruppen zusammen liegt folgendes Ergebnis vor:
Zahl der Gewerbebetriebe und der darin beschäftigten Personen
Jahre
I. Kleinbetriebe
I — 5 Personen
Betriebe Personen
II. Mittelbetriebe III. Großbetriebe
6 — 50 Personen i 51 u. mehr Personen
Betriebe Personen Betriebe 1 Personen
IV. Gewerbebetriebe
überhaupt
Betriebe | Personen
1907
1895
I 870 261
1 989572
2 175857
3 200 282
3 191 125
3 270404
187074
139459
85 001
2 714 664
I 902 049
I 109 128
29033
17 941
9481
4937927
2 907 329
I 554 131
2086368
2 146 972
2270339
10852873
8 000 503
5 933 663
Aus Spalte IV, welche die ganze Industrie zusammenfaßt, er-
sieht man eine mäßige Abnahme der Betriebe, aber eine starke
Zunahme der beschäftigten Personen. Diese Tatsache der Konzen-
tration zeigt sich im einzelnen in der Verminderung der Zahl der
Kleinbetriebe und deren Personen (Spalte I), dann in der Vermeh-
rung der Personen in den Mittel- und vor allem in den Großbe-
AQO VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
trieben (Spalte II und III). Wenn auch in diesen beiden die
Summe der Betriebe anwächst, so wird doch damit der Verlust an
solchen in der ersten Spalte nicht aufgewogen. Während die Be-
völkerung des Reiches um 2i3 % von 1882 — 1907 anwuchs, zeigt die
Industrie eine Vermehrung um 183 0/0. Wir werden daraus auf
eine Zuwanderung aus anderen Berufszweigen schließen müssen,
und daß hier vor allem die Landwirtschaft gemeint sein muß,
haben wir im vorhergehenden Kapitel gesehen.
Es gibt viele Unternehmungen gerade in der Industrie, die
mehrere Betriebe verschiedener Art in sich vereinigen oder Zweig-
geschäfte betreiben. Daher ist die mitgeteilte Konzentration der
Betriebe nicht ausreichend, um diejenige der großen Unterneh-
mung zu erklären. Die Statistik hat auch für 1895 und 1907 eine
Zusammenzählung von „Gesamtbetrieben" vorgenommen, die zwar
als nicht vollkommen gelten kann, aber doch einen ergänzenden
Einblick gewährt. Die Zahl der Gesamtbetriebe für 1907 ermäßigt
die angeführte Betriebszahl auf 2025542, also um 30826, in den
Großbetrieben um 1828, in den Mittelbetrieben um 10973.
Aus den Summen der festgestellten Gesamtbetriebe von 1907
erfährt man, wie die Kleinbetriebe mit etwa 90 0/0 überwiegen. Die
mittleren machen 8,7, die großen 1,3 aus. Berücksichtigen wir die
tätigen Personen, so verschiebt sich das Bild derart, daß in den
Großbetrieben 47,7 0/0, in den Mittelbetrieben 23,2, in den Klein-
betrieben 29,1 tätig sind. Die Leistungsfähigkeit der großen Unter-
nehmungen tritt noch mehr hervor, wenn man die Stärke der moto-
rischen Kräfte zu den menschlichen hinzurechnet. Auf die großen
kamen 73,90/0 der Dampf-Pferdestärken und 770/0 der elektrischen
Kraft, auf die mittleren 18,4 und 15,5, auf die kleinen 7,7 und 7,5.
Der Schwerpunkt der deutschen Industrie liegt nach dem Gesagten
in den großen Werken.
Aus der Statistik erfahren wir, daß die Hausindustrie
in der Abnahme begriffen ist. Die Zahl der Betriebe ist zwischen
1882 — 1907 von 386416 auf 315620, der darin beschäftigten Men-
schen von 544 980 auf 482 436 zurückgegangen. Kenner der Ver-
hältnisse halten noch an einer halben Million fest, da die ziffern-
mäßige Erfassung nicht ganz vollständig sei. Besonders auffällig
ist der Rückgang in der Leinen-, Woll-, Baumwoll-, Seidenindustrie,
der Drechslerei, Schlosserei, Strohflechterei, bei der Anfertigung
von Nägeln, Uhren, Strumpfwaren. Fast ganz siegreich ist die
Fabrik in der Schuhmacherei und Tischlerei gewesen. Der Ausfall
der Heimarbeiter überhaupt würde noch größer gewesen sein,
wenn nicht gleichzeitig eine Anzahl Hausindustrien, an deren Er-
haltung und Weiterbildung der kapitalistischen Großunternehmung
V. Die Industrie.
491
gelegen ist, eine Zunahme an Betrieben und Arbeitern besäße,
wie in der Glasbläserei, der Kleineisenarbeit, der Spitzenklöppelei,
in der Anfertigung von Spiel- und Korbwaren, Strohhüten, künst-
lichen Blumen, Federschmuck und Tabakfabrikaten, in der Schnei-
derei, der Kleiderkonfektion, der Handschuhmacherei. In den
meisten dieser als modern bezeichneten Hausindustrien ist die ge-
lernte, verfeinerte Handarbeit ausschlaggebend, die sich an viel-
artigen Rohstoffen betätigt, während Kraftmotoren unanwendbar
sind, und die Vereinigung der ineinander greifenden Spezialarbeiten
in großen geschlossenen Räumen nicht geboten ist. Somit spart
der Unternehmer den Arbeitsraum und die Beaufsichtigung der
Arbeit. Die Großunternehmung findet auch zuweilen darin ihre
Rechnung, daß sie in der Fabrik ihren Mittelpunkt hat und Heim-
arbeiter ergänzungsweise beschäftigt. Eine Gummi- und Zelluloid-
fabrik gibt Puppen zum Bemalen aus, oder eine Korsettfabrik hat
Heimnäherinnen zum Fertigmachen.
Auf der Seite der Arbeiter wirkt die Heimarbeit erhaltend
auf den Fortbestand ihrer kleinen landwirtschaftlichen Betriebe, was
dann allerdings dahin führen kann, daß ein an sich nicht mehr
teeitgemäßes Werk schlecht bezahlt wird.
Die großen Zentren der Hausindustrie sind das Königreich
Sachsen, das Rheinland, Schlesien und die Stadt Berlin, aber auch
in Süddeutschland, wie in Baden treffen wir in mehr räumlichem
Auseinanderliegen Tausende von Heimarbeitern an. Die Groß-
städte schließen etwa ein Drittel aller Stätten in sich ein, unter
denen das Bekleidungsgewerbe obenan steht. Wie ehedem ist auch
heute noch das Gebirge ein Hauptsitz dieser Betriebsart, wo die
Landwirtschaft auf kleiner Fläche die Familie nicht zu ernähren
vermag und unter den gegebenen Waldverhältnissen nicht er-
weitert werden kann.
Im allgemeinen ist die Lage dieser Arbeiterschaft keine be-
neidenswerte. Ein Teil steht unter dem Druck der Fabriken, die
Frauen- und Kinderarbeit unterbietet diejenige der sich zu anderer,
geeigneter, besser bezahlter Arbeit nicht immer leicht entschließen-
den Männer. Auf 100 Hausindustrielle entfielen 1907 54,4 Frauen,
während 1882 und 1895 noch die Männer mehr als die Hälfte aus-
machten. Das Einkommen vieler wird gedrückt durch die geringe
Festigkeit einzelner Gewerbsarten. Einige entstehen für kurze Zeit,
andere vergehen. Der Zusammenschluß zur Verteidigung ihrer
Ansprüche ist erschwert wegen der Dezentralisation der Arbeits-
räume. Heimarbeiter, bemerkt L. Po hie (Die Entwickelung des
deutschen Wirtschaftslebens), werden deshalb schlecht bezahlt, weil
sie eine gewöhnliche ungelernte Arbeit verrichten, an Orten sich
AQ2 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
befinden, wo ein Überangebot an Arbeitskräften Platz gegriffen
hat, weil sie in untergehenden Produktionszweigen beschäftigt
sind oder die Hausindustrie als Nebenerwerb ausüben. Eine um-
fassende Sonderbehandlung durch den Staat läßt sich für die
Hausindustrie, abgesehen von der Gewerbeaufsicht, dem Register-
zwang und dem Aushangwesen, nicht recht durchsetzen, weil das
Gewerbe eine Schematisierung nicht verträgt, so daß die Vorlagen
im Reichstag zu keinem Ergebnis führten. Die allgemeine Sozial-
versicherung ist auch auf diese Leute ausgedehnt worden, bietet in
der Praxis manche Schwierigkeit. Das gleiche gilt für den Kinder-
schutz und andere Bestimmungen der Gewerbeordnung, wie z.B. für
die Anmeldung des Betriebes, die Lohnbücher, die Motorwerk-
stätten und das Trucksystem.
Nach P. Arndts Untersuchungen im rhein-mainischen Wirt-
schaftsgebiet hat sich zwischen 1895 ^^i^ 191 4 das Einkommen der
Hausindustriellen gehoben, soweit ihm eine gesteigerte Leistungs-
fähigkeit unter dem allgemeinen Aufschwung der deutschen Volks-
wirtschaft vorausgegangen war. Wenn es auch noch Gruppen von
Leuten gab, die wenig verdienten, so entsprach dem die technische
Minderwertigkeit ihrer, in Fabriken unverwendbarer Arbeit. Von
einer Entbehrlichkeit der Heimarbeit kann jedoch trotz ihrer ge-
ringen Produktivität im ganzen nicht gesprochen werden, da für
die billigen Produkte Abnehmer vorhanden sind, deren Bedarf
hicht anders gedeckt werden kann.
Wenn wir hören, daß 1907 in der Industrie 987 403 Allein-
betriebe, 687832 mit bis zu drei Personen, 146999 mit von drei
bis zu fünf vorhanden waren, so wird der Schluß gerechtfertigt
sein, daß das Handwerk in Deutschland ziffernmäßig noch
große Bedeutung hat. Begrifflich ist der Handwerker ein Mann,
der als Verarbeiter von Rohstoff en und Halbfabrikaten für die indu-
striellen Bedürfnisse seiner festen Kunden Gegenstände herstellt oder
ihnen auch persönliche Leistungen anbietet und von dem Verdienst
sich und seine Familie erhält. Allein die vielen kleinen Gewerbe-
treibenden der Statistik werden nur zu einem mäßigen Teil in diese
geschichtlich gerechtfertigte Definition hineinpassen. Viele sind
zugleich Händler mit fabrikmäßig angefertigter Ware; Schuh-
macher, Buchbinder, Schneider, Spengler, Sattler, Friseure ver-
wenden zum Umsatz ein kleines Kapital, das ihnen gestattet, das
Handwerk auch bei ungünstiger Konjunktur fortzusetzen. Manche
Metzger finden ihre besten Einnahmen bei dem Einkaufen des
Viehes bei den Bauern. Andere Personen, wie Bäcker, Schreiner,
sind häufig im Dienst eines kaufmännischen Unternehmers und
V. Die Industrie, 403
leisten die Kundenproduktion nur nebenbei, wieder andere, wie
Tapezierer, Schlosser, Glaser, Schuhmacher, Schneider, Kürschner,
Goldschmiede, Uhrmacher, Ofensetzer, suchen den Schwerpunkt
ihrer Tätigkeit in Reparaturen, die etwas individuelles und unent-
behrliches sind, wieder andere treten in den Dienst großer Unter-
nehmungen als Fabrikhandwerker. Eine nicht geringe Anzahl übt
einen neuen Beruf aus, so im Baugewerbe, bei Gas- und Wasser-
leitungen, bei elektrischen Schwachstromanlagen. Von vielen kann
man sagen, daß sie sich in die Fabrikkonkurrenz, die Gewerbefrei-
heit, die Kapitalverwendung eingelebt haben, wobei ihnen die Ar-
beiterversicherung, das Genossenschaftswesen, die Benutzung von
Kleinkraftmaschinen, die Kredit- und Zahlungseinrichtungen zu
Hilfe gekommen sind.
Die neuzeitlich denkenden Handwerker, und das dürfte die
große Mehrzahl seit der Jahrhundertwende sein, blicken nicht mit
romantischer Sehnsucht auf den „goldenen Boden" der guten alten
Zeit zurück, verlangen nicht, daß der Staat sie unter seine Fittiche
nimmt. Mit Selbsthilfe und Zusammenschluß wollen sie Fuß fassen,
die heutige Volkswirtschaft als solche nicht bekämpfen.
Die Gruppen und Zahlen dieser modernen Handwerker zu
vergrößern, ist eine Mittelstandspolitik. Auslese und Anpassung
glücken nicht immer. Manche Personen erliegen dem Umwand-
lungsprozeß und sinken in die Lohnarbeiterschaft. Von 1882 bis
1907 sind die Alleinbetriebe zurückgegangen. Die Betriebe mit
I — 5 Personen sind zwar um 50000 vermehrt worden. Doch er-
scheint dieses Plus innerhalb der Bevölkerungsvermehrung als
eine relative Abnahme. Die Mittelbetriebe, die eine relative Ver-
stärkung der Zahl noch aufweisen, enthalten in ihren unteren
Klassen mit ihren 6 oder 7 Mithelfenden auch besser gestellte
Handwerker. Ihnen war es gelungen, ihr Geschäft zu erweitern,
insbesondere auch Gas-, Heißluft- und elektrische Motoren aufzu-
stellen.
Die Konkurrenz der Fabrik oder der Großunternehmung über-
haupt wirkt auf das Handwerk in verschiedener Weise ein. Am
gefährlichsten ist der unmittelbare Druck auf den Markt, wie beim
Textilge werbe, der Färberei, der Schuhmacherei, der Seilerei, Uhr-
macherei, Zieglerei, Möbelschreinerei, bei den Eisen-, Blech-,
Kupferwaren. Hier setzt der arbeitsteilige Großbetrieb den Preis
einseitig fest. Ein anderer mehr mittelbarer Angriff erfolgt durch
die Umgestaltung der Technik. Die Töpfer und Glaser leiden
durch das Angebot von Geschirren aus Emaille, Blech, Nickel,
Aluminium, die Schuhmacher durch das von Gummischuhen, die
Hanfseiler durch das von Drahtseilen und Metallketten, die Zimmer-
^g^ VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890— 1914.
leute durch die Eisenkonstruktion beim Hausbau. Das Kunsthand-
werk sieht seinen Feind in der billigen Massenware des Zimmer-
schmuckes aus Metallguß, Stein, Gips und Holz, mit seinen nach
der Mode wechselnden Formen.
Ungünstig beeinflußt ist das Handwerk durch die Zahl und
die Zahlungsfähigkeit der Kunden, In alter Zeit lieferte es für
reich und arm, je nach dem Bedürfnis, meist auf Bestellung von
Stadt und Land. Heute lebt in den Großstädten und Industrie-
zentren eine Massenbevölkerung von Lohnarbeitern, kleinen Be-
amten, Kleinkaufleuten und sonstigen Kleingewerbetreibenden,
deren Bedarf das Handwerk nur sehr teilweise befriedigen kann,
da er billig und rasch gedeckt werden muß. Aber auch bei den
steigenden Ansprüchen der Wohlhabenden ist der billige Einkauf
oft entscheidend, weil man sich bei der wiederholten Anschaffung
besser stehen kann, als wenn das alte Stück öfters zur Reparatur
gegeben wird. Man denke an Teppiche, Gardinen, Lampen,
Wäsche und Küchengerät. In den Mittel- und Landstädten sorgte
der leichte Warentransport für die Nachahmung des großstädti-
schen Geschmacks. Verwöhnte und zahlungsfähige Verbraucher
halten sich freilich an ihren Schuhmacher und Schneider, die be-
sonders gutes leisten müssen. Die mittelbefähigten Meister haben
daher auf solche dauernde Beschäftigung nicht zu rechnen und
müssen sich Nebenverdienst suchen.
Seit dem Erlaß der Gewerbeordnung bis in die neunziger
Jahre haben die Handwerker nicht aufgehört, diese für ihre ge-
drückte Lage verantwortlich zu machen, und die konservativen
Parteien haben ihnen sekundiert. Die Regierungen haben sich vor
dem Notschrei die Ohren nicht zugehalten und haben es an zahl-
reichen Gesetzentwürfen nicht mangeln lassen.
Nebenbei bemerkt: Den Anspruch, allein den gewerblichen
Mittelstand zu repräsentieren, kann das Handwerk nicht mehr er-
heben. Es gehören zu ihm auch die Privatangestellten,
deren 1882 99076, 1907 686007 in der Industrie gezählt wurden,
neben welcher im Handel und Verkehr 505 909 sich in gleicher
sozialer Stellung befanden. Diese beträchtliche Menge, die mit
ihren Familien etwa 1/^2 der deutschen Bevölkerung ausmachten,
kann man nicht damit sozialpolitisch abtun, daß man sie als besser
bezahlte Lohnarbeiter im Dienst der kapitalistischen Unterneh-
mung wertet. Viele sind durch die Möglichkeit des Stellenwechsels
unabhängiger als solche Handwerker, die sich gegen die Fabrik-
konkurrenz schwer wehren müssen, und obwohl es gelernte Lohn-
arbeiter geben kann, die mehr als einzelne Gruppen von ihnen ver-
dienen, so haben sie doch wegen ihrer Eigenschaft als geistige
V. Die Industrie.
495
Arbeiter eine mittelständische Ansicht von sich und fühlen sich
den ähnlich wie sie bezahlten Staats- und Gemeindebeamten ver-
wandt.
Die deutsche Gewerbeordnung von 1869 duldete die Innungen
nur als rein private Vereine. Eine Umformung bringen die Ge-
setze von 1881, 1884, 1887, die den neu gegründeten Innungen
wiederum öffentliche Rechtsbefugnisse einräumen und die beste-
henden veranlassen, sich in diesem Sinne zu reorganisieren. Diese
Gewährung genügte den Wünschen des Handwerks nicht. Die No-
velle von 1897 hat ihnen mehr Rechnung getragen und in der
Gründung von Handwerkskammern den Kleingewerbetreibenden
eine Vertretung geschaffen, wie sie auch in anderen Berufsklassen
üblich ist.
Diese Gesetzgebung war durch die atgitatorischen Bestre-
bungen der Handwerker tage vorbereitet worden. Schon 1873 war
der „Verein selbständiger Handwerker und Fabrikanten" ge-
gründet worden, dem ein Jahrzehnt lang in seinen Versammlungen
eine gemäßigte Richtung genügte, wie sie in der Gesetzgebung
von 1 881 — 1887 einen Ausdruck fand. 1882 wurde in Magdeburg
eine allgemeine deutsche Handwerkerversammlung einberufen, die
sich das weitergehende Programm der Zwangsinnung, des obliga-
torischen Befähigungsnachweises und der Legitimationspflicht für
die Gehilfen zu eigen machte. Der ältere Verein ging in dem „All-
gemeinen deutschen Handwerkerbund" auf, neben dem seit 1884
der in Berlin gegründete „Zentralausschuß vereinigter Innungs-
verbände" tagte, der, obwohl anfangs maßvoll, sich der radikaleren
Richtung unterwarf. Beide Vereinigungen wandten sich 1890 an
den Kaiser mit dem erfolgreichen Gesuch, eine Enquete über die
Lage der Handwerker veranlassen zu wollen.
Nach der neuen Gesetzgebung sind die freien Innungen selb-
ständiger Meister noch der Ausgang zur Erreichung gemeinsamer
Zwecke. Es werden ihnen öffentlich rechtliche Aufgaben zuge-
sprochen, daher bedarf ihr Statut der Genehmigung, und sie stehen
unter Staatsaufsicht. Sie erheben Beiträge und können zwangs-
mäßig einziehbare Ordnungsstrafen erlassen, haben für ein gedeih-
liches Verhältnis zu den Gesellen, für das Herbergewesen der-
selben, für den Arbeitsnachweis, für die Ausbildung der Lehrlinge
zu sorgen und Streitigkeiten zwischen diesen und den Meistern zu
entscheiden. Durch statutarischen Beschluß kann darüber hinaus-
gegangen werden in der Verwaltung von Fachschulen für Meister,
Gesellen, Lehrlinge, in der Errichtung von Gesellen- und Meister-
prüfungen, von Kranken- und anderen Unterstützungskassen, von
Schiedsgerichten für Streitigkeiten aus dem Gesellenverhältnis, von
4.q6 vi. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
gemeinschaftlichem Geschäftsbetrieb zur Förderung des Gewerbes.
Da die Bildung solcher Innungen nicht recht vorwärts kam, wurde
1897 zugestanden, daß unter der Voraussetzung einer genügenden
Zahl von Meistern eines Handwerks und der Mehrheitszustimmung
derselben in einem gut abgrenzbaren Bezirke die höhere Verwal-
tungsbehörde Innungen errichten kann, denen sich alle Meister des
gleichen Gewerbes anzuschließen haben. Diese Zwangsinnun-
gen können auf Antrag der Beteiligten wieder aufgehoben werden.
Ihre Aufgaben stehen im allgemeinen denjenigen der freien gleich,
doch sind Rechte und Pflichten in beiden Organisationen nicht
dieselben. In die Zwangsinnung werden alle Handwerker eines Be-
rufes oder mehrerer verwandter einbezogen, in der freien nur ein
Teil in der Regel. Die Mitglieder jener dürfen nicht zur Teil-
nahme an anderen Unterstützungskassen als Innungskrankenkassen
verpflichtet werden, was den freien gestattet ist, auch keine ge-
meinsamen Geschäftsbetriebe errichten, noch die Preise von Waren
und Leistungen festsetzen. Die Vermögensverwaltung und Erweite-
rung und der Etat der Zwangsinnung unterliegen der Kontrolle
der Aufsichtsbehörde, Vorstände und Ausschüsse werden von oben
genehmigt.
Die von dem Landesministerium geschaffenen Handwerks-
kammern, aus Mitgliedern, die von den Innungen und solchen
Gewerbevereinen, welche sich mindestens zur Hälfte aus Handwer-
kern zusammensetzen, gewählt werden, und einem Staatskommissar
bestehend, haben die gesetzliche Obliegenheit der näheren Rege-
lung und Überwachung des Lehrlingsverhältnisses, der Erstattung
von Gutachten, Mitteilungen, Jahresberichten über die Lage des
Handwerks an Staat und Gemeinde, der Bildung von Prüfungs-
ausschüssen zur Abnahme der Gesellenprüfung, der Kommissions-
bildung zur Entscheidung über Beanstandungen der Innungsaus-
gchüsse für diese Prüfung.
Die 63 bestehenden Kammern sind über diese Pflichten , hin-
ausgegangen und haben sich gerade deshalb bewährt. Sie haben
die Forderungen der Handwerker zeitgemäß gesichtet und Streitig-
keiten mit anderen Erwerbsgruppen beseitigt, zur technischen und
sittlichen Ausbildung aller Beteiligten beigetragen, Fachschulen,
Dauerausstellungen, Zeitschriften zu gründen veranlaßt und mit
alledem das Zusammengehörigkeitsgefühl der Handwerker gestärkt.
Die Forderung des obligatorischen Befähigungs-
nachweises, d. h. die Ausübung selbständigen Gewerbes von der
Erbringung eines Nachweises abhängig zu machen, ist mit gutem
Grunde dem Handwerk nicht gewährt worden. Schon die Erfah-
rungen, die seit 1883 in Österreich gemacht worden sind, sprachen
V. Die Industrie.
497
dagegen, dies alte Zunftprivilegium wieder aufleben zu lassen. Bei
der Vielgestaltigkeit des Wirtschaftslebens und der Unsicherheit
der Abgrenzung des Handwerks von der kleinen Fabrik wirkt ein
solcher Zwang hemmend auf den Fortschritt. Die Gesetzgebung
von 1908 bringt jedoch den sogenannten kleinen Befähigungsnach-
weis, wonach die Befugnis zur Anleitung von Lehrlingen nur den-
jenigen Personen von mindestens 24 Jahren zusteht, die die Meister-
prüfung bestanden haben, die ihrerseits eine Gesellenprüfung und
drei Gesellenjahre in einem bestimmten Gewerbe voraussetzt. Der
Gefährlichkeit dieses Rechtes, womit den Meistern allein gestattet
ist, die wohlfeilen Lehrlingskräfte auszunutzen — angeblich ein
Hauptmotiv für die Forderung des Nachweises — , ist dadurch be-
gegnet worden, daß die höhere Verwaltungsbehörde auch Per-
sonen, die den genannten Anforderungen nicht entsprechen, die Be-
fugnis, Lehrlinge zu halten, verleihen kann.
Die Zwangsinnungen haben den erwünschten Erfolg nicht ge-
habt. Die Statistik von 1907, also 10 Jahre nach Erlaß des Ge-
setzes, beweist mit der Gegenüberstellung der 3447 obligatorischen
und der 8548 freien Innungen, daß die Handwerker anerkannten,
daß ihre allgemeine Festhaltung in der Innung keineswegs tunlich
sei. Außerdem sind zahlreiche Zwangsverbände aufgelöst worden,
wohl auch deshalb, weil die obrigkeitliche Aufsicht der freieren er-
wünschten Bewegung hinderlich war.
Die Innung der alten Zeit hatte gerade darin ihre Festigkeit,
daß die Meister ökonomisch ziemlich gleichgestellt und andauernd
bemüht waren, eine eintretende Ungleichheit wieder einzuebnen.
Bei der raschen Umwälzung der Technik, dem Kapitalismus mit
seinen Gewinnen und Verlusten und der Gewerbefreiheit ist solche
Nivellierung nicht angängig. Die Abgrenzung eines Handwerks
von dem anderen, vom Kleinverleger, vom Kleinfabrikanten, vom
Händler bringt Schwierigkeiten. Manche Personen treiben meh-
rere Gewerbe, die sich ergänzen, nebeneinander. Nicht alle Meister
haben ein Interesse daran, Lehrlinge auszubilden. Es gibt Spezia-
listen mit feinster Arbeit, die nur von den besten Gesellen geleistet
werden kann. Tüchtige Köpfe fühlen sich leicht beengt und drängen
aus der Innung heraus. So richtig es ist, daß der Zusammenschluß
gepflegt wird, ebenso stimmt es daher, daß die freie Beweglichkeit
das geeignetste Mittel dazu gewesen ist.
Die freien Innungen klagen zwar auch über den Mangel an
Solidaritätsgefühl, die Unlust, die Ehrenämter anzunehmen, die
Säumigkeit in der Beitragszahlung, die Gleichgültigkeit gegen die
Versammlungsvorschläge. Im ganzen haben sie sich doch bewährt
bei der Ausbildung der Lehrlinge, den Verhandlungen mit den in
A. Sartoriusv. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 32
4ü8 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Gewerkschaften vereinten Gesellen, dem Arbeitsnachweis, den ge-
meinsamen Unternehmungen, der Anregung zu Genossenschaften,
der Aufklärungsarbeit bei technischen und anderen Neuerungen.
Für diejenigen Kleingewerbetreibenden, die nicht in den Verband
hineinpassen, sind öffentliche Einrichtungen, wie der städtische Ar-
beitsnachweis, die Lehranstalten, Ausstellungen von Motoren und
Werkzeugmaschinen, die Kunstgewerbehäuser, die planmäßige Be-
rücksichtigung bei Lieferungen an die Gemeinde von Nutzen ge-
wesen.
Die Schulze-Delitzschen Genossenschaften hatten bis i9i4noch
nicht die Verbreitung gewonnen, die für den gewerblichen Mittel-
stand erwünscht war. Nach einer Schätzung gehören ihnen nur
etwa 1/5 seiner Mitglieder an. Die Kreditgenossenschaft, die die so
dringend gebotene Barzahlung im Gefolge hat, ist ihm ebenso
wichtig wie die Einkauf-, Rohstoff- und Lieferungsgenossenschaft.
Auch Verbindungen zu Zentralgenossenschaften, wie sie für Schuh-
macher und Schneider schon da sind, um Rohstoffe und Halbfabri-
kate einzukaufen, harren der Verallgemeinerung, und das um so
mehr, als die Syndikate der Fabrikanten auf die Preisbildung ent-
scheidenden Einfluß gewonnen haben.
Von dem von Staat und Gemeinde gebotenen Unterricht
hat die gewerbliche Fortbildungsschule, die ursprünglich als Fort-
setzung der Volksschule gedacht war, im Verlaufe der Jahre immer
mehr geworden ist, dem Handwerk unschätzbare Dienste geleistet.
Sie ist zu einer Vermittlerin von Schul- und Werkstattbelehrung ge-
worden. Sie hat die Fachausbildung durch Zeichenunterricht, Ge-
schmacksverfeinerung, durch Kenntnisgabe der gewerbetechnischen
Geschichte ebenso gehoben, wie die kaufmännische durch Fort-
setzung der Rechnen- und der Buchführungskurse. Neben ihr gibt
es noch Anstalten höherer Ordnung, die Fach- und Kunstgewerbe-
schulen, solche für Maschinenwesen und Baugewerbe, die den be-
mittelten jungen Gewerbetreibenden zugänglich sind und ebenfalls
Tüchtiges erbracht haben.
Die heutigen Innungen unterscheiden sich nicht bloß von den
alten dadurch, daß sie der monopolistischen Rechtsform entkleidet
sind, sondern auch durch den ganz anderen Geist, der in ihnen
waltet. In der Blütezeit der Zünfte und auch lange darüber hinaus
fühlte sich der Meister als der Träger eines Ganzen. Der Gemein-
schaftssinn fand in festen Sitten und alten Gebräuchen seine äußere
Form. Die wirtschaftliche Lebensaufgabe war von der persön-
lichen Lebensanschauung fest umklammert. Heute besteht nur der
wirtschaftliche Verband, der bisher nicht versucht hat, die Ange-
hörigen über seine eigenen nächsten Ziele hinaus zusammenzu-
V. Die Industrie.
499
schweißen. Der eine Handwerker ist Sozialdemokrat, der andere
gleichen Berufs wählt konservativ, der eine findet seine geselligen
Abende im Kriegerverein, der andere im politischen Klub. Der In-
dividualismus als das Residuum der Auflösung durchzieht wie hier,
so das ganze Leben der Nation oder richtiger der europäischen Ge-
sellschaft; freilich nicht derjenige einer starken Persönlichkeit, der
alles, was er tun und lassen muß, in ein zielbewußtes Wollen und
Können zusammenfaßt. Eine solche Synthese des Charakters und
der Intelligenz, wenn auch auf beschränktem Umkreise, findet sich
eher bei dem Zunftmeister innerhalb der Mauer einer alten deut-
schen Reichsstadt als in einer vorstädtischen Massenansiedelung
eines neuzeitlichen industriellen Mittelpunktes.
Der statistisch erfaßte Großbetrieb, dessen Zunahme wir
von 1882 — 1907 kennen gelernt haben, schließt auch den Bergbau
und das Baugewerbe ein, also nicht allein Fabriken, wenn diese
auch seinen Hauptbestand ausmachen. Die Unternehmungen lassen
sich für 1907 des weiteren zerlegen in:
Betriebe mit
tätigen Personen
Gesamtpersonen-
zahl
Angewandte
P. S.
Elektrische Kraft
in Kilowatt
Zahl
der Betriebe
51— 200
201 — 1000
über 1000
2 034020
I 869 023
I 277 288
1 706 441
1 891 978
2 289 064
205 057,9
406 354,0
436711,1
21 782
4875
548
Stellen wir uns die Summe der Betriebe als eine Pyramide
vor, so wächst die motorische Kraft absolut und relativ, je mehr
wir uns der Spitze nähern, relativ auch die Arbeitskraft. Die so-
ziale Gliederung hängt damit zusammen. Sie ist in der Industrie
überhaupt ganz anders als in der Landwirtschaft:
Auf 100 Personen entfallen
I. Soziale Stellung
2. Landwirtschaft
3. Industrie
Selbständige ohne Hausgewerbetreibende.
25.30
15.37
Selbständige Hausgewerbetreibende
0,00
2,20
Angestellte
1,00
6,01
Mitarbeitende Familienangehörige . . .
39.41
1,18
Gelernte und angelernte Arbeiter . . .
14.25
43.79
Ungelernte Arbeiter
19,00
31.24
Die Zahl der Selbständigen in der Landwirtschaft ist der-
jenigen in der Industrie überlegen, die der mitarbeitenden Fa-
milienangehörigen in dieser gering, in jener groß, der Angestellten
in Spalte III sechsmal so groß als in Spalte II, der Arbeiter erheb-
32*
500
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
lieh mehr als doppelt so groß. Vergleichen wir die drei Berufs-
zählungen, so haben wir für die Industrie diese Veränderung:
Zählungsjahr Betriebsleiter Angestellte Arbeiter
1907 18,3 5,7 76,0
1895 25,8 3,3 70,9
1882 37,2 2,0 60,8
Der relative Rückgang der selbständigen Unternehmungen
wird in den Betriebsleitern sichtbar, ebenso wie die Zunahme der
Angestellten und Arbeiter in ihrer Ziffer.
Untersuchen wir die Betriebe um 1907 allein nach Größen-
klassen, so gewinnen wir einen weiteren Einblick in die soziale
Gliederung der einzelnen Berufsarten der Industrie:
Betriebe mit
Bergbau
Metall-
Industrie
der Steine
und Erden Verarbeitung
Maschinen
Chemische
Industrie
I — 5 Personen . .
6 — 50 Personen . .
50 und mehr Personen
4 "7
21 352
794 449
41 047
^11 532
382974
146 231
194023
405 094
61 310
159374
693 997
5 557
23 230
105 800
Betriebe mit
Fette, öle
Papier-
industrie
Lederindustrie
Holzindustrie
Nahrungs-
und
Genußmittel
I — 5 Personen . ,
6 — 50 Personen . .
50 und mehr Personen
4765
26 093
41 176
14527
58790
122 978
39148
41 164
65578
155938
236 480
156 699
370 820
287 207
238 211
Betriebe mit
Bekleidung
Reinigung
Bau-
gewerbe
Poly-
graphisches
Gewerbe
Künstl.
Gewerbe
Textil-
industrie
1 — 5 Personen
6 — 50 Personen
50 und mehr Personen
266684
174354
147565
67082
39618
20 564
153677
540957
588097
14504
74963
80755
4098
9583
2953
54084
156 132
677 190
Wir haben noch eine sozialstatistische Ergänzung der
Frauenarbeit zu geben. Die steigende Nachfrage nach indu-
striellen Arbeitskräften, wie sie der schärfer ausgebildete Industria-
lismus mit sich brachte, hat das Reservoir der Frauenkräfte zu-
sehends ausgepumpt, und die Verkehrswirtschaft, oft zum Schaden
des Familienlebens, an die Stelle der Hauswirtschaft mehr als nötig-
gesetzt. Als ein Ideal hat man es hingestellt, daß nur die in der
letzteren überflüssigen Frauen, das sind vor allem unverheiratete,
von der Industrie aufgenommen werden sollten, und zwar in den-
jenigen Berufsstellungen, für die die Frauenarbeit sich besonders
arbeitsteilig eignet. Davon ist aber die Wirklichkeit weit ent-
V. Die Industrie.
501
fernt, indem sowohl die im Vergleich zu der Männerarbeit nied-
rigen Löhne die Unternehmer veranlaßt, ihnen Ausreichendes lei-
stende Frauenhände zu suchen, als auch die privatwirtschaftliche
Not viele Frauen zwingt, durch ihr Geldeinkommen die Haushai-
ausgaben zu entlasten. Die Zählung von 1907 ermittelte 451007
verheiratete oder verheiratet gewesene Industriearbeiterinnen.
In der Periode 1882— 1895 vermehrte sich die Zahl der in
der Industrie erwerbstätigen Frauen um 394 142, in der folgenden
bis 1907 um 582806. In diesem Jahre war die Gesamtziffer
2103924 gegen 9152330 Männer, d. h. 18,70/0, während 25 Jahre
früher der Prozentanteil 17,6 betragen hatte. Die selbständigen
Frauen verminderten sich gleichzeitig von 10,4 auf 5,30/0, ein Satz,
der sich noch auf 3 0/0 ermäßigt, wenn die Hausindustriellen ab-
gezogen werden. Der zunehmende Großbetrieb, die komplizierte
Technik und die verschärfte Konkurrenz mit ihren; Geschäftskniffen
und Rechtsfragen machte die Frauen immer weniger geeignet, der
Betriebsleitung vorzustehen.
Die genannten 2 Millionen Frauen waren 22,2 0/0 aller im
Hauptberuf erwerbstätigen. Die Land- und Forstwirtschaft hatte
48,4 0/0, der Handel und Verkehr 9,8 0/0 ergriffen. Der Rest entfällt
auf 13,2 0/0 Dienstboten, 3,4 0/0 häusliche Dienste und 3 % öffent-
liche Dienste und freie Berufe.
Die Frauen als Angestellte in der Industrie haben seit 1882
ihren Anteil von 0,04 auf 0,67 0/0 erhöht. Die Grundziffer betrug
1907 63936 Personen, unter denen sich nur 711 technisch gebildete
Beamte befanden. Fast die ganze Zunahme ist auf das Büroperso-
nal zu setzen, der Rest ist Aufsichtspersonal, das 9515 Frauen um-
faßte. Die natürliche Anlage gibt also auch in dieser ganzen
Gruppe die Richtung an.
Die Hauptsumme der selbständig Erwerbenden machen die
Arbeiterinnen aus, 1562698, mit einer Vermehrung von 570396
von 1895 — "907- Hausindustrielle, im etwaigen Betrage von 150
bis 200000, sind der Mehrzahl dieser Gruppe hinzuzurechnen, also
von den Selbständigen abzuziehen. Jene zwölfjährige Zunahme
enthält 354 124 ungelernte Arbeiterinnen, außerdem eine große
Zahl mithelfender Familienangehöriger, während diejenige der Ge-
lernten nur in 9 Berufen nachgewiesen ist, d. h. noch nicht in der
Hälfte der eigentlichen Domäne der industriellen Frauenarbeit.
Fassen wir zusammen, so ist die qualitative Beurteilung der
weiblichen Tätigkeit in der Gesamtindustrie keine günstige. Da-
mit hängt es zusammen, daß die Löhne, obwohl sie auch für die
Frauen eine Erhöhung gebracht haben, doch nicht die Besserung
gewährten, wie sie die Männer zu verzeichnen haben.
502 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Die Vermehrung der weiblichen Angestellten und Arbeiter
überhaupt geht zusammen mit einer Abnahme der im Haushalt
der Herrschaft lebenden Dienstmädchen. Die letzteren machten
1882 noch 23,140/0 aller erwerbsfähigen Frauen aus, 1907 nur noch
13,6. Für das Familienleben des Mittel- und Arbeiterstandes ist
dieser Ausfall an hauswirtschaftlich vorgebildeten Ehekandida-
tinnen nicht ohne bedenken, da die Fabrikarbeiterin nichts Ent-
sprechendes lernt, und da ihre versuchte Erziehung in Volks- und
Fortbildungsschulen keinen Ersatz bietet.
Die Verteilung der Frauen über die industriellen Berufe ist
sehr verschieden. Bekleidung und Textilindustrie beanspruchen
1907 mehr als eine Million, Nahrung und Genußmittel 1/4 davon,
darunter 113 799 allein in der Tabakindustrie. Dann folgt das
Reinigungsgewerbe mit 161 739 Personen. Mehr als 60000 finden
wir in der Metallverarbeitung, der Industrie von Steinen und Erden
und in der Papierindustrie; mehr als 30000 in dem Gewerbe der
Holz- und Si hnitzstoffe, der Maschinenherstellung, der Poly-
graphie; mehr als 20000 in der chemischen und Lederindustrie.
Eine Zunahme ist seit 1882 durchweg vorhanden. Gering ist sie
im Bergbau, im künstlerischen und auch im Baugewerbe, bedeu-
tend in den Beschäftigungen, die die größten absoluten Zahlen
besitzen, d. h. in solchen, in denen die körperliche Kraft weniger
als die geschickte, geduldige Hand geschätzt wird oder die sich
mit der alten Übung in der Hauswirtschaft berühren. Aber auch
in der letzteren Abteilung hat die umgestaltende Technik einge-
griffen, wie z. B. in der Wäscherei mit ihren maschinellen An-
stalten, die der Männer zur Bedienung nicht entbehren können.
Indem sich die Frauenarbeit in bestimmten Gebieten konzentriert,
kann ihr Angebot den Bedarf zeitweilig übertreffen, so daß der
Erwerb geschmälert wird. Das gilt auch dort, wo die gelernten
Arteiterinnen überwiegen, wie z. B. in der Kleiderkonfektion, der
Putzmacherei, der Verfertigung künstlicher Blumen.
Den sozialwirtschaftlichen Wünschen der Fabrikarbeiterinnen
hat sich eine größere Anzahl wohl unterrichteter, in Wort und
Schrift befähigter Frauen aus anderen Gesellschaftsschichten an-
genommen. Auch haben „Konferenzen zur Förderung von Ar-
beiterinnen-Interessen" wiederholt stattgefunden, in deren Pro-
grammen weitergehender Schutz in den Fabriken, Unterricht, aus-
gedehnte Versicherung und Kinderschutz begründet wurden. Hier
wurde zugleich neben der Staatshilfe der Zusammenschluß in be-
sondere Frauengewerkschaften betont, der aber nur ausnahms-
weise geglückt ist. So bei den Heimarbeiterinnen im Rahmen der
christlichen Gewerkschaften und in dem der Hirsch-Dunckerschen
V. Die Industrie.
503
Vereine bei dem „Gewerkverein der Frauen und Mädchen". Beide
verfügten nur über geringe Ziffern. Die großen Gewerkschafts-
verbände der Männer sahen diese Organisationen nicht gern und
empfahlen den Eintritt der Frauen in die ihrigen. Auch hierbei
sind die Ergebnisse nur bescheidener Art gewesen, so daß man
den sozialpoHtischen Sinn der Frauen nicht höher als ihre Lust
an rein politischer Betätigung eingeschätzt hat.
Abschheßend brauchen wir nach dem bisher Gesagten kaum
auf die Vertiefung der Arbeitsteilung unter den Betrieben hinzu-
weisen. Daneben geht diejenige innerhalb der Betriebe. 1882 hat
man die Summe der verschiedenen Sonderleistungen in der deut-
schen Industrie auf 5000 geschätzt, 191 3 auf die Hälfte mehr, und
dies jst gering gerechnet.
Wir wenden uns jetzt zu den Ergebnissen des Produktions-
fortschrittes. Die Stein- und Braunkohle ergab von 1886— 191 1
ein wachsendes Jahresprodukt von 73,7 auf 218,1 Millionen Tonnen,
dessen Zunahme erst dann ganz ermessen wird, wenn wir ihr das
englische Wachsen auf 72,6, das französische auf 97,5, das bel-
gische auf 35,5 gegenüberstellen. Die Erzeugung von Kali und
sonstigen Salzen erhöhte sich von 187 1 — 19 10 um das 22fache.
1888 betrug die Kaliförderung 1,2 Millionen Tonnen, 1912 über 10.
Die Eisenerzerzeugung reichte mit Einschluß Luxemburgs seit 1887
nicht mehr trotz großer Steigerung für den Bedarf. Zu 29 879 000
Tonnen heimischen Produktes des Jahres 191 1 war die Ergänzung
einer Mehreinfuhr von 9810500 Tonnen erforderlich. In den
40 Jahren nach der Reichsgründung war der Wert der jährlich ge-
wonnenen deutschen Eisenerze von 30,8 auf 106,8, der Zink-, Blei-
und Kupfererze von 27,7 auf 82,7 und der sonstigen mineralischen
Bergbauprodukte von 8,6 auf 16,2 Millionen Mark gestiegen.
Der Eisenhochofenbetrieb vollzog sich um 1887 in 212, 19 13
in 313 Öfen, deren Belegschaft sich mehr als verdoppelte und deren
jährliches Erzeugnis sich fast vervierfachte. Unter ihnen gibt es
Riesen bis zu 30 m Höhe, die völlig mechanisch bedient, von Wind-
hitzern, Mischern und anderen Hilfswerken umgeben sind und es
im Maximum auf 65 000 Tonnen jährlich gebracht haben. Deutsch-
land hatte mit seiner Roheisenvermehrung von 3,991 auf 17,85
Millionen Tonnen in den letzten 25 Jahren vor 191 4 sogar die Ver-
einigten Staaten überholt, während England es nur auf zwei Drittel
der deutschen Menge brachte. Noch gewaltiger ist die Stahlgewin-
nung nach oben geschnellt. Sie zeigte von 1886— 191 2 eine prozen-
tuale Zunahme um 1335, während es England auf 154,1, Frank-
reich auf 692,9, die nordamerikanische Union auf 910, Belgien auf
cOA VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890— 1914.
783,60/0 brachten. Das schon erwähnte Siemens-Martin-Verfahren
hatte sich derart ausgedehnt, daß 1912 370/0 der gesamten Fluß-
eisenproduktion auf dasselbe gerechnet wurden gegen 250/0 um
1887. Vor allem hatte sich die Thomas-Gilchrist-Methode ierweitert,
die die phosphorreichen Erze in Lothringen und Luxemburg zu
verarbeiten gestattete.
Aus der sonstigen Produktionsstatistik, die im ganzen noch
wenig ausgebaut ist, erfahren wir, daß die Herstellung von Koks
in den Coppeöfen unter Gewinnung von Teer und Ammoniaksulfit
sich von 1888 — 19 13 verfünffachte, auf 29,14 Millionen Tonnen
wuchs, die von Zement (1897 — 1910) von 2499 Millionen Kilogramm
auf 6000, die Produktion von Schwefelsäure wurde 1913 auf 1,3 Mil-
lionen Tonnen geschätzt, von denen 800 000 bei der Fabrikation künst-
lichen Düngers Verwendung fanden. In der Elektrizitätsindustrie ver-
anschlagte man im gleichen Jahre die Arbeiterzahl auf rund 250000,
und den Wert der Produkte auf 1250 Millionen Mark. Die Leistung
der in einem Jahre von deutschen Werken hergestellten Strom-
erzeugern wird für 1906 auf ca. 500000 Kilowatt, 191 1 auf i 100 100
angegeben, die Zahl der zur zentralen Versorgung dienenden Elek-
trizitätswerke 1891 auf 30, 191 3 auf 4100. Diese Zentralen ver-
sorgten anfangs nur den Ort, wo sie erbaut waren, und entwickelten
sich mit der Zeit zu den sogenannten Überlandzentralen für meh-
rere Orte. Die Zahl der mit Elektrizität versehenen Orte betrug
1891 nur 35, 191 3 zählte man 17 500, was bedeutete, daß etwa
50 Millionen der Bevölkerung daran teilnahmen. Das Ziel der
Technik ist die einheitliche Ausstattung Deutschlands von wenigen
großen Kraftwerken aus. Schließlich sei noch erwähnt, daß die
Automobilfabriken von 1901 — 19 10 von 12 auf 56 vermehrt wurden,
in denen 25000 Angestellte und Arbeiter beschäftigt wurden.
Nach K. Helfferichs Schätzung wird man eher zu niedrig
als zu hoch greifen, wenn man für das letzte Vierteljahrhundert
eine Verdreifachung der industriellen Leistung in der deutschen
Volkswirtschaft ansetzt.
Die politischen Eingriffe zugunsten des industriellen Auf-
schwunges Deutschlands sind, so wichtig sie waren, ihrer Wirkung
nach nur zu verstehen durch das Zusammentreffen mit einer
Summe mehr oder minder offensichtlicher, natürlicher und ge-
schichtlich gewordener Energien, die der Nation eigen waren. Als
„Volk der Denker" ist das deutsche im Ausland einst zugleich be-
wundert und verspottet worden. Die wissenschaftliche Durchdrin-
gung der Erfindungen und Methoden hat man anerkannt. Sie als
Selbstzweck im Leben des Erfinders behandelt zu sehen, hat man
nicht begreifen können, sich aber gern gefallen lassen. Nun hatten
V. Die Industrie.
505
auch die Deutschen eingesehen, daß man in der Naturwissenschaft
das produktionstechnische, angewandte Denken nicht zu vernachläs-
sigen brauchte, ohne die Theorie preiszugeben. Man ist um
1890 längst darüber hinaus, die Neuerungen aus dem mechanischen
Ausprobieren zu gewinnen. Das systematische Verfahren der
Theorie tritt an die Stelle. Es ist eine Methode der Technik, daß
alles vorher bis ins Kleinste berechnet, vorgeprüft, wissenschaftlich
bewiesen ist, eine andere die, daß das, was in den Stätten der
Wissenschaft erdacht wurde, von den Fabrikleitern völlig aufge-
nommen wird, ehe zu der Verwendung für den Markt geschritten
wird. In den Instituten und Laboratorien sind die ökonomischen
Erwägungen sehr genau geworden, man fragt sich, ob und wieweit
man mit heimischen Produkten die ausländischen verdrängen kann,
was schon vor dem Krieg bei vielen chemischen Produkten ent-
scheidend wurde. Berühmt ist die Farbenindustrie mit ihren vielen
hundert akademisch Gebildeten — auf einen Beamten kommen hier
6 — 7 Arbeiter, in einer Spinnerei 16—18 — , in der die natürlichen
Farbstoffe Krapp, Indigo, Cochenille, Waid, Blauholz, Rotholz durch
mineralische oder künstlich organische Verbindungen einen Ersatz
fanden. Die großen Fabriken liegen an der Wasserstraße, auf der
die billige Zufuhr von Rohstoffen, und wo genug Wasser zur Küh-
lung nach der Destillation, zum Lösen und Waschen der Farb-
stoffe gegeben ist: Die badische Anilin- und Sodafabrik bei Lud-
wigshafen a. Rh., Fr. Bayer bei Leverkusen, das Farbenwerk Mühl-
heim, Meister Lucius und Brüning bei Höchst a. M., Kalle & Co.
bei Bieberich, Leop. Casella in Frankfurt a. M. Um die Farben-
industrie haben sich besonders verdient gemacht A. W. Hof-
mann, der Entdecker des Benzols im Steinkohlenteer, Ad.
Bayer, Emil und Otto Fischer um die Anilinprodukte. Im
Anschluß sei auch die Riechstoffchemie der synthetischen Aroma-
tika erwähnt mit Vanillin, Jonon und Kumarin und die Erfin-
dungen der Arzneistoffe, wie der Salizyl- und Karbolsäure und des
Antipyrins, und der Sprengstoffe, der Pikrinsäure.
Durch die Verbindimg von wissenschaftlicher Exaktheit und
technischer Vollendung zeichneten sich auch die feinoptischen und
feinmechanischen Betriebe der Zeisswerke in Jena aus unter
Carl Zeiss und Ernst Abbes Führung, die mit ihren Mikro-
skopen, Projektionsapparaten, Prismenfernrohren, den Ziel- und
Scherenfernrohren usw. einen Weltruf besitzen. Viel genannt ist
das Arbeitsvergütungssystem, das zu höchst sorgfältiger Arbeit
und zu Verbesserungen reizen soll. Der Urheber neuer brauch-
barer Erfindungen wird besonders belohnt, die Akkordarbeit mög-
lichst durchgeführt, eine Gewinnbeteiligung aller Beamten, mit
co6 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Ausnahme der Mitglieder der Geschäftsleitung, da sie die Höhe zu
berechnen haben, und der Arbeiter als Gehalt- und Lohnnach-
zahlung gewährt. Da die Gewinnbeteiligung der Arbeiter nicht
sonderlich hoch ausfiel — 9 o/o 1896 — 1903 — , wurden weitere sozial-
ökonomische Maßregeln zur Anwendung gebracht, die bei dem Ab-
satz des Unternehmens mit seinen vorzüglichen, vom Ausland nicht
erreichten Fabrikaten und dem Einsetzen einer Persönlichkeit wie
die Abbes dafür auch Erfolg hatten: ein Mindestlohn, Verkürzung
der Arbeitszeit, Urlaub in Zeitlohn und Hilfskassen.
Voraussetzung der Erfolge war die allgemeine und die Fach-
ausbildung auf Volksschule, Gymnasium, Universität. Die elf tech-
nischen Hochschulen, die sechs Handelsschulen, die vier landwirt-
schaftlichen, die drei Bergakademien, die Forstakademien, die tier-
ärztlichen Schulen waren von vornherein auf das Praktische ge-
richtet, ohne die „voransetzungslose" reine Wissenschaft zu ver-
nachlässigen. Die Vermehrung der technischen Flochschulen hatte
Kaiser Wilhelm II. mit richtigem Blick erfaßt, als er 1904
sich für sie, als dem künftigen Wohle des Vaterlandes dienend, aus-
sprach. Die Begründung neuer Anstalten in Danzig und Breslau
folgte, wie die der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, die sich bald durch
wissenschaftlich-technische Entdeckungen auszeichnete.
Von den großen produktiven Neuerungen ist an erster Stelle
die Ausnutzung von Motoren zu nennen, der Dampf- und Ex-
plosionskraft und der Elektrizität. Die erstere mit Kolbenbetrieb
hatte zwar schon das ganze Jahrhundert ihre umwälzende Macht
betätigt, ist aber in ihrer Anwendung mit der Turbine, eines durch
Dampfstrom bewegten Schaufelrades, und der Dampfüberhitzung
vervollkommnet worden. Die Turbine erwies sich bei der Erzeu-
gung elektrischer Energie und für die Schiffahrt besonders wert-
voll. Die Explosionsmotoren treten zuerst praktiscch bedeutsam
in der Gaskraftmaschine hervor, bei der auch Torf und Braun-
kohle erfolgreich benutzt werden. Sie werden in stehenden Be-
trieben mit annähernd voller Betriebszeit verwendet. Die Benzin-
und Petroleumkraftmaschinen, die von den genialen Erfindern
Daimler und Benz, von Gebr. Körting usw. fabriziert wer-
den, haben sich wegen des leicht transportierbaren Explosivstoffes,
bei ihrer augenblicklich verfügbaren Betriebskraft und der Leichtig-
keit der Unterbrechung rasch in der Lokomobil-, Motorboot-^
Motorpflug-, Automobil-, Luftschiff- und Flugzeugindustrie einge-
bürgert. Der Gebrauch des Benzols und anderer Produkte des
Steinkohlenteers wird z, B. in den höchst wertvollen, Brennstoffe
durch Einspritzung hochkomprimierter Luft sparenden Diesel-
motoren mit Nutzen vorgenommen.
V. Die Industrie.
507
Der elektrische Strom wurde in dem zweiten und dritten
Viertel des 19. Jahrhunderts bei Telegraphen, I.äuteapparaten,
später bei dem Telephon, in der Schwachstromtechnik schon ge-
braucht. Mit der von Werner von Siemens konstruierten
Dynamomaschine, bei der der Magnetismus als Vermittler auftritt,
indem sich Strom und Magnetismus in Drehungen fortwährend bis
zu einem Maximum verstärken, beginnt die Starkstromtechnik,
unter der die Kraft- und Arbeitsmaschinen eine neue Richtung
einschlugen. Aber erst seit dem Anfang der neunziger Jahre wird
die elektrische Energie als Betriebsmotor und Lichtquelle im
großen möglich. 1891 wurde der elektrischen Ausstellung in Frank-
furt a. M. der Starkstrom aus der Entfernung von 175 km zuge-
führt, der in Lauffen aus dem Gefälle des Neckars erzeugt worden
war. Eine große Ersparung gegen die Erzeugung durch galva-
nische Elemente bei dem teuren Zink war gewonnen worden.
Die Elektrizität, deren wertvolle Ausnutzung darin beruht,
die Energie auf weite Entfernungen zu übertragen und den Strom
in beliebig kleine Teile zu zerlegen, bedarf einer selbständigen
Kraftquelle. Das fallende Wasser ist in Mittel- und Süddeutsch-
land zwar lange nicht so gewaltig wie in Frankreich, Italien, Öster-
reich und der Schweiz, läßt sich aber nach dem Prinzip der
Höchstausbeute durch praktische Formen in den Turbinen, Tal-
sperren und Stauweihern bedeutsam steigern. Der Braun- und
Steinkohlenverbrauch bei der Elektrizitätserzeugung wird dadurch
gemindert, daß die Kohle nicht mit ihrer eigenen Kraft soweit
wie ehedem verfrachtet zu werden braucht.
In der neuesten Zeit bedient man sich auch der Gaskraft-
maschine zur Gewinnung der Elektrizität. Das bei der Koksherstel-
lung entweichende Gas wird an Ort und Stelle aufgenommen, das
auch unter Benutzung des Glühstrumpfes zur intensiven Beleuch-
tung dient. Der Gasmotor ist auch Gasen von geringerem Heiz-
wert, wie sie den Hochöfen entströmen, zugänglich gemacht wor-
den, so daß die ihnen angeschlossenen Werke ihre elektrischen
Zentralen selbst zu versorgen vermögen. Da die Nutzbarmachung
dieser Gase, z. B. auch in den Walzwerken, bei Dampfkesseln und
Wärmeanlagen gelungen ist, gibt es große Eisen- und Hütten-
werke, wie das Kruppsche, die die unmittelbare Steinkohlenver-
brennung nicht mehr nötig haben. Eine große Ersparnis an Heiz-
kraft wurde seit der Mitte der neunziger Jahre in der Weise ge-
wonnen, daß das flüssige Roheisen „in einer Hitze" dem Stahlwerk
und von da ohne Erkaltung dem Walzwerk zugeführt wurde (vgl.
oben, V, 2).
eo8 VI- Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Eine Rückwirkung der neuen Krafterzeugung ist auf die
Landwirtschaft eingetreten, dadurch, daß bei der Torfvergasung
nicht nur Ammoniak zu Dungzwecken gewonnen, sondern auch der
Abbau der Moore beschleunigt wird, wodurch nutzbares Land ver-
fügbar wird. Schon früher war der Rückstand des Thomasver-
fahrens, die gemahlene Thomasschlacke, zu einem wertvollen Phos-
phordungmittel geworden, jetzt kam auch die Gewinnung des
schwefelsauren Ammoniaks aus der Ruhrkohle dem Boden zugute.
Während man im Hüttenwesen als den wichtigsten Fortschritt
die Einführung der Nebenproduktengewinnung, also etwas ganz
Neues, anerkannte, hatte man im Bergbau an Bestehendes überall
anzuknüpfen, wenn man auch zu wesentlichen Vervollkommnungen
gelangte. Neben dem alten Verfahren der Schuttabteufung zur
Erschließung der Lagerstätten wurde das der Zementierung mit
Erfolg angewandt. Bei der Gewinnung der Kohle stellte sich die
allgemeine Einführung des Bergversatzes und des Spülversatzes
als eine bedeutende, auf 20 Milliarden geschätzte Erweiterung des
Volksvermögens dar, da man die mächtigen bisher unabbaubaren
Sicherheitspfeiler aus Kohle in den Gruben nicht stehen zu lassen
brauchte. Im Grubenausbau wurde das Holz durch Eisen vieler-
orts ersetzt. Die Handarbeit wurde unter Tag durch neue Bohr-
maschinen, im oberirdischen Braunkohlenbetrieb durch Tief-, Hoch-
und Löffelbagger erleichtert. Die Förderung wird durch die elek-
trische Gleichstromfördermaschine, durch die verbesserte Dampf-
maschine, durch Anlagen mit endlosem Seil bei der Abbau- und
Streckenförderung, durch die elektrische und Preßluft-Grubenloko-
motive schneller und weniger gefahrbringend. Zu der mittels
brauchbareren Waschmaschinen erzielten Naßaufbereitung der Erze
ist die magnetische getreten. Große Bedeutung hat die Aufberei-
tung der Braun- und Steinkohlen in der Brikettindustrie gefunden,
die mit ihren mehrfach verbesserten Pressen nicht bloß allgemein
Staubabfälle zu einem wertvollen Produkt umgestaltet, sondern
auch die wegen ihres hohen Wassergehaltes transportschwere
Braunkohle zu einem Fernprodukt mit verdoppeltem Heizwert ge-
macht hat.
Ebenso wie die neuen Motoren, haben die Werkzeug- und Ver-
arbeitungsmaschinen in immer vollkommeneren Arten den indu-
striellen Groß- und Kleinbetrieb belebt. Dazu kamen zahllose
Apparate, die mit den Maschinen verbunden wurden oder ihnen
vorarbeiteten, wie die mechanischen Innentransportmittel, die
Rollen in den Walzwerken, die Greifer, Zangen, Krahne. Die Ver-
einigten Staaten waren besonders reich in der Erfindung der Ar-
beit unmittelbar sparenden Maschinen, die als landwirtschaftliche
V. Die Industrie. cqq
zuerst ihren Weltruf begründet haben. Der hohe Preis der Ar-
beitskraft wurde als das Motiv dieses Fortschrittes erkannt, und
es ist für die achtziger Jahre noch richtig zu sagen, daß die Spar-
samkeit an Rohstoffen eine europäische, an Arbeitskraft eine ameri-
kanische Sonderheit der Industrie gewesen ist. Seit der Mitte der
neunziger Jahre ist in Deutschland die menschliche Arbeitsleistung
so verteuert worden, daß auch hier das dringende Bedürfnis nach
maschinellem Ersatz auf der Tagesordnung blieb.
Nur einige Beispiele des technisch-maschinellen Fortschritts:
Um 1900 wird die Papierindustrie als so leistungsfähig ge-
priesen, daß sie besonders nach der Gewinnung des Fichtenholz-
zellstoffes durch das von Mitscherlich in München entdeckte
Sulfitverfahren soviel Papier herstellen kann, als 7 Milliarden Ar-
beiter mit der alten Handarbeit fertig gebracht hätten. Mit dem
verbesserten Tonwalzverfahren und der Errichtung großer
Öfen, wie des kontinuierlich brennenden Ringofens, entsteht die
massenhaft leistende Ziegel-, Chamotte-, Majolika-, Steingut- und
Porzellanfabrikation in Thüringen, Bayern, Sachsen, dem Elsaß,
im Schwarzwald, in der Pfalz, an der Saar und am Niederrhein.
Neben den alten Holz- und massiven Tafeluhren und Regulatoren
werden die sogenannten Amerika-Uhren in Baden und Württem-
berg fabrikmäßig auf mechanischem Wege hergestellt. Selbst die
Spielwarenindustrie, soweit sie in Nürnberg eine fabrik-
mäßige ist, ist der maschinellen Metallverarbeitung zugewandt.
Die Glasindustrie machte große Fortschritte durch den von
Fr. Siemens erfundenen regenerativen Gasofen. Die Leder-
industrie, obwohl durch das ganze Jahrhundert vervielfältigt
und vergrößert, ändert ihre Technik erst in den achtziger Jahren,
als die Bewegung der Häute in rotierenden Fässern von Italien
übernommen wurde, nachdem die zunehmende Verwendung aus-
ländischer, durch Zölle zum Schutz der Eichenschälwälder ver-
teuerter, daher rationell auszunutzender Gerbstoffe, besonders des
Quebrachoholzes, sowie die überseeische Einfuhr von Flauten den
Großbetrieb begünstigt hatte. Die Rindenzerkleinerungs-, Aus-
wasch-, Spalt-, Lederschliff-, Ledermeßmaschinen, die Lohpresse
und die Extraktionsanlage werden üblich. Eine Zweiteilung kommt
in das Gewerbe durch die von den Vereinigten Staaten übernom-
mene mineralische Gerbung, die zahlreiche neue Maschinen nach
sich zieht und der alten vegetabilischen neue Anregung gibt. Seit
1900 hat die Chromgerbung in Deutschland einen gewaltigen Auf-
schwung genommen, sowohl durch Einstellung von Gerb-, Walk-,
Schmier-, Farbfässern und Gefäßen zum Äschern, Beizen, Wässern,
als auch durch die chemisch-wissenschaftliche Durchdringung des
ejo VI. Abschnitt Die Zeit von 1890 — 1914.
Produktionsvorganges, womit immer neue Methoden gefordert
wurden.
Die Nähmaschinenfabriken arbeiten mit Spezialhilfs-
maschinen, die nur von ihnen gebraucht werden können und die
äußerst exakte Anfertigung der einzelnen Teile bezwecken, mit
Meßinstrumenten, wie die „Lehre", Einspannvorrichtungen, Hobel-,
Fräs-, Bohr-, Stoß-, Schleifmaschinen und automatischen Dreh-
bänken. Mit ähnlichen Präzisionsvorrichtungen ist die Fahrrad-,
die Automobil-, die Motorfahrrad-, Schreibmaschi-
nenindustrie ausgestattet, und ebenso bedürfen wieder alle
hierbei erforderlichen Werkzeugmaschinen bei ihrer Herstellung
selbst entsprechende Instrumente und Maschinen. In der Bijou-
terie wird die Handarbeit ergänzt durch Pressen und Feinwalzen,
Drahtzieher, Poliermotoren, Polierbänke, Exhaustoren. In den
Kakaowerken wird die Aufgabe, die Masse zu unfühlbarer
Feinheit zu zerreiben und mit anderen Stoffen, z. B. der künstlichen
Vanille, zu verbinden, aufs beste gelöst. Auch die Zigarren-
und Zigarettenfabrikation, in der die Handarbeit fast das
ganze Jahrhundert vorherrschte, hat sich durch Trocknenvorrich-
tungen, Nebelpumpe, Rippenwalzwerk, Wickelmaschine, Kordel-
apparat, Präzisionsfeinschnitt-, Stopf-, Hülsen-, Mundstückmaschine
vervollkommnet. Das Buchdruckergewerbe ist ebenfalls
durch Spezial- und Hilfsmaschinen für die einzelnen Drucksachen-
arten von der alten Setz- und Preßmethode abgegangen. Die Zy-
linder-, Tiegeldruckschnell-, die Rotationpressen wirken zusammen
mit den automatischen Bogeneinlegern, den Zeilenguß- und der
Setzmaschine mit einer Klaviatur wie bei der Schreibmaschine.
Es gibt, namentlich in der chemischen Industrie, Fabrikräume, in
denen nur Maschinen tätig sind, und man keinen Arbeiter mehr
sieht, während von einer Zentrale aus ein Mann mit zahlreichen
Handgriffen an Hebeln, Kurbeln, Druckknöpfen allein operiert.
Um noch ein Wort über die Maschinenindustrie im
allgemeinen zu sagen, so wird ihre große Selbständigkeit
dem Auslande gegenüber dadurch charakterisiert, daß 191 1 an
Maschinen, elektrotechnischen Erzeugnissen und Fahrzeugen für
114 691 000 Mark ein- und für 920902000 Mark ausgeführt wurde,
in welcher Statistik nicht einmal alle Maschinen, wie Schreib- und
Sprechmaschinen, Kontrollkassen, Läutewerke, Gasmesser und man-
cherlei Maschinenteile enthalten sind. Sie beschäftigte 1907
I 120282 Personen, das Doppelte wie 1895.
Die Arbeitsteilung unter den stark im Großbetrieb tätigen
Maschinenfabriken ist außerordentlich fortgeschritten. Die be-
kanntesten Hauptgruppen mit vielen selbständigen Unterabtei-
V. Die Industrie.
511
lungen bilden die Elektrizitäts-, Dampf-, Verbrennungskraft-, Heiß-
luft-, Wasserkraft-, Werkzeug-, Faserstoff-, Zerkleinerungs-, Mahl-,
Misch-, Sichtmaschinen, solche zum Heben und Bewegen von
Lasten, zur Erzeugung von Kälte, zur Gewinnung von Erden,
Steinen, Erzen, zum Zweck der Hygiene und des Wohnungs-
schutzes, für die Landwirtschaft, Müllerei, Brauerei, Zuckerindu-
strie und den Transportverkehr.
Alle Maschinenfabriken stellen wiederum maschinell die ein-
zelnen Teile her, deren Genauigkeit in der Herstellung auf Grund
vorzüglichen Materials, feinster Meßinstrumente und ausgezeichnet
vorgebildeter Arbeiter eine so weitgehende ist, daß, wie man mit
einiger Übertreibung gesagt hat, die einzelnen Stücke zum fertigen
Ganzen von selbst zusammenfallen müssen. So ist es denn auch
immer mehr möglich geworden, nicht bloß die Typen von Teilen,
wie z. B. Kugellager, Gleitlager, Schneckengetriebe, Zahnräder,
Kurbeln, in Massen zu produzieren, sondern auch von fertigen
Maschinen, obwohl hier das amerikanische Vorbild nicht erreicht
wurde und bei der notwendigen Vielseitigkeit des deutschen Ex-
portes auch zunächst nicht erreicht werden konnte.
Im Vergleich zu den vorausgehenden beiden Jahrzehnten ist
unter der Ausbildung der Ingenieure auf den Hochschulen die kon-
struktive Berechnung und Formgebung, die Verwirklichung einer
bis ins Kleinste durchdachten Idee der Maschine an die Stelle des
praktischen Ausprobierens unter vielen Fehlversuchen getreten. Die
steigende Nachfrage aus der Industrialisierung der Welt drängte
dazu, die die Maschinenindustrie ihrerseits immer durch ihre Neue-
rungen vorwärts trieb. Die Industrialisierung Deutschlands wird
dadurch gekennzeichnet, daß sie auch Landesteile im großen
ergreift, die bisher über Handwerk und Kleinbetriebe nicht wesent-
lich hinausgekommen waren. Rein agrarisch sind noch die Mecklen-
burgs, in Preußen Pommern, West- und Ostpreußen und Posen,
in Bayern Oberpfalz, Niederbayern und Unterfranken. München
tat den Schritt zur Großstadt unter dem Prinzregenten L u i t -
pold, hatte 1871 169693, 19 10 aber 596467 Bewohner. Dem
entspricht die Vielseitigkeit imd Größe der Industrie. 1904 zählte
man 9725 gewerbliche Anlagen, darunter 588 Fabriken mit 28439
Arbeitern. Die wichtigsten Gewerbe nach der Brauerei bezogen
sich auf Leder, Handschuhe, künstliche Blumen, Maschinen, Loko-
motiven, Gummiwaren, Malzkaffee, Möbel, öl, Spiritus, Papier,
Fässer, Metallwaren, optische, photographische, lithographische
Waren, Glasmalerei, Buchdruckerei, Gold- und Silberstickerei, Erz-
guß, Kunstmühlen und Ziegeleien. Entsprechend wird München
Handels-, Bank- und Geldplatz. Die Ausnutzung der Gebirgs-
ei2 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Wasserkräfte zur Gewinnung elektrischer Energie wird geplant,
aber erst nach 1920 in die Wege geleitet, da die Gegenzüge der
Bürokratie und der Gegeninteressenten nicht zu überwinden sind.
Die Peripherie der Stadt erweitert sich, Vororte werden einge-
gliedert. Dann setzt mit einem Ruck die Bautätigkeit aus, als der
Krieg beginnt. Die bisherige Entwicklung hört auf. Erst 1922 be-
ginnt wieder der Neubau von Wohnhäusern, während die Industrie
sich in ihren alten Räumen weiter behilft.
Die großen Fortschritte der industriellen Technik in Verbin-
dung mit dem Kapitalreichtum erzeugten eine solche Produktivität,
daß die Anordnung des Absatzes zu einer immer komplizierteren
Aufgabe wurde. Je mehr Kostenersparung, Arbeitsteilung und
Zusammenfassung, Einschränkung oder Beseitigung der Konkur-
renz dem Markte angepaßt werden mußten, um so mehr bedurfte
es des ethischen Öls, um die ungezählten, möglichen Friktionen zu
vermeiden. Indem die Zweckstellung der Organisation von jedem
Einzelnen anerkannt wird, entwickelt sich in ihr das verantwort-
liche Befehlen ebenso wie das bewußte Gehorchen. Der militärische
Dienst hatte diese Tugenden großgezogen, die sich auf einem
neuen Gebiete der Disziplin zu betätigen hatten. Die Post und das
Eisenbahnwesen, der transatlantische Riesendampfer, die Groß-
bank, das Warenhaus, das kombinierte Großeisenwerk umfassen
Kompagnien und Regimenter, die von Offizieren und Unteroffi-
zieren geführt werden und dem einzelnen Mann nichts Willkür-
liches gestatten. Scheinbar ist das Individuum nur ein Rädchen in
einer Gesamtmaschinerie, aber bei genauerer Betrachtung ist es
doch eher einer beseelten Zelle vergleichbar, die zwar jedem Wink
von oben zu folgen hat, aber im Bewußtsein ein unentbehrlicher
Teil eines Ganzen zu sein, den eigenen W^illen zu der Gesamt-
leistung haben und dazu erzogen werden muß. Verschwindet der
Wille zur sozialen Ordnung, so kommt das ganze Werk ins
Stocken, wie wir das in furchtbarer Weise 191 9 erleben sollten.
Die Großunternehmer und Direktoren der Gesellschaften kön-
nen bei einer solchen feinen Großbetriebsweise gar nicht so unter
der Profitsucht stehend gedacht werden, wie die sozialdemokra-
tische Theorie es annimmt. Das Gedeihen des ganzen Kunstwerkes
ist es, was ihnen am Herzen liegt, die lebendige Vorwärtsbewegung
wird ihnen zur Pflichterfüllung. Gerade weil die Ausstände die
Ordnung der Technik, die Betriebsgestaltung, die Marktanpassung
bedrohen, werden die Kämpfe von selten der Arbeitgeber so er-
bittert geführt.
Der Kapitalismus soll die ihm innewohnende Kraft haben,
die Unternehmungen zu immer größeren Einheiten zu verdichten.
V. Die Industrie.
513
Allein bei der Industrie, so sehr sie sich auch konzentrieren
mochte, ist es immer eine offene Frage, ob die Technik, die Markt^-
gewinnung, die Handels- und Steuerpolitik, die Kostenersparung
oder die Konkurrenz den eigentlichen Antrieb dazu hergibt. Der
Staats- und Kommunalbetrieb kann nach außen nicht anders als
der privatkapitalistische vorgehen. Übrigens decken sich großer
Betrieb und Besitz keineswegs, welche Tatsache in die Marx sehe
Entwicklungslehre nicht hineinpaßt. Ebenso wie Tausende von
Arbeitern in einen Betrieb zusammengefaßt werden, so oft auch
Hunderte von Kapitalisten. Arbeiter und Kapitalgeber haben in
dem Aktiengeschäftsbetrieb eine ähnliche Stellung. Der Arbeiter
kann auf Grund seiner Freizügigkeit austreten, der Kapitalist seinen
Anteil verkaufen. Bei der Leitung der Arbeit haben die Arbeiter,
bei der Verwaltung die Aktionäre nicht mitzusprechen. Die er-
fahrenen technischen Beamten und die Großkapitalisten iiaben das
Wort. Sachkenntnis und Persönlichkeit entscheiden bei ihnen,
nicht die bewußtlose Tendenz des aufgespeicherten Geldkapitals.
Marx setzt geschichtlich auseinander, wie sich Besitz und
Arbeit trennen. Die neue Zeit zeigt, wie der Arbeiter wieder Be-
sitzer wird. Der Besitz in der Sparkasse, der Anteil an der Kon-
sumgenossenschaft, die gekaufte Staatsschuldverschreibung, das
eigene Haus haben zwar nichts zu tun mit der Unternehmung, in
der er sein Brot verdient. Aber jeder Besitz trägt in sich die Mög-
lichkeit der Erweiterung und macht gesellschaftserhaltend. Damit
war das nach außen verdeckte Motiv für die soziale Spaltung der
Sozialdemokratie in besitzende und besitzlose Genossen gegeben.
Die Gesellschaftsform tritt mehr und mehr an die Stelle der
Privatuntemehmung, da das Kapital des Einzelnen nicht mehr
hinreicht. Das Risiko des schwer übersehbaren Marktes wird auf
die breiteren Schultern der vielen Kapitalisten gelegt. Die Spezia-
lisierung auf eine Warengruppe, z. B. auf Garne bestimmter Num-
mer, Halbfabrikate der Stahlindustrie, Einzelteile von Maschinen,
Schrauben, Scharniere, Schuhleisten, Uhrzeiger, Nadeln und auf
die Typenbildung innerhalb derselben gedeiht am besten im
großen, ist aber wegen leicht möglicher Überproduktion geschäft-
lich gefährdet. Hier ist also die Gesellschaft geboten. Wo hin-
gegen die konsumfähigen Fertigfabrikate zusammengesetzt werden
oder nach der Mode rasch wechseln oder viel Spezialaufsicht er-
fordern, ist die Privatunternehmung noch geblieben.
Auf der Aktiengesellschaft beruht das große gemischte Werk,
das wir in den letzten Jahrzehneten so auffällig sich bilden sehen.
Erzgruben, Hütten- und Hammerwerke, auch mit Anschluß von
Holz- und Kohlenbesitz, waren schon vor hundert Jahren kombi-
A.Sartoriiisv. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. ,93
CI4 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
niert. Die neuzeitliche Zusammenfassung, ohne die technische Ar-
beitsteilung damit preiszugeben, kennt daneben auch Koksereien
und Kalksteinbrüche, alles jedoch im Stile des Großbetriebes und
der besten Einrichtung. Sie stellt Roheisen, Rohstahl, Platten,
Bleche, Röhren, Träger, zuweilen auch Fertigfabrikate, wie Schie-
nen, her. Besitzer von Kohlengruben werden auch Rheinschiffer.
Die Lokomotivenfabrik z. B. von Henschelund Sohn in Kassel
deckt ihren wesentlichen Bedarf aus eigenen Fabriken. Die Gute-
Hoffnungshütte hat sich eine Brückenbauanstalt und eine Ma-
schinenfabrik angegliedert. Die führenden rheinischen Montan-
werke sind durchweg keine reinen mehr, die schlesischen haben
ihren „gemischten" Charakter niemals aufgegeben. Wir haben
oben das Kruppsche Werk bis in die siebziger Jahre kurz
verfolgt. 1873 standen 71 Dampfhämmer, 286 Dampfmaschinen
und 16000 Personen in seinem Dienst. Für die neukonstruierten
Schnellfeuergeschütze wurden eigene Schießplätze erworben. 1888
wurden neue Martinwerke errichtet, in Lothringen Erzgruben er-
worben. Für 1890— 1893 werden 24000 Beschäftigte angegeben,
das Grusonwerk in Magdeburg wird gekauft, 1896 die Schiffsbau-
aktiengesellschaft Germania in Kiel übernommen. Im folgenden
Jahre beginnt der eigene Hochofenbetrieb. Um die Jahrhundert-
wende sind 45000 Mann in Stellung, 191 2 68300, als die 50000.
Gußstahlkanone abgeliefert wurde.
Die Werkkombination setzt ungeheuere Kapitalien voraus, wie
sie die Aktiengesellschaft mit Obligationenausgabe allein bietet.
Die Jahresdividenden können hochgehalten und ausgeglichen wer-
den, das Leihkapital strömt willig herbei, die Verbindung mit der
Großbank ist gesichert. Die Vielseitigkeit entsteht auch aus ver-
schiedenen Motiven heraus. Teils wie bei Thomas werken ent-
scheidet die Technik, Hochofen, Stahlbirne und Walzwerk in einer
Hitze auszunutzen; teils, wie bei den großen Kohlen werken, der
sichere Verbrauch des Produktes über die Aufnahmefähigkeit des
Marktes hinaus, was auch von den Koksereien mit deren wichtigen
Nebenprodukten gilt; teils die Unabhängigkeit vom Einkaufsmarkt,
die zum Erwerb von Kohlen- und Erzgruben drängt; teils die Siche-
rung auf dem Verkaufsmarkt, die die Halbfabrikate wieder ver-
arbeiten läßt, wie in den Walzwerken. Die Marktabhängigkeit er-
zeugt das Streben, die Vor- und Nachstufen der alten Produktion
immer weiter hinauszuschieben. Man rückt an den letzten Konsu-
menten näher heran und schaltet die zwischenliegenden Markt-
schwankungen aus.
1886/87 gab es in Deutschland 2143 Aktiengesellschaften und
Kommanditgesellschaften auf Aktien mit einem Nominalkapital von
V. Die Industrie.
515
4876 Millionen Mark, 1909 5222 mit 14737,3. In diesem Jahre
kamen auf Bergbau, Hütten und Salinen 243, dazu 40, die damit
zugleich die Metall- und Maschinenindustrie verbanden; auf Steine
und Erden 366, die Metallverarbeitung 160, die Maschinen 547,
auf die chemischen Werke 150, die textilen 357, auf Nahrungs-
und Genußmittel 936, die sonstigen Gruppen 575.
Die Gesellschaftszahl überhaupt ist, seit dieser statistischen
Aufnahme, 1910 um 186, 191 1 um 169, 1912 um 182, 1913 um 175
weiter gewachsen. Die Zunahme der großen Unternehmungen
tritt dadurch^ hervor, daß 1886/87 74 Gesellschaften mit einem
Kapital von mehr als 10 Millionen Mark vorhanden waren, 1909
229. In den gemischten Werken betrug während des gleichen
Jahres das Durchschnittskapital gegen 25 Millionen Mark, womit
alle sonstigen Durchschnitte übertroffen wurden.
Die leichter zu begründenden Gesellschaften mit beschränkter
Haftung, die als ein Mittelding zwischen offener Handelsgesell-
schaft und Aktiengesellschaft, als eine Art Kommanditgesellschaft
ohne persönlich haftende Mitglieder, gemäß dem Reichsgesetz von
1892 gegründet worden sind, waren bei ihrer freieren Verfassung
1909 viermal so zahlreich als die Aktiengesellschaften, verfügten
zusammen nur über ein Viertel des Kapitals von diesen. Sie haben
ihren Schwerpunkt in weit kleineren Unternehmungen mit einem
durchschnittlichen Stammvermögen von 214000 Mark und sind
daher für die große Industrie nicht geeignet.
Eine ganz andersartige Kapitalassoziation hat sich die deut-
sche Industrie in den Unternehmerverbänden, den Kartellen,
geschaffen. Man versteht darunter die für eine längere Zeit, ge-
wöhnlich für einige Jahre, geltenden Verabredungen von Groß-
unternehmern des gleichen Geschäftszweiges in ganz Deutschland,
oder wenigstens in einem weiteren Industriebezirk, um unter der
Beschränkung oder Beseitigung der Konkurrenz untereinander den
Reinertrag der Angeschlossenen zu behaupten oder zu erhöhen —
ohne den selbständigen Produktions- bzw. auch den Einkaufs- und
Verkaufsvorgang aufzuheben, wenn er auch unter Kontrolle ge-
stellt wird. Das Motiv zur Gründung ist also privatwirtschaft-
licher Art, aber volkswirtschaftliche Folgen sind unausbleiblich.
Daher kann der Staat die Kartelle nicht ignorieren, wenn auch sein
Eingriff in der hier beschriebenen Zeit im Vergleich zu derjenigen
des Weltkrieges gering war, während welcher ihn die ganz ver-
änderte Wirtschaftsweise auf seine Pflichten hinwies.
Die Kartelle gehen in die Periode von 1871 — 1890 zurück,
ihre örtlich beschränkten ersten Anfänge, wie bei Weißblech,
Kohlen, Salz sogar noch auf frühere Jahre. Während des Nieder-
33*
ei6 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
ganges nach der Krise von 1873 kartellierten sich unter anderem
Kohlenzechen, auch Roheisenwerke, so daß damals die voreilige
Theorie aufkam, daß diese Verbände Kinder der Not seien und mit
dieser verschwinden würden. x\ber der Geschäftsaufschwung von
1888 — 1890 und der nach 1895 und 1903 wollten davon nichts
wissen. Die Anschauung wurde die allgemeine, daß die Unter-
nehmerverbände in der heutigen Wirtschaftsordnung tief begründet
liegen, wenn sie auch erst in Erscheinung traten, als sich Verkehr
und Kapitalmassen im ganz großen regten. Schon die Tatsachen,
daß vor allem in England und Nordamerika die Privatbahnen und
die Ozeankabelgesellschaften mancherlei Fusionen eingegangen
waren, um den Wettbewerb auszuschließen, daß es „Ringe" von
Kaufleuten und Börsenspekulanten gab, die gegen die Einkäufer
zusammenstanden, daß der Assoziationsgedanke von altersher das
Kleingewerbe durchzogen hat, mußten es nahelegen, daß auch die
Großindustrie denselben Weg beschreiten werde.
Nach einer Veröffentlichung der Reichsregierung von 1905
wurden in Deutschland 366 Industriekartelle ermittelt, von denen
sich 200 mit einer gemeinsamen Verkaufsstelle ausgestattet hatten.
Als wichtigste kamen 9 auf Kohlenbergwerke, 20 auf die Eisen-,
7 auf die Metall-, 17 auf die chemische, 5 auf die Zementindustrie.
Vor dem Kriege waren mehr oder minder fest kartelliert: Die
Unternehmungen in Kohle, Koks, Steinkohlenbriketts, Roheisen
und Stahl, soweit hier die sogenannten A-Produkte, Halbzeug,
Träger, Schienen usw. in Frage stehen, in Zink, Blei, Kupfer, bei
chemischen Produkten in Soda, Essigsäure, Chlorkalk, Benzol,
Teer, Brom, Jod, Karbol, Borax, Bleiweiß, Glyzerin, Farbstoffen;
bei den Dungmitteln in Kali, Thomasmehl, Superphosphat und
schwefelsaurem Ammoniak; ferner die Geschäfte in Pulver- und
Sprengstoffen, Baumaterialien, wie Zement, Gips, Ziegeln, Asphalt,
Wasserkalk, Verblendsteinen, Porphyrsteinen, in Druckpapier und
Spiritus.
Die in den Vereinigten Staaten maßgebende Form der
Unternehmerverbände, die Trusts, haben in dem
Deutschland vor dem Kriege nur wenig Boden gewonnen. Die
Trusts sind zeitlich unbegrenzte Dauererscheinungen, sei es in
dem Gewände der Aktiengesellschaft, in die Einzelunternehmungen
und Gesellschaften eingeschmolzen werden, sei es, was die Regel
ist, holding companies, in denen alle Mitglieder, eventuell erst aus
Privatunternehmungen zu schaffende Aktiengesellschaften sind, die
sich in einer Zentralleitung dadurch zusammenfassen lassen, daß
diese gegen die Ausgabe von Trustzertifikaten die Aktien in die
Hand bekommt und damit einen Landesindustriezweig „kontrol-
V. Die Industrie.
517
liert", ohne für ihre monopolistischen Maßnahmen der Öffentlich-
keit nach dem Rechte voll verantwortlich zu sein. Vor allem sind
es Inhaber von Börsenfinanzkräften, oft einzelne Personen, die als
Gründer an der Spitze stehen und den angeschlossenen oder ein-
gezwungenen Mitgliedern nur so viel Selbständigkeit lassen, als
es ihrer Willkür beliebt. Die kleinen Werke erhalten sie, solange
es ihnen paßt, während die deutschen Kartelle diese soziale Auf-
gabe der Erhaltung anerkannt haben. Der Staat hat in Amerika
keinen nennenswerten Einfluß auf die Trusts bei der mangelhaften
Gesetzgebung und der bedenklichen Einwirkung der Kapitalmag-
naten auf die Staatsorgane gewonnen. Das Ziel der Trusts ist die
volle Beherrschung des Marktes, die sich auch auf das Ausland zu
erstrecken sucht.
In Deutschland bestand nur die Vertrustungsgefahr im Braun-
kohlenbergbau, die von einem tschechischen Großkapitalisten
J. Petschek mit Unterstützung deutscher Großbanken ausge-
gangen ist. Es sind allerdings auch Braunkohlensyndikate vor-
handen, wie das Niederlausitzer und das mitteldeutsche, allein ihr
Bestand ist nicht gesichert, seitdem die Kapitalmacht des Trusts in
sie eingedrungen ist und sich bereits einen Teil der Kohlenhandels-
firmen unterworfen hat. Die einzelstaatlichen Regierungen konnten
diese Entwicklung, die ein großes Gewerbe in die Pfand eines Aus-
länders zu bringen imstande war, nicht ruhig hinnehmen. Sachsen
und Altenburg haben eingeriffen.
Die deutschen Kontrollgesellschaften, wie die Reis- und
Handelsaktiengesellschaft, die Konzerne in der Waffen- und Elek-
trizitätsindustrie, der Dynamittrust, die Europäische Petroleum-
gesellschaft, sind ihrer Entstehung und Bestrebung nach harm-
losere Gebilde als die amerikanischen Trusts und haben nicht eine
das ganze Gewerbe umfassende Eigenschaft. Andere mit weiter-
gehenden Plänen, wie die Tapetenindustrie-A.-G., haben sich nicht
halten können.
Aus der Reihe der eigentlichen Kartelle sind auch die I n -
teressengemeinschaften auszunehmen, die nur einige we-
nige Firmen zu umschließen pflegen. Sie haben gar nicht den
Willen, einen ganzen Geschäftszweig zusammenzufassen, sondern
dienen einzelnen Großunternehmern, die sich minder starke Be-
triebe nicht bloß der eigenen, sondern auch einer ergänzenden Pro-
duktion durch Austausch von Aktien oder Aufsichtsräten lose anglie-
dern. Die Mitglieder schließen unter sich den Wettbewerb aus und
verfolgen auch andere Zwecke, z. B. wenn widerstrebende Patent-
schwierigkeiten zu überwinden sind oder eine Arbeits- oder Absatz-
verteilung durchgeführt werden soll. Bekannt sind ähnliche Gemein-
ci8 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Schäften, die Großbanken mit kleineren Bankfirmen vereinbart haben,
woraus nicht selten Verschmelzungen hervorgegangen sind. Von den
industriellen dieser Art sei die von Siem.ens & Halske mit
Schuckert & Bergmann genannt, ferner die der Höchster Farben-
werke mit Casella, der Badischen Anilin- und Sodafabrik mit den
Elberfelder Farbwerken und der A.-G. für Anilinfabrikation und
die von Griesheim Elektron mit den elektro-chemischen Werken
Bitterfeld.
Die eigentlichen deutschen Kartelle werden immer nur auf
Zeit verabredet, weil die Teilhaber, die sehr verschiedene Persön-
lichkeiten, sowohl Privatunternehmer als auch Direktoren sind und
über verschiedene Kapitalkraft verfügen, nicht zu viel von ihrer
individuellen Selbständigkeit preisgeben wollen. Man band sich
anfangs durch Konventionalstrafen, um die festgesetzten Verkaufs-
preise aufrecht zu erhalten, oder um die ausgemachte Kontingen-
tierung der Produktion nicht zu überschreiten. Bald fand man
eine festere, die Freiheit des Einzelunternehmers weit mehr be-
schränkende Form derart, daß man das Verkaufsgeschäft von der
Erzeugung loslöste, eine Verkaufsstelle als Aktiengesellschaft oder
Gesellschaft m. b. H. einrichtete, die die Aufträge der Käufer an-
nahm und erledigte. Man nannte sie Syndikat, das bis 191 4 bei
vielen großen, wichtigen Verbänden die Regel wurde, wenn es auch
die Mehrzahl der Kartelle nicht besitzt. Die bewährtesten Syndikate
sind das rheinisch-westfälische für Steinkohlen, 1893 gegründet, das
für Kali und der deutsche Stahlwerks verband.
Der Inhalt der Verträge ist beschränkt bei den K o n d i -
t i o n s - und Preiskartellen, bei denen man sich nur über
Zahlungsbedingungen, Bestellzeiten, Musterberechnungen, Kredite
der Kunden usw. geeinigt hat. Namentlich in der Textilindustrie
hat diese Form Anklang gefunden. Die Gebietskartelle, z.B.
in der Zementindustrie, haben die Aufgabe, den Absatz örtlich von-
einander abzugrenzen. Sie kommen auch als internationale, wie bei
dem den Weltmarkt verteilenden Schienenkartell, vor, die zu
engeren Zusammenschlüssen, schon wegen der Zollpolitik der ein-
zelnen Länder, nicht zu gelangen vermögen.
Diese letzteren Arten des Zusammenschlusses sind auch im
Groß- und Kleinhandel anwendbar, die beide von ihr, wenn auch
nicht ausgiebig, Gebrauch gemacht haben.
Die Produktionskartelle, die wir vor allem bei den
mineralischen Rohstoffen und deren Verarbeitung zu Halbfabri-
katen antreffen, lassen die Technik und die bestehende innere Lei-
tung der Unternehmungen unangetastet. Ihre Aufgabe ist, die
V. Die Industrie.
519
Erzeugung je nach der Marktlage einzuschränken oder auszuweiten.
Für jedes Werk wird die oft nicht leicht als billig zu bemessenda
Quote der Gesamterzeugung festgelegt, und von Zeit zu Zeit findet
eine neue Kontingentierung statt, die nicht überschritten werden
darf und deren Menge geliefert werden muß. Die Form des Syndi-
kates ist hier die passendste, wenn sie auch nicht die alleinige ist.
Der Grund des Zusammenschlusses ist folgender: Die Großunter-
nehmer überhaupt haben immer den künftigen Bedarf nach ihren
Produkten abzuschätzen und sich demgemäß einzurichten. Es wird
dies ihnen immer schwieriger, je größer der Markt wird. Dazu
kommt, daß jeder mit der Konkurrenz des anderen zu rechnen hat,
die alle Preiskalkulationen über den Haufen werfen kann. In dem
Kartell fällt die letztere Gefahr fort, die erstere besteht zwar
weiter, aber wenn, wie bei den Syndikaten, in der Verkaufsstelle
ein besonderes Organ Sachverständiger zum Studium der Konjunk-
tur geschaffen ist, so werden auch hier manche Irrungen beseitigt
werden. Die Produktion wird planvoller, und das Geschäftsinter-
esse, als Motiv Fehler zu vermeiden, ist gewahrt. Doch soll man
diese günstige Tatsache nicht überschätzen. Denn Deutschland
hat um 1900, 1907 und 191 3/1 4 einen starken Rückgang des Ge-
schäftes erlebt und ihnen vorausgehend drei Hochkonjunkturen.
Der industrielle Zyklus ist also durch die Kartelle nicht abgeändert
worden. Dies scheint darin begründet zu sein, daß sie bis jetzt
nur einen Teil der Produktion umspannen, daß jedes von ihnen
nur für seinen Geschäftszweig arbeiten kann, und daß die unkar-
telüerte Internationalität des Wirtschaftslebens doch nur mangel-
haft zu übersehen ist. Hingegen wird man zugestehen, daß manche
Kartelle der sprunghaften Ausdehnung und Einengung der Güter-
erzeugung entegengewirkt haben, ein Ergebnis, welches die
Jahresgewinne auszugleichen und den Durchschnittsstand der Pro-
duktion zu erhöhen gestattete. Die dauernde Betriebsmöglichkeit
und die Konzentration des Absatzes waren Kostenersparungen und
zudem von sozialpolitischem Wert.
Wenn die Verbraucher der Kartellwaren im Wettbewerb sind,
so pflegen sie sich zu überbieten. Aus dieser Erfahrung der Be-
troffenen ergibt sich das Bestreben, sich ebenfalls zu vereinigen.
Die Glas- und Tonwarenfabrikanten z. B. reagieren gegen die che-
mischen Industrien, die Maschinenfabrikanten gegen die Stahl-
werke. So zieht ein Kartell das andere nach sich.
Die Kartelle entstehen und gedeihen um so sicherer, je ge-
ringerer die Zahl der Konkurrenten ist. Im Stahlwerkverband
sind nur 28 Mitglieder, im rheinisch-westfälischen Kohlensyndikat
schon 98, das daher auf weniger Einhelligkeit als jener zurück-
C20 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
blicken kann. Die Art des Produktes beeinflußt ebenfalls die
Kraft des Monopols, Wenn die Hauptfundstätten der minerali-
schen Rohstoffe in der Hand des Verbandes sind, so können
Außenseiter nur bei neuen Erschließungen erfolgreich auftreten.
Das ist selten, und das Kartell — noch schneller der Trust — wird
als Käufer der Gruben bald am Platze sein. Auch die ersten Ver-
arbeiter der Rohstoffe sind leicht zusammenzuhalten, wie die Tho-
maswerke es gezeigt haben. Je feiner und vielseitiger die Fabri-
kation wird, um so schwerer ist die Kontingentierung durchzu-
führen, um so leichter entsteht eine kartellfreie Konkurrenz. Die
Verbände werden immer lockerer, je weiter sie an das Fertig-
fabrikat heranrücken, bis sie bei dem letzten Konsumenten auf-
hören. Die Konsumvereine müßten sämtliche, wenigstens die über-
wiegende Mehrzahl der Konsumenten erfassen, was nicht denkbar
ist, wenn sie erfolgreich gegen die Verkäufer auftreten wollten.
Die Ausbeutung der Abnehmer ist der Haupteinwand gegen
den Verband der Produzenten. Sie ist nicht immer vorhanden, da
es im einzelnen Falle von dem Monopol entschieden wird, ob ge-
ringerer Absatz zu erhöhtem oder größerer zu ermäßigtem Preise
das Vorteilhaftere ist. Doch ist das eine willkürliche Behandlung
des Marktes, die als wechselreiche dem Interesse der Käufer nicht
entspricht. Die mangelnde Selbsthilfe der Verbraucher hat die
Anrufung des Staates nahegelegt, aber was von ihm im einzelnen
zu verlangen sei, blieb strittig. Mit Zivil- oder strafrechtlichen
Eingriffen vorzugehen, hat zu keinem Ergebnis geführt und ist
auch verkehrt, solange man die Kartelle an sich gutheißt, was sei-
tens der Mehrzahl der Theoretiker und Staatsmänner der Fall war.
Denn vier Lichtseiten hat die Geschichte der letzten zwei Jahr-
zehnte hervortreten lassen: Die Krisenabmilderung, die Erhaltung
manches kleineren Betriebes gegenüber dem Aufsaugen der großen,
die Stärkung des eigenen Landes auf dem Weltmarkte und die
regelmäßigere Arbeiterbeschäftigung.
Die Festsetzung der Höchstpreise bei den Kartellen hielt man
vor dem Kriege für utopisch. Während desselben, der sogar die
Zwangskartelle entstehen ließ, hat man mit ihr keine durchweg
guten Erfahrungen gemacht, man hat aber doch erwiesen, daß sie
wenigstens bei einer geschlossenen Volkswirtschaft für einfache
Produkte der Großproduktion, wie Kohlen, Roheisen, Salz, Kali,
Gas, Elektrizität, möglich ist. Bei freiem nationalen Verkehr
würde man zu gestaffelten Preisen greifen müssen, und weil man
gegen sie verwaltungstechnische Bedenken hat, betonte man den
alten, bisher niemals ernstlich verwirklichten Vorschlag, der Staat
solle, soweit er Besitzer von mineralischen Naturschätzen sei oder
V. Die Industrie.
521
werden könne, in das Kartell eintreten und hier zugunsten der
Volkswirtschaft die Preispolitik beeinflussen.
Wenn in den Kartellen das individuelle Unternehmertum
unterdrückt wird und ehemalige selbständige Geschäftsleute nicht
viel mehr als Beamte in ihnen sind, so ist doch von dahin bis zum
Sozialismus ein weiter Weg. Denn der Reinertragsstandpunkt ist
nicht ausgeschaltet, wird nur anders vertreten als bisher, indem
wichtige freie Entscheidungen einer Zentrale unterstellt werden.
Die Kartelle bringen die Unternehmer einander näher und können
dadurch zu einer Sozialverstärkung den Lohnarbeitern gegenüber
werden. In Nordamerika ist sie von den Trusts auch ausgenutzt
worden. In Deutschland war das Syndikat mit seinen fest um-
grenzten Aufgaben wenig zu einem solchen Verhalten geeignet. Es
sind vielmehr zu diesem Zwecke besondere Arbeitgebervereine
entstanden, die nach ersten nur geringen Versuchen in den sieb-
ziger und achtziger Jahren den nach Beseitigung des Sozialisten-
gesetzes rasch erstarkten Gewerkschaften gegenüber mit Abwehr-
tnaßregeln auftraten.
1890 wurde der Gesamtverband deutscher Metallindustrieller
gegründet. Kleinere Vereine folgten. Streiks in der sächsischen
Textilindustrie führten zu umfassenden Verständigungen der Ar-
beitgeber um 1904, und seitdem hat sich diese Art der Unter-
nehmerverbände rasch über das ganze Reich ausgedehnt. Bis 1900
gibt das Reichsarbeitsblatt die Gründung von 19 Reichs-, 58 Lan-
des- und Bezirks- und 121 Ortsverbänden an. Die drei Jahre 1904,
1906, 1907 bringen 38 der ersten, 120 der zweiten, 530 der dritten
Art. Sie sind in der Hauptsache beruflich voneinander abgeson-
dert, einige entfallen auch auf Landwirtschaft, Gärtnerei, Fischerei,
Handel, Verkehr und freie Berufe, die meisten auf die Industrie.
Die Statistik von 1913 zeigt ein weiteres Anwachsen. Es gab im
ganzen 109 Reichs-, 494 Landes- und Bezirks- und 2692 Ortsvereini-
gungen, zu denen 136 gemischte, d. h. nicht berufliche hinzu-
kamen. Ermittelt wurde eine Mitgliedschaft von 145 207 Unterneh-
mern, die es mit 4641 361 Arbeitern zu tun hatten, eine Summe,
die derjenigen der organisierten Arbeiter von 19 12 ungefähr ent-
spricht.
Die Aufgabe dieser Unternehmerverbände ist das Zusammen-
halten bei Streitigkeiten mit der Arbeiterschaft. Das wichtigste
Kampfmittel gegen erhöhte Ansprüche, Streikdrohungen und aus-
gebrochene teilweise Ausstände ist die Aussperrung, an der
nach vorschriftsmäßiger Untersuchung des Streitfalles und sorg-
C22 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
fältig erwogenen Beschlüssen je nach der Sachlage die Vereinsmit-
glieder teilzunehmen haben. Mit hohen Konventionalstrafen soll
dem Abfall Einzelner vorgebeugt werden. Es wird auch die „Ma-
terialsperre" gegen diese gehandhabt, d. h. vorher verpflichtete
Roh- und Hilfsstofflieferer haben den Abtrünnigen die benötigten
Waren vorzuenthalten. Die Heranziehung von Ersatzleuten wird
der Aussperrung vorgezogen. Daher die Arbeitsnachweise, die in
friedlichen Zeiten auch der Arbeiterschaft wertvoll geworden sind.
Der Zechenverband von Essen besetzte z. B. 1913 284777 Stellen,
der der Eisenindustrie Hamburgs 59692. 1910 wurden 189 Arbeit-
gebernachweise gezählt, von denen die meisten auf das Textil-,
Metall- und Baugewerbe kamen. Nach dem nicht sehr verbrei-
teten Berliner System erhält der für die Arbeit geeignet Be-
fundene einen für 4 Wochen geltenden, zu erneuernden Arbeits-
nachweisschein, mit dessen Vorlegung er sich bei den Verbands-
unternehmern nach Stellung umsieht. Nach dem allgemeineren
Hamburger weist die Vermittlungsstelle, die über den Bedarf
unterrichtet ist, die offene Stelle dem Arbeitsuchenden an, dessen
Befähigung aus der Personalkarte ermittelt ist. Die Unternehmer
haben auch nach dem genossenschaftlichen Prinzip „alle für einen,
einer für alle" den durch willkürliche Arbeitsunterbrechung ent-
standenen Schaden abzumildern. Dahin gehören die bei den
Warenkäufem durchgesetzte Streikklausel, nach der die Lieferungs-
fristen um die Streik- oder Aussperrungszeit hinausgeschoben wer-
den, und der Kundenschutz, demgemäß die nicht im Kampf befind-
lichen Werke die Kundschaft der Betroffenen zu befriedigen ab-
lehnen. Auch Entschädigungen werden gezahlt, wenn nur ein Teil
der Arbeitgeber stillegt, sei es, daß der Verband durch Umlagen
für ihn aufkommt, sei es, daß besondere Versicherungsgesell-
schaften begründet werden.
Von 1882— 1907 hat die Arbeiterschaft in der Indu-
strie von 64,04 bis zu 76,340/0 aller in ihr Beschäftigten zugenom-
men. Die Ungelernten wurden 1895 auf 24,73, 1907 3^3A^/<^) die
Gelernten auf 46,11 und 43,790/0 ermittelt. Der soziale Gegensatz
gegen den Besitz ist demnach verschärft worden, nur gemildert
durch die größere Quote des Zwischengliedes der Angestellten, die
von 1882 — 1907 von 1,55 auf 6,010/0 stieg.
Die Lage der Lohnarbeiter ist andauernd verbessert worden,
so daß die Sozialisten ihre Lohnlehre von dem natürlichen Exi-
stenzminimum nicht aufrecht erhalten konnten. Abgesehen von der
Sozialversicherung und den Löhnen ist die Tatsache auch an der
abgekürzten Arbeitszeit meßbar. Von der langen, der zwölf- oder
vierzehnstündigen Arbeitszeit um 1870 sind nur wenige Ausnahmen
V. Die Industrie.
523
Übrig geblieben. Die Gesetzgebung von 1891 zugunsten der Frauen
wurde oben erwähnt. 1902 arbeiteten 53,30/0 von 813 560 Arbeite-
rinnen weniger als 10 Stunden, 10,69 9 Stunden oder weniger, die
übrigen 10 — 11. In solche Gewerbe, in denen durch übermäßige
Arbeitsdauer die Gesundheit gefährdet wird, hat der Bundesrat
gemäß § i2oe der Gewerbeordnung auch für die erwachsenen
Männer eingegriffen, z. B. bei den Bäckereien, Dampf mühlen,
Steinbrüchen, Bleihütten, Akkumulatorenfabriken. Die Einzel-
staaten, wie Preußen, Hessen, Bayern, haben in den fiskalischen
Werken die Stundenzahl herabgesetzt. Die Gewerkschaften haben
den Zehnstundentag, wie aus den Tarifverträgen ersichtlich ist,
häufig, man glaubt bis zu 90 0/0, erreicht. Bau- und Holzarbeiter
sind meist nur 9 oder 9I/2 Stunden tätig, die Buchdrucker öfters
noch unter diesem Satz. Bei der allgemein steigenden Produkti-
vität und dem guten Warenabsatz in der langen Friedenszeit ver-
mochte die Industrie diese Abkürzungen ebenso zu ertragen wie
die Lohnsteigerungen. Daher bildeten sich die Arbeiter ein, sie
könnten ihre Forderungen immer weiter steigern. Von dem „Mehr-
wert", den sie keineswegs allein geschaffen hatten
und der ihnen als Raubvorstellung in die Gehirne eingemeißelt
worden war, glaubten sie immer weitere Teile beanspruchen zu
können. Sie hielten es für selbstverständlich, wozu die Theorie
„des Kapitals" sie verführt hatte, daß immer genügend zu
verteilen da sei, während doch schließlich der Lohn so hoch
und die Arbeitszeit so kurz werden können, daß nichts mehr für
den Unternehmer übrig bleibt, selbst wenn der Warenverkauf ein
glänzender ist. Das Mehrwertsophisma mußte dann auch unter
der herabgesetzten Produktivität bei dem Kapital- und Rohstoff-
mangel und dem unterbrochenen Außenhandel während der Revo-
lution 19 18 eine verhängnisvolle Rolle spielen. Die Arbeitszeit
hätte jetzt verlängert werden müssen, um eine Volksversorgung zu
ermöglichen. Statt dessen wurde sie verkürzt.
Im Durchschnitt von 15 Gewerbegruppen hat sich von 1895
der Jahreslohn nach R. Calwer (Handel und Wandel 1900 und
1901) bis 1900 von 673 auf 795 Mark gehoben. Auf die einzelnen
Gruppen entfallen folgende Beträge in Mark, wobei der Vergleich
mit dem letzten Jahre nicht ganz einwandfrei ist; da die Lohn-
nachweisung nach einer neuen Methode vorgenommen wurde:
(Tabelle s. folgende Seite.)
Hier haben wir eine Periode großen volkswirtschaftlichen Auf-
schwunges vor uns, wir treffen auf eine ähnliche Entwicklung,
wenn wir die Untersuchung auf mehrere Auf- und Niedergangs-
zeiten zugleich erstrecken. Der sozialistische Maurerverband weist
524
V. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Gewerbegruppe
1900
1899
1898
1897
1896
1035
Ioo6
967
961
929
910
1020
1014
999
888
867
854
896
845
842
871
787
815
888
844
787
824
804
795
728
710
649
727
708
682
685
650
664
636
590
560
641
628
621
633
630
617
460
439
429
1895
Bergbau, Hüttenwerke usw.
Maschinen
Industrie der Leuchtstoffe .
Chemische Industrie . . .
Metallindustrie
Lederindustrie
Polygraphisches Gewerbe .
Verkehrsgewerbe ....
Holz- und Schnitzstoffe .
Papierindustrie
Nahrungs- und Genußmittel
Baugewerbe
Textilindustrie
Bekleidung
Steine und Erden ....
1132 1
1012 j
988 ä
929 j
914
895
761
744
726
682
668
641
479
1072
982
968
906
904
874
869
829
753
727
701
655
655
638
469
924
900
890
843
816
826
820
775
664
654
623
534
609
602
411
bei 190000 Maurern von 1895 — 1905 eine Erliöhung von 236 Mark
nach. Die Dresdener Bank (Die wirtschaftlichen Kräfte Deutsch-
lands 191 3) gibt diese Tabelle:
Jahr
^rark
Jahr
Mark
Schichtlohn der Steinkohlenbergarbeiter ira
Bezirk Dortmund
1890
1882
1888
1883
1887
t88o
3.98
3.00
3.50
3,50
3,00
3-19
1910
1908
1908
1908
1905
1906
5.37
6,75
5,85
5.85
5.00
5.33
Durchschnitts tagelöhne
für Maurer und Zimmerer in Berlin . . .
„ Maler in Berlin
,, Installateure in Berlin
„ Bautischler in Berlin
Die Arbeiter bei Krupp in Essen
Nach dem Reichsarbeitsblatt hat sich der Durchschnittslolm
der Montanindustrie Oberschlesiens (Steinkohlen, Erzgruben,
Zink-, Blei-, Silberhütten, Koksanstalten, Zinderfabriken, Darstel-
lung von Schwefel- und schwefliger Säure) so verändert:
Lohn in M.
1887 589,39 1902 950.24
1891 790,54 1905 1009,16
1895 774,9^ 1909 1146,22
Wenn auch mit der zeitweise sinkenden Konjunktur ein
Rückschlag nicht ausbleiben konnte, so blieb das gesteigerte Ein-
kommen doch im ganzen behauptet, wie der Stand der Volkswirt-
schaft überhaupt, um dann bei neuen guten Zeiten von neuem zu
steigen. Das zeigt auch die sächsische Statistik:
V. Die Industrie.
525
Durchschnittliche Bergarb
eiterlöhne
Jahr
in Sachsen in M.
Steinkohlen
Braunkohlen
Erzbergwerk
1902
1084
890
806
1903
1093
906
790
1904
1094
960
801
1905
1128
1005
804
1906
1234
1062
818
1907
1341
1117
849
1908
1348
1130
865
1909
1327
1164
876
1910
1323
1175
893
1911
1363
1215
925
K. Helfferich (Deutschlands Wohlstand 1888— 191 5) teilt
mit, daß der durchschnittliche Nettolohn der Kohlenbergbau-
arbeiter im Oberbergamtsbezirk Dortmund 1888 863 Mark, 191 2
1586 Mark betragen habe. Die entsprechenden Sätze für Ober-
schlesien seien 516 und 1053 Mark. Hierzu kämen noch die Aus-
gaben für die Versicherung, die 204 Mark auf den Kopf aus-
machten. Über den Arbeitslohn für Arbeiter über 21 Jahren in
Württemberg sei zur Ergänzung beigefügt:
Königliche Hütten-
werke
Königliche Salinen
Eisenbahnarbeiter
überhaupt
M.
M.
M.
I90I
947
971
927
1905
1134
1120
978
1909
1217
1232
"75
I9I2
1317
1329
1304
Wie die Arbeiter von niederen in höhere Lohnklassen über-
gegangen sind, ersieht man aus den Mitteilungen über die
Krankenkassenmitglieder des Allgemeinen Knappschaftsvereins zu
Bochum :
Verteilung in den Lohnklassen in "/^
1,40 — 2,60 M. 2,61 — 3,80 M. I 3,81 — 5,00 M. 5,01 bis über 5,80 M.
1900
1905
1909
5.9
6,7
5.1
17.7
16,4
24.4
32,4
21,4
52,0
44.5
64.7
Bei einem Vergleich von 1900 und 1909 — 1905 herrschte
eine ungünstige Konjunktur — sehen wir in der höchsten Lohn-
klasse eine Zunahme von 12,70/0 der Mitglieder und dementspre-
C26 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890— 19 14.
chend eine Abnahme in den drei anderen. Daneben sei eine ba-
dische Veröffentlichung gegeben:
Die vom Bezirksrat gemäß § 8 der Krankenversicherungs-
gesetzgebung festgestellten Tagelöhne gewöhnlicher Tagearbeiter
in Pfennigen:
1884 1893 1902 1912
130 — 250 150 — 230 170 — 270 180 — 370
Für Preußen ist von G, Neuhaus in der Zeitschrift des
königlichen statistischen Büros 1904 für die ortsüblichen Tage-
löhne ein ähnlicher Nachweis erbracht worden.
Die vorgeführten Lohnsätze sind nominelle, daß aber auch
der Reallohn in die Höhe schnellte, haben zahlreiche Vergleiche
der Ltihne mit den Lebensmittelpreisen ergeben. Einige An-
gaben: Für Berlin hat man ermittelt, daß von 1894 — 1904 die Er-
höhung der Löhne doppelt so hoch als diejenige der Lebensmittel
gewesen ist. R. Calwer bringt 1908 in den „Sozialistischen Mo-
natsheften", daß der Nominallohn des in be ruf s genossenschaft-
lichen Betrieben beschäftigten Vollarbeiters seit 1895 ^"^ rund 35
bis 380/0 gestiegen sei, das Warenpreisniveau um 250/0, so daß fnan
1 0/0 Steigerung des Reallohnes von Jahr zu Jahr ansetzen könne.
Solchen Zuwachs können nicht viele Staats- und Kommunalbeamte
von sich behaupten.
Die Verbesserung der Lebenshaltung durch die ganze Ar-
beiterklasse wird mit den vorgeführten Zahlen nicht annähernd
zum Ausdruck gebracht. Erstens kommen zu dem Lohn alle die-
jenigen gesetzlichen Versicherungsbeiträge, die nicht aus ihm, son-
dern von anderen Personen bezahlt werden; zweitens die mancher-
lei Leistungen der Gemeinde, billige Volksbäder und andere unent-
geltliche hygienische Vorsorgen, die Abgabe von billigen Nah-
rungsmitteln, die unentgeltliche Volksschule; drittens die im Preis
ermäßigten Fahrgelegenheiten, die IV. Wagenklasse, die Arbeiter-
züge, die Vorortabonnements; viertens der Bau von Arbeiterwoh-
nungen seitens der Gemeinde und gemeinnützigen Baugenossen-
schaften; fünftens die Leistungen der Privaten, der Vereine —
man denke an Krupp — für Wohnung, Altersfürsorge, Invalidität,
Wöchnerinnen-, Säuglingsheime, Kindergärten, Erholungsheime
usw.; sechstens die Entlastungen bei direkten Steuern und anderen
öffentlichen Abgaben; siebentens die abgekürzte Arbeitszeit, die
gründlicherer körperlicher und geistiger Erholung gleichkommt.
Die Verteilung zwischen Arbeit und Unternehmung aus deren
gemeinsamen Produkt hat R. Calwer untersucht aus Nachwei-
sungen der gewerblichen Berufsgenossenschaften und den Rech-
V. Die Industrie.
527
nungsergebnissen deutscher Aktiengesellschaften, womit die sozial-
demokratische Behauptung, daß der Gewinn den Löwenanteil an
sich reiße, widerlegt wird:
1905
Millionen M.
%
1906
Millionen M. %
1907
Millionen M.
0/
/o
Lohnanteil
Kapitalanteil
4933.57
1932.43
71.9
28,1
5464,44
2176,26
71,2
28,8
6018,54
2116,85
74.0
26,0
Zusammen
6866,00
100,0
7640,70
100,0
8135.39
100,0
Die zehn Gewerbegruppen, für welche er die Untersuchungen
vornahm, ergeben im einzelnen folgendes Bild:
Lohnanteil
Kapitalantei
1905
1906
1907
1905
1906
1907
Chemische Industrie. .
60,2
59.6
59,0
39,8
40,4
41,0
Papiergewerbe ....
66,3
65,9
63,9
33.7
34.1
36,1
Textilgewerbe ....
73.1
72,4
70,7
26,9
27,6
29.3
Ledergewerbe ....
69.9
68,3
73.0
30,1
31,7
27,0
Verkehrsgewerbe . . .
67,7
68,7
74.4
32,3
31.3
25,6
Holz- und Schnitzstoffe
71,2
69,0
74.6
28,8
31,0
25.4
Steine und Erden . .
76.7
73.0
75,2
23.3
27,0
24,8
Maschinenindustrie . .
76,0
74>4
75,9
24,0
25,6
24,1
Metallverarbeitung . .
78,0
74,8
76,8
22,0
25,2
23.2
Montanindustrie . . .
73.1
72,3
76,9
26,9
27,7
23.1
Die vorgeführten Jahre sind solche sehr günstiger Konjunktur,
in der das Plus an Einkommen, umgekehrt wie die Marx sehe
Verelendungstheorie es behauptet, keineswegs nur in die Tasche
der Arbeitgeber geflossen ist. Die Nachfrage nach Arbeit war dem
Angebot dauernd voraus, und von einem Druck der „industriellen
Reservearmee" ließ sich nicht sprechen. Vielmehr mußte die In-
dustrie, wie schon erwähnt, noch Ausländer aus Rußland, Öster-
reich, Italien, Belgien und den Niederlanden heranziehen, die sich
auf Hunderttausende beliefen.
Die Gewerkschaften haben bei der Erhöhung der Le-
benshaltung der Lohnarbeiter mitgeholfen, sei es, daß der Anteil
am Produktionsertrag gesteigert, sei es, daß ein Ausgleich der
Löhne in demselben Gewerbe durchgesetzt wurde. Wir haben sie
oben bis nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes geschildert.
Für die freien, d. h. unter der Sozialdemokratie stehenden, wird
1891 die Mitgliederzahl auf 277659 angegeben, 1900 auf 680427,
1912 auf 2 553 162. Die Hirsch-Dunckerschen vermehrten sich in
der ganzen Periode von 65 588 auf 109 225 Teilnehmer. Zu diesen
beiden Gruppen sind um die Mitte der neunziger Jahre verschieden-
artige Christliche Gewerkschaften hinzugekommen, die sich 1899
C28 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
auf ihrem ersten gemeinsamen Kongreß interkonfessionell einigten.
Ihrem Programm gemäß gehören sie zu keiner politischen Partei,
erstreben Hebung der Mitglieder auch auf geistigem und mora-
lischem Gebiete und eine von dem Christentum getragene Versöhn-
lichkeit den Arbeitgebern gegenüber. Der Ausstand soll nur als
letztes Mittel bei berechtigten Forderungen gebraucht werden, der
friedliche Vergleich wird vorgezogen. Sie erkennen die geschicht-
lich gegebene Gesellschaft und das vaterländische Gesamtinteresse
über den Klassen an. 1900 zählten sie 76744, 191 2 schon 344687.
Neben ihnen bestehen besondere katholische Gesellschaften, die
nicht sozialprinzipielle, sondern konfessionelle Anschauungen von
den übrigen christlichen Gewerkvereinen abtrennen. Politisch stan-
den sie dem Zentrum nahe. Weiter gibt es noch die wirtschafts-
friedlichen Verbände, die den Ausstand ablehnen, eine Organisation
jedoch für nötig halten, da sie durch den Ausstand anderer oder
die Aussperrung ihre Arbeit verlieren können und daher auf eine
Unterstützung eventuell unter dem Beistand der Arbeitgeber be-
dacht sein wollen. Neben diesen „gelben Gewerkschaften", die
sich 1907 in einem Bunde verschmolzen, kennt man noch isoliert
stehende vaterländische, national reichstreue Arbeitervereine, die
außer der Verbesserung der Arbeitsbedingungen politische Ziele,
insbesondere di'^ Bekämpfung der Sozialdemokratie, verfolgen.
Diese wirtschaftsfriedlichen Vereine, die 1907 59000, 19 12 231048,
19 13 — nach Schätzung — 300000 Genossen zählten, sind ein
Kuriosum, das aus einer Reaktion gegen die Übertreibung des
Arbeiterklassenstandpunktes entsprungen ist und von allen übrigen
Gewerkschaften als Verrätereinrichtung befehdet wurde.
Noch in den neunziger Jahren wurde die Meinung gehört,
daß in Deutschland das freie Koalitionswesen keinen Boden habe.
Durch die staatliche Versicherung sei das Interesse an ihm erstickt
worden. Andere schoben die damalige Rückständigkeit auf die
direkte Abhängigkeit von den politischen Parteien, wodurch nicht
bloß Zersplitterung, sondern auch Gegensatz in die Verbände hin-
eingetragen worden sei. Solche Bedenken waren 191 2 längst wider-
legt, als eine, auf Mitteilungen der internationalen christlichen Ge-
werkschaftskommission beruhende Statistik bewies, daß kein Land
Deutschland an organisierten Arbeitern übertreffe. Nach dem sta-
tistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich wird England um 1/2,
Frankreich um 2,7, die nordamerikanische Union um 1,2 Millionen
überholt.
Wie ist dieser auffallende Fortschritt seit 1892 zu verstehen?
Der Zunahme des Großbetriebes und der damit verbundenen
Massenansammlung der Arbeiter wird man einen ausschlaggebenden
V. Die Industrie.
529
Einfluß nicht einräumen können. Denn das Verbandswesen ist
ebenso über die Mittel- und Kleinbetriebe verbreitet, und gerade
von den Handwerksmeistern wird am meisten über den Terroris-
mus der koalierten Gesellen geklagt. Eher läßt sich der vortreff-
liche Aufbau der Verbände als Ursache ihrer raschen Ausweitung
begreifen. Überall ist in Deutschland das Wirtschaftsleben organi-
siert worden, und ein Verein lernte von dem anderen. Die vielen
Zwangsvereine der Arbeiterversichenmg machten den Arbeitern
das Nutzbringende der Assoziation recht anschaulich, für die man
um so eher geneigt war, auch pekuniär beizusteuern, als die Löhne
hierfür etwas übrig ließen. Auch die Erstarkung der Arbeitgeber-
vereine wirkte zurück, wie diese durch die Gewerkschaften ange-
regt worden waren.
Die meisten Gewerkschaften sind als Berufsgemeinschaften
über ganz Deutschland einheitlich verbreitet, und außerdem werden
sie je nach ihrer Richtung, so die freien durch die ,, Generalkom-
mission", die christlichen durch den „Gesamtverband" zusammen-
gefaßt. Auch dem Ansporn befähigter Führer — in der General-
kommission war dessen langjähriger Vorsitzender der aus dem
Drechslerhandwerk hervorgegangene, auch als Schriftsteller er-
folgreiche, 191 4 beim Kriegsausbruch patriotisch gesinnte und
fähige Mann, Karl Legien, zu den besten zu rechnen — wird
man einen Anteil an dem raschen Vordringen des freien Koalitions-
gedankens zuschreiben können. Das reiche Kassenwesen sorgte
für die Erhaltung des Bestehenden. Das Vermögen aller Gewerk-
schaften wurde 1891 auf 425845 Mark, 1912 auf 99956186 Mark
berechnet, bei einer Einnahme von 94,9, einer Ausgabe von 72,7
Millionen Mark. Seit 1907 werden bedeutende Überschüsse kapi-
talistisch angelegt. Die Depositen bei deutschen Großbanken wur-
den so umfangreich, daß mehrere von diesen in der Sorge um
Kündigung und in dem Wunsch um Vermehrung sich veranlaßt
sahen, diese Kapitalmacht der Besitzlosen dadurch anzuerkennen,
daß sie befriedigende und bindende Erklärungen über das Koa-
litionsrecht ihrer Angestellten abzugeben für zeitgemäß erachteten.
Daß der Arbeitslohn überhaupt kapitalbildend geworden ist, wird
auch aus den Sparkass eneinlagen wahrscheinlich gemacht.
Öffentliche und private Sparkassen gab es nach einer, wenn auch
nicht ganz einwandfreien Statistik im Reich (ohne Braunschweig)
um 1901 2715 mit einem Guthaben der Einleger von 9I/2 Milliarden
Mark, 191 2 3127 mit 18,6. Zu welcher Quote die gewerblichen
Arbeiter beteiligt sind, konnte nicht ermittelt werden, daß aber
die kleinen Einzahlungen sehr bedeutend sind, wird überall hervor-
gehoben, und der große summierte Betrag der kleinen Einlagen
A. Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 34
530 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Überhaupt wird dadurch charakterisiert, daß in wirtschaftlich kri-
tischen Zeiten nur mäßige Gelder, d. h. die von Geschäftsleuten
gebrauchten, abgehoben werden.
In die immer feineren und allgemeineren Organisationen der
Volkswirtschaft gehört der Gewerkverein als ein wichtiges Stück
und Bindeglied hinein, um den kollektiven oder Tarifvertrag immer
mehr zu verwirklichen und schließlich ein dauerndes Verständnis
zwischen den Parteien anzubahnen. In den Tarifen sind Löhne,
Arbeitszeit, Bezahlung für Überstunden und für Nacht- und Sonn-
tagsarbeit, Lohnzahlungsfristen imd Arbeitsnachweise festgelegt
In dem Reichsarbeitsblatt von 1907 — 19 12 ist die Zunahme von
5324 auf 12437 Tarifverträge berichtet, wobei Doppelzählungen als
möglich zugegeben werden. Die hohe Entwicklungstendenz steht
aber außer Zweifel. Im letztgenannten Jahre wurden 208 307 Be-
triebe von dieser Einrichtung erfaßt, und 81,20/0 derselben haben
sich Schlichtungs- und Einigungsämtern unterworfen. Auch für
die Arbeitgeber sind die Tarifabkommen von Wert, wenn sie auf
freier Übereinkunft beruhen und damit Dauer versprechen.
Mit dem korporativen Arbeitsvertrag entsteht die Grundlage
für ein neues Arbeitsrecht. Der individuelle Vertrag verschwindet
und der der Gruppe schreitet vom Ort zu weiteren Bezirken und
schließlich bis zum Reichsgebiet für ein Gewerbe fort. Immer
mehr dehnt sich der Inhalt der Abmachungen auch auf Neben-
fragen des Arbeitsverhältnisses aus. Er steht unter der Macht der
Gewohnheit und drängt auf gesetzliche Anerkennung und Ordnung
— wenn nicht Arbeiterrevolutionen alles mühsam Geschaffene hin-
fällig machen werden.
Die Ausstände waren freilich damit nicht aus der Welt ge-
schafft. Ihre Zahl ist immerhin ziemlich stabil geblieben trotz der
fortschreitenden Industrialisierung. Von 1904 — 1908 war sie, so-
weit sie beendigt waren, 2242, von 1909— 19 13 2170, bei 476284
bzw. 536522 Arbeitern. In der ersten Periode wurden 117 627, in
der zweiten 174 179 Arbeiter ausgesperrt. Sieht man, daß für den
friedlichen Ausgleich noch genug zu tun ist, so ist doch hinzuzu-
fügen, daß die friedlich geschlichteten Bewegungen die Kämpfe
um das Doppelte überwogen haben.
Die Masse der Arbeiter wird nach der sozialistischen Lehre
als eine einheitliche proletarische ausgegeben. In Wahrheit ist
sie differenziert nach gelernten und ungelernten, Kopf- und Hand-
arbeitern, Privatangestellten und kleinen Beamten, ferner nach Be-
ruf, Sprachangehörigkeit und Lebensalter, nach organisierten und
unorganisierten. 1907 wurden in der Industrie, Handel und Ver-
kehr 10,4 Millionen Arbeiter gezählt, von denen über vier den
V. Die Industrie.
531
Verbänden angehörten. Die letztere Gruppe steht also noch zu-
rück, was insofern selbstverständlich ist, weil man in ihr von jeher
eine Oberschicht zu sehen gewohnt ist. Die Gewerkvereine sind
eine soziale Auslese. Sind sie einmal gebildet, werden ihre
Mitglieder durch zahlreiche Wechselwirkungen zusammengehalten
und werden eine Körperschaft, die sich, um sich materiell und
geistig zu heben, von anderen sozialen Verbänden und von außen-
stehenden Einzelpersonen absondert.
Die individuelle Auslese vollzieht sich innerhalb der
Arbeiterklasse wie in der Gesellschaft überall. Leute von Charakter
und Begabung haben immer Aussicht, vorwärts zu kommen. Sie
werden Vorarbeiter oder mit der Aufsicht betraut, bisweilen Ange-
stellte in der Fabrik, dem Warenhaus usw. Andere, die sparsam
sind, erwerben etwas Landbesitz, ein Haus, Effekten, eine Lebens-
versicherung oder ein Sparkassenguthaben, das sie einmal nutz-
bar machen wollen. Andere wieder, die sich Bildung aneignen,
reden können, politischen Sinn haben, steigen zum Arbeiterführer,
Gewerkschaftsbeamten, Abgeordneten herauf. Bei allen ist, soweit
die Lebenshaltung entscheidet, das Ziel diejenige der unteren be-
sitzenden Klasse. Wie diese wollen sie äußerlich auftreten, woh-
nen, ihre freie Zeit verbringen, ihre Kinder erziehen und sich für
das Alter sichern. Proletarisch ihr Leben zu verbringen, ist kei-
nem erwünscht. In allen steckt ein Zug des bekämpften Bour-
geois. Alle, denen es geglückt ist, nach oben zu gelangen, tragen
den Zug des Sozialkonservativen in sich, da sie etwas zu behaupten
haben, das mit Mühe erworben worden ist. Für gewaltsamen Um-
sturz schwärmen sie nicht. Die Unruhestifter und Radikalen sind
andere Leute, solche, denen das Leben ein Mißerfolg war, Kritik-
lose, Fanatiker, verführte Jugendliche und das Residuum der Ge-
sellschaft. Den gemäßigten Sozialisten war die deutsche Revolution
von 191 8 dauernd gar nicht nach dem Herzen, und sie machten
daher alsbald Front gegen die Unabhängigen und die Spartakisten
iind Kommunisten.
Die sozialdemokratische Partei, die in früheren Jahren die
Gewerkschaften nur als Propagandavereine gelten lassen wollte,
hat nicht umhin gekonnt, deren Selbstzweck anzuerkennen und die
soziale Ethik der Organisation ihnen zuzugeben, je mehr die ganze
Volkswirtschaft von dem Individualismus abrückte. Daß die Ge-
werkschaften eine Mittelschicht zwischen Besitz und proletarischer
Masse darstellen, konnte sie ebensowenig bestreiten, als sie die
selbständige Sozialpolitik gutheißen mußte, die jene betrieben. Sie
konnte die Forderungen, wie z. B. auf Bau- und Heimarbeiter-
schutz, Arbeitslosenfürsorge, Gewerbeinspektion, Ausdehnung der
34*
C72 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Sozialversicherung, Lebensmittelpreisherabsetzung nicht für nichts
achten und die Schaffung von Rechtsbüros, Arbeitersekretariaten,
Kinderschutzkomrnissionen, Unterrichtskursen nicht ablehnen.
Der politische Demokratismus wurde durch die Differenzie-
rung der Arbeiterklasse in Deutschland zunächst nicht berührt,
da er für alle lebensindividuellen und sozialen Wünsche dienstbar
gemacht werden konnte. Er ist ein Kampfmittel zu mancherlei
Zielen von jeher gewesen, wie der Liberalismus seit 1789 recht
deutlich gelehrt hat. Selbstzweck, um dem sogenannten, undefinier-
baren Volkswillen zu einer dauernden Führerschaft zu verhelfen,
kann er nicht sein. In keinem Beispiel im großen hat die Ge-
schichte etwas anderes als Majoritätsherrschaft aufzuweisen. Ist
eine Klasse siegreich, so -behält sie vielleicht den Namen der
Demokratie noch bei. Solange sie kämpft, muß sie für die Gegen-
wart arbeiten, da der von ihr vertretene Bürger nur das versteht,
was augenblicklichen Vorteil bringt. Hat sie die politische Macht
inne, muß sie sich mit dem gesamtstaatlichen Machtinteresse iden-
tifizieren, und die nationale Zukunft kann ihr nicht mehr gleich-
gültig sein. Der Internationalismus, den sie früher auf ihre Fah-
nen schrieb, ist ihr jetzt nur so viel wert, als er dem eigenen natio-
nalen Dasein einen Nutzen verheißt.
VI. Handel, Bankwesen und Transport. Das ge-
schilderte Vorwärtswollen und Vorwärtskommen von Landwirt-
schaft und Industrie macht es verständlich, daß auch Handel und
Transportverkehr einen ähnlichen Gang wie • diese zurückgelegt
haben. Die Zahlen für den auswärtigen Handel sind bereits ge-
geben worden, hier haben wir uns sowohl dem binnenländischen
Fortschritt als auch den Kräften, Menschenmassen und sozialen
Gruppen zuzuwenden, die in beiden Richtungen tätig waren.
Die Berufszählung faßte unter Handel und Verkehr i. das
Handelsgewerbe mit 10 Berufsarten, 2. das Versicherungsgewerbe
mit einer, 3. das Verkehrsgewerbe mit 15, 4. das Gast- und Schank-
gewerbe mit einer zusammen. Die aus Erwerbstätigen, Dienenden
und Angehörigen bestehende Bevölkerung der ganzen Summe hat
sich in den uns bekannten Zeitabschnitten wie folgt vermehrt:
Bevölkerung in Auf 100 Einwohner des Reiches ent-
Jahr Handel und Verkehr fallen auf Handel und Verkehr
1882 4 531 080 10,0
1895 5966846 11,5
1907 8278239 13,4
Die absolute Zunahme in der Industrie mit 10,3 Millionen in
diesen 25 Jahren wird lange nicht erreicht, die relative, d. h. die-
VI. Handel, Bankwesen und Transport.
533
jenige im Verhältnis zur ersten Grundzahl ist in Handel und Ver-
kehr überlegen. Ferner, während sich in der zweiten Periode die
Reichsbevölkerung um 19,220/0 vermehrt, zeigt das Handelsgewerlpe
eine Erhöhung von 26,69, das Verkehrsgewerbe ohne Post, Tele-
graphie, Eisenbahnen von 53,06, das Versicherungsgewerbe von
113,60, die Gast- und Schankwirtschaft von 30,62, die Post, Tele-
graphie, das Eisenbahnwesen, ausschließlich der Straßenbahnen,
von 59,9. Die Statistik von 1907 gewährt uns folgenden Einblick
in die Gliederung der Unterabteilungen nach Betriebsgrößen (Ge-
samtbetriebe als Einheiten) :
Betriebszähl
Zahl
der Betriebe
ung in
in %
Handel und Verkehr 190;
In den Betrieben tätige
Personen
in %
429639
577429
76379
36,9
49.6
6,6
429639
I 178 551
336387
13,0
Betriebe bis 3 Personen . . .
mit 4 und 5 „ ...
35,5
10,2
Kleinbetriebe bis 5 Personen
I 083 447
93,1
1944577
58.7
6 — 10 Personen . .
II — 50 „ . .
48588
28 199
4.2
2,4
363587
542354
11,0
16.3
Mittelbetriebe . . .
76787
6,6
905 941
27,3
51 — 200 Personen
201 — 1000 „
über 1000 ,,
2656
380
36
0,3
0,03
0,003
231 684
136 190
97658
7,0
4,1
2,9
Großbetriebe
3072 0,33
465 532
14,0
Wie ungemein der Kleinbetrieb überwiegt, zeigt sein prozen-
tualer Anteil von 93,1 bzw. der beschäftigten Personen von 58,7.
Die Industrie wird mit der letzteren Angabe um 29,60/0 über-
troffen. In den mittleren Teilen der Industrie ist die Betriebszahl
prozentual überlegen, in bezug auf die Personen überwiegt Handel
und Verkehr. In den Großbetrieben ist die Industrie prozentual
über viermal so stark, und während die Zahl ihrer tätigen Per-
sonen 47,7 ausmacht, kommen nur 14 0/0 auf den Handel und Ver-
kehr. Es gibt 548 Riesenbetriebe mit über 1000 Personen in der
Industrie, in jenen beiden nur 36. Wenn der Schwerpunkt der
Betriebs- und Personenzahl bei Handel und Verkehr im kleinen und
in der Mitte liegt, so tritt doch die Tendenz zur größeren Unter-
nehmung auch hier hervor, wenn auch nicht in dem Maße als bei
der Stoffverarbeitung.
Die Gruppenbildung zwischen Unternehmern und Arbeitern
schließt sich an das Gesagte an. Die Zahl der Selbständigen
nahm in Handel und Verkehr von 1882— 1907 von 44,60/0 auf 29,10
ab, die Zahl der Arbeiter von 46,310/0 auf 56,35, die der Ange-
CT^A "VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890— 1914.
Stellten von 9,020/0 auf 14,55 zu. In der Industrie sind die beiden
ersten Richtungen schärfer ausgeprägt, die letztere wird bei weitem
nicht erreicht. Die Ziffer der weiblich industriell Beschäftigten
ist nur wenig gestiegen, in Handel und Verkehr dagegen um 80/0.
Die Frauenarbeit ist hier gut am Platze, wie bei Verkäuferinnen,
Bürofräulein, Kassiererinnen, Telephonistinnen, Stenotypistinnen,
Maschinenschreiberinnen usw. In den letzten Jahren vor dem
Kriege finden wir sie hier und da auch bei den Straßenbahnen.
Eine oben gegebene Statistik gibt uns einen Einblick in die
Veränderung des Auslandsgeschäftes. Für das inländische, soweit
es sich auf die im Inland hergestellten Waren erstreckt, fehlen
direkte Ermittelungen. Schätzungsweise kann man vom Volksein-
kommen ausgehen, das für 1913 auf 40 Milliarden berechnet wurde.
Da es die Summe wirtschaftlicher Güter ist, die der Gesamtheit
zum unmittelbaren Verbrauch oder zur Ersparung verfügbar ist,
die ersparten Werte in Waren umgesetzt werden müssen, um nutz-
bar gemacht zu werden, und da dieser direkte und indirekte Ver-
brauch im gleichen Jahre auf 10,7 Milliarden Mark Auslandsgüter
zu stehen kam, müssen etwa 30 Milliarden durch die innere Land-
wirtschaft und die Industrie zum Verbrauch produziert worden
sein. Es würde also ein Verhältnis von 3 : i zwischen Inlands- und
Auslandsprodukt bestehen. 1895 wurde das Volkseinkommen auf
22 — 25 Milliarden veranschlagt, die Einfuhr auf 4,2 ermittelt. Es
hätte demnach die inländische zur ausländischen Konsumtionsmenge
wie 41/2 : I gestanden. Deutschland hätte sich demnach seitdem
verstärkt in die Weltwirtschaft einbezogen.
Da die Eisenbahnstatistik den Güterverkehr bei dem Versand
nach dem Ausland, dem Empfang von dort und der Durchfuhr von
Ausland zu Ausland anschreibt, außerdem den Inlandverkehr zu-
sammenfaßt, so könnte man aus diesem Verkehr einen Schluß für
das Verhältnis von Außen- und Binnengeschäft zu ziehen suchen.
Indessen ist ein solcher Vergleich mit Vorsicht aufzunehmen, da
dieselben Güter bei wiederholtem Transport oft mehrmals erschei-
nen, mögen sie im Handel umgeschlagen oder weiterverarbeitet
werden, während die Auslandgüter nur einmal in Rechnung gestellt
werden. Die hergestellte inländische Gütermenge ist also geringer,
als sie im Verkehr hervortritt. In Tausend Tonnen belief sich der
Inlandverkehr 1890 auf 128000, 1900 auf 225000, 191 1 auf
367 000, dem der ausländische mit 23 000, 43 000 und 60 000 gegen-
überstand. Dieses Verhältnis, das den Auslandsverkehr auf we-
niger als 1/5 ansetzt, verschiebt sich jedoch, wenn wir, was ge-
boten ist, den Verkehr auf Flüssen und Kanälen hinzuzurechnen,
der sich 191 1 auf 44000 für das Inland, 37000 für das Ausland
VI. Handel, Bankwesen und Transport. ^j^
bezifferte. Man kommt dann für dieses Jahr zu dem Ergebnis, daß
der inländische Verkehr viermal so stark als der ausländische ge-
wesen ist, was auch für 19 lo und 1909 gilt.
In dieser Erörterung ist nach Mengen und nicht nach Werten
gerechnet worden. Beachtet man, daß wegen des Transportauf-
wandes der Auslandsverkehr im ganzen höhere Werte in ein be-
stimmtes Volumen einschließt als der inländische, so wird man ihm
eine entsprechend höhere Bedeutung zuzumessen haben und das
genannte Wertverhältnis von 3 : i nicht wesentlich beanstanden,
das übrigens für 1913 eingesetzt wurde, als das Auslandsgeschäft
besonders groß war.
Während die Gesetzgebung für den auswärtigen Handel unter
schweren parlamentarischen Kämpfen und gegenseitiger Verärge-
rung der Klassen und Parteien ins Leben trat, vollzogen sich die
Neuerungen für das Binnengeschäft, abgesehen höchstens von der
Börsen reform, viel ruhiger. Es kam nirgends auf prinzipielle Um-
gestaltungen, sondern vor allem auf die Beschneidung schädlicher
Auswüchse, die unter der Gewerbefreiheit hervorgeschossen waren,
an. Dahin gehört das Gesetz von 1896 gegen den unlauteren Wett-
bewerb, das dem Publikum einen Schutz gegen die mannigfaltigen,
auf Täuschung hinzielenden Praktiken gewährt, die Herabwürdi-
gung der Konkurrenten zu verhindern und die Geschäftsgeheim-
nisse sicherzustellen sucht. Ferner wurde der Handel mit Arznei-
mitteln und Giften 1901 einer besonderen Regelung unterstellt, die
Bestimmungen über den Wanderhandel erhielten Zusätze, 1894
brachte das Gesetz über die Abzahlungsgeschäfte dem Käufer einige
zivilrechtliche Vorteile, das Gesetz über die Handfeuerwaffen legte
dem Handel die Verpflichtung der amtlichen Prüfung der Läufe
und Verschlüsse auf, und die Margarinegesetze von 1887 und 1897
verlangten die ausdrückliche Bezeichnung der Ware als Ersatz-
mittel.
Der Groß- und der Kleinhandel unterwarfen sich in den letzten
25 Jahren immer mehr der Spezialisierung. Der angewachsene
nationale und Welthandel in Massengütern mit seinen Preisbewe-
gungen und Überraschungen verlangt von dem Großhändler,
daß er seine ganze spekulative Findigkeit einzelnen Warenarten
zuwendet. So gibt es ausschließliche Einfuhrhändler für Kaffee,
Baumwolle, Kakao, Gummi, Guano, Tabak, Südfrüchte, Tee, Wein,
Petroleum, Getreide, Holz usw. Der Ausfuhrhändler ist vielseitig
geblieben. Er versorgt z. B. eine süd- oder mittelamerikanische
Stadt mit einer großen Liste von Gegenständen, statt daß er eine
Sorte an vielen Orten verkauft. Bei der Zerstreuung des Absatzes
an Fertigfabrikaten, die bei ihrer verschiedenen Beschaffenheit
C75 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 191 4.
keinen Weltmarktpreis haben können, kommt ihm das billiger zu
stehen. Bei der Massenversorgnng des nordamerikanischen und
russischen Wirtschaftsgebietes gewinnt jedoch das arbeitsteilige
Verfahren auch bei der Ausfuhr steigende Bedeutung.
Die importierenden Großhändler befassen sich mit der Ver-
teilung im Inlande in der Weise, daß sie entweder durch einen
Makler am Ort oder durch Reisende im Binnenlande die Kund-
schaft aufsuchen lassen, oder daß sie die gesamte Ware an einen
Kaufmann abgeben, der aus dem Weitervertrieb ein Sondergeschäft
macht. Es gibt noch Kaufleute, die zugleich ein- und ausführen,
aber eine Notwendigkeit liegt nur ausnahmsweise (s. unten) dafür
vor, da der Schiffstransport ganz von ihnen losgelöst ist. Es sind
oft nur solche, die zu dem börsenmäßigen Handel im großen nicht
ausreichend Kapital haben und sich mit Geschäften verschiedener
Art durchhelfen müssen. Die Großhändler lassen ihre Finanzie-
rungen durch die Banken besorgen. Die Zeit, daß sie ihre eigenen
Bankiers waren, ist längst vorüber.
Der Kleinhandel mit den Verbrauchern ist um so mehr
gesondert, je größer die Stadt ist, in der der Laden gehalten wird,
am auffallendsten in den Hauptverkehrsstraßen, während an der
Peripherie sich noch der vielseitige Kolonialwarenhändler hält.
Ist ein neues Quartier einer Großstadt ausgebaut, so erscheinen
auch hier alsbald die Filialen der Spezialgeschäfte mit ihrer Reich-
haltigkeit an einer Warenart, wie Kaisers Kaffee- oder Reichards
Kakaogeschäft. Die privatwirtschaftliche Kostenersparung solcher
Betriebe liegt in der Zentralisation des Einkaufs, in den gesicherten
Bezugsquellen, in der Ausnutzung der Börsenkonjunktur, der Nach-
teil darin, daß die Filialenleiter ohne eigenes Kapital das Detail-
geschäft führen und die höchste Sorgfalt des Erwerbes, wenn auch
Gewinnanteil besteht, und damit der Versorgung der Konsumenten
vermissen lassen können. Der spezialisierte Kleinhandel bringt den
Einkäufern die Mühe, von einem Laden zum andern wandern zu
müssen, und eine Hausfrau kann den halben Morgen damit ver-
lieren, „ihre Kommissionen" zu machen.
Diesem Zeitverlust begegnen die großen Warenhäuser,
die in Frankreich, wie Louvre und Bon Marche, zuerst aufgekom-
men sind — man lese E. Zolas Roman „Au Bonheur des Dames"
— und die, ohne das Prinzip der Arbeitsteilung zu verletzen, viel-
mehr unter seiner besonderen Ausgestaltung in einem Gebäude, oft
riesenhaften Umfanges, eine Abteilung Waren an die andere reihen.
Das Warenhaus Wertheim in Berlin hat 65 Warengruppen, an
deren Spitze je ein gutbezahlter Chef steht, der Spezialist in seiner
Abteilung sein muß und für eute und modernste Beschaffenheit der
VI. Handel, Bankwesen und Transport. ^^j
von ihm auf Rechnung des Hauses eingekauften Ware und raschen
Umsatz verantwortlich gemacht wird. Das Geschäftsinteresse des
selbständigen Kleinhändlers wird hier durch die Sorge vor der Ent-
lassung und durch Gewinnanteil möglichst wettgemacht. Die Vor-
züge des Großbetriebes äußern sich in der Ausnutzung des Stock-
werkbaues und der von der Straße zum großen Teil abgelegenen
Verkaufsstellen, während der Kleinbetreibende das Erdgeschoß an
der Straßenfront teuer mieten muß; ferner in dem regelmäßigen
Einkauf im großen, der ausschließlichen Beschäftigung von Fa-
briken für die eine Firma, in dem gelegentlichen Ankauf ganzer
Konkursmassen zu billigem Preise, in dem Ersparen an General-
unkosten, in der Ausnutzung des Kredits, in dem beschleunigten
Kapitalumschlag, der in dem billigen, raschen Abstoßen des Ver-
alteten sichtbar wird. Großer Umsatz, geringer Gewinn beim ein-
zelnen Verkauf, bei relativ wenig Kapital als Prinzip der Waren-
häuser, das unter anderem die Barzahlung der Kunden notwendig
macht, erinnern an die Entstehungsgeschichte der meisten dieser
Unternehmungen, die mit kleinen Mitteln anfingen und rasch voran
kamen.
Die alten Kleinhändler, die erbitterten Feinde des Waren-
hauses, schrieben deren Anziehungskraft gern auf die Reklame, auf
die zu billige und daher angeblich schlechte Ware, die Anlock-
artikel, die Zugaben, die Nebengeschäfte, z. B. den Verkauf von
Theater-, Konzert- imd Eisenbahnbillets, das Restaurant mit Musik,
in dem sich die Einkäufer erholen können. Allein für die Jahre
nach 1900 ist nicht zuzugeben, daß die angebotene Ware schlechter
ist. In dem Jahrzehnt vorher mag etwas Wahres daran gewesen
sein, eine solche Praxis hatte sich nicht bewährt. Die Auswahl an
Waren einer Gattung ist im Warenhaus oft geringer, aber gerade
in der Beschränkung auf bestimmte Typen liegt eine Kostenerspar-
nis, Doch bleibt der Mangel an Vielseitigkeit eine Schwäche des
Warenhauses, die Kleinhändler mit bedeutendem Kapital durch
Anlage größerer Magazine auch auszunutzen verstanden haben.
Der alte orientalische Bazar ist etwas anderes. Er entspricht
der Bauart der Städte mit engen Straßen — wie einst „die Bänke"
in der mittelalterlichen Kleinstadt am Dom oder auf dem Markt-
platz — und dem abgeschlossenen Familienleben der Orientalen,
das keine Raumvermietung der Wohnhäuser zu Geschäftszwecken
duldet. Er kennt nicht die Geschäftsspezialisierung; ein Händler
mit allem Möglichen ausgestattet, das bunt durcheinander gewür-
felt ist, wie bei einem Althändler, steht in heftiger Konkurrenz
neben dem andern. Nur in den Bazarstraßen ist ein Ansatz zur
Gliederung in weitgespannten Warenabteilungen bemerkbar.
e^xS VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Die Warenhäuser sind auf die Psychologie des großstädti-
schen Publikums zugeschnitten, dessen Einkommen sehr abgestuft
ist. Viele wollen nur wenig ausgeben und genieren sich, in den
Spezialgeschäften als arme Schlucker zu erscheinen, andere lieben
es nicht, daß ihnen eine ganze Kollektion von Gegenständen vorge-
führt wird, weil sie dann einen Einkauf nicht gut ablehnen können.
Im Warenhaus kann man sich die Ausstellung unentgeltlich ansehen,
und niemand drängt zum Kaufen. Der Käufer ist nichts anderes
als eine Nummer auf der Anschreibetabelle an der Kasse, wo nur
die Priorität berücksichtigt wird wie am Eisenbahnschalter. Außer-
dem wird niemand übervorteilt, weil er wohlhabender ist als ein
anderer. Das Warenhaus entspricht dem demokratischen Gefühl
der Masse, während im Kleinläden bekannte Kunden rascher be-
dient und Ortsfremde geschädigt werden können.
Eine Reihe großer Häuser, z. B. Tietz, Knopf, Barasch,
Wronker, Schmoller, Menow und Waldschmidt, Althoff, beschränkt
sich nicht auf eine Stadt, sondern besitzt ausgedehnte auswärtige
Zweigniederlassungen, denen häufig Familienglieder vorstehen.
Mancher Gegenstand, der in der Residenz nicht mehr verkäuflich
ist, wandert in die Provinzialstadt, was dem Gesamtbetrieb zugute
kommt. Einzelne Firmen sind in Aktiengesellschaften umgebildet
worden. Sie alle sind von Leuten, meist jüdischer Herkunft, ge-
gründet worden, die im Kleinhandel aufgewachsen waren und sich
in dem Umwandlungsprozeß der Volkswirtschaft unter der Ge-
werbefreiheit rasch zurecht fanden.
Die Gesetzgebung ist ihnen nicht hold gewesen, und die Einzel-
staaten, an der Spitze Preußen, haben sie mit einer hohen Um-
satzsteuer von I — 2 0/0 zu treffen gesucht. Das hatte zunächst die
Folge, daß ihre Zahl, die 1901 in Preußen 109 betrug, 1903 nur
noch 73 war. Nach dieser Krise kam aber ein Aufstieg, so daß
1908 die alte Ziffer wieder erreicht worden war. Um 191 2 war die
Zahl auf 121 gestiegen. Die Betriebstechnik war verbessert, und
die Steuer zum Teil auf die Lieferanten übergewälzt worden. Die
Gegner der Warenhäuser, Kleinkaufleute, die nicht vorankamen,
Hausbesitzer mit leerstehenden Läden, Wirte mit schlechtem Ge-
schäft, verlangten sogar, daß die Baupolizei den Stockwerkbau
wegen angeblicher Feuersgefahr verböte, und daß die Erfrisch-
ungsräume geschlossen würden.
Die Klagen der kleinen Ladenbesitzer, besonders im Zentrum
der Stadt, sind daher nicht verstummt, die sich gegen alle Groß-
betriebe auch anderer Art richten. Die großen Spezialgeschäfte
sind schon genannt worden. Neben den eigentlichen Waren-
häusern gibt es die Kaufhäuser, besonders im Bekleidungs-
VI. Handel, Bankwesen und Transport. e^g
und Ausstattun gsgeschäft, wie Hertzog, Gerson, Israel in Berlin.
Ferner besteht die Konkurrenz der Versandhäuser, die den
Laden aufgegeben haben, und aus ihrem großen Lager, meist mit-
tels der Post, an die Kunden verschicken, die sie durch Kataloge
und Muster gewonnen haben. Endlich kommen noch die großen
Konsumvereine, deren Kraft nicht auf dem Kapital, sondern
in der Haftpflicht der vielen Genossen und auf dem gesicherten
Absatz an diese unter dem System der Barzahlung beruht. Eine
Überlegenheit ist ihnen über manche Kleingeschäfte nur dann ge-
geben, wenn sie sich an bestimmte Bevölkerungsschichten, die nicht
zu große Ansprüche machen, wenden, und bei solchen Waren
bleiben, deren sichere Qualität ohne zu große Schwierigkeiten in
großer Menge zu beziehen ist, wie bei Kolonialwaren, mancherlei
Lebensmitteln, Seife, Chemikalien, Brennstoffen. Die meisten sind,
obwohl sie den Unternehmergewinn ablehnen, nicht billiger als die
Kleinhändler, bisweilen sind sie teuerer, weil ihre Organisation auf
vorzügliche Leiter rechnen muß, die so oft fehlen. Dennoch er-
freuen sie sich der Blüte. 1899 gab es 1373 Konsumvereine, 1907
2006 mit 1037 613, 1912 21 18 mit 1753829 Mitgliedern. Ihr Um-
satz ist von 1907 — 191 1 von 306 auf 496 Millionen Mark gestiegen.
Bei weitem die meisten sind mit beschränkter Haftpflicht, nur 126
von denen des Jahres 191 2 mit unbeschränkter, nur 5 mit unbe-
schränkter Nachschußpflicht. Teilweise wurde ihre Beliebtheit auf
das System der Rückvergütung, d. h. des Kreditierens und des Aus-
zahlens des Rabatts in einem größeren Betrage zurückgeführt,
wichtiger war die Einwirkung parteipolitischer Reklame, nament-
lich dort, wo die Vereine von Sozialdemokraten gegründet worden
waren. Die Gesetzgebung ist auch dieser Institution wenig geneigt
gewesen, wie das Verbot des Lebensmittelverkaufes an Nichtmit-
glieder bezeugt. Sie überhaupt mit einer Gewerbesteuer zu treffen,
obwohl sie keinen offensichtlichen Reinertrag besitzen, war nicht
ungerechtfertigt, die Forderung ihrer Gegner, sie mit Sonderab-
gaben zu belasten, ließ sich nicht wohl begründen.
Es war naheliegend, daß der dezentralisierte Kleinhandel den
genossenschaftlichen Gedanken zum Selbstschutz aufnahm. Es blieb
bei Anfängen. Einkaufsgenossenschaften der Kolonialwarenhändler
sind seit 1900 in größerer Zahl entstanden, daneben werden die
Rabattsparvereine genannt, um mit den Konsumvereinen wetteifern
zu können.
Wir haben oben gesehen, daß die Zahl der Kleingewerbe-
treibenden im Handel noch sehr groß ist. Eine Erdrückung durch
den Großbetrieb ist also nicht vorhanden. Man könnte eher ihre
Zahl für übertrieben hoch halten und das Ausscheiden der kapital-
CAQ VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
schwachen Zwergbetriebe wünschen, die dem ganzen Stand das An-
sehen nehmen und ihr dürftiges, unsicheres, oft unreelles Geschäft
nur den bequemen Verbrauchern verdanken, die von der Wohnung
aus den nächsten Kaufmann am liebsten aufsuchen, dessen Arbeits-
kraft so oft besser als zum Umherstehen im Laden volkswirtschaft-
lich verwandt werden könnte.
Bemerkt sei noch, daß der stehende Kleinhandel von den
Hausierern nicht viel zu besorgen hat. Dieses Gewerbe ist im
Rückgang begriffen. In Preußen belief sich der Steuerbetrag vom
Gewerbebetrieb im Umherziehen 1900/01 auf 2,9 Millionen Mark und
191 1 auf 3,3, welche letztere Summe in der Periode des allgemeinen
wirtschaftlichen Aufschwunges mehr als einen Stillstand dieser Be-
triebsweise veranschaulicht.
In der hier beschriebenen Periode hat die Zahl der Hand-
lungsgehilfen zugleich mit der der größeren Betriebe zuge-
nommen. Unter den Gehilfen besteht eine weitgehende Abstufung
der Beschäftigung. Zwischen einem Disponenten eines kaufmän-
nischen Großbetriebes und dem Verkäufer in einem kleinen Laden
ist ein gewaltiger Unterschied. Daher ist dieser Benifsstand eine
ganz einheitliche soziale Klasse keineswegs, obwohl sich nicht ver-
kennen läßt, daß sich die Tendenz zur Herabdrückung der Ge-
hilfen auf das Niveau von Hilfskräften durch die Vermechanisie-
rung kaufmännischer Arbeiten verfolgen läßt. In diese Richtung
treiben die zunehmende Verbreitung der Schreibmaschine, die
mannigfachen Vereinfachungen der Kontoreinrichtungen, die stei-
gende Anwendung der Kurzschrift und der schematisierten Buch-
haltung. Das ist eine Technik, die in einem halben Jahre erlernt
werden kann, so daß sich ihre Beherrscher schwerlich den aus-
gebildeten Gehilfen zurechnen können. Für den Anfang der acht-
ziger Jahre nahm K. Bücher an, daß die Aussicht auf Selbständig-
machung für alle Handelsgehilfen nach dem 30. Lebensjahr eine
sehr große sei, nach den umfangreichen statistischen Erhebungen des
deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes konnte man dies für
1908 nicht mehr behaupten. Von seinen Mitgliedern gelangten in
den vorausgehenden 5 Jahren nur i — 2 0/0 zu einer selbständigen
Stellung, womit übereinstimmt, daß der Prozentsatz der älteren
angestellten Leute erheblich gewachsen und das Heiratsalter hin-
ausgeschoben ist.
Wir haben im Anfang dieses Buches in der Übersicht über
das deutsche Wirtschaftsleben um 181 5 daruf hingewiesen, daß
damals die Angestellten und Lehrlinge im Hause des Kaufmannes
wohnten und ernährt wurden. Dieser Zustand ist mehr und mehr
verschwunden. Aber noch 1893 wurde amtlich ermittelt, daß 45,1 0/0
VI. Handel, Bankwesen und Transport. c^I
der Ladenangestellten bei ihren Prinzipalen freie Station bezögen,
wogegen die vorgenannte Enquete des deutschnationalen Verbandes
für alle Gehilfen nur noch 10,720/0 feststellte. Diese Minderung
wird von dem Verbände als ein soziales Unglück , nicht betrachtet,
im Gegenteil, er hofft, daß die Naturalentlohnung ganz verschwin-
den werde, und begrüßt es als einen Fortschritt zur besseren
Lebenshaltung, daß die darauf hinzielenden Vorschläge der Kauf-
leute von den Stellensuchenden nach Kräften abgelehnt werden.
Denn von dem ehemaligen patriarchalischen Zustande mit seiner
sozialen Pflicht des Arbeitgebers sei nur noch wenig zu spüren.
Die Klage über schlechtes Essen und ungenügende Wohnung sei
allgemein, und der Kaufmann sei zur Gewährung der freien. Station
nur bereit, weil er an Lohnkosten zu sparen gedenke.
Wie bei den gewerblichen Arbeitern, so sind auch die Ein-
kommen bei den Handlungsgehilfen seit 1895 gestiegen, bei diesen
jedoch, wie sich aus einer Anzahl von Untersuchungen ergibt, nicht
in dem Maße wie bei jenen, so daß sich der Lohn nur an die er-
höhten Lebensmittelpreise angepaßt zu haben scheint. Auch sind
über lange Arbeitszeit und lästige Vertragsbedingungen, wie z.B.
über die Konkurrenzklausel, andauernd Beschwerden laut gewor-
den. Im Kleinhandel geht es den Gehilfen schlechter als im Groß-
handel. Beide Berufe gelten von Stellensuchern als überlaufen.
Der stärkste Andrang ist in dem früher und leichter zu erlernen-
den Kleinhandel.
Von je 100 Gehilfen bezogen ein Einkommen:
in der Industrie im Großhandel im Kleinhandel
bis zu 2000 M. 69,86 73.71 85.52
über 2000 M. 30,14 26,29 14,48
Die wenig günstige Lage dieser Angestellten und Arbeiter
wurde um 1890 auch aus ihrem unzureichenden Verbandswesen er-
klärt, das alles in allem nach M. Quarck 100 000 Personen um-
faßt». Ein erheblicher Teil davon entfiel auf die „kaufmännischen
Vereine", die das paritätische Prinzip vertreten, also auch Prinzi-
pale einschließen, was der Stellenvermittlung zugute kommt. Um
1908 sind weit über 300000 organisierte Mitglieder gezählt wor-
den, von denen die meisten als gewerkschaftlich zu gelten haben.
Der Deutschnationale Handlungsgehilfen verband wies 120 133, der
Verein für Handlungskommis 86 642, der Verband deutscher Hand-
lungsgehilfen in Leipzig — die beiden erstgenannten haben ihren
Sitz in Hamburg — 81 705 allein nach. Doch war auch diese Be-
rufsvertretung im Vergleich zu der Gesamtzahl der Lohnempfänger
noch gering. Der Gedanke des Zusammenschlusses hatte viel
e.A2 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
langsamer um sich gegriffen als in der Industrie, da der Handel,
besonders der Kleinhandel, über das ganze Land dezentralisiert
ist und der Großbetrieb, wie oben erwähnt, wenn er auch zunahm,
nicht so wie bei jener vorhanden ist.
Der Warenhandel ist, wenn nach den beschäftigten Personen,
nicht nach dem umlaufenden Kapital gemessen wird, in der Sta-
tistik von 1907 nur in 1146 Fällen Großbetrieb, d. h. mit über 50
Beschäftigten. Wie viele davon auf den Großhandel entfallen, ist
nicht zu ersehen. Wir können zu ihm die 54 Händler in Getreide,
Bau- und Nutzholz, Metallen, Häuten, Fellen, Leder, Lumpen und
Knochen rechnen. Hingegen werden wir den Großbetrieb mit
verschiedenen Waren, ferner mit Bier, Delikatessen, Back- und
Konditorwaren, Fleisch und Fleischwaren, Schuhen, Wäsche,
Uhren vornehmlich dem Detailhandel anschreiben müssen.
Das wichtigste Großhändlertum wird man in den mit 6 bis
50 Personen arbeitenden Mittelbetrieben zu suchen haben, deren
Zahl für den ganzen Warenhandel 42073 mit 483919 Personen aus-
machte. Der Großhandel mit seinem eigenen Kapital erleidet einen
Angriff durch die Kommissionäre und Agenten des Fabrikanten,,
die den Gewinnaufschlag des Kaufmanns beseitigen wollen. Wenn
dies glückte, würde das große im Handel angelegte Kapital xüber-
flüssig und könnte in der Gütererzeugung angelegt werden. Der
Ersatz durch Beauftragte wurde durch die rasche Umformung der
Technik begünstigt. Wenn wir z. B. erfahren, daß Automobile,
Motorräder, wertvolle landwirtschaftliche Maschinen direkt an die
Kunden von der Fabrik gelangen, so wird das daraus begreiflich,
daß der Kaufmann die Anhäufung von teueren, rasch unmodern
werdenden Gegenständen scheut, während der Agent nichts ris-
kiert, zugleich die nicht große Käuferschicht zu übersehen lernt.
Er eröffnet in der Großstadt den Laden, stellt Arbeiter für Repara-
turen an, betreibt Reklame, versendet Preisverzeichnisse mit Bil-
dern. Anders liegt es, wenn Großbrauereien ihr Bier in selbst-
gebauten Bierpalästen ausschenken lassen, oder wenn sie Wirte
unter Stundung von Zahlungen und Gewährung von Rabatten nur
ihr Bier zu vertreiben verpflichten. Hier ist die Ausschaltung des
Großhandels sowohl aus ihrer Kapitalkraft als auch daraus zu ver-
stehen, daß eine gut geführte Restauration und die richtige Be-
handlung des Getränkes genügen, die Gäste heranzuziehen.
Auch ein nicht geringer Teil des überseeischen Exportge-
schäftes wird heute ohne kaufmännische Vermittlung besorgt. Die
Verschiffung der Waren war noch in den siebziger Jahren keine
einfache Sache. Die Umladung von der Bahn in den Hamburger
VI. Handel, Bankwesen und Transport. c^a
Ewer und dann an Bord des aufzusuchenden Seeschiffes, eine wei-
tere am Bestimmungshafen, das Aufsuchen der ausländischen Kun-
den, das Eintreiben und Remittieren der Zahlung erforderte manche
Spezialkenntnisse und Geschäftsverbindungen, wie sie nur der Fach-
mann besaß. In der neuen Zeit hat sich manches verändert. Die
deutsche Industrie hatte Weltruf bekommen, und ein Hauptabsatz-
gebiet wurden die Vereinigten Staaten, die von Weißen bewohnten
englischen Kolonien, die großen Plätze in Südamerika, Westindien,
Mexiko, Ostindien, Ostasien, Australien. Die Dampfschiffverbin-
dung dahin ist eine häufige und regelmäßige und imstande, jede
Menge aufzunehmen. Die Schiffsgesellschaften besorgen die Ein-
ladimg der Frachtgüter mit Leichtigkeit, indem die Bahnwagen bis
an das Schiff heranfahren und der Dampf- oder elektrische Kran
nur eine halbe Drehung zu machen hat, um die Kollis in den
Schiffsraum zu versenken. Entsprechend wird im Einfuhrhafen
von derselben Gesellschaft an ihrem eigenen Quai verfahren, von
dem aus die Sendungen auf den vielen Bahnlinien nach ihrem Be-
stimmungsort rollen. Um die direkte Geschäftsverbindung anzu-
knüpfen, werden massenhaft Kataloge an auswärtige Geschäfts-
leute mit der Post verschickt, deren Namen aus Adreßbüchern er-
mittelt werden, oder es werden Reisende mit Musterbüchern und
Koffern auf Monate, selbst auf Jahre ausgesandt, oder es betei-
ligen sich die Fabrikanten an Submissionen, welche fremde Staaten
oder große Privatuntemehmungen ausschreiben, etwa bei dem An-
kauf von Rüstungs- oder Eisenbahnmaterial. Unter diesen Um-
ständen wird das Exportgeschäft des Kaufmannes eingeschränkt,
und er muß Gegenden aufsuchen, wohin die Reisenden nicht vor-
dringen, imd wo er seine Faktoreien anlegt. Die Fabrikanten
können sich nicht darauf einlassen, viele Warenarten zu vertreiben.
Das vielseitige Geschäft blieb daher noch jenem gewahrt. Erleich-
tert wurde es ihm durch die Exportmusterlager,. Dauerausstellungen
mit fortlaufenden Neuerungen, im Innern Deutschlands angelegt
auf den Rat von H u b e r zuerst in Stuttgart, dann in Berlin, Mün-
chen, Karlsruhe, Frankfurt a. M. usw., weiter auch in den See-
städten. Die Einrichtimg kommt auch anderen Einkäufern zugute,
wie ausländischen Agenten und Kaufleuten. Sie dient auch dazu,
fremde Konsuln und Konkurrenten über die deutsche Leistungs-
fähigkeit zu unterrichten. Im Gegensatz zu den Handelsmuseen,
die den Fabrikanten über die Bedürfnisse der einzelnen Export-
länder aufklären, dienen die Exportmusterlager auch der privaten
Aufgabe des Geschäftsabschlusses.
Der Großhandel setzt Intelligenz und Energie besonderer Bil-
dung voraus. Er blieb dort unentbehrlich, wo weitausschauende spe-
caa vi. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
kulative Unternehmungen mit großer Selbstverantwortlichkeit und
raschem Entschlüsse einsetzen müssen, wo der häufige Wechsel
der Konjunktur unvermeidlich, die Kaufs- und Verkaufstechnik in
der Umwälzung begriffen ist. In der Einfuhr von Rohstoffen und
Lebensmitteln ist ihm daher noch eine große Domäne geblieben,
obwohl auch hier Einengungen beginnen. Es ist ihm vielfach ge-
lungen, den englischen Zwischenhandel zu beseitigen und die jungen
Leute zum direkten Verkehr mit Übersee anzulernen. Die Hinaus-
sendung der Kommis nach London und Antwerpen, um dort Kennt-
nisse zu gewinnen, ist nicht mehr üblich. Um die Jahrhundert-
wende wußten ihre Väter ganz wohl, daß sie diese Ausgabe sparen
konnten, ließen ihre Söhne lieber in die Berlitzschule gehen und
hielten es für einen Gewinn, wenn der englische Sportgeist, der
den jungen Kaufmann in London einfing, gebannt blieb.
Der überseeische Einfuhrhandel zeigt eine Spezialisierung
auch nach Empfangsorten. Das Hamburger Kaffee- und das
Bremer Baumwollgeschäft sind bekannt. Die Getreideeinfuhr wird
für West- und Süddeutschland in drei Richtungen zusammengefaßt.
Zunächst transportmäßig auf der Wasserstraße des Rheins, zwei-
tens örtlich in den Städten Mannheim, im quantitativen Abstand
davon, in Duisburg, Köln, Frankfurt a. M., drittens geschäftlich
in wenigen kapitalkräftigen Häusern, von denen eins in Mann-
heim alle überragt. Die Konkurrenz hat hier den Gewinn stark
geschmälert, so daß er den kleinen Firmen nicht genügt, und durch
die Qualitätssonderung sind zur Beurteilung steigende technische
Ansprüche erwachsen, denen nur durch Anstellung sehr tüchtiger
und daher teuerer Kräfte entsprochen werden kann. Die gestiegene
Bevölkerung und der Wohlstand in den Städten verlangten, daß
enorme Mengen und mancherlei Getreidesorten rasch und sicher
zur Hand waren, was nur durch planmäßige Versorgung, wie sie
von einzelnen Mittelpunkten ausgeht, zu erreichen war. Die hoch-
ausgebildete Rheinschiffahrt und die großen Mühlenwerke ver-
liehen diesem wohlgegliederten Ganzen den nötigen Abschluß.
Die Einfuhr von industriellen Rohstoffen findet nach ver-
schiedenen Methoden statt. Daß das erwähnte Faktoreigeschäft
der Hansestädte bei seinen hohen Spesen lohnend sei, ist in Ab-
rede gestellt worden. Die Niederlassung hat immerhin den Vorteil,
das tropische Importgeschäft von Gummi, Palmöl, Palmkemen,
Erdnüssen in die Hand zu bekommen, soweit diese Gegenstände
von den eingeborenen Sammlern geliefert werden. In den deut-
schen Kolonien und in Mittelamerika haben Kaufleute auch Plan-
tagen errichtet, deren Produkte sie ausführen.
VI. Handel, Bankwesen und Transport. ca^
Überblicken wir die wichtigsten Importgüter, so wird die
Baumwolle aus dem nordamerikanischen Süden, aus Ägypten und
Indien, die Wolle aus Argentinien, Australien, Südafrika durch
den Handel eingeführt. Die benötigten auswärtigen Metalle hin-
gegen werden von den Industrien meist direkt bezogen, die auch
in Nordspanien und Algier, selbst in Frankreich eigene Bergwerke
haben oder an ihnen beteiligt sind. Der Kaffee wird durch den
deutschen Kaufmann eingebracht. Der Kakao wird zum guten Teil
durch Holländer, die Plantagen in Indien besitzen, den deutschen
Verkaufsstätten zugeführt. Ähnliches gilt vom Tabak. Ganz aus-
geschaltet ist der deutsche Kaufmann bei dem amerikanischen
Petroleum. Der amerikanische Öltrust verfrachtet selbst nach Eu-
ropa, und die deutsch-amerikanische Petroleumgesellschaft ver-
treibt die Ware mit ihren Tankwagen zu den Kleinhändlern und
Verbrauchern selbst bis aufs Land. Auch der Verkauf des Chile-
salpeters ist von Chile aus einheitlich geregelt. Obst und Fleisch-
waren aus Nordamerika finden direkten Absatz bei Kleinhändlern
in deutschen Städten, ebenso die italienischen Südfrüchte, die z. B.
waggonweise in München eintreffen. Bei den Orangen, die auf
dem Seeweg kommen, ist das Konsignationssystem sizilianischer
und spanischer Exportware üblich, an welches sich die Auktion
im Importhafen anschließt.
Wollte man aus diesen Vorgängen der sich umgestaltenden
internationalen Wirtschaft unter Einschränkung des Großhandels
den Schluß ziehen, daß Hamburg und Bremen zum Rückschritt
verurteilt gewesen wären, würde man in einem Irrtum befangen
sein. Man wird eher das Gegenteil vermuten, wenn man dem Ge-
danken der befestigten Weltwirtschaft nachgeht, in die von Deutsch-
land aus, soweit sie überseeisch ist, die Hansestädte als Tore hin-
einführen. Durch beider Reichtum vermittelt sich die rasch an-
wachsende Zahl der Seeschiffe, die Seeversicherung, der Schiffs-
bau, die Auswanderung, der Reisestrom der Amerikaner, das inter-
nationale Finanzierungsgeschäft, der Bau neuer Hafenanlagen und
die durch die Einfuhr und Ausfuhr begünstigte hafennahe In-
dustrie.
Das Anpassen an die neue Zeit hat den Hanseaten manches
Kopfzerbrechen gekostet. Von altersher waren die Kaufleute im
überseeischen Großhandel der erste Stand in der Gesellschaft, der
Fabrikant, der Händler, der sich mit den Verbrauchern abgab, der
Schiffsbauer, der Techniker, der Bauunternehmer, der Bankier
selbst wurden von ihnen etwas von oben angesehen. Das verschob
sich nicht ohne soziale Mißhelligkeiten, und wenn die Alten das
Versinken der schönen ehemaligen vornehmen Zeit auch beklagten,
A. Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. o5
1546 ^I Abschnitt. Die Zeit von 1890— 19 14.
die junge Generation war zu praktisch veranlagt, um das Zugreifen
zu verpassen.
Der Großhandel ist mit der Produktenbörse um so
mehr verknüpft worden, je größer die Massen wurden, die über die
ganze Volkswirtschaft zur rechten Zeit und an den rechten Ort
verteilt werden mußten. Die alten Märkte mit ihrem Effektiv-
handel in Lebensmitteln und Rohstoffen waren auf den örtlichen
oder naheverkehrlichen Absatz eingestellt. Mit den Eisenbahnen,
den Kanälen, dem größeren Schiffsverkehr wurde es möglich, die
gestiegene Bevölkerung des ganzen Landes aus der Ferne zu ver-
sorgen. Das mußte von festen Mittelpunkten ausgehen, und die
Qualität der Ware war sicherzustellen. Mit dem Entstehen der
Großindustrie bedurfte z. B. der BaumwoU- oder Wollspinner einen
Markt mit einheitlicher Preisbildung für das Gebiet des Zollvereins.
Der Geschäftsabschluß im großen zur Lieferung in Gegenwart und
Zukunft wurde nötig, damit die Anfertigung des Garnes ohne
Unterbrechung vorgenommen werden konnte. Die Waren wurden
von ungezählten Bauern, Guts- und Plantagebesitzern und Berg-
werken produziert, dann von den Kaufleuten aufgesammelt, ver-
frachtet und dem Verbrauch zugeführt. Hätte nun alles, was nötig
war, auf einem Markte aufgestapelt werden sollen, wo sich die
Käufer die Ware aussuchen konnten, würde dies bei den großen
Entfernungen, welche die Waren und Käufer zu überwinden ge-
habt hätten, allein mit bedeutenden Kosten und Zeitverlusten zu
bewerkstelligen gewesen sein. Die Märkte hätten nur von Zeit zu
Zeit stattfinden dürfen, da sie der vollen Auffüllung bedurften,
und dann hätten die Waren von hier aus erst zur Verarbeitungs-
oder Verbrauchsstätte geführt werden müssen. Dieser Schwierig-
keit wird dadurch begegnet, daß täglich zentralisiert an einem
Orte oder auch an mehreren Geschäftsabschlüsse von dort ansäs-
sigen Handelspersonen für eigene oder fremde Rechnung getätigt
werden, wobei über Waren disponiert wird, die sich in Speichern
am Ort, auf der Bahn, auf dem Schiffe, in irgend einem in- oder
ausländischen Hafen befinden, worüber sich näheres, wenn un-
sicher, telegraphisch ermitteln läßt. Die Preise werden festgestellt
auf Grund der Nachfrage und jedes erreichbaren, nahen oder
fernen, gegenwärtigen oder künftigen Angebots. So kann stets an
irgend einem Ort oder an irgend einem Zeitpunkte geliefert wer-
den. Nun kommt es darauf an, daß sich Käufer und Verkäufer
über die Qualität einigen, die nicht vorgelegt und daher nicht be-
gutachtet werden kann. Der erstere verlangt Sicherheit, daß er
auch dasjenige erhält, was ihm versprochen worden ist. Zu dem
VI. Handel, Bankwesen und Transport. ca-j
Zweck mußte die Vertretbarkeit der Ware ausgebildet werden.
Sie beginnt mit dem Handel nach Probe. Die Probe wird vorge-
zeigt, und der Verkäufer verpflichtet sich, die Ware demgemäß
zu liefern, ohne daß er an irgendwelche effektive Bestände ge-
bunden ist. Das Geschäft wird nun weiter erleichtert, wenn an den
Produktionsorten oder in den Verschiffungshäfen bestimmte Typen
hergestellt werden, auf die sich der Verkäufer beziehen kann. So
wird z. B. in Brasilien jedes Jahr nach der Ernte ein Durch-
schnittskaffee festgesetzt — Santos good average, bestehend aus
2/g superior, ^/q good, i/g regulär Santoskaffee — , der in der gan-
zen Welt als abstrakte Ware anerkannt wird. Andere Sorten blie-
ben daneben bestehen und werden nach Probe gehandelt. Bei
dem nordamerikanischen Getreide werden in den Silos die einge-
brachten Mengen fachmännisch behandelt und klassifiziert und
bleiben dort liegen, bis der Besitzer über die verfügbare Quantität
entscheidet. Zum Verkauf genügt die Übergabe eines Zertifi-
kates, in Besitz dessen der Käufer nun berechtigt ist, die Ware
abzunehmen und dorthin verfrachten zu lassen, wohin es ihm
gefällt.
Für Waren, die am Kaufort vorhanden sind, und sofort über-
geben und bezahlt werden sollen, dient das Kassageschäft an der
Börse, wo die genannten Geschäfte abgeschlossen werden, für die
in Zukunft zu liefernden und abzunehmenden das Zeitgeschäft,
das als Lieferungsgeschäft, wobei die Frist der Nachlieferung nicht
ausgeschlossen ist, und als Fixgeschäft, bei dem der Verzug nicht
zulässig ist, zwei Formen besitzt. In dem Streben nach Verein-
fachung hat sich der börsenmäßige Terminhandel als vollendetste
Form ausgebildet. Durch Usancen der Börse sind wichtige Teile
des Geschäftes festgelegt worden, die Vertretbarkeit, die Mengen-
einheit, die Lieferungsfrist des Fixgeschäftes, die Annahme und
Bezahlung der Ware. Findet die Lieferung nicht statt, so kann
der Käufer die Ware für Rechnung des Gegenkontrahenten kaufen
oder sich die Differenz auszahlen lassen; will der Käufer sie nicht
nehmen, kann er sie für Rechnung des Verkäufers veräußern,
eventuell auch die Differenz bezahlen. So entstand das Differenz-
geschäft, das wirtschaftlich berechtigt ist, aber auch zum Spiel
entarten kann. Im Anschluß an den Terminhandel sind unter dem
Prinzip der Arbeitsteilung, wo er sich in großem Umfange ein-
bürgerte, Liquidationskassen geschaffen worden, die beiden Par-
teien die Abwicklung ihrer Verträge garantieren. Sie gewannen
besonders in Hamburg für den Kaffeemarkt Bedeutung.
Die Termingeschäfte in Waren vollziehen sich an den Pro-
duktenbörsen, die in Deutschland in den letzten Jahrzehnten an
35*
e^8 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
verschiedenen Orten entstanden sind. Der Hauptmarkt für Zucker
ist Magdeburg, für Kaffee und Tabak Hamburg, für Tabak, Baum-
wolle und Reis Bremen, für Getreide Berlin und Mannheim, für
Kammzeug Leipzig. Außerdem gibt es zahlreiche allgemeine Pro-
duktenbörsen, an denen Getreide, Mehl, Hülsenfrüchte, Kartoffeln,
Ölsaat, Spiritus, Preßhefe, Eier u. a. m. gehandelt werden. So in
Berlin, Breslau, Danzig, Dresden, Leipzig, Frankfurt a. M., Königs-
berg, Köln, Stettin, Stuttgart.
Die Effektenbörse ist in früheren Kapiteln ihrer Ent-
stehung und Weiterbildung nach geschildert worden. Hier war die
Fungibilität in Gold- und Silberbarren, in fremden Münzen, Wech-
seln, fremden Banknoten, Papiergeld und in Effekten von vorn-
herein gegeben. Ein Königsberger Kapitalist konnte schon im
Anfang des 19. Jahrhunderts in Berlin den Auftrag erteilen, 10
Aktien der Seehandlungssozietät zu erwerben, wobei es ihm auf
die Nummern der Stücke nicht ankam. Bei den Waren mußte die
Vertretbarkeit erst mühesam geschaffen werden. So blieb denn
die Warenbörse noch lange rückständig, als die Effektenbörse
schon ihre berechtigten und unberechtigten Triumphe gefeiert hatte.
Der Getreidemarkt in Berlin z. B., der im 18. Jahrhundert nur
aus der umgebenden Provinz versorgt wurde, zog im ersten Drittel
des 19. Jahrhunderts mit der Verdichtung der Bevölkerung und
Verbesserung der Wasserstraßen die östlichen Provinzen Schlesien,
Posen und Westpreußen heran, deren Verfrachter den Roggen dem
Händler unter Verkauf des Konnossements überließen. Mit dem
Bau der Eisenbahnen wurde das Getreide aus weiterer Entfernung
zu jeder Jahreszeit lieferbar. Es kam der Schlußzettel auf, der die
wichtigsten Geschäftsbedingungen enthielt. Nach und nach ent-
standen feste Gewohnheiten, und die Geschäftsabschlüsse fanden 'an
einem bestimmten Ort, der Börse, statt. Als nun Deutschland aus
einem Getreideexport- ein Importland wurde und Hamburg und
Stettin einen großen Teil ihres Getreidegeschäftes, namentlich jn
Weizen, einbüßten, wurde Berlin immer führender im Handel des
Roggens, der deutschen Hauptfrucht, nicht bloß für die deutsche,
sondern auch für die europäische Preisgestaltung überhaupt, bis
das Reichsbörsengesetz von 1896 diesen Aufschwung zum Stehen
brachte.
Die rechtliche Grundlage aller Arten von Börsen war, der
Sondergesetzgebung der Einzelstaaten entsprechend, verschieden-
artig. In Preußen mit seiner straffen Staatsverwaltung war die
Errichtung von der Genehmigung des Handelsministers abhängig.
In Leipzig und Hamburg, wo die Kaufmannschaft großen Einfluß
besaß, hatten die Handelskammern die Oberaufsicht, in München
VI. Handel, Bankwesen und Transport. -40
und Dresden dachte man liberal und gestattete die Börsen als
reine Privatvereine. Das deutsche Handelsgesetzbuch hatte kein
einheitliches Börsenrecht gebracht. So blieben die Zustände bis
in die neunziger Jahre unverändert. Ein Umschlag v^urde zunächst
dadurch veranlaßt, daß mit der Hochkonjunktur von 1888 — 1890
und der sich anschließenden Krise wiederum viele spekulative Aus-
schreitungen im Effektenhandel beklagt wurden, und man sich die
Vorgänge der siebziger Jahre lebhaft vergegenwärtigte. Die nach-
gewiesene Täuschung des Publikums bei Emmissionen, der Zu-
sammenbruch von Schwindelfirmen, die die Börsenengagements ver-
mittelt hatten, auffallende Depotunterschlagungen und Bankerotte
auch besserer Häuser, das verbreitete Börsenspiel auch in Pro-
dukten veranlaßten weite Kreise, ein staatliches Eingreifen zu
fordern, freilich ohne daß man zulässige Grenzen und brauchbare
Mittel zunächst anzugeben wußte.
An Angriffen gegen die Börse hatte es schon früher nicht ge-
fehlt, deren man sich jetzt entsann. Der Kongreß deutscher Land-
wirte und die Steuer- und Wirtschaftsreformer hatten sie zur
Parteisache gemacht und eine hohe Steuer auf Börsengeschäfte be-
fürwortet. Bald nachher fiel das Wort des Ministers M a y b a c h
jjvon dem Giftbaum der Börse". Der Abgeordnete L a s k e r hatte
die Börse „eine Akademie für straflose Umgehung der Gesetze"
genannt, und sein Gegenpart Dr. Strousberg wurde ebensooft
zitiert: „Die Art, wie die Börsenkurse gemacht und notiert werden,
bietet die nötige und bezweckte Handhabe für den Betrug".
Unter dem Optimismus der liberalen Wirtschaftspolitik ließ
man trotz der Mahnungen alles weitergehen, und auch die Einzel-
staaten waren dem Reichseingriff wenig geneigt. 1881 brachte
die Bismarcksche Finanzreform den Emmissions- und Umsatz-
stempel, der seine Entstehung dem Geldmangel des Reiches ver-
dankte, wenn er auch daneben als Gegenstück zu der Belastung des
Grundbesitzüberganges für mobile Werte und zur Einschränkung
der Börsendifferenzgeschäfte gefordert wurde. Die Steuer wurde
in den nächsten Jahren umgestaltet und erhöht, als die Finanznot
weiter zunahm. Ein neuer Gegner erwuchs der Börse, speziell der
Produktenbörse, in dem Bund der Landwirte, der in seinem Pro-
gramm von 1893 verkündete: „Schärfere staatliche Beaufsichtigung
der Produktenbörse, um eine willkürliche, Landwirtschaft und Kon-
sum gleichmäßig schädigende Preisbildung zu verhindern". Zur
Begründung war u. a. auf den Hamburger Zuckercorner von 1888
und auf den „Zuckerkrach" in Magdeburg von 1889 hingewiesen
worden.
ccQ VI. Abschnitt. Die "Zeit von 1890 — 191 4.
Die Reichsregierung verhielt sich jetzt gegen die vielfach
lautgewordenen Wünsche nicht mehr gleichgültig. Schon 1892
wurde eine Enquetekommission eingesetzt, die dann 93 Sitzungen
abhielt und in den stenographischen Berichten einen wertvollen
Stoff zur Beurteilung veröffentlichte, 1895 folgte die Vorlage und,
nachdem der Reichstag mehrere einschneidende Änderungen durch-
gesetzt hatte, 1896 das Reichsbörsengesetz. Seitdem es 25 Jahre in
Kraft ist, wird man es im ganzen bei der Schwierigkeit der großen
Materie für eine gelungene Schöpfung halten dürfen, wenn auch
unverkennbar einige Mißgriffe gemacht waren, die durch die No-
velle von 1908 zum größeren Teile beseitigt worden sind. Es hat
eine gleichmäßigere, grundsätzliche Ordnung für alle deutschen
Börsen geschaffen und die staatliche Aufsicht prinzipiell gutge-
heißen. Für jede Börse ist eine Börsenordnung zu erlassen, die
der Genehmigung durch die Landesregierung bedarf, und mit der
zugleich bestimmte Vorschriften, z. B., daß die Landwirtschaft
und die Müllerei im Vorstand der Produktenbörse Vertretung ha-
ben müssen, verbunden sind. Die Zusammensetzung des Verwal-
tungsorgans, des Börsen Vorstandes, wird im übrigen den
Börsen selbst überlassen, so daß Zahl und Wahl der Mitglieder in
Deutschland durchaus verschieden sind. Unter seiner Aufsicht wer-
den die Börsenkurse festgestellt, wobei er sich der beeidigten privi-
legierten, in Gruppen eingeteilten, in einer Kammer organisierten
Kursmakler, neben denen noch andere für besondere Bedürfnisse
tätig sind, zu bedienen hat. Es ist bestimmt worden, welche Per-
sonen vom Börsenbesuch ausgeschlossen sind, weibliche, in Zah-
lungsunfähigkeit geratene, wegen Bankerottes verurteilte, solche,
denen die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt sind. Gegen die
Einsetzung eines überwachenden Staatskommissars erhoben die Kauf-
leute zuerst heftigen Widerspruch, den sie später fallen ließen, als sich
die ihm gewährten Befugnisse als nicht tiefgreifend herausstellten.
Um so mehr widersetzten sich die Mitglieder der Berliner Pro-
duktenbörse der Zuziehung von Landwirten in den Vorstand. Sie
sahen darin einen Angriff auf ihre Berufsselbständigkeit und
Standesehre und stellten den offiziellen Börsenhandel ein. Der Ver-
such, einen freien Verkehr ohne Usancen, amtliche Preisnotierung,
Makler und Schiedsgericht, zum Ersatz zu nehmen, scheiterte
an dem staatlichen Verbot. Die Geschäfte wurden nun von Kontor
zu Kontor abgeschlossen, und Berlin büßte damit seine Stellung
als Roggenweltmarkt ein. Erst 1900 wurde die Produktenbörse
wieder eröffnet, nachdem die Wahl der landwirtschaftlichen Vor-
standsmitglieder aus 10 Kandidaten des Landesökonomiekollegium.s
den „Ältesten der Kaufmannschaft" zugestanden worden war.
VI. Handel, Bankwesen und Transport. c c £
Die an der Börse vorgenommenen Geschäfte wurden 1896
neuen Normen unterworfen. Das Emissionsgeschäft oder
die Ausgabe und Unterbringung von Wertpapieren hatte mit dem
allgemeinen Aufschwung der Volkswirtschaft einen entsprechenden
Umfang angenommen. Der ,, Deutsche Ökonomist" brachte für die
Zeit der Börsenreform folgende Angaben:
fahre
Gesamtsumme der
Davon ausländische
Emissionen
Papiere
1895
1374 Millionen M.
317 Millionen M.
1896
1895
568
1897
1944
632
1898
2407
709
Das waren freilich nicht bloß direkte Kapitalneubildungen.
Es steckten in ihnen auch Konversionen und Umwandlungen von
Privat- in Aktienkapital, und auch Ausländer mochten sich gele-
gentlich beteiligt haben. Andererseits wurden auch in Deutschland
ersparte Gelder in auswärtigen Emissionen zur Anlage gebracht,
wobei an die berüchtigten englischen Goldshares und an amerika-
nische, in New York aufgelegte Eisenbahnaktien und Obligationen
erinnert sein mag. Man hat für die Jahrhundertwende angenom-
men, daß Deutschland einen jährlichen Kapitalzuwachs von 2 1/2 bis
3 Milliarden Mark hätte, von dem auf die Wertpapieranlage min-
destens I Milliarde entfallen wäre.
Die zur Emission bestimmten Effekten müssen ausdrücklich
und formell zur amtlichen Notierung zugelassen werden. Der
Zweck ist, das Publikum vor Übervorteilungen zu schützen, das
nicht in der Lage sei, selbst die Werte zu beurteilen. An jeder
Börse ist eine kollegial gegliederte Zulassungsstelle zu errichten,
an der keine Personen mitwirken dürfen, die von der Ausgabe ge-
schäftliche Vorteile erwarten. Sie kann ohne Angabe von Gründen
die „Kotierung" verweigern, auch zugelassene Papiere wieder aus-
schließen. Für Reichs- und deutsche Staatsanleihen gilt sie nicht.
Der Schutz der Erwerber besteht zunächst in den formellen Maß-
regeln: I. der Vorlegung der urkundlichen Unterlagen, die für den
Wert der Effekten entscheidend sind, 2. der öffentlichen Bekannt-
gabe aller zur Beurteilung des Papiers wichtigen rechtlichen und
tatsächlichen Verhältnisse in einem Prospekt. Darüber hinaus geht
die nicht leicht zu verwirklichende, materielle Bestimmung, „Emis-
sionen nicht zu gestatten, durch welche erhebliche allgemeine In-
teressen geschädigt werden oder die offenbar zu einer Schädigung
des Publikums führen". Für die Richtigkeit der offiziellen An-
kündigung haben die Emittenten, d. h. der Kapitalsucher und die
ec2 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
vermittelnden Banken zu haften, außerdem ist derjenige strafbar
— da der Tatbestand des Betruges oft nicht nachweisbar ist — ,
der für Mitteilungen in der Presse, durch die auf den Kurs einge-
wirkt werden soll, Vorteile gewährt oder verspricht, die im auf-
fälligen Mißverhältnis zu der Leistung der Reklame stehen.
Durch die Einrichtung der Zulassungsstelle ist auch die poli-
tische Einwirkung auf die Einführung auswärtiger Staatspapiere
gesichert, da vor der Kotierung die Staatsregierung benachrichtigt
wird. Das wird übrigens nur selten von Wichtigkeit sein, da die
Emissionsbanken sich meist vorher mit dem Auswärtigen Amt in
Verbindung gesetzt haben werden. Eine zielbewußte nationale
Wirtschafts- und auswärtige Politik läßt sich mit der Zulassung
oder Ablehnung der Auslandsanlagen betreiben, von denen übri-
gens bei der dafür nicht ausreichenden Befähigung der deutschen
Diplomatie nur wenig Gebrauch gemacht worden ist.
Mit besonderer Schärfe wandte sich die Börsengesetzgebung,
um das Spiel zu beschränken, gegen die Zeitgeschäfte. Zunächst
wird dem Bundesrat ganz allgemein die Befugnis erteilt, den
Terminhandel in bestimmten Waren oder Wertpapieren zu unter-
sagen oder von Bedingungen abhängig zu machen, wovon er auch
z. B. bei dem Kammzug Gebrauch gemacht hat. Ferner ist nur
denjenigen Personen der Terminhandel mit rechtlicher Wirkung
gestattet, die in ein öffentliches Börsenregister eingetragen sind,
wobei man hoffte, alle diejenigen vom Spiel auszuschließen, die
sich nicht berufsmäßig mit solchen Geschäften befassen, und da
niemand von diesen Neigung haben werde, sich öffentlich als
Jobber zu legitimieren. Außerdem wurde der Terminhandel in
Getreide und Mühlenfabrikaten, in Anteilen von Bergwerks- und
Fabrikunternehmungen und anderen Erwerbsunternehmungen, de-
ren Grundkapital weniger als 20 Millionen Mark beträgt, gesetz-
lich verboten. Die erstere Vorschrift erfolgte auf Andrängen der
Agrarier, die der Baissespekulation einen unheilvollen Preisdruck
zuschrieben, die zweite, weil Industrielle als Börsenspekulanten
die Preise ihrer Waren nach der Lage ihrer Börsenengagements
zu regeln bemüht gewesen wären, und der Kredit von Unterneh-
mungen durch Börsenmanöver untergraben werden könnte.
Diese Gesetzgebung hat, wie sich bald herausstellte, ihre Ziele
nur teilweise erreicht. Bei der Leichtigkeit, mittels des Telegraphen
und Telephons an ausländischen Börsen Effekten zu handeln,
haben Spieler and Differenzmacher, ohne Registereintragung, ge-
nug Gelegenheit, ihren Neigungen weiter zu fröhnen. Außerdem
wurden Papiere am freien Markt gehandelt und hierbei statt des
Ultimogeschäftes das Kassengeschäft mit der Nebenabrede abge-
VI. Handel, Bankwesen und Transport. ec^
schlössen, daß die Zahlung des Kaufpreises bis ultimo kreditiert
sein sollte, wobei der Verkäufer die Effekten als Pfand zurück-
behielt (New Yorker System). Endlich konnten in das Register
eingetragene Banken und Bankiers für ihre Kunden eintreten, in
der Hoffnung, daß dieselben sich an den Auftrag moralisch ge-
bunden halten würden.
Daß sich die Börsenspekulanten „mit Aalesglätte" den gesetz-
lichen Beschränkungen entziehen würden, hatte schon B i s m a r c k
1885 bei der Beratung einer Börsensteuer prophezeit. Nun machte
man die Erfahrung. Aber es ergab sich, daß auch volkswirtschaft-
liche Nachteile nicht ausgeblieben waren. Ein Teil des Effekten-
geschäftes wanderte nach Amsterdam und London, womit Provi-
sionen und Kurtagen den dortigen Banken und Maklern zuflössen.
Anlagen in Auslandskapital neigten zur Übertreibung, da die aus-
wärtigen Börsen den deutschen Käufern entgegenkamen. „Die
Börse ist", sagte schon 1870 Rodbertus, „ein kosmopolitisches
Institut und kann also auch wirksam, nur durch die Vereinigten
Staaten Europas zugleich, am Kragen gefaßt werden". Ein Ausfall
an der Stempelsteuer blieb der Reichskasse nicht erspart. Die deut-
schen Banken waren genötigt, größere Kassenbestände zu halten,
da die Geschäfte mehr als früher Zug um Zug erledigt werden
mußten, womit die produktive Verausgabung des Kapitals geschmä-
lert und eine Rückwirkung auf die Steigerung des Zinsfußes be-
hauptet wurde.
Eine der unerfreulichsten Erscheinungen war die durch das
Börsenregister hervorgerufene Verwirrung der Rechtsbegriffe. Die
Zahl der Eintragungen blieb gering. 1907 waren in ganz Deutsch-
land für Wertpapiere nur 201, für Waren 208 Personen oder Firmen
angemeldet worden. Rechtlich unzulässige Verträge wurden zwi-
schen der ausführenden Bank und dem Kunden abgeschlossen, um
Käufe zu ermöglichen. Als nun bei unglücklicher Spekulation sich
gewissenlose Leute nicht scheuten, die Zahlung zu verweigern, weil
einer der Kontrahenten nicht eingetragen sei, öfters auch Testa-
mentsvollstrecker und Konkursverwalter es für ihre Pflicht hielten,
schlechtverlaufene Zeitgeschäfte nicht anzuerkennen, mußte die un-
entbehrliche Eigenschaft des Kaufmannes, die Verläßlichkeit auf
Treu und Glauben, erschüttert werden. So ist es denn verständ-
lich, daß in der Neufassung des Börsen gesetzes von 1908 das Re-
gister fallen gelassen wurde. Die Börsentermingeschäftsfähigkeit
als Bedingung der beiderseitigen rechtlichen Verbindlichkeit wird
den in das Handelsregister eingetragenen Vollkaufleuten und einge-
tragenen Genossenschaften zugesprochen und solchen Personen,
die berufsmäßig Börsentermin- und Bankiergeschäfte betreiben und
ecA VI. Abschnitt. Die Zeit von i8qo — 1914.
an einer Börse zugelassen sind. Das Termingeschäft in Ge-
treide und Mühlenfabrikaten blieb aber grundsätzlich verboten.
Ihm wurde die Benachteiligung der Produzenten durch den Preis-
druck der Blankoabgaben weiter nachgesagt. Als aber dem unter
genauen Nachweisen entgegengehalten wurde, daß diese Verkäufe
die übertriebene Hausse mit nachfolgender Krise zu verhindern im-
stande sei, und der Preissturz bei sinkender Konjunktur durch Auf-
käufe aufgehalten werde, fand die bisherige strenge Bestimmung
bei der Regierung und der Majorität des Reichstages keine Stütze
mehr und wurde durch die wichtige, eigentlich entscheidende Aus-
nahme durchbrochen, daß sie nicht gültig sein solle für die han-
delsrechtlichen Zeitgeschäfte, wenn der Abschluß unter Geschäfts-
bedingungen erfolgt, die der Bundesrat genehmigt hat, und als Ver-
tragschließende beteiligt sind: ,, Erzeuger und Verarbeiter von
Waren derselben Art, wie die, die den Gegenstand des Geschäftes
bilden, und solche Kaufleute oder eingetragene Genossenschaften,
zu deren Geschäftsbetrieb der Ankauf, Verkauf oder Beleihung von
Getreide oder Erzeugnissen der Getreidemüllerei gehört".
Anteile an Bergwerks- und Fabrikunternehmungen können seit
1908 wieder in den Terminhandel eingehen — vorausgesetzt, daß
das Kapital der Unternehmungen 20 Millionen Mark überschreitet,
— falls der Gesellschaftsvorstand zustimmt und der Bundesrat
seine Genehmigung gibt. Die letztere ist auch in zahlreichen Fällen
für montane und elektrische Aktien gewährt worden.
Man hat die Frage aufgeworfen, ob die Blütezeit der deut-
schen Börsen nicht bereits vorüber sei, und, wenn man sie bejaht,
die andere, ob die Gesetzgebung von 1896 daran Schuld sei. Das
letztere ist schwerlich zuzugeben, da man andere Gründe als die
entscheidenden nachweisen kann. Der Rückgang des Effekten-
börsenverkehrs an den Provinzialbörsen ist unbestritten. Die Kon-
zentration des Geschäftes in Berlin und Frankfurt a. M. läßt es
für die Interessenten vorteilhaft erscheinen, sich dahin zu wenden,
wo die Aufträge am schnellsten und sichersten Erledigung finden.
Für diese beiden Zentralpunkte meinte man vor 19 14, daß die
Großbanken das Haupteffektengeschäft an sich gezogen und es in
ihre Büros verlegt hätten. Wir werden darauf zurückzukommen
haben. Die Warenbörse hat zwar vier schwere Jahre nach 1896 ge-
habt, belebte sich dann wieder, freilich um bald über etwas anderes
zu klagen. Man behauptet bei Getreide, Baumwolle, Kaffee, Petro-
leum, Tabak die steigende Abhängigkeit vom Ausland. Der Welt-
marktpreis des Weizens werde in New York und Chicago gemacht,
wo die größten Kapitalien, die vollkommenste Handelstechnik und
die rücksichtsloseste Spekulation eine Überlegenheit besitzen. Auch
VI. Handel, Bankwesen und Transport. eee
der amerikanische Baumwollmarkt sei der maßgebende, der mit
seinen Trusts und Cornern das Geschäft ganz beherrsche, und die
Kaffeebörse habe Rio zu folgen, wo die brasilianische staatliche
Valorisation ein Monopol an sich gerissen habe, bei deren Aufbau
deutsche Bankhäuser finanziell mitgeholfen haben sollen. Eine
nationale Verselbständigung hat der deutsche Getreideimporthandel
wenigstens seit 1904 insofern gewonnen, als er sich von englischen
Brokern, Kontrakten und Schiedsgerichten auf Initiative Berlins,
besonders des Präsidenten des Deutschen Handelstages D r.
K a e m p f und seines Generalsekretärs Dr. Soetbeer, durch den
deutsch-niederländischen Kontrakt befreite, der mit Rußlands, Ru-
mäniens, Bulgariens, Serbiens und Hollands Getreideexporteuren
die direkte Verbindung herstellte. Wenn zwischen 1895 und 191 4
den deutschen Effektenbörsen das Kapital zu festverzinslichen An-
lagen nicht so zuströmte als in den 25 vorausgehenden Jahren, so
lag dies auch in dem deutschen volkswirtschaftlichen Aufschwung
begründet, der es bei hohen Gewinnen in die Produktion hineinzog.
Diese Börse genießt immer dann die höchste Beachtung in der ge-
nannten Richtung, wenn das produktive Geschäft nicht recht vor-
wärts will, wie das in Deutschland wiederholt erlebt worden ist,
was ehedem schon im 18. Jahrhundert die Niederlande und ,nach
1880 auch England und Frankreich unter der Tendenz zur Rentner-
staatbildung gezeigt haben.
Vor dem Kriege beherrschten die großen Berliner Banken die
Börsen zusehends und ließen sie nur fortbestehen, weil sie sie
brauchten. Aber auch diese wie viele andere ökonomische Ent-
wicklungen haben sich nach dem Kriege unter der Flut des Papier-
geldes nicht fortgesetzt, die zu mächtig war, als daß die Banken sie
zu ihrem Nutzen in ihren Reservoirs hätten einschließen können.
Die Gründung der großen deutschen Kreditbanken
ist in einem früheren Abschnitt mitgeteilt worden. Die Aufgaben,
die sie sich ursprünglich stellten, waren nicht die gleichen. Die
Direktion der Diskontogesellschaft verfolgte 185 1 den
Zweck, ,, durch Diskontierung von Wechseln oder durch bare Vor-
schüsse Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten Kredit zu
geben", die Darmstädter Bank 1853, „der deutschen Industrie
vorübergehend die zu ihrem Betriebe dienenden Kapitalien verzins-
lich in laufender Rechnung zu überweisen, ohne jedoch dabei der
Agiotage Vorschub zu leisten und das Kapital zu unproduktiven
Börsenspekulationen anzuregen". Viel allgemeiner drückt sich 1856
die Berliner Handelsgesellschaft aus, die „den Betrieb
ce6 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
von Bank-, Handels- und industriellen Geschäften aller Art sowie
die Begründung, Vereinigung und Konsolidation von Aktiengesell-
schaften" in Aussicht nahm. Die Deutsche Bank von 1870 will
Bankgeschäfte jeder Art betreiben, „insbesondere die Förderung
und Erleichterung der Handelsbeziehungen zwischen Deutschland,
den übrigen europäischen Ländern und überseeischen Märkten"
sich angelegen sein lassen. Die Dresdner Bank von 1872 setzt
sich als Ziel „den Betrieb des Bank- und Kommissionsgeschäftes in
allen seinen Teilen".
Das geschichtliche Ergebnis ist gewesen, daß die Tätigkeit
der genannten und ähnlicher Banken sich stark vereinheitlicht hat,
und daß der umfassendste Zweck der Dresdner Bank für alle gilt.
Das schließt nicht aus, daß eine vorzugsweise z. B. mit der Textil-,
eine andere mit der elektrischen, eine dritte mit der chemischen
Industrie Beziehung pflegt, oder daß bald das Ausland, bald das
Inland mehr Beachtung findet, oder daß die Formen der Geschäfts-
ausdehnung nicht immer die gleichen gewesen sind.
Eine berufliche Arbeitsteilung ist hingegen im Bankwesen
überhaupt vorhanden, zwischen Noten-, Hypotheken- und Kredit-
banken. Außerdem haben sich die Volksbanken oder Kreditvereine
und die Sparkassen für den Kleinverkehr ausgesondert. Unter den
Kreditbanken kann man die großen, die eine nationale, die mitt-
leren, die eine provinziale, und die kleinen, die eine örtliche Bedeu-
tung haben, unterscheiden. Bei dem Auslandsgeschäft haben sich
die Großbanken nach Ländern, wenn auch nicht streng gegliedert,
z. B. in der Bevorzugung des russischen, türkischen, südamerika-
nischen Kapitalmarktes. Die Großbanken folgen einem ähnlichen
Prinzip wie das Warenhaus, betrieben in einem gewaltigen Palast
mit besonderen Abteilungen verschiedenartige Geschäfte unter ein-
heitlicher Direktion und begründen Filialen in anderen Städten,
um den Kundenkreis zu erweitern. Anders ist die Entwicklung in
England gewesen, wo die selbständige arbeitsteilige Bankverfas-
sung einem kaufmännischen Spezialismus zu vergleichen ist. Die
deutschen Banken sind im Konkurrenzkampf bemüht gewesen, sich
gegenseitig durch Anwendung neuer Mittel zu übertrumpfen. Das
Anwachsen der Kapitalien und des Beamtenheeres, das Streben
nach Selbstversicherung, das Stabilisieren der Dividenden, um der
Firma Ansehen zu schaffen, nötigte die geschichtlich gegebene
Vielseitigkeit der Geschäfte zu behaupten. Sie sind: Die Emission
privater und öffentlicher Effekten, die Umwandlung privater in
Aktienunternehmungen, eventuell die Sanierung der letzteren bei
dauernder Unterbilanz, Kauf und Verkauf von Effekten für eigene
und fremde Rechnung, das Depositen-, Giro-, Lombard-, Diskonto-
VI. Handel, Bankwesen und Transport. eej
Reportgeschäft, der Akzeptkredit, das Kontokorrent-, das Rem-
boursgeschäft, der Erwerb, selbst der Betrieb von Bergwerken,
Fabriken, Bahnen, die Terrainspekulation.
Die Bruttoeinnahme der 9 Berliner Großbanken um 1913 kam
zu 540/0 aus Zinsen und Wechseln, zu 32 aus Provisionen, zu 14 aus
dem Effekten- und Konsortialkonto. Seit Jahrzehnten sind die
beiden ersten Posten gestiegen, der dritte ist zurückgegangen, woraus
man geschlossen hat, daß das Kredit-Mobilierwesen abgeflaut ist.
Doch handelt es sich hier um relative Zahlen, während die abso-
luten bei der Kapitalvergrößerung der Banken keineswegs zu sin-
ken brauchten. Immerhin ist es richtig, diese Banken heute nicht
mehr Effekten-, sondern Kreditbanken zu nennen.
Die Gesetzgebung hat sich um sie wenig gekümmert. Es ist
der Ausdehnung der Betriebsform, der Wahl der Geschäfte volle
Freiheit gelassen, die nur durch das Handelsgesetzbuch, das
Börsen- und das Depotgesetz einige Einschränkung erfahren hat.
Während die Notenbanken einer speziellen Gesetzgebung unter-
worfen wurden, weil das gesamte Zahlungswesen von ihnen ab-
hängt, hat seit 60 Jahren die Meinung gegolten, daß die Kredit-
banken ihren Pflichten gegen die Gesamtheit am besten nachkom-
men würden, wenn man sie nach ihrem Ermessen gewähren lasse.
Auf einem Gebiete konnten sie nun selbstverständlich keine Be-
freiung beanspruchen, das für alle Großunternehmen galt. Die
Sozialpolitik fand auch bei ihnen Anwendung. Der Einführung der
Angestelltenversicherung mußten sie um so mehr zustimmen, als
der Zentral verband des deutschen Bank- und Bankiergewerbes schon
1909 die Schaffung eines Beamten-Versicherungsvereins in die Wege
geleitet hatte.
Das Depotgesetz von 1896 regelt die Pflichten bei dem
Aufbewahren fremder Wertpapiere. Die unverschlossenen zum Depot
übergebenen Effekten müssen erkennbar abgesondert und in einem
Handelsbuch verzeichnet werden. Über neu gekaufte Stücke müssen
den Kunden die vorgeschriebenen Angaben eingesandt werden,
außerdem wird im Verhältnis des Lokalbankiers zum Zentralban-
kier, der die Käufe und Verkäufe ausführt, für die Sicherung der
Auftraggeber gesorgt. Die Gelddepositen sind durch solche Maß-
regeln nicht berührt worden. Die Kommission des Depotgesetzes
hatte noch imter dem Eindruck des Zusammenbruches angesehener
Firmen des Jahres 1891 einen Gesetzentwurf auch über sie ange-
regt, aber erst nach weiteren schweren Vorkommnissen auf dem
Kapitalmarkt um 1907 wurde die Frage von neuem aufgenommen.
Die Bankgesetzkommission legte dem Reichstag eine Resolution vor,
die auch angenommen wurde, die Regierung möge ein Gesetz aus-
ccg VI. Abschnitt Die Zeit von 1890 — 1914.
arbeiten „zur Bekämpfung der Gefahren, die dem Publikum durch
Banken und Bankiers erwachsen, die zur Anlage von Depositen
oder Spargeldern durch öffentliche oder schriftliche Aufforderung
anreizen". Gedacht war das Gesetz in der Weise, daß erstens eine
Veröffentlichung des Status der Banken regelmäßig zur Beurtei-
lung durch Außenstehende stattzufinden habe, daß zweitens eine
Kontrolle eingerichtet werde, die die Richtigkeit der Angaben
nachzuprüfen habe. Zu einer Vorlage im Reichstage ist es nicht
gekommen, angeblich weil in der auch unbeanstandeten Veröffent-
lichung ein ausreichender Schutz der Deponenten nicht gesehen
werden könne. Ein Sperling in der Hand ist mehr wert als eine
Taube auf dem Dache.
Dem Wunsch nach der Aufstellung von Zwischenbilanzen ist
von einem anderen Standpunkt aus entsprochen worden. Auf
Drängen der Reichsbank haben die Großbanken mit Ausnahme der
Berliner Handelsgesellschaft ein Bilanzschema angenommen, aus
dem sich die Liquidität ihrer Aktiven ersehen lassen soll, die sich
bisher nur auf wenige Prozente der eingegangenen Verpflichtungen
stützte, während eine loo/oige Sicherung im Interesse des Zahlungs-
verkehrs für wünschenswert erachtet wurde. Die Beurteilung des
Liquiditätsgrades, oder des prozentuellen Verhältnisses der greif-
baren Forderungen zu den fälligen Verbindlichkeiten, ist deshalb
so schwierig, weil je nach der wirtschaftlichen imd politischen Lage
der Begriff der Greifbarkeit besonders auszulegen ist, daher die
IG 0/0 etwas Relatives sind, aber doch immer mehr als gar keine
Sicherheit bedeuten. Mit vollem Recht wurde nicht daran gedacht,
den Banken eine Verstärkung ihres Goldschatzes aufzugeben. Das
hätte Aufgaben der Reichsbank zu übernehmen geheißen, denen
bisher immer vollkommen genügt wurde.
Die weitgehende Verzweigung des Großbankgeschäftes in
Tochtergesellschaften, Filialen, Kommanditen, Depositenkassen, In-
teressengemeinschaften bildet für die Liquidität eine besondere
Gefahr. Es stehen zu viele Türen offen, in die das von einer Panik
erfaßte Publikum eindringen kann, um seine Guthaben zu be-
gehren. Andererseits bringt eine solche Ausweitung der Groß-
unternehmung unverkennbare Vorteile. Verfolgen wir kurz, wie sie
in die Wege geleitet wurde. Die Kapitalvermehrung der Berliner
Banken hat sich seit ihrer Gründung in dieser Weise vollzogen:
(Tabelle s. folgende Seite.)
Hinzuzufügen ist, daß die Diskontogesellschaft 191 4 ihr Kapi-
tal auf 300 Millionen Mark, die Deutsche Bank auf 250 weiter er-
höht haben.
VI. Handel, Bankwesen und Transport.
559
Gründungs-
jahr
Bank
Erstes Aktienkapital
Millionen M.
Voll eingezahltes
Aktienkapital
I. Januar 19 14
Millionen M.
1848
Schaafhausen
15.6
145
1851
Diskonto-Gesellschaft
30,0
200
1853
Bank für Handel und Industrie
17,1
160
1856
Berliner Handelsgesellschaft
16,8
HO
1856
Mitteldeutsche Kreditbank
24,0
60
1870
Deutsche Bank
15,0
200
1870
Kommerz- und Diskontobank
15,0
85
1872
Dresdner Bank
9,6
200
1881
Nationalbank für Deutschland
20,0
90
Neben diesen Berliner Instituten bestanden 19 13 im übrigen
Reich noch folgende Kreditbanken von einzelstaatlicher oder-pro-
vinzialer Bedeutung mit mindestens je 50 Millionen volleingezahlten
Grundkapitals: Die Allgemeine Deutsche Kreditanstalt, Leipzig, mit
HO, die Rheinische Kreditbank und die Rheinisch-Westfälische Dis-
konto-Gesellschaft mit je 95, der Barmer Bankverein mit 88,75, ^^^
Bergisch-Märkische Bankverein mit 80, die Essener Kreditanstalt
mit 72, die Mitteldeutsche Privatbank mit 60, die Pfälzische Bank
und der Schlesische Bankverein mit je 50. Im ganzen zählte man
421 Banken, von denen die Berliner Großbanken (d. h. ohne die
Mitteldeutsche Kreditbank) 1908 74 0/0 aller Bankkraft vermittelst
eigenen Kapitals und ihrer Konzerne kontrollierten.
Die Konzentration dieser Großbanken äußert sich außer in
der Kapitalzusammenfassung in der Verörtlichung, d. h. des Sitzes
in Berlin, in dem Aufsaugen kleiner Banken, in dem Abschluß von
Interessengemeinschaften, bei denen sie führend sind, und in der
Verzweigung der Niederlassungen.
Von den Berliner Großbanken traten seit 1871 die Darm-
städter Bank, 1873 die Mitteldeutsche Kreditbank (Meiningen),
1881 die Dresdner Bank, 1891 der Schaafhausensche Bankverein
(Köln), 1898 die Kommerz- und Diskontobank (Hamburg) in der
Reichshauptstadt auf, wohin sie dann nach und nach ihren Schwer-
punkt verlegen. Der Wettbewerb überhaupt, insbesondere an dem
wichtigsten Börsenplatz, der Berlin seit 1871 unter Verdrängung
Frankfurts wurde, war für diese Umgruppierung ebenso maß-
gebend wie der Sitz der Reichsregierung, vor allem der Reichs-
bank, das industrielle und kommerzielle Großwerden Berlins
ebenso wie das gesellige und anregende, immer das Neueste brin-
gende Milieu der oberen Zehntausend.
Die Konzentration vollzog sich in den Jahren der Hoch-
konjunktur 1897 — 1899 und 1902— 1906 am auffälligsten und außer-
c6o VI, Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
dem als Ausdruck besonders scharfer Konkurrenz im Jahre 191 4,
bei dessen Anfang die neun Berliner Banken ein Aktienkapital von
1250 Millionen Mark besaßen, zu dem noch ein aus dem Agio bei
der Ausgabe junger Aktien vornehmlich errichteter Reservefonds
von 389,4 Millionen Mark hinzukam, den man im Durchschnitt üb-
rigens im Vergleich zu den großen Londoner Banken für so mager
hielt, daß man ihm nur den Namen eines Reservekontos hatte zu-
billigen wollen.
Diesem Anwachsen der großen geht ein Aufsaugungsprozeß
der mittleren Banken und der großen Privatunternehmungen
parallel. Die Dresdner nahm 1892 die Anglo Deutsche, 1895
die Bremer, 1899 die Niedersächsische, 1904 Erlanger & Söhne,
1910 die Breslauer Wechsler- und die Württembergische Landes-
bank auf, die Deutsche zuerst die Duisburg-Ruhrort, 191 4 die
Bergisch-Märkische, die Diskont oge Seilschaft 1895 die
Norddeutsche in Hamburg und Bamberger & Co. in Mainz, die
Handelsgesellschaft 1891 die Internationale Bank, die
Darmstädter 1902 die Bank für Süddeutschland, 1904 Robert
Warschauer & Co., 191 o die Bayerische für Handel und Industrie,
Schaafhausen 1904 die Niederrheinische Kreditbank, Krefeld,
und die Westdeutsche, Bonn. Schließlich kam es unter den Ber-
liner Banken selbst zu einer Fusion, indem die letztgenannte in die
Diskontogesellschaft eingegliedert wurde. Es vollzog sich dieser
Vorgang wie meist auch bei den vorgenannten Fusionen ähnlich
wie bei der Bildung der amerikanischen Trusts. Das Vermögejn
ging als ganzes ohne Liquidation über, die Aktionäre von Schaaf-
hausen erhielten z. B. Diskontogesellschaftsanteile gegen Einlief e-
rung ihrer Aktien. Die Verwaltung des Schaafhausenschen Bank-
vereins blieb als Betriebseinheit bestehen, womit ihr die alten
Kunden erhalten wurden. Die Konkurrenz ist beseitigt, die Ober-
leitung ist in Berlin.
Eine andere Form der Konzentration ist die dauernde In-
teressengemeinschaft derart, sei es, daß eine Großbank, wie z. B.
die Darmstädter, Aktienbanken an geeigneten Orten begründete,
einen großen Teil der Aktien übernahm imd die Leitung einem
ihr ergebenen Manne anvertraute, sei es, daß durch Aktienerwerb
oder Aktienaustausch das gleiche erreicht wurde, sei es, daß nur
ein Vertrag über das Hand in Hand-Arbeiten und die Beseitigung
störenden Miterwerbes verabredet wurde.
Daß diese Zusammenfassung die Wahrnehmung volkswirt-
schaftlicher und nationalpolitischer Ziele in erhöhter Weise ermög-
lichte, wurde meist bejaht, da das Geschäft, wie in den Industrie-
kartellen, planmäßiger, imd die Einwirkung auf das Ausland bei
VI. Handel, Bankwesen und Transport. ^6l
Krediten und Emissionen stärker wurde. Die Verwirklichung sol-
cher Aufgaben hing übrigens auch von den führenden Personen ab,
von denen Deutschland über ausgezeichnete verfügt hat. Sie muß-
ten es u. a. verstehen, mit der Staatsverwaltung Fühlung zu halten.
Daß verdiente Staatsmänner in wirtschaftliche Unternehmungen
eintraten, ist wiederholt vorgekommen und war ersprießlich, um
Beziehungen zwischen diesen und der Regierung zu halten. Wie
im modernen Staat einseitige Bürokraten zur Staatsleitung im
großen nicht taugen, so auch keine ausschließlichen Dividenden-
und Tanti^memacher an der Spitze großer Konzerne und Kartelle.
Wenn man dem alten System der räumlichen Bankverteilung
nachrühmte, daß es den Ortsbedürfnissen besser entsprochen habe
als die spätere Vereinheitlichung, so begegneten die Großbanken
diesem Einwurf mit der Errichtung von Kommanditen, Filialen,
Agenturen und Depositenkassen, die die frühere Vielseitigkeit (er-
setzen sollten und den Vorzug der größeren Sicherheit für die
Kunden böten als ehedem der Privatbankier oder die Kleinbank
mit ihren beschränkten Mitteln.
Ob die Privatbankiers noch eine volkswirtschaftliche Berech-
tigung haben, wurde verschieden beantwortet. Die wenigen ganz
großen von ihnen, die noch übrig waren, wie Mendels ohn
& Co., S. Bleichröder in Berlin, Merck, Fink & Co. in
München, M. M. Warburg in Hamburg, Speyer Ellisen in
Frankfurt a. M., wo die Firma Rothschild erloschen ist, konnten
nicht anders, als die Geschäftsführung der Aktienbanken möglichst
nachmachen. Sie scheiden für die Frage aus. Zugunsten der klei-
nen wird angeführt, daß die persönliche Vertrauensbeziehung zu
den Kunden bei der Beratung der Geldanlage und des Effekten-
verkaufes viel wert sei, und daß die Kreditwürdigkeit der Bank-
schuldner am besten aus persönlicher Fühlung beurteilt werden
könne. Einen staatlichen Schutz der kleinen Bankiers hat man
darin finden wollen, daß man sie bei der Ausgabe staatlicher
Schuldverschreibungen berücksichtigt. Darüber hinaus Begünsti-
gungen zu gewähren, wird man nicht leicht zugestehen und würde
auf Opposition stoßen, da eine Schädigung der Deponenten durch
unreelle oder unvorsichtige Privatbanken nur zu oft erlebt wurde.
Der genossenschaftliche Weg steht auch den Privatbankiers offen,
den zu betreten sie kaum versucht haben. Sie könnten sich ge-
meinsam solchen Geschäften zuwenden, mit denen sich die Groß-
banken wenig befassen, wie dem Handel mit Kuxen und Börsen-
werten ohne Kursnotiz. Nach dem Kriege, als alle Welt anfing,
unter der Inflation zu spekulieren, um an Vermögenswerten zu
retten, was nur möglich war, sind wieder bessere Zeiten für die
A. Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 36
502
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Privatbankiers gekommen. Die Prophezeiung ihres Unterganges
aus der „Entwicklung" des Großbetriebes ist daher zunächst nicht
•eingetroffen.
Welch ein gewichtiges Wort die größeren deutschen Aktien-
banken bei Industrie, Handel und Börse mitzusprechen haben, er-
läutert nachfolgende von der Dresdner Bank 19 13 veröffentlichte
Tabelle:
Entwicklung der deutschen Aktienbanken mit mehr als i Million M.
Aktienkapital.
Exklusive Noten- und
Hypothekenbanken
1911
I Steigerung
Anzahl
Gesamtkapital
Reserven
Reserven vom Aktienkapital . . .
Summe der Aktiva
Bruttogewinn
davon aus Zinsen
davon aus Provisionen ....
Reingewinn
Dividende
Dividende vom Aktienkapital . . .
Abschreibungen und Reservezugang
71
705,6 Mill.
90,8 „
12,9%
1961,7 Mill.
84,0
35,0
19.9
59,8
49.3
6,99 %
3,2 Mill.
1884
M.
M.
M.
158
2 928,9 Mill. M
801,7 „
27.4 %
16649,8 Mill. M
514,4 ,•
250.0 „
134,7 „
307,4 M
222.1 „
7,84 %
41,4 Mill. M
2,2
4,1
8,8
2,1
8.5
6,1
7,1
6,8
5,1
4,5
1,1
12,9
Die Verbindung dieser Banken mit der Industrie ist von 1895
bis 191 4 so eingehend gepflegt worden, daß man bei nicht wenigen
darin den Schwerpunkt ihres Geschäftes gesehen hat. Handel und
Börse haben öfters zurücktreten müssen, weil die Gelder bereits
von der Industrie mit Beschlag belegt waren. Die an dritter Stelle
stehenden Großlandwirte hatten zur Befriedigung persönlichen Kre-
dits mit den Provinzialbanken vornehmlich Beziehungen, am
meisten diejenigen, die in Branntwein imd Zucker ein Nebenge-
werbe betrieben.
Die dem Realkredit der Landwirtschaft und in zunehmender
und sie übertreffenden Weise dem städtischen Grundbesitz die-
nenden Hypothekenbanken haben ihre Zahl seit 1 900 auf
38 gehalten, deren Hypothekensumme von 6,5 auf 11,4 Milliarden
Mark im Jahre 19 13 gestiegen ist. 1899 wurde das Reichs-Hypo-
thekenbankgesetz erlassen, das die Ausgabe von Pfandbriefen auf
den I5fachen Betrag des Grundkapitals festsetzt. Die Beleihung
des Bodenwertes kann bis ^/^^ ausnahmsweise bei ländlichen bis ^/^
der Taxe gehen, die den Banken nach behördlicher Anweisung zu
ermitteln gestattet ist. Abgesehen von der jährlich bekannt zu
VI. Handel, Bankwesen und Transport. '\6%
gebenden Bilanz mit Gewinn- und Verlustkonto ist der Status der
Banken über Pfandbriefe und deren Deckung zweimal im Jahre
öffentlich darzulegen. Eine Kontrolle der Banken zum Schutze
der Pfandbrief Inhaber ist durch den „Treuhänder" geschaffen wor-
den, der die vorschriftsmäßige Deckung der Pfandbriefe zu prüfen
hat und die Hypothekenurkunden, Wertpapiere und Gelder unter
Mitverschluß hält. Der Zusammenbruch zweier großer Banken
mit ihren Filialen konnte jedoch hierdurch nicht verhindert werden,
so daß in Preußen durch Vermehrung technisch vorgebildeter
Bankinspektoren die Staatsaufsicht über Geschäftsbücher und Gene-
ralversammlungen verschärft worden ist. Die bisher lose Bezie-
hung zwischen Hypotheken und Pfandbriefen ist dadurch um
einiges befestigt worden, daß bei dem Konkurse der Gesellschaft
die Pfandbriefforderungen anderen Forderungen bei der Befriedi-
gung aus eingetragenen Hypotheken und Wertpapieren, auf Grund
deren z. B. Städten und Kleinbahngesellschaften Darlehen gegeben
sind, vorangehen.
Von den industriellen Unternehmungen hat man ge-
sagt, „daß die Kreditbanken", um auf sie wieder zurückzukommen,
„sie von der Gründung bis zur Auflösung begleiten, ihnen bei allen
gewöhnlichen imd außergewöhnlichen finanziellen Vorgängen hel-
fend und ihrerseits profitierend zur Seite stehen". Die Beziehungen
beginnen bei den Privatunternehmern mit dem Depositen-, Giro-«
und Kontokorrentverkehr. Ist das Vertrauen seitens des Schuld-
ners gegeben, so kann der real ungedeckte Akzeptkredit hinzu-
kommen. Das ist meist für die Bank unbedenklich, solange es den
laufenden Betrieb zu unterhalten gilt. Werden hingegen mit dem
Darlehen neue Anlagen geschaffen, so werden die Bankgelder ,in
bedenklicher Weise festgelegt. Ist das industrielle Werk groß ge-
worden und der Bank zugleich verschuldet, so ist der Zeitpunkt für
die Umwandlung in die Gesellschaftsform gekommen. Die Bank
übernimmt die Emission der Aktien und gleicht mit ihnen ihre
Forderungen aus. Die enge Verbindung zwischen ihr und der
neuen Gesellschaft ist weiterhin gegeben. Sie kann in dem Auf-
sichtsrat vertreten sein imd auf die Richtung der industriellen
Tätigkeit Einfluß gewinnen, besonders wenn sie einen Teil der
Aktien im Portefeuille behalten hat. Obligationen des Werkes wer-
den von ihr vertrieben. Geht das industrielle Geschäft dauernd
nicht gut, so besorgt sie durch Aktienreduktion die Sanierung.
Auch die Kartellgründung kann von ihr ausgehen, wenn sie mit
gleichartigen Unternehmungen auch sonst verknüpft ist.
Daß somit die Bank zur Beherrscherin von Industrien
werden kann, ist nicht zu verkennen gewesen, freilich nicht selten
36'
e()A VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
auf Kosten ihrer Liquidität, je nachdem sie von ihrer eigenthchen
Aufgabe der Kapitalvermittelung abwich und Gelder festlegte. Die
Erhöhungen der Bankkapitale wurden aus solchen Vorgängen mit-
erklärt. Andererseits sind die großen Kartelle und Unterneh-
mungen, besonders in der Schwerindustrie, sich der Gefahr der Ab-
hängigkeit wohl bewußt gewesen und haben sich durch erhebliche
Guthaben ihre Selbständigkeit zu wahren gewußt. Es kam dann zu
Interessengemeinschaften, denen zufolge Aufsichtsräte ausgetauscht
wurden, von denen jeder nach seiner besonderen Vorbildung finan-
ziell oder produktionstechnisch beratend eingreift. Welcher Kapi-
talmacht der beiden großen Berufsgruppen, der bankmäßigen oder
der industriellen, in der Zeit vor dem Kriege die erste Stelle zuzu-
schreiben gewesen ist, wurde verschieden beantwortet, sicher war
nur dies, daß da, wo ein ersprießliches Zusammenarbeiten erzielt
wurde, die weltwirtschaftliche Stellung des Reiches gehoben wurde.
Die Deutsche Bank hatte, wie oben erwähnt, die Pflege
des Außenhandels durch finanzielle Maßregeln zu dem ersten
Programmpunkt gemacht. In England, Nord- und Südamerika,
in Österreich, in der Türkei und Belgien hat sie Niederlassungen
eingerichtet. Man hatte dies Bestreben anfangs als etwas Uto-
pisches verspottet, aber im Verlaufe der Jahre haben auch andere
Banken die Wichtigkeit des Auslandsgeschäftes anerkannt, sei es,
daß sie im Auslande mit dortigen Firmen in feste Beziehung ' traten,
sei es, daß sie Filialen errichteten, sei es, daß sie einzeln oder .ge-
meinsam Überseebanken gründeten.
Ein Ziel war darauf gerichtet, das finanzielle Dazwischentreten
Englands zu beseitigen und der deutschen Währung auch in der
Fremde Ansehen zu verschaffen.
Das ist auch mittels der ausländischen Filialen, der Brasilia-
nischen Bank für Deutschland, der Deutschasiatischen Bank, der
Bank für Chile und Deutschland, der Deutschen Überseebank, der
Deutschen Palästinabank u. a. m. teilweise gelungen, indem sowohl
die deutschen Ausfuhrhändler Vorschüsse auf ihre Waren erhielten
oder ihre Wechsel diskontieren ließen, als auch die Einfuhrhändler
im Ausland ihre Zahlungen unmittelbar beglichen und Kredite
auf ihre bezogenen Waren erhielten, ehe sie weiter verkauft hatten.
Indem den Großbanken über lombardierte Waren ein Verfügungs-
recht eingeräumt wurde, wurden sie genötigt, dem Warengeschäft
besondere Sorgfalt zuzuwenden, ihre auswärtigen Verbindungen
auszuweiten und den Auslandsmarkt zu erforschen. Kapitalanlagen
im Ausland ^vurden vermittelt, womit auch gelegentlich politischer
Einfluß gewonnen wurde. Haben die Großbanken so dem Außen-
handel wertvollen Dienst geleistet, so wurde auch der binnenlän-
VI. Handel, Bankwesen und Transport. c()c
dische nicht vernachlässigt. Da bei diesem die Kredite kürzer
laufen als im überseeischen Verkehr, konnte die Provinzialbank
hier auch manches leisten. Die Zahlungen der kreditbenutzenden
Käufer erfolgten vielfach durch Scheck oder Giro bei ihrer Bank,
so daß der alte Warenwechsel zurückgedrängt worden ist.
Im Verhältnis der Banken zu der Börse ist zu bemerken,
daß mit dem Wachsen des deutschen Reichtums die Emission der
Wertpapiere und die sonstige Wechselwirkung zwischen beiden
wohl umfangreicher wurde, aber die große Kundschaft der Banken
führte dahin, daß sie emittierte Aktien und Obligationen oft zum
größten Teil ohne Vermittlung der Börse aufnahm. Auch tritt der
offene Markt dadurch in den Hintergrund, daß viele Aufträge zum
Kauf oder Verkauf von Effekten in den Bankbüros erledigt werden,
natürlich nach börsenmäßigen Usancen, aber ohne daß an den
Markt gegangen wird, indem die vielen eingegangenen Aufträge
sich kompensieren lassen. Die Lombards und Reports sind
bei den neun Berliner Großbanken von 1890 — 19 10 von 219 auf
II 52 Millionen Mark gestiegen. In ruhigen Zeiten brachten sie
keine Bedenken, beim Kriegsausbruch bereiteten sie den Banken
und Börsen manche schwere Stunde.
Die großartige Entwicklung Deutschlands seit 1895 ist ohne
die spekulative Tätigkeit der Kreditbanken nicht zu verstehen.
Für staatliche Funktionen ist für sie kein Platz gewesen. Die
Reichsbank hat zur Regelung des Geldverkehrs ausgereicht. Sie
ist eine festgebaute Gesamtmaschinerie und gleicht der Achse, um
die sich die beweglichen Flügel der Kreditbanken drehen. Der von
allen Seiten wehende Wind wird aufgenommen, und die erhaschte
Kraft wird auch mittels des Diskontogeschäftes dem Mittelpunkt
der Geldzirkulation zugeführt. Damit das in der Mühle gewonnene
Mehl der Volkswirtschaft erhalten bleibt, muß der patriotische
Wille des Mittelpunktes auch in die Radien fortwährend überge.
leitet werden. Die Gefahr, daß der Geschäftsgewinn und die selbst-
herrliche Geschäftsstellung alles entscheidet, tritt an den Groß-
bankkapitalismus leicht heran, auch dann bisweilen, wenn er sich
mit ausländischen Konkurrenten zu verständigen hat. Die ver-
einigte Macht kann sich dann zu einer „goldenen Internationale"
verdichten, der nicht mindere Bedenken begegnen als der roten,
die aufdringlich in der Öffentlichkeit hervortrat, während jene
sich in die Stille der Beratungszimmer der Direktoren und Auf-
sichtsräte stets zurückzuziehen verstanden hat.
Hatten auch die Eisenbahnen in einer früher als der hier
beschriebenen Periode bereits ihren eigentlichen Siegeszug ge-
r56 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890— 1914.
feiert, so ruhten sie doch auf den gewonnenen Lorbeeren nicht aus.
Mancherlei Fortschritte, meist wenig beachtet im Flusse des hasti-
gen Lebens, vollzogen sich in der neuesten Zeit. Die Schnellzugs-
lokomotive beförderte 19 13 einen Zug von 400 Tonnen Gewicht mit
90 — 100 km Geschwindigkeit die Stunde gegen iio Tonnen mit
75 km vor 25 Jahren. Sie wog soviel als der ganze Schnellzug. Die
Reisegeschwindigkeit wurde zudem durch Verlängerung der aufent-
haltslosen Strecken gewonnen, wie z. B. die 677 km lange Linie
Berlin — München für einen Zug nur Halli und Nürnberg als Halte-
stellen kannte. Die Güterwagen sind so vergrößert worden, daß
der 20 Tonnenwagen mit einer toten Last von 40 0/0 den 10 und
15 Tonnenwagen mit 50 0/0 verdrängt hat. Eine Vermehrung des
festgelegten Kapitals unter relativem Zurücktreten des rollenden
ist die Anlage besonderer Geleise für Güter- und Personenverkehr.
So sind z. B. die Strecken Berlin — Halle oder Mannheim — Heidel-
berg viergeleisig ausgestaltet worden. Der Bau der Großbahnhöfe
zum Personen-, Güter- und Rangierverkehr beruhte auf demselben
kostenersparenden Prinzip, womit freilich die übertrieben luxuriöse
Ausstattung, die der deutsche Reichtum sich glaubte leisten zu
können, nicht zu verwechseln ist. In solchen Übertreibungen, die
mit partikularistischen Eigenwilligkeiten gepaart sein mochten, wird
man einen Übelstand des Staatsbahnsystems nicht zu übersehen
haben, der nur durch strengste Finanzkontrolle zu beseitigen ist.
Die Anlagen des Nürnberger Bahnhofes haben 35, des Karlsruher
53, des Leipziger 135 Millionen Mark verschlungen.
Die elektrische Beleuchtung erhielten auch viele kleinere Bahn-
höfe, was zugleich der Sicherheit wegen geboten war, die auch
durch die allgemein durchgeführte Weichen- und Signalzentrali-
sierung, die Streckentelephone und die mechanisch wirkende elek-
trische Streckenblockung erhöht wurde.
Dem reisenden Publikum wurden immer mehr Annehmlich-
keiten in der Vermehrung der Fahrgelegenheit, insbesondere auch
durch die billige kleine Zugseinheit im Nahverkehr unter Benutz-
ung elektrischer oder benzolelektrischer Triebwagen, und in der
Einstellung von Schnellzügen mit Durchgangswagen und Falten-
balgverbindung (zuerst 1892), Expreß-Luxuszügen der internatio-
nalen Schlafwagengesellschaft und Schlaf- und Speisewagen ge-
boten. Der Schnellzugskilometer kostete der Verwaltung trotz er-
heblicher Mehrausgabe an Kohlen und Schienenabnutzung und bei
der teueren Lokomotive und der Waggonbelastung nicht mehr als
der Personenzugkilometer, weil durch die Zeitausnutzung bei dem
Personal und dem soliden Bau des Bahnkörpers die Aufwendungen
kompensiert wurden.
VI. Handel, Bankwesen und Transport. c()j
Die Ersetzung des Dampf- durch den elektrischen Betrieb,
der sich im städtischen Vorortverkehr bewährte, ist auf den Haupt-
bahnen über Versuche nicht hinausgekommen, wie auf der Strecke
Dessau — Bitterfeld durch die preußische Verwaltung oder . im
Wiesental durch die badische. Auch das Problem der elektrischen
Schnellbahn mit 150 — 200 km wurde durch den Ausbruch des
Krieges 191 4 beiseite gelegt.
Obwohl die Materialkosten, die Preise von Grund und Boden
und die Arbeitslöhne rasch gestiegen waren, und dem Frachtver-
kehr mehr Schnelligkeit und Pünktlichkeit geboten wurde, waren
die Vorteile des Großbetriebes, der Arbeitsteilung und der vorer-
wähnten Erhöhung des festen Kostenanteils so bedeutend, daß die
Fracht, die 1876 5 Pfg. auf den Tonnenkilometer betrug, 19 13
auf 3,58 herabgesetzt war. Dazu kamen ein vereinfachtes Abferti-
gungsverfahren, eine Erleichterung der Zollordnung und eine Reihe
von niedrigen Ausnahmetarifen, wie bei Rohstoffen und Lebens-
mitteln, womit der volkswirtschaftliche Umsatz belebt wurde.
Wenn die Tarife für die Personenbeförderung solchen Er-
mäßigungen nicht folgen konnten, so lag der Grund in der Fahr-
kartenbesteuerung des Reiches, die durch dessen Finanznot diktiert
wurde. Doch verzeichneten in der Einführung eines einheitlichen
Personen- und Gepäcktarifes auf allen deutschen Staatseisen-
bahnen seit 1907 die deutschen Fahrgäste, die auf den Kopf ;der
Bevölkerung jährlich 600 km zurücklegten und von 1888 — 191 2
2 1/2 mal soviel Geld verfuhren, eine neue Erleichterung.
Das Staatsbahnsystem hat unter fester zielbewußter Verwal-
tung reiche Früchte getragen, von denen mit Recht jemand, der
ganz Europa bereist hatte, unparteiisch sagen mußte, daß in
keinem Lande eine größere Ordnung und Zuverlässigkeit des Be-
triebes als in Deutschland herrschte. Auch wurden die Leistungen
der Sozialpolitik für die 700000 Beamte, Arbeiter und Ange-
stellte nirgends übertroffen. Die Leistungen der Versicherung
gehen in besonderen Kassen oft über das allgemein Gebotene hin-
aus, die Arbeitszeit ist unter Beachtung der notwendigen Produk-
tivität des Betriebes abgekürzt worden, reinliche Unterkunfts- und
Übernachtungslokale, Badegelegenheit u. a. m. wurden eingerichtet.
An 100 000 Wohnungen für das Personal unterstehen der öffent-»
liehen Verwaltung. Die Disziplin war immer so gewahrt worden,
daß von den schweren Schädigungen durch Eisenbahnerstreiks die
deutsche Volkswirtschaft bis zur Revolution von 191 8 verschont
igeblieben ist.
Das Ergebnis der Verstaatlichung ist dies gewesen, daß 191 2
nur 277 km private Hauptbahnen und 3353,5 private Nebenbahnen,
5 68 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
zum Anschluß an sie und dem Lokalverkehr dienend, igegen
34164 km Hauptbahnen und 22726 Nebenbahnen des Staatsbe-
triebes in dem gesamten Netze Von 60521 enthalten waren.
10 Jahre früher hatte es 51964 km betragen, und während da-
mals auf 1000 qkm Fläche 96,1 km Linien entfielen, auf 100 000
Einwohner 90, waren 191 2 diese Zahlen auf 111,9 und 91,5 ge-
stiegen. Bisher handelt es sich nur um vollspurige Bahnen, ineben
denen noch 1069 km schmalspurige Staats- und 1143 km Privat-
bahnen standen. Sie alle tragen den Charakter von Nebenbahnen.
Die enge Spur hat sich nicht bewährt, so daß 1885 Bayern für (sie
die Normalspur (1,435 ^ einführte. Mit den angegebenen Schie-
nenlängen erschöpfen sich die Fahrgelegenheiten nicht. Hinzu
kommen die dem öffentlichen Verkehr dienenden lengspurigen
Kleinbahnen, d. h. die städtischen und vorstädtischen Straßen-
bahnen mit 4846,3 und die nebenbahnähnlichen Kleinbahnen des
nahen Ortsverkehrs mit 10871,5 km. In Berlin erfreuen sich be-
sonderer Beliebtheit die kommunalen und privaten Schnellbahnen,
deren Länge 1917 bis auf 66 km sich ausdehnte.
Ebenso wie ehemals bei den Hauptbahnen ist die Eisenbahn-
politik bei den Anschlußbahnen je nach den einzelnen Staaten ver-
schieden ausgefallen. In Preußen wurde ein besonderes Netz
für sie vom Staat entworfen, das dem bestehenden Besitz an Haupt-
bahnen niemals eine Konkurrenz bereiten sollte und daher in
Einzelheiten nicht unangefochten blieb. Die Ausführung wurde
konzessionierten Privatunternehmern überlassen, die mit Mitteln
des Staates, der Provinzen, Kommunalverbände und Privaten unter-
stützt wurden. In Sachsen übernahm der Staat den gesamten
Bau, in Württemberg verfolgte man ein gemischtes System
staatlicher und privater Lokalbahnen. In Bayern entstanden
staatliche Linien, bei deren Anlage die Grunderwerbskosten von
den Interessenten aufgebracht werden mußten. Die kleineren
norddeutschen Staaten ahmten die preußische Verwaltung
nach. Zur Vereinheitlichung der deutschen Volkswirtschaft haben
alle diese Bahnen viel beigetragen, erstens insofern, als Produkte
des Bergbaues und der Forst- und Landwirtschaft aus abgelegenen
Wäldern und entfernten Tälern beschleunigt und in größeren
Mengen den verarbeitenden Mittelpunkten zugeführt wurden, zwei-
tens, als die Arbeiterbevölkerung sich zwischen Stadt und Land
zur Übernahme von Arbeit leichter hin- und herbewegen konnte,
drittens, als die Postverbindung mit den Dörfern schneller funktio-
nierte, viertens, als der Sonntags- und Ausflugsverkehr der Städter
eine neue Grundlage erhielt, fünftens, als den Hauptbahnen neue
Transportgelegenheit vermittelt wurde.
VI. Handel, Bankwesen und Transport.
569
Die städtischen Bahnen wurden teils von der Gemeinde, teils
von Privaten, teils unter gemischter Verwaltung betrieben.
Die bisher angegebenen Zahlen geben kein Bild von der Zu-
nahme des Transportes in den letzten Jahrzehnten. Wir müssen
noch folgende Tabelle hinzuziehen, die für die vollspurigen Haupt-
und Nebenbahnen aufgestellt worden ist:
1885
1911
12450
28088
22735
59857
250640
596763
166000
61870
7932
37855
333 439
713187
9722
17833
Lokomotiven und Triebwagen .
Personenwagen
Gepäck- und Güterwagen . .
Beförderte To. Km. (Mill.) . .
Beförderte Personen (Km., Mill.)
Beamte und Arbeiter , . . .
Anbgekapital (Mill. M.) . ,
Auch Über die Art der beförderten Güter unterrichten uns
amtliche Aufzeichnungen. Allen voran steht 191 2 die Steinkohle
mit 120,2 Millionen Tonnen, an die sich noch 18,3 Braunkohle, 18,9
Braunkohlenbriketts, 6,0 Steinkohlenbriketts und 25,4 Steinkohlen-
koks anschließen. Das sind allein 40 0/0 der verfrachteten Güter-
masse. Eine zweite Gruppe enthält Metalle, Steine und Erden, so
Zement 6,7, Eisenerz 18,6, verschiedene andere Erze 2ii7-> Erden
aller Art 34,5, Kalk 5,1 Millionen Tonnen, zusammen 14,50/0. Auf
Land- und Forstwirtschaft entfällt ungefähr ebensoviel, auf indu-
strielle Halb- und Ganzfabrikate, fertige Lebens- und Genußmittel
sowie auf verschiedene Roh- und Hilfsstoffe für die Industrie
der Rest.
Der größte Betrieb ist die preußisch-hessisch-badische Ge-
meinschaft mit um 1909 rund 10I/2 Milliarden Mark Anlagekapital,
der bayerisch-pfälzische folgt mit 2,15, der sächsische mit 1,12,
der württembergische mit 0,74. Der größte Betrieb brachte die
^•elativ größten Einnahmen, so 1900 6,870/0, 1905 7,13, 1909 5,94,
während in dem letztgenannten Jahre Württemberg nur 3,13,
Sachsen 191 1 3,86, Bayern 4,50/0 verdienten.
Die preußischen Finanzen gewinnen nach Zahlung der Zinsen
für die Bahnschuld erhebliche Überschüsse für andere Staats-
zwecke, während mehrere andere deutsche Staaten auf die Bahnge-
winne noch zuzahlen müssen. Wie die Finanzkraft der Bahnen im
preußischen Staatshaushalte sind, ersieht man aus folgenden
Angaben :
570
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Millionen M.
Nettoeinnahmen
Nettoeinnahmen
Einnahmen
Jahre
der
anderer
aus
Staatsbahn
Erwerbseinkünfte
Steuern
1905
504.6
98,7
280,3
1906
522,0
103,2
297,0
1907
536,5
107,0
320,0
1908
599,0
107,6
341.8
1909
415,2
108,5
423.9
1910
449.7
"9,4
456.4
Als neues Transportmittel erschienen seit 1895 ^i^ Kraftfahr-
zeuge. Waren auch schon 10 Jahre früher die leichten Explosions-
motoren erfunden worden, so dauerte es doch noch die genannte
Zeitspanne, bis alle heutigen Automobilbestandteile, wie Pneuma-
tik, Steuerung, Bremse, Wagen, als brauchbare Einheiten dauernd
erzeugt und zu einem Ganzen vereinigt wurden. Die Zahl der
Wagen wuchs rasch an, nachdem die Industrie sich im großen auf
ihre Erbauung geworfen hatte. 1907 dienten 25815 vorzugsweise
dem Personen-, 121 1 dem Lasten verkehr. Am i. Jan. 191 4 ergab
die Reichsstatistik aus Steueraufzeichnungen für die ersteren
83 333, für die letzteren 9739. Für abgelegene Landesteile ent-
standen Motorpostlinien, die z. B. in Bayern so gepflegt worden
waren, daß ihre Länge 2/3 des Lokalbahnnetzes ausmachte.
Im großstädtischen Verkehr gewann der Automobilomnibus
eine steigende Beliebtheit, und seine enthusiastischen Verehrer
glaubten, daß er die Straßenbahn bald verdrängen werde. Doch
hat das Prinzip des Spezialismus auch hier die Entscheidung ge-
bracht. In Berlin gediehen die verschiedenen städtischen Beförde-
rungsmittel sehr gut nebeneinander. Die Hoch- und Untergrund-
bahn und die Stadtbahn mit einer Reihe von Wagen und ihrer
Schnelligkeit — sowie hohen Baukosten — sind den Hauptmittel-
punkten des Verkehrs angepaßt, die billiger zu bauenden Straßen-
bahnen vermitteln sowohl den Anschluß in den zwischenliegenden
Räumen als auch sind sie eine Ausstrahlung in die Vorstädte; die
Automobilomnibusse mit ihren vielen Haltestellen, bei ihrer Fähig-
keit des Zeitgewinnes mittels steten Ausweichens und des sich
Durchschlängeins durch belebte Straßen sind eine wichtige Ergän-
zung in der inneren Stadt, wo sie die durch die hohen Betriebs-
kosten geforderte starke Besetzung erwarten. Die gewöhnlichen
Kraftfahrzeuge sind für die Bedürfnisse der wohlhabenden Be-
quemlichkeit und für Leute, die keine Minute zu verlieren haben,
endlich die billigeren alten Droschken blieben für den Nahverkehr
VI. Handel, Bankwesen und Transport. cyj
und für wenig anspruchsvolle Fahrer, vor allem zum Bahnhof mit
Gepäck, immer noch nützlich.
Anders als bei den Eisenbahnen konnte mit den künst-
lichen Wasserstraßen ein finanzieller Ertrag nicht erzielt
werden. Es wurde im dritten Abschnitt darauf hingewiesen, wie
zwischen Eisenbahn und Wasserstraße, nachdem die erste bis zu
der ihr möglichen Grenze den Sieg davongetragen hatte, sich eine
Arbeitsteilung herausgebildet hatte. Überlastung des Bahnver-
kehrs und das Bedürfnis nach billiger Massenversendung führten
im letzten Viertel des Jahrhimderts dahin, den Wassertransport
verstärkt heranzuziehen.
Deutschland ist mit natürlichen und künstlichen Wasser-
straßen keineswegs so schlecht ausgestattet, wie zuweilen behauptet
wird. Der Vorsprung Frankreichs besteh^ nicht mehr. Die Länge
der schiffbaren Linien ist fast dieselbe wie dort geworden, und
der Gesamt verkehr bei dem westlichen Nachbar mit 35 Millionen
Tonnen wird von den Rheinhäfen allein übertroffen. Die Angabe
über die Länge der schiffbaren Linien im Reich ist verschieden,
je nachdem man den Begriff der Schiffbarkeit faßt. Nach der Sta-
tistik von 1908 ist sie 15269297 km, davon sind 8667320 Flüsse
ohne Schleusen, Binnenseestrecken, Außenfahrwasser und Haffe,
und 2612859 Kanäle, 3313468 kanalisierte Flüsse und Flüsse mit
Schleusen, 675650 Binnenseestrecken mit künstlichen Schiffahrts-
straßen. Mehr als 1/3 aller Straßen waren von Schiffen mit über
300 Tonnen befahrbar.
Seit der Reichsgründimg ist manches getan worden, um die
Binnenwasserwege zu verbessern und zu vermehren. Das durch
seine breiten imd langen Flüsse begünstigte Norddeutschland
konnte das meiste leisten. Der 98 km laufende Kaiser Wilhelms-
Kanal, der später von 9 auf 1 1 m vertieft worden ist, verbindet seit
1895 die Nord- mit der Ostsee. Er war bei seiner Anlage zu mili-
tärischen Zwecken allein gedacht worden, wurde daher auf öffent-
liche Kosten erbaut, wurde dann aber auch dem Gütertransport
freigegeben. Der Rhein wurde mit eine- tieferen Fahrrinne aus-
gestattet. Die Weser wurde oberhalb und unterhalb Bremens neu
reguliert, die Unterems von Emden bis zum Meere größeren
Schiffen zugänglich gemacht. Auch die Elbe oberhalb Hamburgs
und die Saale unterhalb der Elstermündung erhielten einen bes-
seren Niederwasserstand. Im Gebiete der Ostsee wurden Oder,
Weichsel, Memel imd Pregel vertieft, den Nebenwasserstraßen zu
ihnen xmd ihrem Zugang zum Meere viel Aufmerksamkeit ge-
schenkt.
c'12 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890— 1 914.
191 4 wurde der Schiffahrtsweg Berhn — Stettin eröffnet, der
den ahen Finowkanal ersetzt und Schiffe von 600 Tonnen Tragfähig-
keit aufnimmt. Das allgemeine Bestreben trat hervor, die nord-
deutschen Ströme untereinander zu einem Netz zu verknüpfen.
Gebaut oder ausgebaut wurden, bzw. mit Nebenlinien bereichert,
der Oder-Spree-, der Elbe-Trave- und der Teltowkanal, die Oder-
Weichsel-Wasserstraße, der technisch mit 18 Staustufen und einem
Schiffshebewerk hochentwickelte Dortmund-Ems-, und endlich der
Rhein-Weserkanal, der während des großen Krieges von Duisburg
bis Minden dem Verkehr übergeben und dann nach Hannover zu
fortgeführt wurde. Die Kanalisierung der unteren Ruhr und der
Lippe kommen anschlußweise in Frage. Die weitere Fortsetzung
des Mittellandkanals bis zur Elbe, mit der die ost- und westdeut-
schen Fluß- und Kanalgebiete zu einem einheitlichen werden wür-
den, scheiterte zunächst an finanziellen Bedenken und an dem
Widerstände der Agrarier des Ostens, der mit dem Vordringen aus-
ländischen billigen Getreides vom Rhein her auf mitteldeutsche
Märkte bis Berlin begründet würde. Daß aber Kohlen und Bau-
material ostwärts auf dem Wasserweg billig zugeführt werden wür-
den, wurde von dieser Opposition ebenso übersehen wie die damit
ermöglichte Erleichterung der Industrialisierung mancher Gegend
in Ostelbien, von der die Landwirtschaft eine steigende Nachfrage
nach ihren Produkten zu erwarten gehabt hätte.
Auch in Süddeutschland traten mancherlei Zukunftspläne
hervor. In Bayern haben sich die Kanalfreunde unter dem Pro-
tektorate des Prinzen Ludwig, des späteren Königs, eifrigst
hervorgetan. Die Kanalisierung des Mains bis Aschaffenburg mit
einer Fahrrinne von 2,50 m für Schiffe bis zu 1500 Tonnen wurde
in Angriff genommen und bis Bamberg weiter zu bauen geplant.
1903 wurde die Kettenschiffahrt bis nach Würzburg, dem Einfalls-
tor von Mittel- imd West- nach Süddeutschland, eröffnet, wo der
Schiffsverkehr um 1900 nur 4985 Tonnen betragen hatte. 1905
stieg er auf 50843 und 1913 auf 228459. Für einen Großschiff-
fahrtsweg vom Rhein bis zur Donau wurden verschiedene, Projekte
entworfen, und die Verbesserung der Donaustraße unterhalb Kehl-
heim, die Kanalisierung des Flusses von Ulm bis Regensburg sind
ebenso verheißungsvolle, wohl durchdachte Ideen wie der noch
einer ferneren Zukunft angehörige Main-Werrakanal, die Neckar-
kanalisierung bis Heilbronn und die Oberrheinregulierung bis
Basel, sogar bis zum Bodensee.
Der Wasserstraßenbau wurde volkswirtschaftlich, nicht vom
Standpunkt einzelner Produzenten, verteidigt. Auch der erleichterte
Transport von schwerem Geschütz und Munition wurde schon vor
VI. Handel, Bankwesen und Transport. cn%
1914 betont. Die preußische Politik stützte ihre Argumente auf
bilhge Massenbeförderung und auf die Entlastung der Eisen-
bahnen. Leichter wäre ihr das geworden, wenn die laufenden Aus-
gaben und die Verzinsung des sehr wertvollen Baukapitals — in
den letzten 25 Jahren betrug es 2 Milliarden Mark — aus den
Einnahmen zu decken gewesen wären. Das war aber nicht im ent-
ferntesten der Fall. Von 1 881 — 1890 haben die preußischen Er-
träge nur 1/13 der regelmäßigen Kosten gebracht, so daß nicht nur
die Verzinsung durch den allgemeinen Etat aufgebracht werden
mußte. Jedenfalls kann man die Benutzung der Kanäle nicht wie
die der Chausseen beurteilen, die den einzelnen Privatwirtschaften
wohl verschiedene Vorteile, aber nur solche mit unmeßbarer Diffe-
renz für sie bringen, so daß man ihre Unterhaltung auf die allge-
meinen Steuerkassen übernommen hat. Sie werden ferner nicht
wie die Landstraßen über das ganze Staatsgebiet verbreitet, son-
dern bleiben lokalisiert. Daher haben bestimmte Provinzen,
Städte, Erwerbsgruppen ihren nachweisbaren Nutzen von ihnen
und haben nach dem Prinzip der sozialen Beiträge Beihilfe, sei
es bei der Anlage, sei es bei der Unterhaltung und Verzinsung, zu
bringen.
In dem Artikel 54 der Reichsverfassung sind die gesetzlichen
Aufgaben des Staates für die Handelsmarine dem Reich über-
tragen worden. Auf natürlichen Wasserstraßen dürfen Schiff-
fahrtsabgaben nur erhoben werden für die Benutzung beson-
derer Anstalten, die zur Erleichterung des Verkehrs bestimmt
sind, und sowohl bei natürlichen wie künstlichen Wasserstraßen
des Staates dürfen diese Abgaben die zur Unterhaltung und ge-
wöhnlichen Herstellung der Anstalten und Anlagen erforderlichen
Kosten nicht übersteigen.
Als nun Preußen mit seinem groß angelegten Plan eines
Wasserstraßennetzes 1905 hervorgetreten war, und es nahelag,
einen Teil der gewaltigen Kosten durch Schiffahrtsabgaben aufzu-
bringen, wurde eine Vereinfachung der hier nicht klaren Reichs-
verfassung 191 1 durchgeführt, daß das Wort „besondere" vor An-
stalten fortfiel, und daß als Höchstmaß für staatliche und kommu-
nale Abgaben die zur Herstellung und Unterhaltung erforderlichen
Kosten bestimmt werden. Die Herstellungskosten wurden derart
definiert, daß die Zinsen und Tilgungsbeträge der aufgewendeten
Kapitalien darunter zu verstehen sind. Die Höhe der Schiffahrts-
abgaben darf unter Zugrundelegung der Gesamtkosten für eine
Wasserstraße, ein Stromgebiet oder ein Wasserstraßennetz festge-
legt werden. Ein darauf fußendes Reichsgesetz hat für Rhein,
Weser, Elbe Strombauverbände der an diesen Strömen beteiligten
574
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Einzelstaaten mit dem Rechte der Erhebung von Schiffahrtsabgaben
eingerichtet, mit denen die Schiffbarmachung, Kanalisierung, Fahr-
wassertiefe gefördert werden sollen.
Es ist möglich, daß mit einer praktischen Ausnutzung der
elektrischen Triebkraft, mit der Vermeidung der Umladungen, mit
der Vereinheitlichung der Fahrrinne, im Westen für 600 Tonnen-,
im Osten für 400 Tonnenschiffe, und vor allem mit der Verallge-
meinerung der großen Schiffe und deren weiteren Vergrößerung
die Einnahmen relativ anwachsen. Man glaubt, daß die Über-
legenheit der Eisenbahn dem kleinen Schiffe gegenüber sich be-
sonders geltend gemacht habe, während bei dem großen die Vor-
teile der relativ billigeren Bedienungsmannschaft, der geringeren
Kraftleistung bei der Vorwärtsbewegung, bei den Tatsachen, daß
die Nutzlast zur toten in weit besserem Verhältnis steht, und daß
das Schiff billiger herzustellen ist als die seiner Tragfähigkeit ent-
sprechenden Bahnwagen hervortreten werden. Aber wie auch dem
immer sein mag, der Staat wird bei den enormen Baukosten zu
dauernden Opfern bereit sein müssen, wenn das großzügig ge-
plante W^erk nicht in Stockung geraten soll. Darin haben sich in
dem letzten Jahrzehnt unserer Periode weder Nord- noch Süd-
deutschland beirren lassen, was um so mehr verdient hervorge-
hoben zu werden, als auch die erwarteten näheren volkswirtschaft-
lichen Ergebnisse nicht immer nach Wunsch ausgefallen sind. Der
Dortmund-Emskanal ist weder für Rheinland-Westfalen eine bil-
ligere Seezufahrt geworden, vielmehr blieb der Rhein in seiner
Vormachtstellung unangetastet, noch hat er die deutschen Nordsee-
häfen so mit Kohlen versorgen können, daß die englische Kon-
kurrenz zurückgedrängt wurde. Die Kanäle sind daher nicht nur
nach der gegenwärtigen, sondern nach ihrer zukünftigen Leistungs-
kraft für die Volkswirtschaft zu würdigen. Kohlen sind nicht un-
erschöpflich, und der künftige Eisenbahnbetrieb wird von ihrer
Preisgestaltung abhängen. Der Wassertransport bedeutet heute
schon eine große Ersparnis an Kohle. Ein Schleppdampfer auf
dem Rhein befördert z. B. die Last von 13 Güterzügen und braucht
viel weniger Heizmaterial als diese zusammen. Je mehr gute
Wasserstraßen sich Deutschland schafft, um so länger hält sein
Kohlenreichtum an, um so unabhängiger vom Ausland wird es
bleiben.
Um einen Einblick in die Befähigung der Binnenschiffahrt zu
gewinnen, sei hervorgehoben, daß von 1887 — 191 2 die Zahl der
Schiffe von 10 Tonnen aufwärts von 20390 auf 29533, die Tonnen-
menge, bei Schiffen, bei denen die Tragfähigkeit nachgewiesen
ist, von 2100705 auf 7394657 gestiegen ist. Die Zunahme der
VI. Handel, Bankwesen und Transport. ^75
Raumausnutzung wird dadurch im speziellen nachgewiesen, daß,
indem die Fahrzeuge unter 50 Tonnen nicht mehr beansprucht
haben als früher und diejenigen von 100—150 eine Abnahme um
3/5 zeigen, die größeren Schiffe in folgender Weise beteiligt ige-
wesen sind:
Tragfähigkeit
Zahl
der Schiffe
in Tonnen
1887
1902
1912
150—250
1757
5732
6316
250 — 400
882
2652
3710
400 — 600
389
1435
2317
600—800
139
692
999
über 800
81
969
1650
Nach den Erfahrungen bei der Rheinschiffahrt sind die Selbst-
kosten der Beförderung für die Tonne mit dem Schiff von 400 Tonnen
fast doppelt so hoch als mit dem von 1 500. Die größten stählernen
Rheinschiffe fassen bis zu 3500 Tonnen, von denen eins die La-
dung von 250 Bahnwagen fassen kann. Der Großbetrieb tritt auch
dadurch hervor, daß von 1887— 1912 die Zahl der Schlepper sich
vervierfacht, die Schleppfähigkeit versechsfacht hat, und daß den
127 Güterdampfschiffen vom ersteren Jahre mit einer Tragfähig-
keit von 18295 Tonnen im letzteren 997 mit 117 382 Tonnen
gegenüberstanden. Daß die ohne eigene Triebkraft, 191 2 mit
7133602 Tonnen, denen mit eigener, die nur über 261055 ver-
fügten, so überlegen sind, umgekehrt wie bei der Seeschiffahrt,
hängt mit der Natur des Fluß- und Kanalbetriebes zusammen.
Zerlegen wir die Binnenschiffahrt von 191 2 nach Stromge-
bieten, so steht die Elbe oben an mit 14442 Schiffen und 2 953 158
Tonnen, der Rhein hat nur 4389, die indessen 2325915 Tonnen
aufnehmen können. Die Zahl der 4849 Oder schiffe ist größer
als die des Rheines, reicht nur für i 235455 Tonnen. Die Weser
hat 663 mit 183 524 Tonnen, wird von der Ems mit ihrem Kanal-
anschluß mit 935 und 196226 Tonnen übertroffen. Es folgt die
Weichsel mit 731 Schiffen und 124 195 Tonnen, den Schluß
macht die Donau mit 150 und 79831 Tonnen, Die Tankschiffe,
die von Rumänien Petroleum holen, haben seit 1903 8000 Tonnen
gewonnen. Der Verkehr blieb sonst hier gering.
Der Güterverkehr auf den Binnengewässern belief sich im
ganzen auf 93481057 Tonnen, das war nur 1/5 von dem, was die
Eisenbahn besorgte. Die größten Posten machten die Steinkohlen
mit 25,3 Millionen Tonnen aus, daran schlössen sich Eisenerz und
Erden, wie Kies, Sand, Mergel mit je 10, Ziegelsteine, Dachziegel
usw. mit 4, Weizen mit 2,6, Zement, Schwefelkies, Kali, Gerste,
cn() VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Hölzer, Braunkohle, Bausteine, Pflastersteine, Steinkohlenbriketts
mit I — 2. Die einzelnen Flüsse variieren die Art ihres Transportes
nach den Produktionsstandorten. Bei dem Rhein und der Oder
stehen deutsche Kohlen und deutsches Eisen voran, auf der
Weichsel fremdes Holz und Getreide, auf den märkischen Wasser-
straßen Brennmaterial, auf der Elbe böhmische Kohlen.
Im Binnenschiffahrtsverkehr herrschte der privatkapitalistische
Betrieb vor. Nur auf dem Boden- und Ammersee gab es staat-
liche Dampfschiffe schon in früherer Zeit. Neuerdings sind die
Würmseedampfschiffe verstaatlicht. Preußen, Baden und Bayern
haben sich an dem Rheinschiffahrtskonzern beteiligt. In dem
Bayerischen Lloyd auf der Donau hat der Staat im Aufsichtsrat
der Gesellschaft Stimme. Das Vordringen der staatlichen Tätig-
keit tritt auch durch das Schleppmonopol im Kaiser - Wilhelm-
Kanal hervor, das auch für den Mittellandkanal vorgesehen ist.
Auf dem Main errichtete Bayern die Kettenschleppschiffahrt als
Monopol, auf dem Elbe-Travekanal ebenfalls der Lübecksche
Staat. Der Kreis Teltow läßt auf der Schiffahrtsstraße zwischen
Havel und Spree nur eigene Dampfer und Motorschiffe laufen und
gestattet nur die elektrische Treidelei mit Triebwagen am Kanal-
ufer. Der Betrieb der Häfen mit ihren Lösch- und Ladevorrich-
tungen ist mehrfach von Staat und Gemeinden übernommen wor-
den, wie in Duisburg, Ruhrort, Bremen, Hamburg, Altona und
Stettin.
Für die staatliche Verwaltung der Binnenschiffahrt werden
ähnliche Gründe wie ehedem für die der Eisenbahn geltend ge-
macht: Die Sicherstellung aller Benutzer durch einen einheitlichen
Tarif, die Vorteile des Großbetriebes in der Kostenersparung, ,die
Steigerung der Leistungsfähigkeit der Wasserstraße durch Plan-
mäßigkeit des Schleusenbetriebes und des Laufens der Schiffe in
regelmäßigen Abständen oder dicht hintereinander, die Schonung
des Kanalkörpers, die Ersparung an Baukosten. Auch bessere
finanzielle Ergebnisse werden erwartet. Sind alle Wasserstraßen
einmal in öffentlich-rechtlicher Hand, so würde die Konkurrenz
mit den Bahnen fortfallen, und die Arbeitsteilung zwischen den
Beförderungsmitteln könnte vollendet durchgeführt werden. Dieser
Entwicklungsgang ist jedoch einer späteren Zukunft vorbehalten.
Die Seeschiffahrt Deutschlands ist im dritten Abschnitt
bis zum Anfang der siebziger Jahre verfolgt worden. Das neue
Reich nahm die Handelsschiffe mit seiner Kriegsmarine unter
seinen Schutz, nachdem im Jahre 1867 die deutsche Flagge ge-
schaffen worden war, die das preußische Schwarz-Weiß mit dem
VI. Handel, Bankwesen und Transport.
577
alten hanseatischen Rot vereinigte, als das Symbol des Zusammen-
wirkens kriegerischer Tüchtigkeit und kaufmännischen Wagemuts.
Die Reichsstatistik gibt über die Kauffahrteischiffe von 50 cbm
== 17,65 Bruttoregistertonnen nachstehende Auskunft:
I.
Sage
Ischiff e.
Jahre
Ostseegebiet
Zahl 1 Br.-Reg.-To.
Nordseegebiet
Zahl j Br.-Reg.-To.
Zahl
Deutsches Reich
Br.-Reg.-To, { Besetzung
1871
eingeschl.
Seeleichter
1886
1901
1913
2006
1283
386
363
439089 netto
298569 netto
34516
16802
2366
2155
1884
2057
461 272 netto
556378 netto
533674
431068
4372
3438
2270
2420
900361 netto
854947 netto
568 190
447870
34739
24839
12922
12980
II. Seeleichter (Schleppschiffe).
Jahre
Ostseegebiet
Zahl I Br.-Reg.-To.
Nordseegebiet
Zahl Br.-Reg.-To.
Zahl
Deutsches Reich
Br.-Reg.-To. Besetzung
1901
«913
3
25
977
4080
33
218
307
6897 netto
71343
103 611
33
223
332
6897 netto
72320
107 691
86
773
1053
III. Dampfschiffe.
Jahre
Ostseegebiet
Zahl Br.-Reg.-To.
Nordseegebiet
Zahl I Br.-Reg.-To.
Zahl
Deutsches Reich
Br.-Reg.-To. ! Besetzung
1871
1886
1901
1913
76
327
452
562
10734 netto
122 797 netto
313639
501803
71
337
938
71 260 netto
279 808 netto
I 872 251
1536 3878545
147
664
1390
2098
81 994 netto
420605 netto
2 185890
4380348
4736
14006
36861
63713
Der Rückgang der Segelschiffahrt wird aus der Überlegen-
heit der Dampfschiffe an Raum, Schnelligkeit und Sicherheit ver-
ständlich. Die Route durch den Suezkanal hat ihn offensichtlich
beeinflußt. Er würde noch größer gewesen sein, wenn sich nicht
später die Vier- und FünfmastvoUschiffe und Barken aus Eisen
und Stahl bis zu 10 000 Tonnen mit technischen Fortschritten zum
Brassen der Segel, selbst mit dampfmaschinellem Betrieb, dabei
für bestimmte Fahrten und Waren bewährt hätten. Solcher Schiffe
gab es 1896 25, 1905 58.
Die Ostseeschiffahrt setzt ihren Niedergang von 1871 — 1901
imunterbrochen fort, ging von 449 823 Nettoregistertonnen auf
223 769 zurück. Mit dem Aufsch^^alng der deutschen Landwirtschaft,
A. Sartoriusv. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 37
cyS VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
auch infolge der Einfuhrscheine für Getreide, tritt eine geringe
Besserung ein. Der Kaiser-Wilhelm-Kanal bringt einige Hoff-
nungen für die Zukunft.
Von 1871 — 1913 hat sich der Nettoregistertonnen-lnhalt aller
Dampfschiffe auf das 33fache gehoben. In die zweite Hälfte
dieser Zeit fallen bedeutende technische Fortschritte, die sich in
heftiger Konkurrenz mit England durchsetzen. Seit der Jahrhun-
dertwende steht der Bau unter dem Einfluß der Dampfturbine,
später gewinnt die Kesselanlage, Heizer, Raum und Gewicht spa-
rende Ölfeuerung mit Dieselmotoren auch Bedeutung. Die Ger-
maniawerft hatte bis 191 3 78 Schiffsdiesel mit 454 Zylindern und
63000 P.-S. erbaut. 21 Firmen betrieben den Bau von Ölmotoren
für die Schiffahrt. Trotzdem war der Sieg des Ölmotors über die
Dampfmaschine um 19 13 nicht entschieden. Die Technik war noch
nicht zum Abschluß der Vollendung gebracht worden, und die
dauernd hohen Ölpreise lasteten auf dem wirtschaftlichen Erfolg.
Die Passagierdampfer leisten immer mehr an Behaglich-
keit, Ausstattung, Verpflegung, Sicherheit, Schnelligkeit. Der Ein-
bau Frahmscher Schlingertanks bewährte sich zur Einschränkung
der lästigen Schwankimgen. Der Zustrom an amerikanischen Ver-
gnügungsreisenden, die Kajütenpreise von einigen tausend Dollars
für die Überfahrt von New York ausgeben und ihre Automobile
als Reisegepäck mit sich nehmen, wuchs zusehends und drängte
die Engländer dazu, durch Schiffsgröße und Schnelligkeit die Ham-
burger und Bremer zu überholen. Anfangs des Jahrhunderts
bringen es die deutschen Linien bis auf 23I/2 Seemeilen die Stunde.
Die Gunard-Linie überbietet sie dann mit dem Rekord von 251/2-
Die Schnelldampfer, die keine Fracht nehmen, erwiesen sich wegen
des enormen Kohlenverbrauchs als unrentabel, die neuen deut-
schen kombinierten Fracht- und Passagierdampfer fahren lang-
samer, aber bieten bei ihrer Raumerweiterung mehr Bequemlich-
keit für die Fahrgäste. Die englischen Olympic und Titanic mit
46300 Bruttoregistertonnen wurden von dem Imperator mit 52000,
Vaterland mit 55000 und Bismarck mit 57000 überflügelt. Für
den Verkehr nach Nordamerika gereichte es der deutschen Han-
delsmarine zur Gunst, daß sie dauernd Auswanderer zu befördern
hatte, erst deutsche, dann osteuropäische, daß sie auf der Fahrt
englische und französische und belgische Häfen aufsuchen konnte,
um Güter und Passagiere aufzunehmen, daß sie im Konkurrenz-
kampf mit England und den Vereinigten Staaten über ein reich-
liches Angebot an Mannschaften und Offizieren verfügte, bei ihrer
jugendlichen Frische an tatkräftigen leitenden Persönlichkeiten
keinen Mangel hatte, endlich, daß die gesamte Volkswirtschaft im
VI. Handel, Bankwesen und Transport. cyq
Aufstreben begriffen war, von der sie viel empfing, der sie ^ber
auch als ein Teil von ihr viel gab. Allerdings litt sie auch unter
den Krisen des allgemeinen Wirtschaftslebens, vor allem in den
siebziger Jahren, als sich Überkapitalisation, Überproduktion an
Schiffen, heftige Konkurrenzkämpfe, Dividendenlosigkeit der Ge-
sellschaften und Kapitalreduktionen geltend machten. Erst Mitte
der achtziger Jahre treten geregeltere Verhältnisse ein, als der
Norddeutsche Lloyd und die Hamburg- Amerika-Linie sich ver-
ständigen und auch die kontinentalen Gesellschaften zu einer Preis-
konvention (zu Köln 1885) schreiten.
Um 19 13 besaß Deutschland 33 Riesendampfer, die 10 000
Tonnen überschritten, und 11 weitere waren im Bau. England
gegenüber mit seinen 122 war diese Summe immerhin schon be-
achtenswert, glänzend erschien sie, wenn man sie mit den 1 1 der
Vereinigten Staaten, 10 Frankreichs und 5 der Niederlande ver-
glich. 17 dieser deutschen Großschiffe gehörten dem Norddeut-
schen Lloyd, 15 der Hamburg-Amerika-Linie, i der Hamburg-Süd-
amerikanischen Dampf Schiffahrtsgesellschaft.
Schon 1872 hatte der Norddeutsche Lloyd von Bremen aus
jede Woche zwei Fahrten nach New York und eine nach Balti-
more eingerichtet. Die Hamburg-Amerika-Linie blieb nicht zu-
rück und ließ auch Schiffe regelmäßig nach Mittelamerika laufen.
Neue Gesellschaften kommen auf, die Hamburg-Südamerikanische
(1871) und die Kosmos-Linie (1872). Die Reichssubventionsgesetze
für den Postdienst von 1885 — 1893 bestimmen den Lloyd, den Ver-
kehr nach Ostasien und Australien, die Deutsche Ostafrika-Linie,
von Hamburg nach der Kolonie gleichen Namens aufzunehmen.
Wiederum werden neue Gesellschaften gegründet. Nicht alle kön-
nen sich halten und werden durch die kapitalkräftigeren aufge-
sogen. Um 19 13 hat Hamburg außer den schon genannten noch
die Deutsch-Australische Dampfschiffahrts-Gesellschaft, die Deut-
sche Levante-Linie, die Deutsch-Amerikanische Petroleumgesell-
schaft, die Woermann-Linie, Rob. Sloman jr. und die Continentale
Reederei; Bremen die Hansa, die drittgrößte Unternehmung
Deutschlands um 19 13, die ausschließlich Frachtdampfer laufen
läßt, die Roland-Linie, Rickmers, Neptun, die Afrika-Linie, Argo.
Die Überlegenheit der beiden Städte allen übrigen deutschen Häfen
geht daraus hervor, daß etwa ^/g des gesamten Raumgehaltes
auf sie entfielen. Den beiden großen Gesellschaften, der Hapag
und dem Lloyd, gehörten 40 0/0 der Tonnage an. Die Linien werden
immer vielseitiger, wodurch eine Sicherstellung des Geschäftes
gewährleistet ist. Außer den schon genannten wird der Dienst
im Mittelmeer und von Italien nach New York, ferner der nach
37*
c^o VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Brasilien, Argentinien, Mexiko, Kanada, Ostindien, der Westküste
Südamerikas aufgenommen. Kleinere Gesellschaften, auch aus-
ländische, werden aufgekauft, z. B. vom Lloyd zur Küstenfahrt
in ostindischen und chinesischen Gewässern; Tochtergesellschaften
werden gegründet, wie die Italia in Genua, von Hamburg aus. Von
1877 — 1892 steht J. G. Loh mann als geeigneter tüchtiger Mann
an der Spitze des Lloyd, seit 1899 ist H. Wiegand der einfluß-
reiche erfolgreiche Generaldirektor. In der Hamburger Linie
wirkt gleichzeitig Albert Ballin, der die Auswanderer aus
Polen und Rußland zu gewinnen und mit den amerikanischen Kapital-
mächten zu paktieren weiß, ein glänzendes Geschäft mit den Russen
während ihres japanischen Krieges macht, und neue Linienfahrten
begründet. Vor dem Kriege verfügen beide Gesellschaften über
ein Aktienkapital von je 100 Millionen Mark. Große Gewinnbe-
träge werden zur Ergänzung des Schiffsparks verwendet, um die
Pflichten gegen das Vaterland immer zuverlässiger erfüllen zu
können. Ein Teil der Schiffe wird zum Hilfskreuzerdienst für die
Kriegsflotte eingerichtet.
Die Seeschiffahrt untersteht der internationalen Konkurrenz.
Die kontinentale wird unter dem Druck der englischen Linien ge-
halten. 1900 werden die Amerikaner mit dem Morgantrust, nach-
dem er die englische White Star-Linie erworben hat, wieder (be-
deutimgsvoll auf dem atlantischen Ozean. Die beiden großen deut-
schen Gesellschaften schließen mit ihm eine Konvention, unter der
er sich verpflichtet, 15 Jahre in die Domäne deutscher Schiffahrt
nicht einzudringen. Gemeinsam stemmen sich die Kontrahenten
gegen den englischen Wettbewerb, besonders der Cunard-Linie.
Ein heftiger Tarifkampf entbrennt vor allem um die Auswande-
rungsbeförderung, als es den Engländern gelingt, mit Unterstütz-
ung der ungarischen Regierung, von Fiume aus Schiffe laufen zu
lassen. Um 1903 halten es die widerstrebenden Interessenten an
der Zeit, sich zu vertragen. Der große Schiffahrtspool mit Ver-
teilung der Auswandererscharen und unter sonstiger Abgrenzung
der Arbeitsgebiete kommt zustande. Geordnete Verhältnisse und
gute Dividenden fallen jetzt zusammen; letztere schwanken zwar
unter der weltwirtschaftlichen Konjunktur, die 1908 und 1909 stark
rückgängig ist, im ganzen aber das Kapital besser befriedigen als
in der Zeit des Konkurrenzkampfes.
Wie aus der Einstellung immer größerer Schiffe, ergibt sich
die Zimahme des Großbetriebes auch aus der Vermehrung der
Kapitalmenge in den Unternehmungen. Als Großreeder sprach
man 1880 solche an, die über 10000 T'^nnen, 1901 über 20000,
191 4 über 30000 verfügten. Das waren im ersteren Jahre 3, die
VI. Handel, Bankwesen und Transport. egi
66 Dampfschiffe besaßen, im zweiten i6 mit 526, im dritten 21 mit
950. Bis 1880 stand die Hamburg- Amerika-Linie in der Reihe der
Weltreedereien an 17. Stelle, der Norddeutsche Lloyd an 4., um
1900 standen sie an i. bzw. 2. Die erstere Gesellschaft besaß 191 1
388 Schiffe mit i 306819 Bruttoregistertonnen, die zweite 425 mit
889 183. Die drittgrößte Reederei der Erde, Eilermann Lines,
zählte nur 120 Schiffe mit einem Raumgehalt von 563 136 Brutto-
registertonnen. Die übrigen deutschen Firmen treten zurück, sie
schwankten zwischen der 17. und 118. Stelle. Übrigens ist nicht
zu übersehen, daß England an Raumgehalt und Großschiffbesit2!
im ganzen weit überlegen war, da es 19 14 120 Unternehmungen
besaß mit mehr als 30000 Tonnen, Deutschland 21, die Vereinigten
Staaten 12, Frankreich 11, Norwegen 9, Holland 8. Unter den
wichtigsten 25 Schiffahrtsgesellschaften der Erde waren 16 in Eng-
land beheimatet.
Der Betrieb der Seeschiffahrt wurde in allen Ländern von der
kapitalistischen Unternehmung ausgeübt. Staatsschiffe kommen als
Ausnahme im Anschluß an Staatseisenbahnen für kurze Fahrten
vor. Er eignet sich für die öffentliche Verwaltung wenig. Als
1902 die Befürchtung geäußert wurde, der Amerikaner Morgan
wolle sich in den Besitz der Majorität der Aktien der Ham-
burg-Amerika-Linie oder des Bremer Lloyd setzen, wurde in
der Presse die Verstaatlichung beider Linien erwogen, um ihrer
Entnationalisierung vorzubeugen. Beachtet man die Leistungs-
fähigkeit der Kriegsmarine, so würde von der technischen Seite des
Baues und Betriebes kein Einwand erhoben werden können. Die
Ablehnung des Gedankens wurzelte im Wirtschaftlichen. Auf dem
Ozean herrscht freier Wettbewerb, bei dem rasche Entschlüsse
über Millionen werte gefaßt werden müssen, und verwickelte ge-
schäftliche Abmachungen mit Feind und Freund viel kaufmänni-
schen Sinn beanspruchen. Neue Fahrlinien, Änderung der Fracht-
sätze, Umbau und Umgestaltung der Schiffe haben sich der Kon-
junktur anzupassen, und in fremden Häfen hat man auch Ausländer
als Agenten anzustellen und ihnen Kredite einzuräumen. Zu allen
diesen Funktionen ist der Staatsbeamte mit seiner Bindung an die
obere Verwaltungsbehörde wenig geeignet, und die parlamenta-
rische Etatskontrolle mit ihren finanziellen und parteipolitischen
Bedenken, die schon bei dem weit schematischeren Eisenbahnbe-
trieb eine lästige Fessel der sachverständigen Einsicht sein kann,
ist der notwendig freien Bewegung der Schiffahrtsgesellschaften:
abträglich.
Die Besorgnis der Entnationalisierung wurde damit beseitigt,
daß Vorstand und Aufsichtsrat nur Deutsche sein dürfen, und daß
c82 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
wichtige Beschlüsse, wie Verlegung des Sitzes der Gesellschaft in
das Ausland oder Auflösung der Gesellschaft, durch den Wider-
spruch einer niedrigen Quote der Aktienstimmen, die man mit
Sicherheit in deutschen Händen festzuhalten glaubte, verhinderte.
Zeigten so die großen Dampferlinien ein ausreichendes patrio-
tisches Verständnis, so hielten sie bei wichtigen internationalen
Angelegenheiten auch Fühlung mit der Reichsregierung. Manche
ihrer Angestellten waren Seereserveoffiziere, so daß schon hier-
durch Beziehungen zur Kriegsmarine gehalten wurden. Umge-
kehrt sind frühere aktive Seeoffiziere in ihren Dienst getreten.
Der englische Dampferschiffsbau war in den siebziger und
achtziger Jahren dem deutschen weit überlegen. 1887 gab die
Hamburg-Amerika-Linie zuerst der deutschen Gesellschaft Vulkan
in Stettin den Auftrag, die Augusta Viktoria, die später den Ver-
gnügungsreisenden im Mittelmeer so bekannt wurde, zu bauen.
Aber schon zwischen 1885 — 1898 waren ^/^ der neuen Lloydschiffe
auf deutschen Werften vom Stapel gelaufen. 1895 wurde eine
Schiffsbauschule in Hamburg, 1902 eine in Kiel errichtet. Auch
die technischen Hochschulen in Charlottenburg und Danzig fördern
das Schiffsbaugewerbe, wie das Technikum in Bremen schon seit
1894. Der Bau der deutschen Kriegsflotte in Deutschland wirkt
auf den der Handelsschiffe günstig zurück. Der Schiffsbau an der
Ostsee, begünstigt durch die Lage des materialreichen Schlesiens,
ist in Kiel, Stettin, Danzig, Lübeck, Flensburg 'und Rostock be-
deutend geblieben, obwohl die Ostseeschiffahrt versiegte (Vulkan,
Germania, Neptun, Oderwerke, F. Schichau). An der Nordsee
betätigten sich vor allem Hamburg, Bremerhaven, Emden, Vege-
sack, Geestemünde (Blohm & Voss, Rickmers, Tecklenborg). Der
Bau auch für ausländische Rechnung setzte bald ein, sowohl ^für
Kriegs-, wie für Kauffahrteischiffe. Im Bau befinden sich an letz-
teren überhaupt 1910 für 15,7, 191 1 30,1, 1912 61,4, 1913 49,0
Tausend Tonnen, während in den gleichen Jahren die Zahlen ^für
deutsche Bestellung auf 540,6, 855,6, 1224,9, 1296,8 Tausend lau-
teten. Vom Ausland wurden für deutsche Rechnung in diesen
4 Jahren nur für 285 000 Tonnen auf Stapel gelegt. Die Schiffs-
baupolitik des Reiches ist, am Erblühen des Gewerbes gemessen^
die richtige gewesen. Anders ausgedrückt: in die großartige Ent-
wicklung der deutschen Volkswirtschaft, von der der Schiffsbau
nur ein unauslösbarer Teil war, paßten die angewandten Maß-
regeln hinein.
Der englische Schiffsbau ist dadurch begünstigt, daß er alle
erforderlichen Materialien unter dem Freihandel zu zollfreien
Preisen erhält. Wollte der deutsche beim Schiffsverkauf im Aus-
VI. Handel, Bankwesen und Transport. cSi
lande oder bei der Frachthöhe auf dem Ozean mit den Engländern
konkurrieren, so mußte er sich ebenfalls auf Weltmarktpreise der
Baustoffe stützen. Bei dem bestehenden Zollschutz für Eisen,
Stahl, Holz und zahlreiche Halbfabrikate wurde es daher nötig, den
Seeschiffsbau im großen in die Freihafengebiete zu legen und die
Zollfreiheit des Materials unter Kontrolle zuzugestehen. Ausge-
nommen blieben die Schiffseinrichtungsgegenstände, das Kajüt-
und Küchengut, die dem Zollaufschlag unterliegen und fast ganz
von heimischen Geschäftsleuten geliefert wurden. Die Eisen- und
Stahlindustrie mußte sich, wenn sie am Schiffsbau teilnehmen
wollte, eine Verminderung der Inlandpreise gefallen lassen. Wenn
sie den Weltmarkt aufsuchte, ging sie zwar sowieso im Preise
herab, sie fand es aber widerspruchsvoll, wenn es sich um einhei-
mische Gewerbe in einer Freizone handelte. In den Vereinigten
Staaten hatte der Schiffsbauer die inländischen Materialpreise zu
zahlen, wenn das Schiff unter amerikanischer Flagge fahren sollte.
Daher kam dort nur die Küstenschiffahrt in die Höhe, wo die euro-
päische Konkurrenz fehlte, im Verkehr mit Europa blieb der eigene
Schiffsdienst rückständig.
Als die Postdampfersubventionen vom Reich zugebilligt wur-
den, wurde den sie beziehenden Linien die Vertragsklausel aufge-
legt, daß die von ihnen eingestellten neuen Dampfer auf deutschen
Werften, tunlichst unter Verwendung deutschen Materials, gebaut,
und daß die Instandsetzungen, soweit möglich, ebenfalls daselbst
vorgenommen werden müssen. Das ist dem deutschen Schiffsbau
sehr zugute gekommen.
Es kam schließlich zu einem allgemeinen Kompromiß, der für
das Schiffsbaugewerbe, das nun mit den besten Stoffen regelmäßig
versorgt wurde, für die sie herstellende Großindustrie, die ihren
Absatz erweiterte, für die Volkswirtschaft, die von England in
dem Sichselbstversorgen mit eigenen Schiffen unabhängig wurde,
segensreich gewesen ist: Die Werften zahlten etwas höhere Preise
als sie bei der Einfuhr aus dem Auslande zu gewähren haben wür-
den, die inländischen Industriellen gingen von ihrem Inlandspreis
herunter, und die Staatseisenbahnverwaltungen gewährten eine
Tarifermäßigung bei dem Materialtransport. Die stete Fühlung
aller beteiligten Gewerbe untereinander wurde durch eine gemein-
same Verkaufsagentur gehalten. Die Staatseisenbahnen sichern
sich für das gewährte Entgegenkommen eine Einnahme, die ihnen
sonst entgangen wäre, haben also keineswegs ihren Finanzstand-
punkt aufgegeben und den Schiffsbau aus öffentlichen Mitteln be-
günstigt, wie das im Ausland behauptet wurde, um die Leistung
584
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914-
Deutschlands herabzuwürdigen. Eine allgemeine Staatsunterstützung
ist seiner Reederei nicht zuteil geworden.
Wenn nach dem Gesetz von 1881 die Küstenfrachtfahrt der
deutschen Flagge vorbehalten wurde, so sollte damit nur ein recht-
lich gesicherter Tauschgegenstand für künftig abzuschließende in-
ternationale Verträge der Regierung in die Hand gegeben werden,
wovon sie auch Gebrauch gemacht hat. Die schon erwähnten Post-
dampfersubventionen erstrecken sich nur auf zwei Gesellschaften
und hängen mit der Kolonialpolitik eng zusammen, betragen netto
6,9 Millionen Mark, was etwa einem Drittel der von Frankreich
oder England für gleiche Zwecke gezahlten Summen entspricht.
Gleichzeitig mit dem Schiffsbau hat sich auch die Hochsee-
und Heringsfischerei mit Fischdampfern herausgemacht. Das Ge-
schäft wird durch Aktiengesellschaften mit i — 2 Millionen Mark
Kapital von Altona, Cuxhaven, Bremerhaven und Rostock vorzugs-
weise ausgeübt.
Als ein Ausdruck der gesamten volks- und weltwirtschaft-
lichen Verkehrsbewegung können die zunehmenden postalischen
Ziffern gelten, die aus der nachstehenden Tabelle in großen
Zügen ersichtlich werden:
Es wurden von deutschen Postanstalten vermittelt:
In Millionen Stück
im ganzen
davon innerhalb
Deutschlands
im ganzen
1911
davon innerhalb
Deutschlands
Briefe
Postkarten
Drucksachen .... 1
Geschäftspapiere . . j
Warenproben
Zeitungsnummern . , .
Außergewöhnliche
Zeitungsbeilagen . . .
Pakete ohne Wertangabe
Pakete, Briefe und Käst-
chen mit Wertangabe
597,8
276,6
275-3
20,3
324,8
41.3
97,8
12,2
735,2
251,4
218,5
11,6
607,5
41,3
9>,7
10,5
3215,4
1871,4
1477,6
25,5
103,4
2278,7
290,7
292,3
13,6
2712,8
1617,2
1243,0
20,0
67,4
2222,2
290,7
264,8
10,9
Deutschland hat von allen Ländern den größten Briefverkehr
und nach den Vereinigten Staaten auch die meisten Postanstalten.
Ebenso ist das Telegraphennetz das ausgedehnteste, und der Tele-
grammverkehr wird nur durch England übertroffen. Im Welt-
postverein, der auf Deutschland zurückwirkt, sind seit 1878 meh-
VI. Handel, Bankwesen und Transport. eßc
rere Verbesserungen zur Durchführung gebracht worden, wie die
Zulassung der internationalen Postanweisung für eine Anzahl Län-
der und die der Paketversendung. An dem internationalen Porto-
satz wurde nichts geändert, was von Deutschland unliebsam emp-
funden wurde, nachdem seit 1908 zwischen England und den Ver-
einigten Staaten das Pennyporto gültig wurde, das auch zwischen
Mutterland und Kolonien besteht. Es gelang der deutschen Post-
verwaltung nur, daß für die zwischen dem Reich und den Vereinigten
Staaten auf dem direkten Seewege auszutauschenden frankierten
Sendungen eine Erleichterung Platz griff. Im inneren Verkehr
brachten zahlreiche Neuerungen nach und nach manche Erleichte-
rung, z. B. in der Beschleunigung des Pakettransportes, insbe-
sondere zwischen Nord- und Süddeutschland, im Ortsschnelldienst,
in der Mitwirkung des Publikums bei der Ausfüllung der Postan-
weisungsquittung, in der Zulassung der Brieftelegramme, der Post-
kartenblocks, der Briefmarkenautomaten, der gestatteten Beschrei-
bung der halben Adreßseite der Postkarte, in der Vereinfachung
der Telegramm- und Telephongebühren. Im Verkehr mit Öster-
reich wurde die Telephongebühr herabgesetzt und auch andere
Verbilligung gewährt.
Wenn die Postanweisungssumme von 1906 — 191 2 einen Rück-
gang zeigt, so ist dies aus dem seit dem i. Jan. 1909 eingeführten
Postscheckverkehr zu verstehen, der sich einer bedeutenden
Zunahme erfreute. Hervorgegangen ist er aus dem Bedürfnis,
die Edelmetall- und Banknotenzahlungen einzuschränken, um dann
die freigewordenen Beträge zu Kreditzwecken zu verwenden. War
es auch eine falsche Hoffnung, die Knappheit an Geldleihkapital,
die 1906 und 1907 die Volkswirtschaft heimsuchte, damit beseitigen
zu können, weil Umsatzmittel mit disponiblem Kapital verwechselt
wurden und die Kurse der inländischen Staatsanleihen durch die
Vermehrung" von Zahlungsmitteln zu heben, so ist es doch unver-
kennbar, daß der Zahlungsverkehr von der neuen Einrichtung
Nutzen gezogen hat.
Der Postscheckverkehr ist eine teilweise Verstaatlichung des
Bankgewerbes, durch die den Banken eine Konkurrenz erwächst.
Ihre Provisionen für Geldübertragung wurden gedrückt. Anderer-
seits hatten sie für den eigenen Verkehr auch Vorteile gewonnen
unter der Ausnutzung der so zahlreichen Postanstalten, Briefkasten
und Briefträger, mit deren Massenhaftigkeit niemals Bankfilialen
wetteifern können. Sie wurden auch von den Zwergschecks ent-
lastet, während die großen Summen der Privaten, die verzinst wer-
den sollen, ihnen doch zuflössen, da die Post keine Zinsen zahlt.
Eine Arbeitsteilung zwischen ihr und den Banken bildete sich also
c86 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
als System heraus, indem die Kunden die Post- und Banktätigkeit
nach ihren Bedürfnissen kombinieren konnten.
Im Gebiete der Reichspost wurden neun Postscheckämter er-
richtet, drei im Osten, in Berlin, Breslau und Danzig, drei in
Mitteldeutschland, in Hamburg, Hannover, Leipzig, drei im Westen,
in Frankfurt a. M., Köln, Karlsruhe. Dazu kamen drei in Bayern,
in München, Nürnberg und Ludwigshafen, eins in Stuttgart für
die württembergische Postverwaltung. Die Guthaben der Kunden,
die über eine feste Stammeinlage hinaus verfügbar sind, sei es
im Wege der Giroübertragung oder zur Auszahlung mittels steuer-
freier Schecks, werden nicht verzinst. Durch die Zahlkarte kann
von jedermann eine Zahlung auf ein Konto geleistet werden. Alle
Postanstalten vermitteln die Ein- und Auszahlungen und Überwei-
sungen, die durch das ganze Reich vorgenommen werden können.
An dem Scheckverkehr nimmt ein sehr großes Publikum Anteil,
da viele Banken an den Scheckämtern ein Konto besitzen und so
ihre Kunden in den Verkehr einbeziehen. Das 1908 in Deutschland
eingeführte Scheckgesetz, das die Formalien des Schecks und die
passive Scheckfähigkeit regelt, findet auch auf die Post An-
wendung.
Vom Beginn der Einrichtung bis Ende 191 2 stieg die Zahl
der Konteninhaber bis auf 89380, ihr Guthaben auf 180,0 Mil-
lionen Mark. Der Gesamtumsatz betrug 191 2 35 534,5 Millionen
Mark, von dem bargeldlos 19791,6 beglichen wurden, die gutge-
schriebenen Übertragungen machten 7 334,9, die ausgezahlten
Schecks und ausgefertigten Zahlungsanweisungen 10480,2, die gut-
geschriebenen Zahlkarten 10424,8 Millionen Mark aus. Vervoll-
kommnet wurde der Postscheckverkehr dadurch, daß die Reichs-
bank mit den Ämtern in Verbindung trat, und daß die Überwei-)
sungen auch mit einigen Ländern international geregelt wurden,
so mit Österreich-Ungarn, der Schweiz, Luxemburg durch amt-
lichen Giroverkehr für die Inhaber von Postscheckkonten der fünf
Länder, mit Belgien zuerst durch Vermittelung seiner National-
bank, bis 11913 auch in Brüssel ein Postscheckamt begründet .wurde.
Ein Erfolg dieser weltwirtschaftlichen Neuerung auf großer Stufen-
leiter hätte auf den zwischenstaatlichen Devisenverkehr und Han-
del nicht ohne Einfluß bleiben können. Einstweilen schob ihm der
Krieg einen Riegel vor.
Um noch ein Wort über den Fortschritt des telegraphischen
und Femsprechwesens zu sagen, hob sich die Zahl der Telegraphen-
anstalten von 1887 — 1912 von 14565 auf 48 167, der eingegangenen
Telegramme von 17860 auf 52273 Tausend Stück, die Länge der
telephonischen Leitungen von (1888) 56,4 auf 5456,6 Tausend Kilo-
VI. Handel, Bankwesen und Transport. egy
meter, die Zahl der vermittelten Gespräche von 55,6 auf 2326,7
Millionen.
Der Telegrammdienst war durch die Verwendung des Bronze-
und Hartkupferdrahtes und die Vermehrung der die Witterungsstö-
rungen ausschließenden unterirdischen Leitungen sicherer gestellt,
durch die Morsehörapparate auch beschleunigt worden. Vollkom-
mener wurden die vorhandenen Betriebsmittel durch die Mehrfach-,
Simultan- und Maschinentelegraphie ausgenutzt. Das Fernsprech-
wesen bediente sich neuer Mittel in verbesserten Mikrophonen und
im Doppelleitungsbetrieb, um die Gespräche verständlicher zu
machen, die auf immer weitere Entfernungen ausgedehnt wurden.
Durch die selbsttätigen Umschaltesysteme imd selbstkassierenden
Fernsprechstellen wurde der Bequemlichkeit der Benutzer ent-
©prochen. '
Deutschland besaß auch Seekabel, so nach den Vereinigten
Staaten, Westafrika, Brasilien und in der Ostsee. Vor Ausbruch
des Krieges wurde der Anteil deutschen Eigentums am Weltkabel-
netz auf 8,30/0 angegeben. Die Engländer hatten es hier verstan-
den, sich eine ganz überlegene Stellung im Weltverkehr zu sichern,
als die Erfindung der drahtlosen Telegraphie dem politischen
Monopol gefährlich zu werden schien. Aber auch die in England
stationierte Marconigesellschaft ermöglichte von neuem diesem
Lande einen Vorrang, bis ihn die deutsche Telefunkengesellschaft,
die eine Verbindimg mit Longisland (V. St.), den deutschen Kolo-
nien und Ostasien von Nauen aus herstellte, durchbrach und
Deutschland während des Krieges große Dienste leistete. So hatte
sich die deutsche Wissenschaft, vor allem vertreten durch Braun,
S 1 a b y und Graf Arco, in Verbindung mit der Technik wieder-
um zum Wohle des Vaterlandes bewährt. Es gelang, die Reich-
weite der Stationen zu vergrößern, die Geschwindigkeit der Nach-
richtenvermittelung über die der Morseapparate zu erhöhen und
die Geheimhaltung der funkentelegraphischen Mitteilung leidlich
zu sichern. Der Nauener Turm wurde noch 191 4 dem Privatver-
kehr freigegeben. Auch die Stationen in Eilvelse bei Hannover,
in Köln, in Norddeich versorgten seitdem überseeische Länder mit
deutschen Nachrichten und hielten Beziehungen zu deutschen Schif-
fen auf der Fahrt aufrecht.
Zusammenfassend und die Lebhaftigkeit des deutschen volks-
wirtschaftlichen Getriebes charakterisierend, ist von Post und Tele-
graphie zu sagen, daß, während Deutschland von 1887 — 191 1 seine
Bevölkerung noch nicht um die Hälfte steigerte, eine Vermehrung
eintrat bei:
c88 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Briefen um das 3^/5 fache
Postanweisungen (Stücke) „ „ 2^4 „
gewöhnlichen Paketen . „ ,,3
Zeitungen , „ 3V3 "
Postkarten „ „ 6^/4
Telegrammen ,, „3
Ferngesprächen . . . . „ „20 „
Die ungemein erleichterte Fernverständigung unter den Men-
schen, ohne sich vom Ort zu bewegen, macht es begreiflich, daß
sie die persönliche Aussprache aufzusuchen immer weniger nötig
hatten. Der Einzelne konnte sich daher, wenn er wollte, um so in-
tensiver auf sich zurückziehen. Jedenfalls hat eine Großstadt trotz
ihres Gedränges und geschäftlicher Reibung verhältnismäßig viel
mehr „Einsame Menschen" als der Marktflecken und das Dorf.
Wenn auch gleiche Empfindungen, gleiche Urteile, gleiche soziale
Wünsche durch die Massenverbreitung der Zeitungen genährt wer-
den, so ist die seelische Verbindung von Individuum zu Individuum
trotz aller Organisation des Verkehrs doch eher loser als fester
geworden. Das mag auf verschiedenen Gründen beruhen, der
hier angedeutete spielt jedenfalls überall in sie hinein.
Beim Abschluß der vier letzten Kapitel über Auslandsge-
schäft, Landwirtschaft, Industrie und Handel drängt sich uns eine
geschichtliche Vergleichung auf. Die volkswirtschaftliche Entwick-
lung von 1890 — 1914 zeigt ähnliche Tendenzen wie diejenige von
1848 — 1873. Beide Perioden sind merkwürdigerweise gleich lang,
in ihren ersten Jahren liegt das gesamte Geschäft darnieder, dann
folgt eine lange Zeit gewaltigen, allgemeinen, weltwirtschaftlich
bedingten Aufsteigens, zuletzt eine mit einem Ruck hinein-
brechende, furchtbare, den Niedergang einleitende Katastrophe,
wenn auch verschiedener Art in beiden Fällen, ehemals als inter-
nationale Wirtschaftskrise, neuerdings als Weltkrieg. Die quanti-
tativen Vorgänge der Epochen vollziehen sich in ihren Einzelheiten
nicht gleichartig; man kann beinahe sagen, daß man, wenn in der
früheren mit Millionen, in der späteren mit Milliarden zu rechnen
hatte. Das ändert nichts an den Tatsachen der Internationalität
der Bewegung — wenn sie auch 1890 — 191 4 auf weiterer räum-
licher Grundlage ruhte — und an der des Aufkommens einer
dauernd glänzenden Konjunktur. Diese Konjunktur ist jedesmal
nachweisbar an steigenden Gewinnen, Zinsen, Grundrenten, Ar-
beitslöhnen und vor allem Warenpreisen. Im IV. Abschnitt wurden
für die erste Epoche schon Angaben erbracht. Ergänzend zum
VI. Handel, Bankwesen und Transport
y
589
Vergleich sei hier noch einiges der von A. Soetbeer mitgeteilten
Hamburger Warenpreise (Mark für 100 kg) genannt:
Jahr
Roheisen
Blei
Zink
Kupfer
Raffin. Zucker
1851
5.58
36,8
29,0
173.6
52,0
1856
9,18
47.6
49,0
240,2
77.3
1861
6,18
41,6
36,0
192,0
67.1
1866
7,08
40,9
43.9
187,0
63,1
'1873
14,36
63,1
55.6
191.5
70,4
Derselbe Schriftsteller vereinigt mit den Hamburger Preisen
von 100 Warengattungen die Preise von 14 Hauptartikeln des eng-
lischen Ausfuhrhandels und gelangt so zu folgenden Indexziffern:
Jahr
Index
1847/1850
100
1851/1855
112,2
1856/1860
120,9
1861/1865
123,6
1866/1871
123,6
1873
138,3
Aus dem großen statistischen Material der neueren Zeit kön-
nen hier nur einige charakteristische Zahlen angegeben werden,
die aus Untersuchungen von L. Glier entnommen sind:
Durchschnittpreise i8go — 189g mit denen von 1902 — igii verglichen.
Handels- und Börsennotierung in üblichen Handelsgewichten und
I^andeswähruner.
Kohle
England Gelsenkirchen
Eisen
England 1 Hamburg
England
Holz
Ver. Staaten
Häute
Hamburg
und Felle
Reichsstatistik
10,25
11.55
8,14
10,38
52,38
65,40
56,1
66,9
18,95
23,76
15.57
21,05
37,8
48,6
52,1
66,2
Metalle im allgemeinen
Hamburg 1 Reichsstatistik
Zinn
Ergland Hamburg
Hörner, Knochen usw.
Hamburg
Öle
England Hamburg
30,12
40,24
33.92
5'.47
4.04
7,39
15.8
23.5
16,8
22,7
5.30
6,57
23.4
29,2
Textilstoffe im allgemeinen
Hamburg Reichsstatistik England
35.7
39.7
50.5
63,0
9.91
11,87
Alünchen
67,82
77.71
Getreide im allgemeinen
Hamburg I Engl. Einf. N.Y.Börse V.StAusf.
55.19
65,92
71,9
73,3
1,64
2,11
1.25
1.47
590
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Schweinefleisch
Berlin 1 Engl. Einf. V.St. Ausf. N.Y.Börse
Rindfleisch
Berlin V. St. Ausf. N. Y. Börse I Engl. Einf.
10,26
11,84
35.49
40,17
6,3
9.2
1 1.64
17,81
",57
13,83
5,5
6,7
8,02
1 1,01
39,81
36,10
Schweineschmalz
Hamburg V. St. Ausf.
6,8
9,1
7.1
9,5
Butter
München
17,5
20,9
Käse
Hamburg Einf.
10,0
".5
Fische
Hamburg Einf.
4,56
5.83
Stellen wir diesen Preisen diejenigen des Niederganges nach
der Krise von 1873 gegenüber, so ist der Tiefpunkt für Kohle,
Eisen, Holz, Häute und Felle, Metalle, Schweinefleisch (in Berlin
und England), Rindfleisch (in Berlin und New York) schon vor
1 890/1 899 erreicht worden. Für die anderen Produkte liegt er im
Anfang der neunziger Jahre. Im allgemeinen ist die Erhöhung
auffälliger in dem Jahrzehnt vor 191 1 als in dem letzten des 19.
Jahrhunderts. Der binnendeutsche Preisaufschlag ist seit 1906
bei den Lebensmitteln durch den Zoll beeinflußt worden, was in-
dessen, wie von Glier nachgewiesen ist, innerhalb der Gesamt-
erhöhung nur wenig ausmacht, die sich auf dem freien Weltmarkt
vollzieht. Die Rohstoffe sind zudem meist zollfrei.
Über die Kleinhandelspreise ist die Statistik nicht in der
Lage, Auskunft zu geben. Sie mußten zunächst entsprechend den
Engrospreisen steigen, wobei es, wie die Erfahrung lehrt, nicht
sein Bewenden haben konnte. Sie werden gewöhnlich bei solcher
Gelegenheit, imter Klage der Kleinhändler über Teuerung im
großen, nach oben abgerimdet, d. h. es wird aufgeschlagen, da
der Verbraucher gegen kleine tropfenweise abgezogene Geldzu-
gaben nicht reagiert.
Der entscheidende Grund der Steigerung der genannten
Großhandelspreise lag, ganz kurz ausgedrückt, darin, daß die Nach-
frage nach Rohstoffen imd Lebensmitteln dem Angebot stets dau-
ernd voraus war. Die Erweiterung des Angebots konnte dem Be-
darf nur zögernd nachfolgen, nur unter steigenden Kosten, sei es,
daß die Stoffe aus weiterer oder schwerer zugänglicher Entfernung
zu holen waren, sei es, daß zu weniger fruchtbaren oder erst urbar
zu machenden Standorten bei der Produktion übergegangen wurde,
sei es, daß jungfräulicher Boden erschöpft, sei es, daß die Ar-
beitskosten hinaufgesetzt waren.
Daß die Nachfrage einer solchen nur schrittweisen Bewegung
zur Mehrproduktion sprunghaft voraneilte, ergab sich nicht aus
VI. Handel, Bankwesen und Transport. cgj
der zunehmenden Bevölkerung schlechthin — sie war auch von
1873 — 1890 in der ganzen Welt gestiegen, ohne eine allgemeine
Hochkonjunktur hervorzubringen, obwohl man sagen darf, daß
bei damals unverändert gebliebener Bevölkerungszahl die Preise
noch stärker gefallen wären — , sondern aus einer immer zahlungs-
fähigeren, anspruchsvolleren, größeren Bevölkerung, also aus einer
Tatsache, die in steigenden Löhnen, Gewinnen, Renten, Zinsen
einen Ausdruck fand, die ihrerseits einer verstärkten Unterneh-
mungslust nachgefolgt waren. Daß eine solche vorhanden war,
war erstens in der Ausnutzungsmöglichkeit der in der langen ru-
higen Friedenszeit ersparten Kapitalien gegeben, zweitens in der
Summe von Entdeckungen (z. B. Goldfunden), Erfindungen der
Produktion und des Verkehrs, von neuen Organisationsgedanken,
drittens in dem psychischen Moment, daß die Gründerzeit und der
so lange den Mut dämpfende Niedergang vergessen, und der
Optimismus des Verdienens wieder hochgekommen war, viertens,
last not least, in einer erweiterten Industrialisierung bisher rück-
ständiger Länder, wie in Rußland, Kanada, Italien, den Vereinigten
Staaten, die alle den Agrarcharakter ebenso abzustreifen gewillt
waren, wie Deutschland, Österreich und die Schweiz nach 1850.
Schließlich wird man auch der Arbeiterbewegung einen An-
teil an dem ganzen Vorgang beizumessen haben. Zunächst da-
durch, daß sie zu erhöhten Löhnen gedrängt, also mit diesen die
Kaufkraft breiter Schichten gehoben und in denjenigen Gewer-
ben, die für den Arbeiterverbrauch produzieren, mehr Arbeit veran-
laßt hatte. Dann führten die erhöhten Löhne und sozialen Kosten
in den Industrieländern das kapitalistische produktionstätige Unter-
nehmertum dazu, Länder mit farbigen billigen Rassenarbeitern
mehr als bisher aufzusuchen, um bessere Durchschnittsprofite zu
erzielen. Das waren tropische imd subtropische Gebiete, die land-
wirtschaftlich oder bergwerksmäßig zu erschließen waren. Es
klingt paradox, zu sagen, der Sozialismus habe den Imperialismus
hervorgebracht. Unter der gegebenen allerdings beschränkten Per-
spektive ist der Satz indessen nicht unrichtig.
VV^ie lange die ganze Aufwärtsbewegung noch weitergegangen
wäre, wenn der Krieg nicht dazwischen gekommen wäre, zu dessen
wirtschaftlichen Ursachen auch die gehört, daß die deutsche Kon-
kurrenz an Ganzfabrikaten, die übrigens als solche überhaupt, wo
sie auch herstammten, überall in der Welt immer schwerer abzu-
setzen waren, je mehr davon über den gesicherten Bedarf hinaus
produziert wurde, beseitigt werden sollte, ist nicht zu sagen. Daß
aber das Ende der Hochkonjunktur einmal eintreten müßte, wurde
mit Sicherheit erwartet. Der Pessimismus über die Weltwirtschaft-
CQ2 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
liehe Entwicklung war Iq den letzten Jahren vor 191 4 schon ziem-
lich verbreitet, man fürchtete zwar weniger eine große Börsen- und
Handelskrise, als die weitere Verteuerung der Rohstoffe und Le-
bensmittel, die dem System der einseitigen Industriestaatbildung
ein Ende zu bereiten drohte, so daß das Massenproletariat vieler
Länder arbeitslos werden, und das angelegte Kapital sich entwerten
würde. Ein solcher Vorgang hätte sich ohne proletarische Revo-
lution schwerlich abspielen können. Das wäre eine Krise neuer
schlimmer Art gewesen, aus der zu gesunden längere Zeit nötig
gewesen wäre, als die bösen Jahre nach 1873 gewesen sind.
Die Konjunktur in Deutschland und vielen anderen Ländern
war jedenfalls von 1895 — 1913 eine so günstige, daß die Geschäfts-
gewinne trotz der sich verteuernden Rohstoffe und Lebensmittel
hoch waren, viel höher als in den 20 Jahren der vorangehenden
Epoche. Das erklärte sich entweder daraus, daß an Kosten anderer
Art infolge verbesserter Technik und wirtschaftlicher Organisation
mehr gespart werden konnte, als die Preisheraufsetzung der Ma-
terialien ausmachte, oder aus der Lebhaftigkeit des Verkehrs und
der Schnelligkeit des Kapitalumschlages, die die Preise von Halb-
fabrikaten und Fabrikaten hochzuhalten noch zuließen, wobei die
Kreditwirtschaft und der Glaube, daß der Rückschlag noch auf-
zuhalten sei, nicht gering zu veranschlagen waren.
Die Preisgestaltung in einem Lande ist unter den Verhält-
nissen, wie wir sie heute auf der Erde kennen, nur weltwirtschaft-
lich und zugleich nur geschichtlich zu verstehen. Vor 100 Jahrert
beeinflußte der Auslandsmarkt Deutschland viel weniger als 191 3,
hingegen waren damals die Preise ebenso nur aus den Zuständen
der Vergangenheit zu erklären. Eine theoretische Nationalöko-
nomie, die nur aus Angebot und Nachfrage, aus Kosten, Zahlungs-
fähigkeit der Käufer, psychischen Motiven, subjektivem Wert u. a. m,
die Preisgestaltung analysiert, bleibt immer etwas Formales, die
die tatsächlichen Zustände in ihrer Realität, d. h. das Verhältnis
der Preise zueinander, nicht begreifen läßt. Hier bedarf es der
historischen Ergänzung. Eine gegebene wirtschaftende Zeit kann
man, wie überhaupt eine Zeit, vollkommen nur im Werden zur An-
schauung bringen. Daher kann auch die Volkswirtschaftslehre
ohne diesen Standpunkt niemals auskommen, wenn sie die Wirk-
lichkeit erforschen oder Wirklichkeitspolitik betreiben will. Das
schließt selbstverständlich nicht aus, daß dauernde natürliche oder
soziale Notwendigkeiten, so verschieden das wirtschaftliche indi-
viduelle Dasein auch verlaufen mag, die Entwicklung nach oben
oder den Rückgang bedingen oder beiden Schranken ziehen, die
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 19 14. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke, cqx
ebenfalls zu erkennen eine wichtige Aufgabe der allgemeinen
Lehre ist:
Alles entsteht und vergeht nach Gesetz; doch über des Menschen
Leben, den köstlichen Schatz, herrschet ein schwankendes Los.
Das Kaleidoskop ergibt mit jeder Drehung ein neues beson-
deres Bild, das sich ähnlich, aber genau vielleicht niemals wieder-
holt, und doch ist die individuelle Erscheinung an die festen Tat-
sachen der Spiegel, der Vergrößerungsgläser, der Zahl und Art
der durcheinandergewürfelten Stücke gebunden. Wir geraten in
das Uferlose, wenn wir jede Gesetzmäßigkeit der menschlichen
Natur, des Raumes und Standortes in der Volkswirtschaft leugnen.
Daraus folgt allerdings nicht, daß nicht auch falsche Gesetze auf-
gestellt werden können.
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänz-
ungen. Allgemeine Rückblicke. Eine so gewaltige, das
ganze Volk in allen seinen Berufszweigen und sozialen Schichten
erfassende Umwälzung, wie sie sich durch 25 Jahre hindurch voll-
zog, kann nicht ohne engsten und vielseitigen Zusammenhang mit
der Bevölkerungsbewegung verstanden werden : Erstens bot
die rasch wachsende Menschenzahl die geistigen und körperlichen
Kräfte für die neue Güterherstellung und den verstärkten Verkehr,
zweitens blieben das rasche Reichwerden und die Verteilung des
Reichtums und seine örtliche Umgruppierung nicht ohne direkte
und indirekte Einwirkung auf die Psychologie des Sexuallebens,
drittens war die Ernährung des deutschen Volkes mit dessen Wach-
sen teilweise von der Einfuhr ausländischer Lebensmittel abhängig
geworden, imd darauf mußten Industrie und Handel eingestellt
werden.
Die dritte dieser Kausalreihen ist schon erörtert worden,
greift aber auch in die beiden anderen ihrerseits mittelbar ein.
Die ortsanwesende Reichsbevölkerung machte 1890 49,762,
1900 56,046, 1914 67,812 Millionen aus, hat sich im jährlichen
Durchschnitt dieses Zeitraumes um 770000, im Anfang um 521 000,
am Ende um 881 000 vermehrt. In diesen Zahlen findet die zuneh-
mende Wehr-, Steuer- und wirtschaftliche Produktivkraft einen Aus-
druck. Da das Volk mehr erwarb und besser lebte als je zuvor,
war, wie oben mitgeteilt, die Auswanderung sehr zurückgegangen,
andererseits die Zuwanderung aus dem Ausland bedeutend gewor-
den, so daß das Wort Übervölkerung arg verpönt war.
Trotz der glänzenden Ziffern der Volksvermehrung, um die
uns Frankreich und England beneideten, sind die deutschen Be-
völkerungspolitiker seit der Jahrhundertwende in einer schweren
A. Sartoriusv. Waltershausen Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 38
594
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Sorge befangen gewesen. Sie meinten, daß die deutsche Volks-
kraft noch weit mehr hätte zunehmen müssen, wenn nicht der Ge-
burtenrückgang ein so auffallender gewesen wäre. Um diese Klage
zu verstehen, ist es nötig, auf einen längeren Zeitraum zurückzu-
greifen :
Auf 1000 Einwohner kamen:
Jahre
Ehe-
Geborene
Gestorbene
Geburten-
schließungen
einschließl
Totgeborenen
überschuß
1851/1860
7.8
36,8
27,8
9,0
1861/1870
8.5
38,8
28,4
10,3
1871/1880
8,6
40.7
28,8
II.9
1881/1890
7,8
38,2
26,5
1 1,7
1891/1900
8,2
37.3
23,5
13.9
1901/1910
8,0
33,9
19,7
•4,3
Die Eheziffer hat sich nur wenig verändert. Die zunehmende
Ehescheu, die infolge der Bequemlichkeit des Junggesellenlebens,
der überhaupt wachsenden Lebensbedürfnisse, der Zunahme der
direkten Besteuerung des Familieneinkommens, der die Männer ab-
stoßenden Erscheinungen der Weiberemanzipation behauptet wird,
läßt sich in der großen Zahl nicht nachweisen, wenn sie auch einige
Gruppen der Bevölkerung befallen haben mag. Es liegt also kein
Grund vor, die Verheiratungsrate mit Gesetzesmitteln heben zu
wollen, da solche auch Familiengründungen nach sich ziehen könn-
ten, bei denen die wirtschaftliche Grundlage nicht gesichert ist.
Die Geburtenreihe zeigt seit den siebziger Jahren eine ab-
nehmende Tendenz, die seit 1901 recht auffällig wird. In den
einzelnen Teilen des Reiches bestehen übrigens große Verschieden-
heiten. Auf 1000 Frauen im Alter bis zu 50 Jahren kamen ehelich
Geborene :
im
1872
1910/11
Reich
298
201
Preußen
301
209
Bayern
305
22 I
Baden
315
205
Württemberg
334
215
Hessen
285
177
Sachsen
286
156
Hamburg
278
131
Bremen
299
160
Berlin
281
1 1 1
Die letzten vier städtisch industriellen Gebiete zeigen den
stärksten Absturz.
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 191 4. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke, rgr
Die Literatur zur Erklärung ist umfangreich. Einige näher
liegende Ursachen der Geburtenabnahme werden ziemlich allge-
mein anerkannt, doch fehlen sichere Unterlagen über ihre verhält-
nismäßige Bedeutung untereinander.
Eine derselben geht dahin, daß der Rückgang der Kinder-
sterblichkeit für die Geburtenabnahme entscheidend sei. Sei das
Hinsterben groß, so sorge die Natur für eine Wiederauffüllung, sei
sie gering, so sei der Bestand der Art bereits gesichert. Allein
abgesehen davon, daß die Abnahme der Sterblichkeit überhaupt
von der der Geburtenzahl seit 1901 weit übertroffen wird, und
jiicht einzusehen ist, warum langlebige Erwachsene weniger Kin-
der haben sollen, als kurzlebige, bleibt diese Kompensation in das
Dunkel des Waltens einer mystischen Triebkraft gehüllt.
Es wird zweitens darauf hingewiesen, daß infolge des leich-
ten inneren Wanderns und der Demokratisierung der Gesellschaft
die rassenverschiedene Heirat häufiger geworden, und daß diese
Mischung einer starken Nachkommenschaft abträglich sei. Wie-
weit eine solche Tatsache, die für Weiße und Farbige erwiesen ist,
auch für die Rassendifferenz unter den Weißen stimmt, etwa für
die nordische, alpine und Mittelmeerrasse, oder für Germanen
und Slaven oder Juden, bedarf noch der Aufklärung, und im be-
jahenden Falle ist es nicht leicht, zu glauben, daß so entschei-
dende Ausfälle, wie sie vorliegen, auf sie zurückgeführt werden
können.
Ein dritter Grund, der von Ärzten betont wird und viel Zu-
stimmung erfahren hat, erklärt die sinkende Nachkommenschaft
aus verbreiteten Geschlechtskrankheiten, die namentlich in den
großen Städten unter Vermittlung der Prostitution auf die gesun-
den Ehefrauen von ihren Männern übertragen würden. Obwohl
Ärzte aus ihrer Praxis wahrhaft erschreckende Zahlen glaubhaft
gemacht haben, kann doch ein weiterer quantitativer Schluß auf
die ganze Bevölkerung, selbst in den Großstädten, nicht gezogen
werden.
Als eine vierte Ursache, die bei den meisten Forschern lals
die wichtigste gilt, wird die künstliche Unfruchtbarkeit der Ehen
durch Mittel genannt, deren dauernde Anwendung die Sterilität
der Frau überhaupt nach sich ziehen könne. Die psychischen Vor-
aussetzungen solcher Praktiken werden verschieden gedacht: Die
wirtschaftliche Lebensschwierigkeit bei wachsenden Kulturan-
sprüchen, die den „Kinderluxus" nicht gestatte, der Wunsch, die
bestehende Lebenshaltung nicht herabzusetzen, um die gewonnene
soziale Lage zu behaupten, die Bedenklichkeit, sich mit größerer
Familie persönliche Unbequemlichkeiten aufzulegen, die Abneigung
38*
cg6 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
vergnügungssüchtiger Frauen gegen die Monate der Schwanger-
schaft, der Lebensberuf vieler Frauen außerhalb des Hauses, zu
dem das Kinderaufziehen nicht paßt, die Tatsache, daß schon Kin-
der da sind, deren Erziehung bei weiterem Nachwuchs leiden
werde, der Wunsch, das Vermögen, den landwirtschaftlichen Grund-
besitz und die Kapitalrenten nicht unter zu viele Erben zu zer-
splittern.
Ferner wird gesagt, die antikonzeptionellen und abortiven
Unsitten seien zuerst den höheren und besitzenden Klassen be-
kannt gewesen, die schon früher „ihr Sexualleben rationalisiert"
(J. Wolf) hätten, wären dann in den Beamten-, Angestellten- und
Arbeiterstand übertragen worden, wo sie in der Massenbevölkerung
verheerend hätten wirken müssen. Der Herd des Lasters seien die
Großstädte, wo die Verbreitung der Mittel leicht sei und von Ge-
schäftsleuten zu Gewinnzwecken ausgenutzt werde, während das
Land noch relativ gut stehe. Stärker seien protestantische als
katholische Gegenden heimgesucht, wenigstens als solche, in denen
die Geistlichkeit auf die Beichtkinder einen verhindernden Ein-
fluß besitze, stärker physisch und sittlich dekadente Familien als
solche, in denen noch die alte Zucht gewahrt werde.
Ein quantitativer Anhaltspunkt ist ebenfalls für diese Ur-
sachenreihe nicht vorhanden, wenn man sie auch als verbreitet
annehmen darf. Vergleiche mit anderen Ländern, namentlich mit
Frankreich, auch England, Nordamerika und Australien, haben sie
für Deutschland wahrscheinlich gemacht, da sie in jenen Ländern
als stark eingreifend als sicher behauptet wird. Nicht unwahr-
scheinlich ist, daß das ganze Problem nicht einseitig, vielmehr aus
einer Reihe von Umständen zu erklären ist. Zu den angeführten
mögen noch andere hinzukommen. In allen Kulturländern sterben
die herrschenden Rassen aus, wie das die Geschichte von Rom und
Hellas berichtet. So gibt es heute gar manche Familie in Europa,
die eine Nachkommenschaft haben möchte, aber sie nicht haben
kann. Hier liegt eine physische Erschöpfung vor, die man der
übermäßigen Geistes- und Nervenkraftausgabe der vorhergehen-
den Generationen zuschreibt. Fraglich ist auch hier, wie weit man
rverallgemeinern darf.
Der zunehmende Wohlstand ist jedenfalls in der letzten
Spalte der zuerst gegebenen Tabelle bei der sinkenden Sterblichkeit
ausschlaggebend. Alle Altersklassen haben daran ihren Anteil.
Kinder vom i. — 9. Lebensjahre haben um 1909/10 eine um 50 0/0
geminderte Sterbenswahrscheinlichkeit gegen 30 Jahre zuvor, Män-
ner im Alter von 20 — 30 Jahren haben in gleicher Weise 39,2,
Frauen von 30 — 40 38,2 gewonnen. Das sind die glänzendsten
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. egn
Zahlen. Aber auch der geringere Gewinn im späteren Alter ist
noch ein erheblicher, wenn er auch mit ihm schritttweise abnimmt.
Die Ernährung und die Behausung sind besser geworden.
Ferner ist die öffentliche Hygiene auf erweiterter Grundlage ge-
schaffen worden. Die Bekämpfung der Epidemien, der Trunksucht,
der Nahrungsmittelf älscherei, die Einrichtung von Säughngshei-
men, die Ferienkolonien u. a. m., die Arbeiterversicherung sind
vielerorts gelungen. Ein übriges hat die allgemeine Bildung getan,
mit der physiologische und pathologische Belehrung in weitere
Kreise eindrang, und die zu einer rechtzeitigen Herbeiziehung eines
Arztes und zur Befolgung seiner Vorschriften führte.
Wir ersehen aus der Statistik, daß die abnehmende Sterblich-
keit den Geburtenrückgang mehr als kompensiert hat. Wenn dem-
nach Deutschland eine Bevölkerungsvermehrung von 800000 Men-
schen in den letzten Jahren vor dem Kriege gehabt hat, so dürfte
es übereilt sein, zu behaupten, daß wir den französischen sta-
bilen Zuständen mit Windeseile zusteuerten.
Indessen war es berechtigt, über eine günstige Gegenwart die
Gefahren der Zukunft nicht zu vergessen, selbst wenn eine rasche
Bevölkerungszunahme in einem abhängigen Industrielande nicht
erwünscht ist, solange nicht neuer nationaler landwirtschaftlicher
Boden gewonnen wird. Man betonte mit Nachdruck, daß die
Sterblichkeit immer langsamer sinken werde, während der Ge-
burtenrückgang bis zur Bevölkerungsabnahme hintreiben könne.
Es sei ihm daher jetzt schon mit allen Kräften entgegenzutreten.
Eine goldene Mittelstraße, eine mittlere Zunahme könne als ein er-
wünschtes Ziel niemals aufgestellt werden. Denn sie sei in sozialen
Angelegenheiten schwieriger als in individuellen aufrechtzuerhalten.
Der einzelne Gebildete vermöge wohl Maximen gegen sich durch-
zusetzen, wenn er energisch sei, die Masse bestehe aus solchen Ein,-
sichtigen nicht und unterliege der Suggestion des Beispiels, die nur
als Extrem zu wirken pflege. Man glaubte daher vor 191 4 nicht
Unrecht zu haben, wenn man den Feldzug gegen die abnehmende
Geburtenziffer betrieb. Erst wenn wieder eine hohe Auswanderung
heraufkommen sollte, wird man mit dem Wechsel der Anschauung
zu rechnen haben.
Die Kampf maß regeln waren verschieden gedacht worden, je
nachdem man die Beweggründe des Geburtenrückganges bewer-
tete: Belehrung über die gesundheitsschädliche Anwendung der
Präventiv- und Abortivmittel, staatliches Verbot und Aufsicht über
Verkauf und Reklame solcher Gegenstände, entschlossenes Vor-
gehen gegen die Geschlechtskrankheiten. Wie weit die Macht des
Staates auf diesem Gebiete reiche, war streitig. Viele Aufgaben
cg8 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
blieben den Ärzten zu lösen, als von einer Körperschaft, die alle
ihre Mitglieder unter strenge Disziplin zu nehmen habe.
Kurz vor dem Kriege wurde eine Gesetzesvorlage gegen die
Feilhaltung und geschäftliche Anpreisung der verderblichen Mittel
tyom Reichstage erwartet.
Daß daneben der Verminderung der Sterblichkeit, besonders
derjenigen der Säuglinge, noch mehr Aufmerksamkeit zugewandt
werden müsse, ist den Gemeinden, Vereinen und Privaten dringend
empfohlen worden, nicht als eine Angelegenheit zur Unterhaltung
für unbeschäftigte wohltätige Damen, die sich bemerklich machen
wollen, sondern als eine öffentliche Pflicht, die unter der Aufsicht
von sachverständigen Männern geübt werden soll.
Man wird sich indessen nicht verhehlen können, daß die
psychischen Beweggründe des „Zweikindersystems" tief in allge-
meinen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zuständen ge-
wurzelt haben, die das Ergebnis des letzten halben Jahrhunderts
waren, also schließlich nur mit deren Abänderung verschwinden
werden. Wie die Dinge daher lagen, gerieten die Anschauungen
über diese soziale Frage leicht in tiefe Widersprüche hinein. Vieles
mühsam Erreichte wollte man nicht preisgeben, und doch sollten
die Folgen desselben für die Bevölkerungsbewegung fortfallen.
Den Reichtum wollte man weiter vermehren, die ökonomische Kon-
zentration hielt man für produktiv, aber aus den damit gegebenen
Menschenanhäufungen der Großstädte sah man eine zu beseiti-
gende sittliche Verworfenheit emportauchen. Die protestantische
Geistlichkeit verkannte die geschlechtliche Verirrung des Zeitalters
keineswegs, indessen war sie weit entfernt davon, sich die Beein-
flussungsmethode ihrer konfessionellen Gegner anzueignen. Die
Großlandwirte hielten, um die Arbeiterschaft auf dem Lande zu
vermehren, eine Rückwanderung aus der Stadt für erwünscht, sie
mußten aber auch dagegen sein, weil die geschlechtlichen Stadt-
sitten damit auf das Land hinausgetragen wurden.
In diesem Buche ist wiederholt von dem Gegensatz des orga-
nischen und individualistischen Volkstums gesprochen worden. Das
letztere, das das Ziel allen Daseins in dem zufriedenen Wohl- und
Glücksbefinden aller Einzelner gegenwärtig Lebender erblickt, ist
tief in die Gesellschaft eingedrungen, und die Masse hält daran
zähe fest. Die Demokratisierung in Recht, Lebensauffassung und
Sitte ist Quelle und Sammelbecken der Beweggründe zur Rationa-
lisierung des Geschlechtslebens geworden. Das Wort von dem Ge-
burtenstreik der Frauen ist der Idee des Klassenkampfes mit seiner
Forderung des größten Glückes der größten Menge entsprungen.
Die demokratische Arbeiterfamilie mit dem Wunsche nach der Le-
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 19 14. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. cqq
bensweisc des kleinen und mittleren Bürgertums ist der Kinder-
beschränkung besonders günstig. Der Groß- und Kleinbauer, der
Gärtner, der Kleinkaufmann, der Handwerker, der Hausindustrielle
finden in den heranwachsenden Kindern immer mitarbeitende Hilfs-
kräfte, welche Einsicht als Gegenmotiv gegen die Kürzung ihrer
Nachkommenschaft wirkt. In der „aufgeklärten" Lohnarbeiter-
schaft können Mann und Frau ohne Kinder bequem täglich auf Ar-
beit gehen und mit dem reichlichen Einkommen sich abends
großstädtisch amüsieren. Sie verheiraten sich zwar, denn sie
brauchen ja nur so lange zusammenzuleben, als es ihnen gefällt.
Diese von Fr. Engels gepriesene Idealehe ist sicher nicht kinder-
reich. Der viel gelästerte Kapitalismus und der Imperialismus
haben es jedenfalls seit der merkantilistischen Zeit bewiesen, daß
sie auf den nationalen Kinderreichtum besser aufgepaßt haben, als
es die moderne Sozialdemokratie jemals von sich erwarten darf.
Die Städte mit ihrer heutigen Massenbevölkerung sind ein
politisches Ganzes für sich mit eigener Verwaltung und eigenen
Finanzen, wenn auch vom Staate in ihrer Kompetenz der Selbst-
verwaltung abhängig. Auch in der Volkswirtschaft können sie als
eine wirtschaftliche Sonderheit, als ein Organismus für sich aufge-
faßt werden, soweit sie den Verbrauch ihrer Bewohner mit der
eigenen Produktion in Einklang gebracht haben. Das ist ihnen
nur unvollkommen gelungen. Denn Lebensmittel und überwiegend
Rohstoffe zur Verarbeitung werden durchweg von außen zugeführt.
Doch scheinen die Bestrebungen, sich durch eigene Regie mit Fleisch
und Milch und durch vorstädtischen Gartenanbau mit Gemüse zu
versorgen, in der Zunahme begriffen zu sein. In der Kriegszeit
traten sie unverkennbar verstärkt hervor, und man lernte ihren
Wert schätzen.
Wir geben zunächst den Vergleich von zwei Volkszählungen,
um das Wachsen der Städte in der hier zu besprechenden Periode
zu veranschaulichen: (Tabelle s. folgende Seite.)
Neben diesem ungeheueren Anschwellen der Großstädte ist
auch hervorzuheben, daß es um 1900 194 Mittelstädte mit 20 bis
100 000 Einwohnern, 1910 223 gab, in denen jetzt 8677955 Men-
schen lebten. In 48 Städten mit über 100 000 wohnten gleichzeitig
13823348. Die Bevölkerung des Reiches war seit der Jahrhundert-
wende um 15,20/0, die der Mittelstädte um 12,2, die der Städte mit
mehr als 100 000 Einwohnern um 52 angewachsen. Die ländlichen
Gemeinden hatten eine annähernd stillstehende Ziffer, die Klein-
städte erreichten den Reichsdurchschnitt nicht ganz, womit beide
in der Landesbevölkerimg zu einer geringeren Quote geworden
6oo
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914-
Großstädte in Deutschland mit über 200000 Einwohnern
in Tausenden
Städte
1890
1910
Städte
1890
1910
Berlin
1579
2071
Essen
79
295
Hamburg
324
932
Chemnitz
139
287
München
349
595
Stuttgart
140
286
Leipzig
295
588
Magdeburg
202
280
Dresden
277
547
Bremen
126
247
Köln
282
516
Königsberg
162
246
Breslau
335
512
Neukölln
36
237
Frankfurt a. M.
180
415
Stettin
116
236
Düsseldorf
HS
358
Duisburg
59
229
Nürnberg
143
333
Dortmund
90
214
Charlottenburg
77
305
Kiel
69
211
Hannover
164
302
waren. Mehr als ein Drittel der deutschen Gesamtzahl wohnte in
Orten mit über 20000 Einwohnern, mehr als ein Fünftel in solchen
mit 100 000 und mehr.
Die Ursache der städtischen, vor allem der großstädtischen
Bevölkerungs - Konzentration ergibt sich zunächst daraus, daß
Deutschland den Industriestaat mit seiner Massenerzeugung an
Waren seit 1890 verstärkt hervorgekehrt hat. Doch ist dabei nicht
zu übersehen, daß auch der geldmäßig hoch gesetzte Verdienst,
verbunden mit weitgehender persönlicher Freiheit, eine Anzie-
hungskraft der Großstadt ausmacht. Hier ist die Reibung der In-
dividuen unter gegenseitiger Anregung und stetem Wetteifer, die
Schnelligkeit der Gedankenübermittelung, das Beispiel der mit
zähem Willen oder durch Glück Emporgestiegenen etwas, was
mancher Auswärtige gern an sich erleben möchte, und ihn be-
stimmt, in den Strom einzutauchen, der Industrie, Handel und
Verkehr mit immer neuer Energie versorgt. Andere Faktoren, die
mit dem Gesagten zwar zusammenhängen, haben auch eine selb-
ständige Bedeutung bei der städtischen Verdichtung. Gute See-
häfen sind nicht zahlreich. Wenn in den wenigen Handel und
Schiffahrt im Geiste neuzeitlicher Ansprüche gedeihen sollen, so
müssen sich Leute vielerlei Berufs in großen Mengen hier zu-
sammenfinden. Die Eisenbahnen ziehen an ihren Zentralbahn-
höfen viele Tausende zusammen. Das Beamtenheer von Staat und
Stadt ist ferner nicht bloß proportional der Bevölkerimg gewach-
sen, sondern darüber hinaus, da die öffentliche Verwaltung immer
neue Aufgaben, z. T. infolge der Bevölkerungsdichte, wie bei der
Sozialpolitik, hat übernehmen müssen.^ Es schlägt seinen Wohnsitz
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 19 14. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. 60 1
hauptsächlich in der Landes- oder Reichshauptstadt auf. Dazu
kommt die in städtischen Kasernen untergebrachte Armee, die unter
dem Wettrüsten der Völker immer mehr anschwoll. Die städtische
Volksvermehrung glich einer Schraube ohne Ende. Je mehr pro-
duktiv tätige Personen da waren, um so mehr mußten andere her-
anziehen, um für den unmittelbaren Verbrauch, für Luxus, Ver-
gnügen, Unterhaltimg jener zu sorgen. Da diese Helfer selbst le-
ben wollen, müssen die produktiven im großen arbeitenden Ge-
werbe von neuem mehr Arbeiter in sich aufnehmen.
Die typische Sonderart der verschiedenen Großstädter lag
noch zur Zeit der Reichsgründung unverkennbar vor. Der Ham-
burger, Leipziger, Frankfurter, Münchener konnten nicht leicht
verwechselt werden. Umgeben von Sitte und Dialekt zeigte der
Durchschnitt ihres Tuns und Lassens feste Form und gab ihrem
Dasein den Ausdruck von etwas Vollständigem, das sich in Humor
und Witz, Heiterkeit und Unbefangenheit kundgab. Der Macht
der bodenständigen Tradition unterwarfen sich die Zugezogenen,
solange ihre Zahl nicht groß war und überwiegend aus der nähe-
ren Umgebung der Stadt stammte. In den letzten 30 Jahren haben
die Großstädter an diesen ihren Eigenschaften stark eingebüßt.
Die Zählung von 1900 stellte im Durchschnitt ihre Stadtgebürtig-
keit auf 43,30/0 fest. München kannte nur 36,1, Dresden 38,5,
Berlin 40,9. Die zusammenziehenden Fremdlinge werden dann
durch Heirat untereinander oder mit den Einheimischen zu einer
Mischrasse. Die alte örtliche Inzucht, die dem Typus Festigkeit
verlieh, weicht dem angeblichen Menschenrecht nach Laune und
ungeprüfter Neigung, sich die Gattin zu suchen, falls es nicht
dem Heiratsmarkt der Zeitungsannonce preisgegeben worden ist.
Der Mensch des Rassenchaos sieht jeden anderen als seines-
gleichen an, er ist demokratisch von Natur. Er liest dieselbe
Presse wie sein Nachbar in der Elektrischen, mit dem er nicht
viel Gedanken auszutauschen hat, sondern deren Identität mit den
seinigen er nur feststellt, um befriedigt zu sein. In der großen
Masse leben die einzelnen nebeneinander, nicht miteinander. Idea-
lismus gilt ihr als eine Scheuklappe, die die Wirklichkeiten ver-
deckt. Sich auszuleben, ist ihr die Hauptsache. Sie ist leicht lenk-
bar von demjenigen, der ihren Instinkten entgegenkommt. Das
wissen die politischen Drahtzieher, die nach Bedarf anreizen und
abpfeifen, sehr wohl. Die wirtschaftlichen Folgen dieser massen-
haftigen psychischen Gleichartigkeit treten in der Gleichartigkeit
des Verbrauchs hervor. Überall sieht man Paletots und Hüte von
gleicher Farbe und Form auf der Straße, in den Wohnungen
gleiche Möbel, in den Restaurants gleiche Diners zu festen Preisen.
6o2 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Den Produzenten wird so die Arbeit erleichtert, die typische Ware
wird rentabel hergestellt.
Doch wäre es verkehrt, anzunehmen, daß es in der Großstadt
keine soziale Differenzierung gäbe. Die kleinste einflußreichste
Klasse ist die des großen Besitzes an Unternehmungen, Häusern,
Geldkapitalien und Renten. Durch die Presse versteht sie die öf-
fentliche Meinung plutokratisch sich dienstbar zu machen. Die
zweite geht schon in die Breite und setzt sich aus hochbezahlten,
gelernten Arbeitern, Handwerkern, Kleinkauf leuten, Privatange-
stellten, unteren und mittleren Staats- und Gemeindebeamten
und ähnlichen Leuten zusammen. Sie hat etwas zu verteidigen,
haßt die Anarchie und ruft nach der Polizei, wenn sie aus ihrer
Ruhe von der dritten aufgescheucht wird. Diese ist das eigentliche
Proletariat der Ungelernten oder noch nicht angelernten Jugend-
lichen mit einem Anhang des arbeitsscheuen, verbrecherischen Ge-
sindels. Sind so die sozialen Abstufungen gegeben, so herrscht
doch in jeder das Prinzip der Gleichheit vor und gleich sind alle
im Mangel an Bodenständigkeit und gefestigter Sitte.
Die städtische Gemeindeverwaltung hat keinen leichten Stand.
Den Hut in der Hand vor dem Modernismus und dem ochlokra-
tischen Begehren steckt sie in steten Budgetschwierigkeiten. Sie
gibt dem Drängen jeder sozialpolitischen Richtung nach, und die
Grenze der finanziellen Notwendigkeit stemmt sich ihm als Kritik
tiicht entgegen.
Der Etat zeigt die Vielartigkeit der öffentlichen Bedürfnisse:
Ausgaben für Schule, Armenpflege, Polizei, Beleuchtung, Wasser,
Kanalisation, Abfuhrwesen, Straßenbau, Straßensprengung und
-reinigiing, Wohnungsbau, Feuerlöschwesen, Schlachthöfe, Volks-
bäder, Straßenbahnen, öffentliche Spielplätze, Wald- und Wiesen-
flächen, Theater — und den aus alledem erwachsenen Zinsendienst
für aufgenommene Schulden. Die Gemeinde ist mehr als der Staat
ein wirtschaftlicher Verband für die unmittelbaren Bedürfnisse
seiner Einwohner. Die Einzelproduktion braucht Kraftquellen, die
sich der kleine und der mittlere Betrieb nicht immer selbst be-
schaffen können. Von 87 um 1910 untersuchten Städten hatten 59
Gas-, 58 elektrische Werke in eigener Regie.
Der private Verkehr ist an erster Stelle auf die spekulative
Beschaffung der Lebensmittel durch die Händler angewiesen, die
um so mehr zu leisten hat, als die hauswirtschaftliche Eigenversor-
gung immer mehr eingeschrumpft ist. Die Städte stehen bezüglich
der industriellen, auch die Nahrungsrohstoffe verarbeitenden Tä-
tigkeit nicht gleich. Manche, wie z. B. Chemnitz, Krefeld, Essen
sind höchst einseitige Industriezentren, so daß auch der Verbrauch
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. 503
der meisten gewerblichen Gegenstände aus der Ferne gedeckt
werden muß. Besser daran sind die vielseitigen, wie Berlin oder
München, oder die Großhandelsstädte, wie Hamburg, Bremen,
Leipzig, wo auch die Verkäufer im kleinen stets unter dem Kon-
kurrenzdruck durch die Großen stehen, die sich ihrer angestellten
Vertreiber bedienen.
Die Gemeinde hat ihre besonderen Aufgaben für die Versor-
gung der Familie zu erfüllen, wenn die Gefahr der privatmonopo-
listischen Ausbeutung vorhanden ist. Von 91 danach durchforsch-
ten Städten hatten um 1910 41 Verträge mit großen Kohlenfirmen
abgeschlossen. Öffentlicher Fischverkauf wurde vielfach übernom-
men. Die Aufsicht über die Lebensmittelqualität wurde um so
strenger gehandhabt, je weniger die Hausfrauen den Einkauf ver-
standen, und die Gefahr des Massenbetruges vorlag. Die Stadt
Ulm hatte mit einer Genossenschaft für rationelle Schweinezucht
einen langfristigen Lieferungsvertrag geschlossen, durch den sie
auf die Preise regelnd einzuwirken hoffte. Posen führte mit Er-
folg Wildlieferungen durch Verträge herbei. Dieselbe Stadt besaß
eine sogenannte städtische Milchküche, in der gelieferte Milch be-
handelt, und von der sie an die Verbraucher abgegeben wurde.
Die Stadt ist ferner Arbeitgeber im großen. Sie läßt Ge-
bäude für öffentliche und Vermietungszwecke aufführen, Straßen,
Friedhöfe, Kanalisationen, Wassertürme, Lagerplätze, Häfen, Kais
anlegen und erhalten. Die Hospitäler wurden modernisiert, auch
durch Wöchnerinnen- und Säuglingsheime ergänzt. Sozialpolitische
Erwägungen sind nicht bloß mitbestimmend bei dem Zweck solcher
Anlagen, sie beherrschen auch das Verhältnis des Arbeitnehmers
zum -geber. Das entspricht dem Geist der Verwaltung, die zu der
Armenpflege den Arbeitsnachweis hinzufügte, Sonntagsruhe, Wo-
chen- und Tagearbeit unter ihre Aufsicht nahm, arbeitslosen Wil-
ligen Beschäftigung bei gutem Lohn gewährte, den Arbeitern bei
öffentlichen Transportmitteln Ermäßigungen zuteil werden ließ,
bei Volksvorstellungen billige Einlaßkarten in die kommunalen
Theater abgab und den ortsangehörigen Handwerkern bei Sub-
missionen entgegenkam, somit die billigere auswärtige Konkurrenz
ablehnte.
Das alles kostet Geld, viel Geld. Man hat berechnet, daß der
Finanzbedarf aller kommunalen Körperschaften 1907 3130 Mil-
lionen Mark betragen hat, das waren 3/^ aller damaligen Reichs-
und einzelstaatlichen Ausgaben. In demselben Jahre hatten die Ge-
meinden eine Schuldenlast von 6,5 Milliarden. Wie rasch sie sich
vermehrt hat, erfahren wir daraus, daß die Städte mit über 100 000
5o4 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Einwohnern sie 1881 auf 771,8, 1907 auf 5295,7 Millionen Mark
■feststellten.
Die städtischen Einnahmen fließen zunächst aus den Erwerbs-
einkünften, Wasser, Gas, Elektrizität, Straßenbahnen. Die Vergü-
tungen sind teilweise schon so hoch, daß man sie als indirekte
Verbrauchsbesteuerung angesprochen hat. Die eigentlichen Ver-
brauchsabgaben, etwa von Lizenzen und Oktroi, auch in der Form
der Miet- und der Hundesteuer, treten in der neueren Zeit den
Schatzimgen, d. h. den Zuschlägen zu den direkten Einkommen-
und Vermögensteuern, und den Ertragsteuern, die in Preußen zu-
erst, dann auch in anderen Staaten ihr staatliches Wesen ganz oder
teilweise verloren haben, gegenüber zurück. Neuzeitliche Abgaben
sind die Wertzuwachs- und die Steuer vom gemeinen Wert bei
Grundstücken und die Lustbarkeitsabgabe. Zu allem treten noch
die Gebühren der Kanalisation, der Straßenreinigung, der Müll-
abfuhr, der Baupolizei usw. hinzu. Alle größeren Städte besitzen
Sparkassen — beiläufig bemerkt, eine deutsche Erfindung, die
1767 im badischen Bezirk Bonndorf und 1778 in Hamburg prak-
tisch wurde — , die an erster Stelle dazu dienen, die Wirtschaftlich-
keit und den Sparsinn zu fördern, auch geringe Einnahmen über
die Verwaltungskosten hinaus bringen. Ihre Passivgeschäfte sind
so geartet, daß sie den kleinen Sparern dienen, und daß sie nicht
Depositenkassen für Kapitalisten werden wollen. Ihre Aktivge-
schäfte, Hypothekenanlagen, Effektenkäufe, Wechsel, Lombardfor-
derungen und andere Darlehen tragen überwiegend einen örtlichen
Charakter. Die Sparkasse gliedert sich in die Gemeinde ein, in-
dem sie die Gelder, die sie der Gemeindebevölkerung entnimmt,
dieser im Wege des Kredits wieder zuführt.
Politisch sind die Städte in Reich und Einzelstaat unvollkom-
men vertreten. Es gibt nicht wenige, die einzelne Bundesstaaten
an Volkszahl übertreffen. Hamburg überragt die beiden Mecklen-
burg zusammen, jede Halbmillionenstadt Oldenburg oder Braun-
schweig, jede Stadt von 50000 Einwohnern Schaumburg-Lippe. Im
Bimdesrat hat die Stadt so wenig zu sagen wie die Industrieprovinz,
dasselbe gilt im Reichstag. In den ersten Kammern der Bundes-
staaten werden Bürgermeister einiger Städte zwar gehört, aber in
den wichtigeren zweiten können sie ihre Wünsche mit Sicherheit
nicht zur Geltimg bringen, obwohl große Quoten des Volksvermö-
gens durch sie vertreten werden.
Den reinen städtischen Bodenbesitz — unbebaut oder mit
Grundmauern ohne Gebäude — veranschlagt A. Steinmann-
Bucher für 191 4 auf 50 Milliarden Mark, auf Vs des deutschen
Volksvermögens. Die größte Wertsteigerung des Bodens hat sich
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 19 14. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke 505
in den letzten 25 Jahren vollzogen, ein Ausdruck der Entwicklung
der Volkswirtschaft in dieser Periode. Nach J. Wolf war der
Boden wert Berlins 1830 17 Millionen Mark, 191 2 5 Milliarden, 3/^
des Ganzen geht auf die Zeit nach 1890 zurück. P, Voigt schätzt
den Bodenwert Charlottenburgs 1865 auf 6, 1886 auf 45, 1897 auf
300 Millionen Mark; 191 1 ist er 1500. Örtlich hat sich die Boden-
wertsteigerung sehr verschieden vollzogen, anders in den GeschäftSr
als in den Wohnstraßen, anders an den Verkehrsmittelpunkten,
z.B. den Bahnhöfen, als in den entfernten Arbeiterquartieren. 1881
kostete der Quadratmeter unter den Linden 480, in der Leipziger
Straße 340, der Friedrichstraße in der Nähe des Bahnhofs gleichen
Namens 240 Mark, 1910 sind die entsprechenden Zahlen 2250,
2220, 2250. Von den Wohnstraßen brachte der Hansaplatz, die
Gegend Moabits 30 und 278, die Gegend des Humboldthains 12
bis 30 und 108 — 154, die Gegend des Görlitzer Bahnhofes 30 — 60
und 315. Wo Raum war, den Umkreis auszudehnen, da ist es ge-
schehen, zugleich wurde die dritte Dimension ausgenutzt. Das
Hochbauen wurde durch die ökonomische Notwendigkeit geboten,
das teuere Bodenkapital auszunutzen. Wo der Quadratmeter mehr
als 30 Mark kostete, nahm man an, daß sich der Bau von Einl-
familienhäusern für wenig Bemittelte nicht mehr ausführen ließ.
Die Stadterweiterung erwies sich überall als eine höchst wich-
tige kommunale Angelegenheit. So viel seit 1890 in Deutschland
gebaut worden ist — wer nach 20 Jahren eine Stadt besuchte, die
er seitdem nicht gesehen hatte, fand ein gänzlich verändertes
Stadtbild vor — , fast durchweg bestand ein Mangel an Wohnungen,
der bei den kleinen am schärfsten hervortrat. Die Wohnungsfrage
trägt daher ein zweifaches Gepräge. Sie ist eine allgemeine, inso-
fern alle Wohnungen, eine spezielle, insofern diejenigen der klei-
nen Mieter, insbesondere die der Arbeiter, davon betroffen werden.
Die LTrsache des Fehlens an Wohnungen überhaupt liegt an erster
Stelle in dem rapiden Wachsen der städtischen Bevölkerung. Ihm
gegenüber steht der beschränkte Bodenraum für Wohnungen, da
nur der geringe nutzbar gemacht werden kann, der von den Mittel-
pimkten des gewerblichen, kommerziellen, politischen und sonsti-
gen städtischen Lebens nicht gar zu entfernt ist. Er wird zwar
durch die städtischen Bahnen erweitert. Aber es dauert immer
Zeit, bis es geschehen ist, ebenso wie das Hausbauen sich nicht so
rasch vollzieht, als der Zustrom von Menschen von außen her an-
schwillt. Denn das ist sowohl für den Wohnungsmangel, als auch
für die hohen Mietpreise entscheidend, daß die Begehr dem Ange-
bot immer vorauslief.
6o6 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
Zu den sekundären Ursachen der allgemeinen Wohnungsnot
gehört die Spekulation der Terraingesellschaften, die mit der Be-
bauung wartet, bis die Verkäufe guten Gewinn sichern, oder auch
gelegentlich die Verwaltung der Städte selbst, die für städtische
Gebäude, Bahnhöfe, Docks, Verschönerungen, Straßenerweite-
rungen, Plätze, Parks Boden unter Abbruch oder in neu zu er-
schließenden Gegenden in Anspruch nimmt. Wenn auch für diese
Ausscheidung des Wohnhausbodens genügende Gründe vorlagen,
so konnte doch ein Bebauungsplan schwerlich gerechtfertigt wer-
den, der übertrieben breite Straßen in den Vororten guthieß und
damit den Nutzboden schmälerte. Da für den Hausbau nicht bloß
der Boden und sein Wert, sondern auch die Materialkosten und
die Löhne der Bauarbeiter in Frage stehen, so bedeutete die stei-
gende Verteuerung hieran eine Erschwerung oder Stockung der
Bautätigkeit. Wie extrem diese Umstände hindernd wirken kön-
nen, haben wir nach dem Weltkriege gesehen. Aber auch schon
vor 1914 waren sie nicht zu unterschätzen.
Daß die kleinen Wohnungen noch ihre besonderen Ursachen
des Mangels und der Teuerung besitzen, ergibt sich sowohl dar-
aus, daß hier die Konkurrenz der Suchenden am größten ist, weil
sie es sind, die hauptsächlich zuwandern, als auch aus dem überall
nachgewiesenen psychologischen Motiv, daß die Vermietung an
kleine Leute ein wenig angenehmes Geschäft ist. Ausfälle an Mieten
sind nicht selten, Austreibungen laden dem Hausbesitzer das Odium
des Blutsaugers auf, und die Verhandlungen mit ungebildeten Leu-
ten oder drohenden Sozialdemokraten sind zeitraubend und ab-
stoßend. Die Wohnungen mit zwei heizbaren Zimmern sind sehr
gesucht. Nach dem Kriege zählte man in Charlottenburg 80000
Wohnungen, darunter nur 43 000 solche Kleinwohnungen, in
Schöneberg waren die Zahlen 47 und 26000, in Steglitz 17 und
8000.
Das Ergebnis des Wohnungsmangels war die Verdichtung der
Menschenmenge auf den ausgenutzten Raum. Um 1900 kamen
z. B. auf ein bewohntes Haus in Schöneberg 67,1, Rixdorf 57,8,
Charlottenburg 51,5, Berlin 47,7 Personen und 1905 entsprechend
68,1, 59,5, 55,3, 50,4. Auch Halle, Magdeburg, Cassel, Dortmund,
Kiel, Mannheim, Bremen zeigen einen ähnlichen nachweisbaren
Vorgang, der teils auf den zunehmenden Bau von Mietskasernen,
teils auf ein engeres Zusammenrücken in den vorhandenen sonsti-
gen Stockwerkshäusern zurückgeführt wird. Die gesundheitlichen
und sittlichen Bedenken dieses Zusammengepferchtseins ^vurden
immer wieder hervorgehoben, wofür auch die Mieter gelegentlich
mitverantwortlich gemacht wurden, die von ihrem Einkommen so
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. 5o""
wenig wie möglich hergeben wollen, um für minder wichtige Aus-
gaben Geld verfügbar zu halten. Das Eingreifen einer zielbe-
wußten Sozialpolitik des Staates und der Gemeinde ist daher auf
der Tagesordnung der Gesetzgeber geblieben.
Als Ideal wird ziemlich allgemein hingestellt, daß die groß-
städtische Übervölkerung in die Vororte bzw. Villenstadtteile abge-
leitet wird, in Ein- oder auch daneben Zweifamilienhäuser mit
etwas Garten, was geeignete Zufahrtgelegenheit mit Stadtbahnen
zur Seite haben muß. Zahlreiche Ansätze sind gemacht worden.
Der Erfolg konnte indessen nicht ausreichen, weil die Zunahme
der städtischen Bevölkerung allen solchen Anstrengungen voraus-
eilte. Ins Praktische gesetzt wurden dieselben durch die Bebau-
ungspläne und die Baupolizei der Gemeinden, die Größe, Stock-
werkbau und hygienische Bauweise vorschrieb, durch die Staats-
verwaltungen mit der Aufführung von Dienstwohnungen für Post-
und Eisenbahnbeamte, durch die kommunale Unterstützung von
Baugesellschaften, deren man 191 2 1200 zählte, oder Gartenstadt-
gesellschaften und durch andere gemeinnützige Bautätigkeit von
Privaten, Vereinen, Stiftungen. Obwohl man berechnet hat, daß
um 191 3 die Baugenossenschaften und Gartenbaugesellschaften nur
für 11/2^/0 des Wohnungsbedarfes der wachsenden Bevölkerung aus-
gereicht haben, so war doch damit dem spekulativen Unternehmer-
tum eine Konkurrenz erwachsen, die etwas regulierend auf die
Mietpreise eingewirkt hat. Die Gemeinden haben häufig Terrain
erworben, um die wachsende Boden re-^^^ dem Privatkapital zu
entziehen, und der Anteil an der Gesamtfläche der Stadt ist in
einigen recht bedeutend geworden, so in Freiburg i. B., Augs-
burg, Koblenz, Frankfurt a. M., Stettin, Ulm, die über 50 0/0 der-
selben besaßen. Wo eine Eingemeindung der Vororte nicht zu-
stande kam, wurden auch „Zweckverbände" gebildet, die die Woh-
nungsfürsorgeübernahmen. Bei der Abgabe von Boden an Baulustige
sind die Gemeinden verschieden vorgegangen, sei es, daß sie ver-
kauft haben, z. B. in Mülhausen, oder ein Wiederkaufsrecht sich
vorbedangen, wie in Ulm, oder daß sie Häuser gebaut und ver-
mietet haben, wie in Freiburg, oder daß sie von dem Erbbaurecht
Gebrauch machten, wie in Straßburg.
Planmäßig in einem Guß hergestellte Gartenstädte hat zuerst
Th. Fritsch empfohlen, allerdings ohne ein praktisches Ergebnis
zu erzielen, als eine Verbindung von gesundheitlichen und schön-
heitlichen Aufgaben mit wirtschaftlichen, die sich in besonderen
Zonen der Ansiedelung zu erfüllen haben. Als aus England erfolg-
reiche Versuche bekannt wurden, ging man auch in Deutschland
zur Tat über und schuf gleichzeitig, je nach Zweck und Recht, sehr
6o8 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
verschiedene Typen in der Nähe von nord- und süddeutschen
Städten. Die Obstbaukolonie Eden bei Oranienburg ist eine Ge-
nossenschaft m. b. H., mit Unterstützung der Gemeinde errichtet,
die Gartenstadt Hellerau eine Musik- und Industriestadt, Frohnau
eine Villenkolonie in Reinkultur als Aktiengesellschaft mit gemein-
nütziger Ausgestaltung, Bedburg eine Heimstätte für Geisteskranke.
Die Anlagen bei Nürnberg, Karlsruhe, Merseburg, Mannheim un-
terstehen in einiger Hinsicht den gleich zu nennenden bodenrefor-
matorischen Gesichtspunkten.
Zur Verstärkung von jederlei Ausbau tritt die Citybildung,
d. h. die allmähliche Umwandlung der inneren alten Teile der
Großstadt von Wohn- in reine Geschäfts- und Verkehrsquartiere,
hinzu. Geschäfts-, Kontor-, Verkaufshäuser haben nur noch Wohn-
räume für Pförtner und Aufsichtsleute zum Zweck des Nacht-
dienstes. Eine solche Verschiebung der Bevölkerung ist von 1890
bis 1910 in einem Fortzug bis zu der Hälfte aus der geschäftstäti-
gen Binnenstadt ermittelt worden, am auffallendsten in Bremen,
Chemnitz, Halle, Hamburg, Leipzig, Berlin und Stuttgart. Das
Ergebnis dieses arbeitsteilig gebotenen Vorganges ist für die Woh-
nungspreise eine Verteuerung in allen jenen Stadt gegenden, die
sich kreisförmig um den Geschäftsmittelpunkt lagern. Allabend-
lich leeren sich in Berlin 250000 Schreibstuben, deren Insassen
meist in die Vororte hinausfahren.
Die Forderung des weiteren Ausbaues wird immer von
neuem erhoben trotz der manchen Bedenken, die auch hier nicht
fehlen. Ihr im großen nachzugeben, heißt der Landwirtschaft fühl-
bar Boden entziehen. Zudem wird die Anziehungskraft der Städte
verstärkt, je besser die Wohnungsverhältnisse werden. Solche Ein-
wendungen werden von den Stadtverwaltungen gering geachtet,
denn die Verhältnisse des sozialen Lebens haben sich als politische
Notwendigkeiten durchgesetzt, und es blieb nichts als die Mahnung
übrig, mit dem vorhandenen Boden nicht zu verschwenderisch um-
zugehen.
Die städtische Bodenrente ist von politischen Parteien und
noch mehr von den zu diesem Zweck gegründeten Vereinen als
unverdienter Wertzuwachs des Bodeneigentümers heftig angegriffen
worden.
Als ländliche ist die Rente seit Ricardo ein Objekt der
wissenschaftlichen Forschung gewesen. Bei den zunehmenden Ge-
treidepreisen in Deutschland von 1840 — 1875 fanden die Angriffe
gegen sie auch in der Praxis Befürworter, die hohe Grundsteuern
als gerechtfertigt erachteten. Als dann die Agrarkrise heraufkam,
wurde umgekehrt die Steuerentlastung für notwendig erklärt und
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. 5oq
auch in den Einzelstaaten durchgesetzt. Die Freihändler stützten
sich gelegentlich auf „die Ungerechtigkeit" der Bodenwertsteige-
rungen durch erhöhte Getreidepreise, um die Zölle auf landwirt-
schaftliche Erzeugnisse zu bekämpfen.
Um so mehr fand die Lehre des Monopol- imd Differential-
einkommens auf den großstädtischen Boden Anwendung, als die
Städte so rasch anwuchsen. 1886 wurde „Die Landliga" gegründet
mit dem unklaren Ziel der Bodenverstaatlichung, an ihre Stelle
trat 1888 „Der deutsche Bund für Bodenbesitzreform", bei dem
eine so weitgehende Forderung für die Gegenwart zurückgestellt
wurde, und statt dessen „als erster sofort zu verwirklichender
Schritt die Wegsteuerung des Zuwachses der städtischen Grund-
renteneinkommen, und zwar in allmählicher, friedlicher Durchfüh-
rung" anempfohlen wurde. 10 Jahre später wurde „Der Bund deut-
scher Bodenreformer" errichtet, der unter seinem praktisch tätigen
und wissenschaftlich regen Vorsitzenden A. Damaschke eine be-
deutende Mitgliedschaft gewann. Gegenorganisationen wurden von
den bedrohten Bodenbesitzern geschaffen. Haus- und Grundbe-
sitzervereine sahen sich in ihren wohlerworbenen Rechten geschä-
digt und traten den Beweis an, daß ihre Mitglieder diejenigen ge-
wesen seien, die der zunehmenden Bevölkerung erst die Möglich-
keit zu wohnen eröffnet hätten. Die Terraingesellschaften schlös-
sen sich ihnen an, obwohl ihre spekulativen Ausschreitungen keines-
wegs von allen Grundbesitzern gutgeheißen wurden, da diese selbst
darunter zu leiden gehabt hatten.
Ein Erfolg ist den Bodenreformern nicht ausgeblieben. Wenn
in Hunderten von Gemeinden eine Wertzuwachssteuer und die
Steuer nach dem gemeinen Wert bei unbebauten auf den Verkauf
harrenden Grundstücken eingeführt, wenn die Sicherung der For-
derungen der Bauhandwerker gegenüber bankerotten Bodenspeku-
lanten und Bauunternehmern durchgesetzt wurde, wenn die Städte
Boden erwarben, oder das Erbbaurecht gegen Gesellschaften oder
Private zur Anwendung brachten, so hat daran der genannte Bund
seinen werbenden Anteil gehabt.
Daß diese Politik einen zweischneidigen Charakter trägt, läßt
sich nicht verkennen. Das Nachlassen der Bodenspekulation und
der privaten Bautätigkeit werden als ihr Ergebnis behauptet, was
für einige Städte stimmen wird. Der Handel mit städtischem
Grund ist riskanter geworden, weil der Gewinn beschnitten wurde,
aber der Verlust mindestens derselbe blieb. Wenn nach 30 oder
35 Jahren der Boden samt dem Bau an die Stadt fällt, so kann sich
die Kapitalanlage in Häusern nur lohnen, wenn stark amortisiert
A. Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 39
5io VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
wird. Das heißt, die Mietpreise müssen in die Höhe gesetzt wer-
den, und damit wird die Vermietung kleiner werdender Wohnungen
vieranlaßt.
Die ultima ratio des starken Eingriffes in das städtische Pri-
vateigentum und dessen Bewirtschaftung ist, daß die Stadt selbst
baut, d. h. ein Geschäft übernimmt, zu dem sie nicht sonderlijch
tauglich ist. Die öffentliche Verschuldung nimmt dann zu, und
wenn die Steuerschraube nicht weiter anzudrehen ist, müssen die
Mietpreise der kommunalen Häuser erhöht werden.
In einer sozialistisch durchtränkten Zeit wird die produktive
Kraft, die dem Privateigentum innewohnt, regelmäßig unterschätzt.
Die nationalökonomische und sozialpolitische Theorie der
Bodenreformer ist rückständig geblieben. Sie geht auf den Ameri-
kaner Henry George zurück, der in Arbeit und mobilem Kapi-
tal zwei einträchtige Brüder erblickte, die gegen den Bodenmono-
polisten Front zu machen haben. Immer taucht bei der Agitation
der Mann auf, der das Land billig erwirbt, sich 20 Jahre nicht
rührt und es dann für Millionen verkauft. Von dem unglücklichen
Spekulanten erfährt man nichts, und ob der Ausbau der Städte
ohne Aussicht auf steigende Grundrente so rasch stattgefunden
hätte, wird nur flüchtig untersucht.
Der einzelne soll den Wertzuwachs nicht verdient haben, weil
er ihn nicht geschaffen hat. Daraus ist zu schließen, daß er dem
Erzeuger zusteht. Aber wer ist dieser nun? Wenn eine uner-
schlossene Gegend von einer Privatbahn durchzogen wird, so stei-
gen die Bodenwerte an ihrer Seite, und nach der Billigkeits-
theorie müßte die Bahn Anspruch an sie haben, wie denn auch
nordamerikanische Bahnen von der Bundesverwaltung mit Land-
schenkungen unterstützt worden sind. Wenn Hamburg und Bremen
den Wert von Speichern und Kontorhäusern wachsen sehen, so
hängt dies mit der Warenaus- und -einfuhr zusammen, ^die aus
der Entwicklung der Weltwirtschaft, an der alle Länder der Erde
beteiligt sind, folgen. Die rheinische Industrie hat durch den An-
schluß an das Meer gewaltig verdient. Bodenwertsteigerungen in
Deutschland stehen im Zusammenhang mit dem Aufschwung von
Rotterdam, und Antwerpen. Der Theorie nach hätten auch diese
Städte etwas von dem deutschen Wertzuwachs zu beanspruchen.
Die Lehre der Bodenreform bewegt sich in Allgemeinheiten, weil
sie die vielgestaltige Wirksamkeit der produktiven Kräfte für die
Hebung des Bodenwertes nicht in einwandfreie selbständige Teile
zu zerlegen vermag. Welt- und Volkswirtschaft, Staat, Provinzen,
Gemeinden, einzelne Betriebe und bodenbesitzende Individuen ha-
ben gemeinsam den Wertzuwachs geschaffen, der sich übrigens
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. 5ii
auch bei dem beweglichen Vermögen zeigt, wenn er auch hier bei
seinen Schwankungen und Verschleierungen nicht so leicht sicht-
bar wird, so daß eine spezielle soziale Gegnerschaft gegen ihn
nicht begründet werden konnte.
Um städtische und staatliche Bodensteuern zu rechtfertigen,
reicht die Belastung nach der Leistungsfähigkeit aus, sei es bei
Vermögens- und Erbschaftssteuern, sei es bei speziellen Bodenab-
gaben, die als Ergänzung dienen sollen, um die Werte zu erfassen,
die mit den regelmäßigen Abgaben nicht ausreichend getroffen
werden können, Die Sozialpolitik in der Wohnungsfrage hat Mittel
und Wege genug in der Anlage und Durchführung des Stadt-
planes, in der Baupolizei, in dem Genossenschafts- und Vereins-
wesen, in gemeinnützigen Gesellschaften mancherlei Art, um zu be-
friedigenden Ergebnissen zu gelangen. Es heißt das Kind mit dem
Bade ausschütten, wenn man bei einer an sich gerechtfertigten
Politik den privaten Unternehmungsgeist bindet, der in den letzten
50 Jahren so außerordentliches für den deutschen Stadtbau getan
hat. Man wird ihn auch in Zukunft nicht entbehren können und
sich nicht über ihn zu beklagen haben, wenn man ihn unter öffent-
licher, aber wohldurchdachter Kontrolle walten läßt.
Die großstädtischen Finanzen sind es nicht allein, die seit
der Gründung des Reiches, und vorne^-"^''irh in dem letzten Viertel-
jahrhundert vor dem Kriege, ein so stürmisches Hinaufschnellen
erfahren haben. Die des Reiches stehen nicht viel anders da als
jene, die einzelstaatlichen haben sich ihnen gegenüber wohl zurück-
gehalten, wiesen aber doch auch ansehnliche Summen auf. Berück-
sichtigen wir, daß die Bevölkerung Deutschlands, der Reichtum
und die Bedürfnissteigerung in allen Klassen so sehr zugenommen
haben, so ist die Erhöhung des Finanzbedarfes an sich leicht ver-
ständlich, es ergibt sich indessen, daß sie einen relativ weiteren
Umfang angenommen hat, der noch besonders zu erklären ist. Es
ist erstens die Rüstungsausgabe des Reichsetats, zu der das von
Feinden rings umgebene Deutschland gezwungen, und die durch
die Fortschritte der Kriegstechnik noch auffällig gesteigert wurde,
zweitens die intensivere Staatstätigkeit, die die wachsende soziale
Differenzierung des Volkes und die größere Schutzbedürftigkeit
der einzelnen nötig machten, welche das Anschwellen der Etats-
ziffem hervorgebracht haben.
Die fortdauernden Ausgaben des Reiches betrugen ohne die-
jenigen der Erwerbseinkünfte und der Überweisungen an die Ein-
zelstaaten 1888 506,8 und 1912 1501,9 Millionen Mark, ein durch-
schnittliches jährliches Mehr von 41,5 in einer Periode, in der die
39*
6l2 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Reichsbevölkerung um 470/0 zunahm. Dazu kommen noch die ein-
maligen und außerordentlichen Ausgaben, die sich durchschnittr
lieh auf 385 Millionen Mark beziffert haben. Von den fortlaufenden
Ausgaben kamen 1888 82,30/0, 191 2 640/0 auf die Landesverteidi-
gung, von den einmaligen und außerordentlichen 620/0 im letzteren
Jahre. Vermehrt wurden sie noch dadurch, daß der Hauptbetrag
der Pensionsausgaben und Zuschüsse zum Invalidenfonds und min-
destens die Hälfte der Zinsen der Reichsschuld ihnen zuzurechnen
sind. Seit 1898 sind die Kosten der Flotte schneller als die des
Landheeres gestiegen.
Es ist unsere Aufgabe hier nicht, auf die Finanzgeschichte
Deutschlands des näheren einzugehen. Wir wollen sie nur inso-
weit streifen, als es von dem Hauptgesichtspunkt unserer Arbeit,
der Entwicklung der Volkswirtschaft, zu einem in sich gegliederten
einheitlichen Ganzen geboten erscheint. Wenn wir uns die Ver-
kehrswirtschaft so vorstellen, daß von Einzelwirtschaft zu Einzel-
wirtschaft eine Verbindungslinie besteht, in der das ökonomische
Leben wechselwirkend pulsiert, und daß sie als ganzes einem dicht-
maschigen Gewebe gleicht, so können wir daneben die Tätigkeit
des Staates mit ihrem steten Eingreifen in alle Wirtschaften als ein
weiteres Bindemittel für sie denken, das von einem Punkte außer-
halb jenes Netzes ausgeht, und gewissermaßen jedem Kreuzungs-
punkt desselben einen Strang zuführt, auf dem die öffentliche Be-
einflussung ebenso hingleitet wie die Leistung der einzelnen Wirt-
schaften für den Staat auf ihm zurückgleitet, und der immer stär-
ker und dichter wird, je mehr die öffentlichen Aufgaben für das
private Leben quantitativ und qualitativ eine Steigerung erfahren.
Solange nun die souveränen Einzelstaaten im Deutschen Bunde
vereinigt waren, wohl aber der Zollverein eine allgemeine Ver-
kehrswirtschaft brachte, mußte der volkswirtschaftliche Organis-
mus Deutschlands dieses Haltes außer seiner Verknüpfung von
Wirtschaft zu Wirtschaft entbehren. Statt dessen zerrten die Einzel-
staaten im eigenen Gebiete an den von ihnen auslaufenden Strängen
in ungleicher, willkürlicher Weise, so daß die ganze Fläche in un-
kontrollierbare Schwankungen versetzt wurde. Mit dem Norddeut-
schen Bund entstand ein Zentrum öffentlich rechtlichen Einflusses
für die Länder nördlich des Mains, mit dem Reich auch für Süd-
deutschland. Die Verkehrswirtschaft auf deutschem Boden wird
durch den Schutz des Reiches nach außen hin gesichert und durch
Gesetzgebung und Verwaltung, direkt durch wirtschaftliche Maß-
regeln, indirekt durch alle anderen, die irgendwelche wirtschaft-
liche Folgen haben, im Innern befestigt, verfeinert, vertieft. Das
Zollwesen, die Verbrauchsabgaben und andere Besitzsteuern schie-
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. 61 7
ben sich überall in das Wirtschaftsleben ein und bilden in ihm
neue Zusammenhänge, die zwar auch anders hätten sein können,
aber doch da waren und neue Wechselwirkungen begründeten.
Sie hätten anders sein können — jawohl — vollkommener, mehr
durchdacht, großzügiger, dann würde das volkswirtschaftliche
Ganze nach außen hin und im Innern noch weit besser funktioniert
ihaben.
So haben wir die wunderliche Tatsache erleben müssen, daß
sich das Reich in einer Periode des größten Reichtums, wie sie
Deutschland niemals vorher verzeichnet hat, in einer steten Finanz-
not befunden hat. Das konstitutionelle Steuerrecht, das eine Kritik
der Regierungsvorlagen im Sinne der Sparsamkeit sein soll, war
zu einer individualistisch-demokratischen Obstruktion entartet.
Wurden die notwendigen Ausgaben stückweise, doch überall ver-
kürzt, schließlich zugestanden, so wollte sich der Reichstag zu einer
ausreichenden Deckung niemals bereitfinden lassen. Immer hieß
es Finanzreform — und war ein Kompromißwerk endlich verab-
schiedet, so waren in Wahrheit dem alten Rock nur ein paar
Flicken aufgenäht worden, die die Blöße notdürftig verdeckten.
Auf Grund der historischen Aufzeichnungen von K. T. v. E h e-
b e r g seien zum Beweis des Gesagten einige Tatsachen vorgeführt.
In der Freihandelszeit des Reiches waren die Zolleinnahmen
bis auf 100 Millionen Mark gesunken, die übrigen Reichssteuern
gaben 140 Millionen, die Matrikularumlagen 90. Die französische
Kriegsentschädigung war aufgebraucht, und die ersten Reichs-
schulden ließen nicht auf sich warten. Die Finanzbesserung .durch
Bismarck ist in den Zollgesetzen von 1879, 1885 und 1887
wenigstens so geglückt, daß, wenn auch jährlich 44 Millionen Mark
Schulden gemacht wurden, die Etats noch leidlich in Ordnung blie-
ben. Bei den inneren Verbrauchsabgaben versagte die Staatskunst
des Kanzlers, die sich hier nicht, wie bei den Zöllen, auf eine feste
Majorität von Interessenten stützen konnte. Die vorgelegte Brau-
steuer fiel 1879, die Tabaksteuer wurde wesentlich erniedrigt. Die
Tabakwertsteuer von 1881, das Tabakmonopol von 1882, die Erhö-
hung der Biersteuer von 1880 und 1881 wurden verworfen. Nur
eine niedrige Abgabe auf Aktien, Schuldverschreibungen, Schluß-
noten und Lotterielosen fand eine Annahme. Von dieser Zeit her
datiert die Vielheit der kleinen, wenig bringenden Steuern, ein
rechtes Abbild des gesamten Finanzgebahrens.
Als 1886 Kriegsgefahren drohten, Heeresausgaben nötig wur-
den, gelang es der Reichsregierung nach langem Feilschen und
wiederholten Vorlagen, eine nur sehr mäßige Branntwein- und
Zuckersteuer durchzusetzen.
6l4 VI- Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Die gebesserte allgemeine Wirtschaftskonjunktur nach li
ermöglichte es, ein paar Jahre den Etat zu bilanzieren. Aber schon
1891 wurde eine Erhöhung der Zuckersteuer und 1894 der Stempel-
abgaben erforderlich, die auch nur für den Augenblick genügte.
Die wohlbegründeten Abgaben auf Tabak und Wein wurden abge-
lehnt. Unter den nachfolgenden guten Wirtschaftszeiten und mit
Schuldenmachen half sich das Reich wiederum bis 1900 durch. Die
Schaumweinsteuer und die vermehrten Stempelabgaben konnten die
Finanzen nicht aus der Verwirrung reißen. Das Defizit wuchs an,
das auch durch die sogenannte kleine Finanzreform, die die gleich
zu erwähnenden Überweisungen einschränkte und zeitweise Über-
schüsse dem außerordentlichen Bedarf zuführte, nicht beseitigt
werden konnte. Mit der „großen Finanzreform von 1906", aus der
die Tabaksteuer und der Quittungsstempel gestrichen wurden, hoffte
man zu geordneten Verhältnissen zu kommen, allein auch die neue
Brau- und die Frachturkundensteuer, die stark abgeschwächt aus
dem Reichstage herauskam.en, und die Zigaretten-, Erbschafts-,
Automobil- und Tantiemensteuer, die Erhöhung des Ortsportos, die
Fahrkartenabgabe und der Aufschlag im Reichsstempelgesetz reich-
ten nicht einmal für 3 Jahre aus, da sie den Erwartungen nicht
entsprachen, und neue Ausgaben nicht ausblieben. 1909 wurde
die Bierabgabe noch einmal heraufgesetzt, Branntwein- und Tabak-
interessenten wußten jedoch die ihnen zugemutete Steuer zum
größten Teil hinfällig zu machen. Eine Leuchtmittel-, Zündmittel-,
eine erhöhte Stempel- und Schaumweinsteuer, die Schecksteuer
sollten 420 Millionen Mark bringen, gaben aber um 191 1 nur 300.
Nachdem 191 1 die Wertzuwachssteuer von Grundstücken und Häu-
sern endlose Scherereien und Schikanen, aber keine Sanierung der
Finanzen gebracht, und die Regierung nicht dem Mut hatte, mit
neuen Verbrauchsabgaben hervorzutreten, kam es 191 3 zu dem
Wehrbeitrag, der nur einmalig erhoben werden sollte, und zu der
von 3 zu 3 Jahren abzugebenden Vermögenszuwachssteuer. Eine
Anzahl von Abänderungen der bestehenden Steuern wurden in Aus-
sicht genommen, die aber nur teilweise zur Erledigung kamen, so
daß das Reich mit wiederum wenig geordneten Einnahmen von
dem Kriege überrascht wurde.
Das Ergebnis aller dieser Gesetze war die zunehmende Ver-
schuldung des Reiches. Es fing ohne eine solche an. Nach 10 Jah-
ren seines Bestehens belief sie sich auf 278, 1891 11 18, 1901 2396,
1913 5000 Millionen Mark. Ein nur geringer Teil hatte produktiv
im Post-, Telegraphen- und Eisenbahnwesen Verwendung gefunden.
Nicht der Mangel der Steuerkraft ist die Ursache des großen
Restes, sondern es wurden, da die Steuererhöhung am Widerstände
VII. Schlnßbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. ()i^
der Volksvertretung scheiterte, regelmäßig Ausgaben, die in das-
Ordinarum gehörten, auf das Extraordinarium übernommen.
Der auf demokratischer Grundlage gewählte Reichstag wollte
in seiner Majorität in den letzten Jahren die Last auf allgemeine
und partielle Einkommen-, Vermögens- und Erbschaftssteuern wer-
fen, die im Prinzip den Einzelstaaten vorbehalten waren, und die
sie nicht missen konnten, wenn sie den eigenen, namentlich kultu-
rellen Aufgaben genügen wollten, die ihnen bei der föderativen
Verfassung des Reiches überlassen waren. Dieser Grundsatz wurde
bei den neueren Finanzmaßregeln durchbrochen durch eine Torso-
Erbschaftssteuer, die Deszendenten und Ehegatten freiließ, durch
die Besteuerung der Aufsichtsräte der Aktiengesellschaften, die
nichts Rechtes einbrachte, durch den erwähnten Wehrbeitrag, der
nur einmal zur Hebung gelangen sollte, durch die genannte Besitz-
steuer, die im Kriege umgebildet wurde. Das Werk der Opposition
blieb also ebenfalls höchst unvollkommen.
Überblickt man die Zusammenfassung der Reichseinnahmen,
wie sie seit 1871 geworden ist, so stoßen wir 19 13 auf 23 Rubriken.
Außer den Zöllen und der Verbrauchsabgabe von Branntwein und
Zucker und der Brausteuer sind die Posten nicht erheblich, einige
sogar minimal. Die Essigsäure steuert mit 825, die Spielkarte mit
1900, das Kraftfahrzeug mit 3930, die Tantieme der Aufsichtsräte
mit 5880, der Scheck mit 3136 Tausend Mark bei. Laune und
Parteilage hatten einen willkürlichen Maßstab geschaffen. So
brachte die Zigarettensteuer 36,5, die Tabaksteuer 10,8 Millionen
Mark, die Lotterie 50,8, die Zuwachssteuer davon i/^q- Ein wie
steuerlich leistungsfähiges Objekt der Tabak als verbreitetes Ge-
nußmittel ist, hat dann die Kriegszeit erwiesen, als 19 18 die Ziga-
rette 600 Millionen Mark der Reichskasse einbrachte, obwohl .gleich-
zeitig die Herstellungskosten des Produktes sehr gestiegen waren.
Um 1908 hat man berechnet, daß Deutschland 800 Millionen Mark
für Tabak und 3800 für alkoholische Getränke verausgabt hat, das
waren 12 — 150/0 des nationalen Einkommens. Die Steuern auf sie
brachten nur 420 Millionen Mark mit Einschluß noch vorhandener
einzelstaatlicher und kommunaler Abgaben. Das waren ohne Hin-
zurechnung des Trinkgeldtributes 9,10/0 des Wertes der Verbrauchs-
abgabe. Man kam darüber mit dem tröstenden Schlagworte hin-
weg, daß man die Pfeife und das Gläschen des armen Mannes
nicht verteuert habe.
Mochte auch darüber das Reich in Stücke gehen! Weil nicht
ausreichend Geld in seine Kasse kam, wurde die Landesverteidi-
gung nicht ausreichend durchgeführt. Wäre vor 191 4 die Feld-
artillerie verbessert, die stehende Armee um einige Korps ver-
6l6 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
mehrt worden, so hätte der Vorstoß nach Frankreich erhebhch
wuchtiger ausfallen können, und wer weiß, ob ohne die unglück-
liche Marneschlacht der Feldzug zugunsten Deutschlands nicht
schon entschieden gewesen wäre. Wie dem auch sein mag, die
stete Finanznot hatte mancherlei Vorkehrungen für den Krieg zu
treffen verabsäumt. Von einer Vorbereitung der volkswirtschaft-
lichen Mobilmachung war erst recht nicht die Rede. Weder an den
Einkauf von Lebensmitteln noch Rohstoffen war gedacht worden,
als nun das Reich von allen Seiten blockiert wurde.
Die öffentlichen Ausgaben, die gemacht werden konnten, wur-
den übrigens keineswegs immer nach zureichend staatsmännischen
Zielen geregelt. Der Finanzminister, der das ökonomische Ge-
wissen des Staates zu vertreten hat, darf nie ihre Gesamtproduk-
tivität bei der Aufstellung des Haushaltungsvorschlages übersehen.
Unter dem Milliardensegen der französischen Kriegsentschädigung
hielt Camphausen es für gut, überall da zu geben, wo ein neues
Bedürfnis als vorhanden behauptet wurde. Wenn dann Scholz
und Miquel die qualitative Sparsamkeit, d. h. das Sparen am
richtigen Platz, wieder zu Ehren brachten, das Preußen früher ge-
kannt hatte, so wurde sie wohl in diesem Lande von neuem ver-
wirklicht, aber in das Reich ist sie niemals richtig eingedrungen.
Die Ausgaben blieben stets von der parteipolitischen Stimmung
und Meinung abhängig, und wo das nicht der Fall war, ließ man
die Dinge gehen, weil man auf der Beurteilung der Einnahmen
seine ganze Kritik derart verschwendete, so daß von den Steuern
nicht einmal das bezahlt werden konnte, was man selbst bewilligt
hatte.
Leichter als das Reich hatten es die Einzelstaaten, ihre Fi-
nanzen in Ordnung zu halten, da bei den bestehenden Verfassungen
die Regierungen weniger unter der demokratischen Opposition
litten, die parlamentarisch schwierig durchzusetzende Verbrauchs-
belastung kaum in Frage stand, und lohnende Erwerbseinkünfte
vorhanden waren. Hier wurde das Rückgrat der Steuern die Ein-
kommensteuer, die unter dem Prinzip der Belastung nach der Lei-
stungsfähigkeit derart ausgestaltet wurde, daß die Progression und
die Befreiung der kleinen Einkommen Rechtens wurde, woneben
eine Vermögenssteuer als Ergänzung stand, um das fundierte Ein-
kommen verstärkt zu treffen, und auch solchen Besitz heranzu-
ziehen, der keine Einnahmen gewährt, aber doch ein Ausdruck
großer Steuerfähigkeit sein kann. 1890 wurden von dem Finanz-
minister von Miquel in Preußen in diesem Sinne die alten Per-
sonalsteuern reformiert, die auf ungenauen Einschätzungen in Klas-
sen und Einkommensstufen beruhten, und für den ehemaligen
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke 517
Agrarstaat, die Kleinstädterei und die primitive Industrie passen
mochten, während jetzt die Steuererklärung, die mit den nötigen
Kontrollen ausgestattet wurde, zur Ermittelung des Einkommens
und des Vermögens dienen sollte. Im Verlaufe der Jahre wurde die
Steuer immer feiner nach diesen Grundsätzen ausgebildet, und die
übrigen Einzelstaaten sind diesem Vorbilde gefolgt, nur in Elsaß-
Lothringen und Mecklenburg wurde noch an ungleichmäßig wir-
kenden alten Methoden der direkten Abgaben in der Form der Er-
tragsbesteuerung festgehalten. In Preußen wurde die Grund-,
Häuser- und Gewerbesteuer, die letztere, nachdem sie zeitgemäß
verbessert worden war, den Gemeinden überlassen, und auch dieser
Vorgang wurde in einer Reihe von Bundesstaaten nachgeahmt.
Der Satz der Finanzwissenschaft, daß die Einnahmen jedes
politischen Körpers sich auf die eigene Kraft verlassen sollen,
würde nach diesen Neuerungen in den Gliedstaaten des Reiches
wohl eine zureichende Richtschnur ihrer Selbständigkeit geworden
sein, wenn nicht dieses sich störend mit seiner Finanzpolitik und
Finanznot in ihren Betrieb eingemischt hätte.
Nach der Reichsverfassung sollen die Ausgaben des Reiches,
soweit die verfassungsmäßigen Einnahmen nicht genügen und neue
Reichssteuern nicht eingeführt worden sind, durch Matrikularbei-
träge der Einzelstaaten gedeckt werden, die diese nach ihrer Be-
völkerungszahl aufzubringen haben, mögen sie nun reich oder arm,
agrarisch oder industriell, groß oder klein sein.
Diese Hilfsleistung war als etwas Subsidiäres gedacht worden,
wurde aber bald zu etwas Regelmäßigem, da das Reich nicht aus-
kam, sollte nur etwas Provisorisches sein, wurde aber zu etwas
Definitivem, da die den Bedarf deckenden Reichssteuern nicht
kamen. Von den Einzelstaaten wurde sie schon 1879 als eine
drückende Last empfunden, die Bismarck durch seine vorgeschla-
genen Finanzgesetze beseitigen wollte. Statt dessen wurde die oben
erwähnte Frankenstein sehe Klausel in das Zollgesetz ge-
bracht, nach der der konstitutionellen Garantien wegen die Beträge
der Zölle und der Tabaksteuer über 130 Millionen Mark den Einzel-
staaten überwiesen und dann als Matrikularbeiträge wieder be-
willigt wurden, wenn das Reich das Geld gebrauchte. Seit 1881
und 1887 wurden auch Branntweinabgabe und Reichsstempel so
behandelt. Je nach der allgemeinen volkswirtschaftlichen Kon-
junktur und je nach der Begleichung der bewilligten Reichsaus-
gaben durch Anleihen wurden bald die Bundesstaaten „Kostgänger
des Reiches" oder dieses wurde ein solcher jener. So hatten 1883
bis 1892, 1894 und 1901 die Staaten nichts zu leisten, sondern
hatten nur zu empfangen. Das war ihnen zunächst angenehm, aber
6i8 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
in ihre Etats kamen Posten der Unsicherheit, da die Zuschüsse
ausfallen, jedenfalls in ihrer Höhe nicht vorausgesagt werden
konnten. Noch schlimmer war, daß in guten Jahren neue wieder-
kehrende Ausgaben gesetzlich festgelegt wurden, für die die Deck-
ungsmittel beim Fortfall der Überweisungen fehlten. 1904 wurde
dem Reichstage zugestanden, die Matrikularumlagen aus einer vorläu-
figen zu einer dauernden Einrichtung zu machen. 1906 wurden sie, so-
weit sie 40 Pfg. auf den Kopf überschritten, gestundet, 1909 dann
vom Reiche übernommen, da der Betrag nicht aufgebracht werden
konnte, aber zugleich für die Zukunft auf 80 Pfg. erhöht, mit wel-
cher Neukontingentierung wenigstens eine Stetigkeit für eine An-
zahl Jahre gewonnen wurde.
Die Finanzwirtschaft der Bundesstaaten war dadurch erleich-
tert, daß sie über bedeutende Erwerbseinkünfte verfügten, die aber
den Nachteil hatten, daß ihre Erträge nach der allgemeinen Kon-
junktur schwankten, wobei die Matrikularbeiträge noch lästiger
empfunden \vurden, wenn die Zeiten ungünstig waren, wie z. B.
1892 — 1894 oder 1901 und 1902. Die Ausgaben der Erwerbsein-
künfte machten nach dem preußischen Voranschlag 191 2 2345,2
Millionen Mark aus bei dem sonstigen Bedarf der Staatsverwal-
tung in der Höhe von 1114,3. ^^ Bayern waren die entsprechen-
den Zahlen 331,1 und 213,9, in Sachsen 226,5 und 136,8, in Würt-
temberg 105,5 ^^^ 75}3, in Baden 95,2 und 79,3. Die hohe Dauer-
verschuldung vieler Bundesstaaten entsprach der Ausnutzung der
Erwerbseinkünfte. Die preußische Staatsschuld betrug 9,4, die
bayerische 2,2, die sächsische 0,8, die württembergische 0,6 Mil-
liarden.
Dem gewaltigen volkswirtschaftlichen Aufschwung, den
Deutschland von 1895 — IQH erlebte, hat sich sein finanzwirtschaft-
liches Dasein nicht angepaßt. Man sieht daraus, daß die Ent-
wicklung der ökonomischen Kräfte einem Volke nur dann zum vol-
len Segen gereicht, wenn es fähig ist, sie auch politisch nutzbar
zu machen. Die relativ bessere Ordnung in den einzelstaatlichen
Finanzen konnte dem Reiche nicht genügen, weil unter ihnen nur ein
Teil der öffentlichen Zweckbestimmung verwaltet wurde. So hat es
unter der Schwäche des politischen Charakters und der mangelhaft
sozialen Intelligenz seiner Bürger leiden müssen, welche Fehler
man damals freilich nicht zugeben wollte, da der Krieg noch ver-
mieden wurde, und der Wohlstand im Frieden weiter wuchs. Erst
zum Extrem entartet, wurden sie in ihrer ganzen Tragweite er-
kannt, als die Nation diejenige Konsequenz aus ihrer Lage nicht zu
ziehen vermochte, wie einst die Römer, als der Ruf Hannibal ad
portas erscholl.
VII. Schlußbelrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. 61Q
Das lebhafte und kräftige Emporsteigen der deutschen Volks-
wirtschaft während der letzten 25 Jahre vor 191 4 hat sich ebenso-
wenig wie in den vorausgehenden 40 ohne Unterbrechungen voll-
zogen. Der periodische Kreislauf der Konjunktur bewegte sich
in der Weise, daß von 1888 — 1890 eine rasche, fast zu rasch ein-
setzende Haussezeit, wie wir sie deutlich an der Börse — in Berlin
stiegen z. B. die Aktien der Berg- und Hüttenwerke mit einem Ge-
samtkapital von 421 Millionen Mark um 380/0 — verfolgen können,
heraufgekommen war, die mit einer empfindlichen Baisse jäh ab-
schloß. Der Anstoß zu dieser war von England mit dem Zu-
sammenbruch des Hauses Baring Brothers & Co. ausgegangen, das
sicli mit argentinischen Emissionen übernommen hatte, während
zugleich die Mac Kinley Bill die deutsche Ausfuhr zu lähmen
drohte, und der Zollkrieg mit Rußland bevorstand. Der Über-
treibung in Neugründungen und Kreditaufnahmen zu produktiven
Zwecken stand eine zu große Warenmenge zur Seite, die der er-
starkte, aber noch nicht genügend befestigte innere Markt nicht
allein aufzusaugen vermochte.
Der nun folgende Niedergang dauert 4 Jahre lang und wird
durch die amerikanische Krise von 1893 zu einem Tiefpunkt ge-
führt. Der Umschlag zum Besseren tritt 1895 ein, und ihm schließen
sich 4I/2 Jahre der Hochkonjunktur an. Im Sommer 1900 verfallen
die Preise einem Sturz, der indessen bald zu einem Stillstand ge-
langt. Schon im Winter 1902/03 geht das Geschäft wieder flott
und hält bis zum Herbst 1907 als gutes an, bis es durch den nord-
amerikanischen Kupfer- und Bankkrach aus seiner aufsteigenden
Linie herausgedrängt wird, da es sich von neuem in eine Übertrei-
bung hineingearbeitet hat. Im Börsenniedergang verlieren die
Bankwerte 20 0/0, die industriellen 40 — 50. Konkurse, Arbeitslosig-
keit, Rückgang der Bautätigkeit, der Eisen-, elektrischen, Textil-,
Maschinen-, Automobil-, Fahrrad-Industrie bringt das Jahr 1908.
Der Großbetrieb und die Kartelle halten sich besser als die mitt-
leren und die vereinzelten Werke. Schon 1909 ist diese Störung,
an der das Ausland viel Schuld trägt, durch eigene Kraft über-?
wunden, woneben die Entdeckung der Diamantfelder in Deutsch-
Südwestafrika und die neue Aufnahmefähigkeit der Vereinigten
Staaten die Stimmung optimistisch beeinflussen.
Bis zum Frühjahr 191 4 bleibt die deutsche Volkswirtschaft in
günstiger Lage. Man kann also von dem hier geschilderten Ab-
schnitt von 24 Jahren sagen, daß 15 fette mit 9 mageren abgewech-
selt haben, und von den letzteren, daß eigentlich nur in den vier
ersten ein schwerer Druck auf dem ganzen Wirtschaftsleben lastet.
Den Hauptanteil der glänzenden Geschäftsperiode hat Deutschland
620 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
sich selbst zu verdanken, obwohl wir hier wiederholen wollen, daß
seit 1895, wie in den fünfziger und sechziger Jahren, ein internatio-
nales Aufstreben besteht, dessen Rückwirkungen nicht zu über-
sehen sind. Nordamerika hat, ähnlich wie Deutschland, aus dieser
allgemeinen Konjunktur lebhafte Anregung gewonnen, mehr wie
Frankreich, England, Rußland, Österreich-Ungarn, Hemmungen
im Weltverkehr bringen der spanisch-amerikanische, der Buren-,
der russisch-japanische und der Balkankrieg und die Marokkokrise.
Sie werden im Reiche, da die Kriege lokalisiert blieben, verhältnis-
mäßig leicht überstanden. Das Steigen der Preise, Gewinne, Zin-
sen, Löhne wird durch die der produktiven Anlage harrenden Kapi-
talansammlungen der langen Friedenszeit in Deutschland und vielen
anderen Ländern, durch die Steigerung der Goldproduktion in Süd-
afrika, Australien und im Klondyke-Gebiet, durch die gegenseitige
Erschließung neuer Absatzgebiete in der Weltwirtschaf t unterstützt.
Der Zinsfuß folgt dem erhöhten Gewinn, der bei den Aktien-
gesellschaften leicht nachweisbar ist, sowohl beim Lombardieren
und Diskontieren, als auch bei Obligationen und Hypotheken.
Festverzinsliche Wertpapiere büßen an Kurs ein, was die Finanz-
wirtschaft des Reiches bei ihrem unsicheren Finanzgebahren und
selbst der Einzelstaaten mit Sorge erfüllt. Noch ehe die Periode
des steigenden Zinsfußes einsetzt, die der des niedergehenden seit
1873 folgt, hat man damit begonnen, die 40/0 Konseis in 31/2 0/0 zu
konvertieren. Man glaubt, dazu befugt zu sein, da die 31/2% Reichs-
anleihen den hohen Stand von 104,44 erreicht haben, 1899 ist der
Kurs 99,77, 1900 95,80, 1901 wieder 99,54. Dann überschreitet
er 4 Jahre die Parität, senkt sich weiterhin rasch und zwar 1908
auf 92,58. Dieser Verlauf ist typisch, und alle Versuche, den Preis
zu halten, scheitern, solange die hohen Gewinne anhalten. Der
Zinssatz für private Hypotheken, der sich in abgerundeten Zahlen
bewegt, steigt von 3I/2 bis auf 41/4, die Hypothekenbanken gehen
noch i/g bis 140/0 höher.
Ist die starke Nachfrage nach Kapital hauptsächlich durch
die privatwirtschaftlichen Anlagen hervorgerufen worden, so kommt
noch anreizend, den Zins steigernd, der öffentliche Bedarf hinzu.
Das Reich erscheint auf dem Markt, um seine mangelhafte Finanz-
wirtschaft zu balanzieren, Einzelstaat und Gemeinde stehen vor
Jieuen teueren Kulturausgaben.
Die Konvertierung bringt allen den Rentnern, die ihren Be-
sitz in Staatspapieren angelegt haben, fühlbare Einbußen. Am
meisten sind Leute mit kleinen Vermögen betroffen, da die mit
größeren auch Aktien besaßen, die sie in der Zeit des allgemeinen
Aufschwunges mit steigenden Dividenden schadlos hielten. Die
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen, Allgemeine Rückblicke. 521
Preissteigerung nach 1895 wird von allen Verbrauchern empfunden,
am auffälligsten von denen, die wie Beamte, Pensionäre, Rentner
sich am Wirtschaftsleben nicht beteiligen können. Wie bei allen
großen volkswirtschaftlichen Bewegungen wechseln die Familien,
die der eigentlich reichsten Schicht angehören. Emporkömmlinge
aus der Industrie und dem Handel bekunden mit ihren Automo-
bilen, mit ihren Ankäufen von Schlössern und Landgütern ihren
geschäftlichen Erfolg, der ihnen von der allgemeinen Meinung
nicht mißgönnt, der eher als Geschicklichkeit bewundert wird,
ganz im Gegensatz zu dem der späteren Kriegsgewinnler, die sich
aus der Not des Volkes bereichert hatten.
Wenn man die ganze Zeitspanne des großen Aufschwunges
seit 1890 in wenigen Zahlen zusammenfassen will, kann man sich
an Schätzungen des Volkseinkommens und -Vermögens halten. Es
liegen darüber verschiedene Untersuchungen vor, die im einzelnen
und in der Gesamtsumme wohl voneinander abweichen, aber es
doch übereinstimmend zum Ausdruck bringen, daß eine ungeheuere
Vermehrung Platz gegriffen hatte. K. Helfferich schreibt:
„Das deutsche Volkseinkommen beträgt heute (1913) rund 40 Mil-
liarden Mark jährlich gegen 22 — 25 um das Jahr 1895. Das deut-
sche Volksvermögen beträgt heute mehr als 300 Milliarden Mark
gegen rund 200 um die Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahr-
hunderts". A. Steinmann-Bucher stimmt der ersten An-
gabe zu mit dem Zusätze, daß hierin nur eine untere Grenze zu er-
blicken sei. Das Volksvermögen setzt er bedeutend höher und
kommt zu dem Betrage von 376 — 397 Milliarden, In der Mitte be-
wegen sich die Berechnungen von Ballod mit 331, Hesse mit
350, J, Wolf mit 360 (1914/15). In dem Volksvermögen ist außer
dem werbenden auch das Nutzvermögen enthalten (Wohnhäuser,
Mobiliar, Schmuck, Kunstgegenstände).
Ohne auf die Schätzungsmethoden und deren Wert eingehen
zu können, seien die Einzelergebnisse der Forscher hier zusammen-
gefaßt :
Deutsches Volksvermögen 1 913/14. (Milliarden Mark.)
Abteilungen
Gegen Feuer versicherte Mobilien
und Immobilien
Grund und Boden
Bergwerksanlagen unter Tage
Güter auf Transport, Schiffe,
Metallgeld
Öffentliches Vermögen (Eisen-
bahnen usw.)
Ausländische Kapitalanlagen .
Gesamtes Volksvermögen .
Helfferich
200
5-6
30—35
Ballod
20
310
JOD
55
40
25
331
Steinmann-
Bucher
200 — 220
100
5-6
40
25
400
Hesse
240
70
6
40
25
550
622
VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Daß die Einkommensvermehrung keineswegs nur in den obe-
ren Schichten der Gesellschaft sichtbar ist, ergeben die Statistiken
der Einkommensteuer. Für Preußen ist folgende Zusammenstel-
lung veröffentlicht worden:
Haushaltungsvorstände
und Selbständige
Es hatten ein Einkommen in M.
unter '900 900—3000 I über 3000
Durchschnitts-
einkommen in M.
1914
75,1%
49,1%
22,0°o
45,4%
2.9 °/o
5.3%
1334
Auch die preußische Vermögenssteuer gewährt einen wich-
tigen sozialstatistischen Einblick:
1896
1914
Zahl der zur Ergänzungssteuer Veranlagten, über 6000 M.-
Vermögen
I 166 700
64 024
45.7
54900
I 940 500
115 270
53,0
59400
Gesamtes steuerpflichtiges Vermögen (MiJl. M.) . . , . .
Es hatten ein Vermögen von über 6000 IM. in "l^^ der Be-
völkerung (ausschl. Angehörige)
Durchschnittliches Vermögen der Zensiten in M
Von den 40 Milliarden Einkommen entfallen nach H e 1 f f e -
rieh etwa 7 auf den öffentlichen Finanzbedarf, 25 auf die eigent-
liche Konsumtion, der Rest wurde kapitalisiert. Der jährliche auto-
matische Wertzuwachs wTirde daneben auf i — 2 Milliarden ge-
schätzt. Die jährliche Vermehrung des Volksvermögens vor dem
Kriege wird demnach etwa 10 Milliarden betragen haben, während
sie 15 Jahre vorher noch nicht die Hälfte gewesen sein soll. Andere
Schätzungen setzen statt iio nur 81/2 Milliarden.
Unter dieser glänzenden wirtschaftlichen Lage begann 191 4
der Weltkrieg, der die Aufwärtsbewegung zum Stillstand brachte.
Er zeigte, daß die deutsche Volkswirtschaft in starken Produktiv-
kräften materieller, ethischer und intellektueller Art begründet war,
und daß ein ökonomisch soziales Ganzes bestand, das zwar seine
Unvollkommenheiten in seiner Abhängigkeit vom Auslande hatte,
aber doch in sich so gefestigt war, daß -"'^ die Ausschaltung aus
den wichtigsten Teilen der Weltwirtschaft an drei Fronten 4 Jahre
ertragen konnte, als die ganze Erde ihm feindlich gegenüberstand.
Wenn die Kriegswirtschaft Deutschlands schließlich nicht durch-
hielt, so ist die Übermacht des Feindes und die Aushungerung
sicherlich nicht mehr schuld daran gewesen als der Zusammen-
bruch des Staatswesens, der ebenso infolge der unzureichenden
äußeren und inneren Politik wie schließlich der inneren Anarchie
unvermeidlich geworden war.
Vn. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. 522
Die wirtschaftliche Kraftentfaltung Deutschlands ist nur zu
begreifen aus seiner nationalen Vereinheitlichung. Die erste Wirk-
lichkeitsform der nationalen Idee war der Zollverein, unter dem
die Volkswirtschaft ihre erste große Blüte von 1850 — 1870 erlebte,
die zweite das Reich, dessen wirtschaftliche Glanzperiode wiederum
20 Jahre, 1895 — 1904, andauerte. Jede der beiden Epochen ist
durch die politische Unterwühlung von seiten des inneren Feindes
aufs schlimmste bedroht worden: Der Zollverein durch den einzel-
staatlichen Partikularismus, dessen Preußen unter Bismarck 1866
und 1870 glücklicherweise Herr A^oirde, das Reich durch die Sozial-
demokratie, die in dem Augenblick zur Revolution schritt, als der
äußere Feind die deutschen Heere in die gefährlichste Lage ge-
drängt hatte. Zeigte sich auch, daß das Einheitswerk so stark
gezimmert worden war, daß es, wenn auch nach heftigem Wanken
und Schwanken, zwar verkleinert und politisch geschwächt stehen
blieb, so war doch sein wirtschaftlicher Inhalt nur noch ein großes
Trümmerfeld von dem, was die letzten 100 Jahre mühsam geschaffen
hatten, wie wir dies in dem vorstehenden Buche in Umrissen dar-
zustellen versucht haben. Der Wiederaufbau kann nur gelingen,
wenn die Deutschen von dem Satz durchzdrungen sein werden, daß
ihnen niemand in der Welt hilft als sie sich selbst. Nur aus einem
damit erreichten Erfolge allein kann der nationale Gedanke neu
belebt werden, der höher steht und wertvolleres auch volkswirt-
schaftlich leistet als Individualismus, Demokratismus, und Sozialis-
mus zusammen. Ob die 100 Jahre der nationalen aufsteigenden
Volkswirtschaft nur eine Episode der deutschen Geschichte ge-
wesen sind, die in sich vollendet wurde, oder ein Teil eines sich
über viele Jahrhunderte hinziehenden größeren Ganzen, muß die
Zukunft lehren.
Blicken wir auf den hundertjährigen Verlauf der Einkom-
mensverteilung in Deutschland zurück, so haben die historischen
Schemata, die nationalökonomische und sozialistische Theoretiker
für die kapitalistische Epoche aufgestellt haben, keine Bestätigung
gefunden. Daß die großen Kapitalisten auf Kosten des arbeitenden
Volkes eine immer größere Quote des Einkommens an sich reißen
würden, wie Marx meinte, ist in diesem Abschnitt widerlegt wor-
den. Auch Rodbertus will den Aufstieg der arbeitenden Klassse
nicht sehen und ist zudem in der Anschauung einer dauernd an-
schwellenden ländlichen Grundrente befangen, die Deutschland da-
mals nur vorübergehend besessen hat. Ricardo glaubt an ein
dauerndes Sinken des Gewinnes, das er aus der Zunahme der Be-
völkenmg und der Beschränktheit des Ackerbodens herleitet. Die
Menschenzahl eines Landes wächst nach ihm unter Zunahme der
52 4 VI- Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
allgemeinen Produktivität, da sie sich dieMalthusianischeBeschrän\-
kung nicht zu eigen macht. Nun steigen die Getreidepreise und
damit die Grundrenten. Die Arbeitslöhne bleiben zwar auf dem
sachlichen Existenzminimum, stellen aber einen steigenden Geld-
wert dar, da sie sich nach den erhöhten Preisen der Lebenshaltung
zu richten haben. Daher nehmen die Arbeiter von dem ganzen Ein-
kommen einen wachsenden Wertteil in Anspruch, ebenso wie die
Landbesitzer mit ihren Renten. Der Gewinn wird von zwei Seiten
eingeengt und verfügt also nur über eine sinkende Quote des Ge-
samteinkommens. Wie wenig zutreffend diese Verhältnisberech-
nung von einem realhistorisch-sozialen Standpunkte gewesen ist,
von dem die Gesamtentwicklung stets überschaut werden soll, er-
gibt sich daraus, daß sie das englische Wirtschaftsleben erklären
soll, das von 1815 — ^1880 das glänzendste war, das Industrie ,und
Handel dort jemals erlebt haben. Wir können Ricardo nur ver-
stehen, wenn wir ihn als Anwalt der Kapitalistenklasse nehmen, der
er angehörte. Seine Theorie ist ein Kampfruf gegen die Land-
aristokratie, deren Rentenbezug, weil er ohne Arbeit und persön-
lichen Unternehmungssinn gewonnen ist, für ungerecht gehalten
wird, und die durch einen, wenn auch nicht unvermittelt herzu-
stellenden Freihandel ihres politischen Einflusses entkleidet werden
soll, ein literarisches Vorspiel zu den sich bald nach seiner Zeit
vollziehenden Ereignissen. Wäre England eine abgeschlossene
Volkswirtschaft gewesen und geblieben, so würde eine dauernd
steigende Grundrente für Handel und Gewerbe die bedenklichsten
Folgen gehabt haben. In Wahrheit war es aber in die Weltwirt-
schaft so verflochten, daß das Gesamteinkommen des Landes im
steten Steigen begriffen war, und das bedeutete eine Erhöhung,
nicht eine Schmälerung der Gewinne, wenn nicht etwa eine Han-
delskrise den Verkehr zeitweise zum Stocken brachte.
In Deutschland haben wir von 18 15 — 1835 die Zeit der sin-
kenden Grundrente, des sinkenden Zinses, des prozentuell nied-
rigen Gewinnes, des Stillstandes der an sich niedrigen Arbeits-
löhne bei geringem Bedürfnisstand der Arbeiter. Dies war eine
Kombination, die nach der Ricardo sehen Abstraktion unmög-
lich ist. Von 1833 — 1873 steigt die Grundrente — auch die städti-
sche — , ebenso und zwar stark der Gewinn und der Zins in seinem
Gefolge, ebenso der Lohn, wenn auch nur im langsameren Takt-
maß, obwohl am Schluß der Periode sprunghaft nach vorwärts
eilend. Von 1873— 1895 geht die ländliche Grundrente zurück, die
städtische hält sich besser, der Gewinn und im Anschluß an ihn
der Zins sinken, auch die Löhne fallen zuerst, um bald wieder zu
steigen. Die letzte Epoche 1895 — 191 4 bringt wieder erheblich
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 19 14. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. 62 s
Steigende Gewinne, im weiteren Verlauf entsprechende Zinsen. Die
Löhne schnellen geldmäßig und real in die Höhe. Dasselbe gilt
von der städtischen Bodenrente, während die ländliche zuerst noch
sinkt, dann sich hält, am Schluß des Zeitraumes im allgemeinen
hinaufgeht, was alles wiederum in Ricardos Schema nicht paßt.
Sozialgeschichtlich entscheidend für ein Volk ist der Vergleich
einer Epoche mit der vorangehenden. Die Größe des Volksein-
kommens, mag sie auf die Binnenwirtschaft oder den Weltverkehr
zurückgehen, ist entscheidend. Der Genuß im größeren Verbrauch,
die leichtere Betätigung des wirtschaftlichen Machtwillens, die Mög-
lichkeit zum Aufsteigen in eine höhere soziale Schicht geben die
subjektive Befriedigung. Das relative Verhältnis der Einkommens-
quoten zwischen den Klassen oder zwischen den Produktionszwei-
gen ist zwar etwas nicht zu Übersehendes, aber ist doch zweiten
Grades. Wer dieses Verteilungsproblem höher einschätzt als das
allgemeine, durch den produktiven Fortschritt hervorgebrachte
Wachsen des Einkommens, verfährt wie ein Kaufmann, der einen
unberechtigten Schnitt bei einem einzelnen Stück machen will und
damit die Masse der Kunden vertreibt, die ihn durch die Abnahme
vieler Stücke hätten reich machen können.
Das nationale Einkommen Deutschlands, wie man es sich
auch entstanden denkt, individualistisch durch die summierte Tätig-
keit der Einzelwirtschaft oder soziologisch durch das Zusammen-
wirken aller produktiven Kräfte der Volkswirtschaft, ist von 1815
bis 1914 dauernd gestiegen, am schnellsten seit 1895, am langsam-
sten von 181 5 — 1840, verhältnismäßig rascher von 1840 — 1873 ^Is
von dem Endpunkt dieser Periode an während der beiden folgen-
den Jahrzehnte. Es hat das Arbeitseinkommen in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts eine größere und wachsende Quote von
dem Gesamteinkommen an sich gezogen, als in der ersten. Wir
haben die Ursachen dieser Verteilung kennen gelernt.
Die Bildung großer Vermögen von 1850 — 1873 ist, was aus
dem vorher Gesagten folgt, an erster Stelle durch die gesteigerte
nationale Produktion ermöglicht worden, aber, da die Bezieher der
Arbeitseinkommen mit ihren Ansprüchen noch zurückhielten, auch
deshalb. In der Epoche nach 1895 konnte sie wiederum ins Große
gehen, weil trotz der Erhöhung der Löhne, Gehälter und Aufwen-
dungen von Staat und Gemeinde für die unteren sozialen Klassen
das Gesamtergebnis der Produktion dafür so viel übrig ließ. Die
Unternehmer zogen als Erfinder, Organisatoren, Benutzer der Kon-
junktur von dem Besitzeinkommen relativ am meisten an sich,
A. Sartorius v. Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. 2. Aufl. 40
626 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
Grundrente und Zins hoben sich ebenfalls, aber nicht in gleicher
Weise.
Wir möchten an den gegebenen Rückblick auf die Änderung
der Einkommensquoten einen zweiten naheliegenden anschließen,
der die Verteilung der agraren und industriellen Macht in der deut-
schen Politik erörtert, wobei neben wirtschaftlichen Verschiebungen
andere: geschichtlich gegebene Einflüsse nicht zu übersehen sind.
In der ersten Periode unserer Darstellung von 1815 — 1833 ist
die Klasse der großen Landbesitzer in Preußen, Sachsen, Mecklen-
burg, auch in einigen Kleinstaaten deshalb so einflußreich, weil
sie mit der Monarchie und der Beamtenschaft von altersher sozial
eng verbunden ist, weil Gutsherren und Staat sich gegenseitig
stützen, wenn dieser auch jene politisch ganz unterworfen hat. Die
Agrarkrise mit den schlechten Einnahmen, dem Besitzwechsel und
der Verarmung eines Teiles des Adels hält die Machterweiterung
der herrschenden Klasse zwar zurück, aber bricht die Vorherrschaft
nicht, da das gewerbliche Bürgertum, das erst mit der Julirevo-
lution von Frankreich her einiges Selbstbewußtsein gewonnen hat,
zu schwach ist, an ihre Stelle zu treten und auch von der Staats-
■regierung nichts zu erwarten hat.
Dazu kommt, daß durch die Agrarreform und die Einführung
der verbesserten Feldsysteme das Land die sich hier mehrende
Bevölkerung festhält, also den Städten die Schwungkraft nicht
verleiht, die sie von dem einwandernden ländlichen Volksüberschuß
hätten zu ziehen vermögen. Das wird erst am Ende der dreißiger
Jahre anders, als die landwirtschaftlichen Betriebe wenigstens teil-
weise mit Arbeitskraft gesättigt sind, so daß die unzufriedenen
ländlichen Proletarier und Kleinstellenbesitzer nicht mehr so in
Anspruch genommen werden. Sie wandern um so leichter in die
entstehenden industriellen Gebiete ab, wenn sie nicht Amerika als
Wanderziel vorziehen, als das Gewerbe im Zollverein erblüht.
Von 1833 — 1848 lernten wir die gemeinsame wirtschaftliche
Entwicklung von Industrie und Handel unter dem Eisenbahnwesen
einerseits, von Landwirtschaft andererseits kennen. Die sogenannte
Junkerklasse verfügt nicht bloß über steigende Renten, sondern
ist auch sittlich durch die Verallgemeinerung der Selbstbewirt-
schaftung gehoben worden, anders als in England, wo die Verpachr
tung die Grundeigentümer dem Lande entfremdet. Sie stellt dau-
ernd Minister, hohe Beamte und Offiziere und bleibt mit dem Staat
eng verbunden, erweist sich auch politisch befähigter als das un-
erfahrene, ökonomisch erst heraufkommende Bürgertum. Daher
mißglückt die Revolution von 1848 als ein voreiliger Versuch un-
reifer Bestrebungen.
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 19 14. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. 627
In den Jahren 1850— 1873 gewinnen Industrie, Handel, Ban-
ken, Geldkapital rasch an wirtschaftlicher Kraft, die Landwirt-
schaft kann diesem Tempo nicht folgen. Ein politisches Ergebnis
ist die Durchsetzung der sozialen Freiheitsrechte, Gewerbefreiheit,
Freizügigkeit, Zinsfreiheit, Aktienfreiheit, Freihandel seitens des
gewerblichen Liberalismus. Die Agrarklasse ist bei dem Frei-
handel, anders als in England, nicht in der Opposition, da sie
noch exportiert, durch den noch unvollkommenen Ferntransport
vom Ausland her auf den heimischen Markt geschützt ist und durch
die steigende Nachfrage der städtischen Bevölkerung nach Le-
bensmitteln mit guten Preisen verdient. Der eigentlich politische
Klassenkampf vollzieht sich in Preußen während der Konfliktszeit
um Heeresorganisation und Steuerbewilligung. Von der Beamten-
schaft spaltet sich ein Teil zugunsten des politischen Liberalismus
ab. Landrat imd Kreisrichter stehen im Gegensatz. Bismarck be-
greift die Zeit und einigt die sich bilanzierenden Mächte unter Ab-
ziehung von ihren Sonderinteressen zur deutschen Einheit.
Die Periode von 1 873/1 890 bringt zuerst einen demoralisie-
renden Niedergang der sto ff verarbeitenden und der verteilenden
Gewerbe. Bald wird auch die Landwirtschaft rückgängig, wenn
sie auch nicht so plötzlich wie jene durch die Krise getroffen wird.
Beide Klassen sind aufeinander angewiesen, und der Reichskanzler
vereinigt sie geschickt zu einer nationalen Wirtschafts-, Finanz-
und Sozialpolitik. Der linke Flügel des Liberalismus verfällt in
eine demokratische Ablehnung und ermöglicht dem Sozialismus
das rasche Emporsteigen.
In dem letzten Abschnitt unserer Geschichte 1 890/191 4
pflückt die unter dem Schutzzoll erstarkte Industrie ihre goldenen
Früchte. Der Industriestaat wird über dem agraren, der der frem-
den Konkurrenz nicht gewachsen ist, unter den C a p r i v i sehen
Handelsverträgen Herr. Die Bürokratie rückt stärker nach links.
Die industrielle Arbeiterschaft wird immer mächtiger, und die
Monarchie verliert unter Unsicherheit und Schwankung der Regie-
rung an Ansehen. Wiederum rafft sich die agrare Gutsbesitzer-
klasse im Bund der Landwirte auf und erreicht unter der B ü 1 o w -
sehen Handelspolitik eine beachtenswerte Selbständigkeit, die sie
bis zum Kriegsausbruch behauptet, da sich die Regierung, von der
steigenden Flut der Sozialdemokratie bedrängt, ihr zuneigt.
Die demokratische und sozialistische Revolution gegen den
vom auswärtigen Feinde aufs äußerste bedrängten Staat macht die
Teilung der großen Güter zum Programm, um die Macht der
Agrarier für immer zu brechen. Der mittlere und kleine Grund-
besitz, der im Kriege viel verdient hat, zum Teil schuldenfrei ge-
40*
628 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 19 14.
worden ist, steht aber als antirevolutionäre Klasse da, der es zu-
nächst noch an Organisation und Bewußtsein seiner Kraft fehlt,
um seine Ansprüche an die Politik anmelden zu können.
Das wirtschaftliche Ganze, dessen Entstehen wir an der Hand
unserer kurzen, oft nur skizzenweisen, aber, wie wir hoffen, über-
sichtlichen Aufzeichnung durch loo Jahre begleitet haben, erscheint
zunächst als etwas aus sich selbst heraus Geschaffenes. Eine Tat-
sache schloß sich an die andere an, indem die Nation mit ihrem
Tätigkeits-, Forschungs-, Erfindungs- und Machtwillen, verkörpert
in ungezählten, selbstdisponierenden Einzelmenschen, die ihren Be-
dürfnissen, Wünschen, Interessen, Hoffnungen, Spekulationen bald
im langsamen, bald eiligen Zeitmaß nachgingen, dahinter stand.
Aus der primitiven wird schrittweise die vollkommenere Technik,
oder unerwartete Entdeckungen wälzen die bisherigen Einrich-
tungen der Gütererzeugung und des Verkehrs rasch um. Die Pro-
duktion drängt unter der Anwendung neuer Mittel über den orts-
nahen zum entfernten Absatz hin, und dieser wieder zum ver-
besserten arbeitsteiligen Betrieb in zunehmender Größe, der sich
spezialisierend von anderen Betrieben abtrennt. Die Industrie be-
fruchtet die Landwirtschaft, und diese verleiht jener eine steigende
Verkaufsfähigkeit. Beide geben in ihren Fortschritten dem Handel
zu tun, der seinerseits wieder die Güterherstellung anregt. Überall
bedarf man der vermehrten Zahlungs- und Ausgleichsmittel, die
die geeignete Grundlage zum Kredit werden, womit sich von neuem
eine Ausweitung der Produktion verbindet. Alles dies und noch
vieles andere steht unter dem Zeichen der Wechselseitigkeit und
trägt damit die Eigenschaft des sozialen Gebildes. Tausende von
starken Seilen und feinen Fäden sind hin- und hergezogen und
gesponnen worden, die, an Treu und Glauben und an gegenseitigen,
nahen und fernen Interessen befestigt, persönliche, familienhafte,
firmenhafte Beziehungen pflegen unter einem wohlgeordneten und
schnellen Nachrichtendienst, pünktlichem Eintreffen von Waren,
rechtzeitiger Bereitwilligkeit zu Leistungen und sachgemäßer Preis-
bildung. Die richtigen Männer treten an die Spitze der Unterneh-
mungen, die Arbeiter werden zum Fleiß und Wissen angelernt und
gewöhnen sich in ihre Stellung im Werke ein, eine Hierarchie von
technischen und kaufmännischen Angestellten führt unter Anlei-
tung der Direktion die Aufträge von oben weiter aus.
Allein wir haben auch gesehen, wie dies kunstvolle und man-
nigfaltige Herauswachsen aus inneren Antrieben sich keineswegs
immer glatt vollzieht, sich nicht ohne egoistische Hemmungen, ohne
Widerstände der Individuen, der Klassen, der politischen Parteien,
der Berufsstände, nicht ohne Kampf, erbitterte Konkurrenz, Not
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 18 14. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. tZQ
und Elend, Enttäuschungen, rücksichtslose Selektion, Niedertreten
der schwächeren Elemente, zum Fortschritt durchsetzt. Die Auf-
gaben des Staates und der politischen Selbstverwaltung, der Ge-
meinden, Kreise, Provinzen häufen sich, je intensiver die Volks-
wirtschaft wird. Ausschreitungen, Ausbeutungen, Reibungen wer-
den nach Kräften beseitigt, positive Einrichtungen zum gesell-
schaftlichen Ausgleich, zum produktiven Fortschritt der Zurück-
gebliebenen, zur Unterstützung, zur Belehrung, zur Sicherstellung
von Tausenden geschaffen. Die Vernunft im Dienste der Gesamt-
heit und die Ethik der zweckmäßigen Unterordnung oder in an-
deren Fällen der Gleichberechtigung suchen Herr zu werden über
die Kurzsichtigkeit oder Böswilligkeit der Sonderbestrebungen und
gesellschaftlicher Abschließungen .
So kommt es, daß trotz mancherlei schädlicher Gegenströ-
mungen, die aus ihrem Innern sich herausbildende, vielgestaltige,
organische Volkswirtschaft aus ihrer großen Linie der Entwick-
lung nicht hinausgeworfen wird. Die einmal eingeschlagene Rich-
tung wird ein Jahrhundert lang beibehalten. Unvollkommenheiten
bleiben, sie sind von allem Menschlichen untrennbar. Außerwirt-
schaftliche Eingriffe bringen Unstimmigkeiten, wie bei der aus-
wärtigen oder der Nationalitätspolitik in Polen oder Elsaß-Loth-
iringen.
Wir haben weiter gesehen, wie Deutschland anderen Ländern
gegenübersteht, die seine äußere Wirtschaftspolitik beeinflussen,
die es in bestimmte Abhängigkeit versetzen, die von ihm Rücksicht
zu nehmen verlangen, die aber auch bei der Verfolgung mancher)
seiner Ziele ihm sich nützlich erweisen. Die Weltwirtschaft sowohl
wie die auswärtige Politik werden gelegentlich auch für Maßregeln
und Ziele im Innern mitbestimmend.
Wir suchen nach einem Maßstab, um die Fortschritte begreif-
lich werden zu lassen. Die Statistik bringt die Unterlagen zu ihm
in der Zählung der Bevölkerung, des Außenhandels, der Kapital-
ansammlungen, der Betriebe, in den Verkehrsziffern, den Größen
der Bankgelder, der Sparkasseneinlagen u. a. m. Aber alles dieses
gibt uns doch kein volles Verstehen für die eigentliche Produktions-
und Verkehrsfähigkeit der Volkswirtschaft. Denn hier entscheidet
das Qualitative, nicht das Quantitative, das nur ein Resultat von
jenem ist.
Wenn wir unser heutiges Wirtschaftsleben als ein kapitalisti-
sches bezeichnen, so ist das doch nur eine einseitige Wendung. So
richtig es ist, daß die Privatwirtschaft dem Gewinnstreben unter-
stellt gewesen ist und es mit Recht war, so blieb es doch nicht ihr
alleiniges Motiv, und in allen sozialen bewußten und unbewußten
630 VI. Abschnitt. Die Zeit von i8go — 1914.
Vereinigungen, deren Kenntnis uns erst zum Verständnis des Gan-
zen bringt, sind soziale Willenskräfte vorhanden, die tief und breit
die Menschen durchdringen und vorwärts treiben. Der Kapitalis-
mus kann daher nicht zur Betrachtung der Volkswirtschaft ein aus-
reichender Standpunkt sein, und er ist auch in diesem Buche nicht
dazu gewählt worden. Das Kapital in seiner Größe ist nur ein Er-
gebnis der steten Reproduktivkraft der Nation, und sein Anwachsen
ist ein Zeichen des erhöhten produktiven Wollens.
„Das Kapital", schreibt J. S. Mill, „wird von einem Zeitalter
aufs andere nicht durch Aufbewahrung, sondern durch beständige
Wiederhervorbringung erhalten. Jeder Teil desselben wird mei-
stens sehr bald nach seiner Hervorbringung gebraucht und ver-
nichtet, aber diejenigen, welche es verbrauchen, sind inzwischen
beschäftigt, mehr als das Verbrauchte wieder hervorzubringen. Das
Anwachsen des Kapitals gleicht dem Anwachsen der Bevölkerung.
Jedes Individuum, das geboren wird, stirbt, aber in jedem Jahre
übersteigt die Zahl der Geborenen die Gestorbenen; die Bevölke-
rung wächst daher immer, obwohl alle diejenigen, welche sie bil-
den, erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit am Leben sind".
So ist es in Deutschland von 181 5 — 191 4 gewesen. Der Reich-
tum, der am Ende dieses Zeitraumes vorhanden war, war nicht
etwa während desselben nach und nach produziert und aufgespei-
chert worden. Das meiste von ihm war erst vor kurzem (entstanden,
nur ein mäßiger Teil der Produktivmittel war älter als 10 Jahre,
nur bei dem Gebrauchsgut an Häusern, Kunstgegenständen, Samm-
lungen dürfen wir ein erheblich höheres Alter ansetzen.
Der eigentliche Volkswohlstand beruht daher in dem Wissen,
Können und Wollen der Menschen, das sich von einem zum andern
überträgt und von einer Generation zur anderen unter steter Übung
erhalten und erweitert wird. Hierbei haben wir nicht zu über-
sehen, daß die produzierenden Menschen in sozialen Verbänden
leben. Die vorhandenen, ungezählten gegenseitigen Verknüpfungen
sind ebenfalls auf Erfahrungen aufgebaut, ausgeprobt, angepaßt,
befestigt. Die produktiven Kräfte sind daher Gliederungen, Ein-
richtungen, Beziehungen, die der sachlichen Grundlage nicht ent-
behren, dieselbe umschaffen, neuschaffen, auch wiederschaffen,
wenn sie durch Natur- oder Kriegsgewalt zerstört sein sollten.
Der Reichtum der Gesellschaften, schreibt K. Marx im An-
fang des ersten Bandes des Kapitals, erscheint als eine „unge-
heuere Warensammlung". Nichts ist bezeichnender als dieser Satz
für seine materialistische Denkweise. Die Sache wird personifiziert,
anstatt daß die Person als Herrin über die Sache vorgestellt wird.
Was bedeuten die Waren, wenn der Kontakt unter den Menschen
VII. Schlußbetrachtung zu 1890 — 1914. Ergänzungen. Allgemeine Rückblicke. 63 1
unterbrochen ist, sie zu vertreiben? Welche Mengen gehen in
jeder großen volkswirtschaftlichen Krise, wie viel mehr in einem
langen Kriege zugrunde! Nehmen wir an, alle Waren verschwin-
den, und sie verschwinden tatsächlich durch den Verbrauch, und
die Organistion der Volkswirtschaft, die ihren Wohnsitz in den
Köpfen der Menschen hat, bleibt, so sind die Waren bald wieder
da. Laßt die Menschen hingegen verdummen, verkommen, dahin-
siechen, in Anarchie verfallen, so gibt es auch keine Waren mehr.
Der Ausgang für seine nationalökonomische Forschung histo-
rischer Art war dem Verfasser mit dieser nationalen und persönlich-
menschlichen Auffassung gegeben.
Als der Weltkrieg kam, hielt die deutsche Volkswirtschaft
den ungeheueren Anprall zunächst aus. Sie wurde aber langsam
innerlich zerrieben, da ihr die Reproduktionsmöglichkeit zerstört
wurde, zunächst soweit ihr die Zufuhr von außen abgeschnitten
wurde. Die allgemeine Erneuerungskraft hatte zwar schon während
des Krieges unter dem Mangel an Übung, unter technischen Um-
stellungen und mancherlei Verschiebung und Schiebung gelitten,
aber ihren eigentlichen Zusammenbruch hat doch die Revolution
verschuldet, die dann der äußere Feind ausnutzte, um ihn zu vol-
lenden. Der unselige Wirtschaftszustand, in den Deutschland seit
19 19 hineingeraten war, wurde dadurch am deutlichsten charak-
terisiert, daß die seit so langer Zeit gepflegten und herangezüch-
teten zahlreichen engen Beziehungen zerrissen wurden, daß das
wertvolle Ineinandergreifen der psychischen Verankerungen zwi-
schen Landwirtschaft und Industrie, Arbeitgeber und -nehmer, Stadt
und Land, Handel und Produktion aus den Fugen geriet. Wenn
man sich vergegenwärtigt, welche Mühe, welche Nachhaltigkeit,
welche Zähigkeit durch ein Jahrhundert aufgewandt worden sind,
um den so hohen Stand der deutschen Güterproduktion zu ermög-
lichen, so wird man sich auch dem Optimismus nicht hingeben,
daß er in der kurzen Zeitspanne von wenigen Jahren wieder er-
reicht werden wird. Und doch lehrt uns die Vergangenheit dies,
daß die seelischen Verknüpfungen das gewaltig Schöpferische ge-
wesen sind, aus dem der materielle Reichtum hervorgesprossen
ist. Sie müssen und können aus dem guten Willen des Volkes her-
aus neu belebt werden, und dieser gute Wille wird am ehesten dann
schwungvoll und idealrein hervorbrechen, wenn er im Gefühle der
nationalen Freiheit wurzelt. Sie wieder zu gewinnen, ist die wich-
tige Voraussetzung für den volkswirtschaftlichen Aufbau.
Als der Verfasser vor Vollendung der ersten Auflage dieses
Buches um 19 19 einen Herbstwald durchwanderte, sah er ein zwi-
schen zwei Bäumen ausgesponnen gewesenes, fein und kunstreich
632 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
gefügtes Netz einer großen Spinne von einem herabgestürzten
morschen Zweig durchrissen und die in der Sonne glitzernden
Fäden im Winde hilflos hin- und herflattern. Aber schon war das
geschäftige Tier aus tief innerstem Trieb der Selbsterhaltung daran,
neue Linien zu ziehen, um seine Versorgung — seine Wirtschaft
wieder beginnen zu können. Es hatte keinen Augenblick gezögert,
gezweifelt.
Auch der deutsche Geist ist nicht unter dem Einsturz seines
Hauses begraben worden. Er lebt. Möchten wir auch aus unserer
Wirtschaftsgeschichte im Rückblick auf das, was wir geleistet
haben, lernen, welche Kräfte wir besitzen, und möchten wir auch
das begreifen, was wir verkehrt angefangen haben. Ziehen wir das
wertvollste Fazit des Gedeihens, das auf die glückliche Verbindung
von wirtschaftlichem Vorwärtswollen und nationaler Politik lautet,
so werden wir den kürzesten Weg zur Gesundung nicht verfehlen.
Vertrauen zu sich selbst läßt den Glauben an die Zukunft nicht
zuschanden werden.
Literatur.
I. E, V. Reventlow. Deutschlands auswärtige Politik 1888 — 1913, 1914.
G. Egelhaaf, Geschichte der neuesten Zeit, 191 5.
Fritz Berolzheimer, Deutschland von heute, 19 10.
P. Jessen, Kunstpflege und Kunsterziehung, Handb, d. Politik. II, 191 2.
A. Strigel, Die chemische Industrie, 1906.
Fürst von Bülow, Deutsche Politik, 19 16.
♦Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. 3. Bd. 1914. Sammelwerk.
Carl Ball od, Grundriß der Statistik, 1913.
R. E. May, Die Wirtschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, 1901.
K. Lamprecht, Deutsche Geschichte, Ergänzungsbände 1902 — 1904.
Karl Diehl, Theoretische Nationalökonomie I, 19 16.
W. Sombart, Der Bourgeois, 1913.
Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 1890 — 19 14.
Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie 1900 — 1913.
Sondernummer des Berliner Börsencouriers „Los von Berlin" Febr. 19 19.
*Fr. Zahn, Das deutsche Volk, Handb. f. Pol. U. 191 2.
II. Martin Spahn, Bismarck, 19 15.
W. Lotz, Die Handelspolitik des Deutschen Reichs unter Graf Caprivi und Fürst
Hohenlohe. Schrf. d. V. für Sozialpol. Bd. 92.
G. Teicher t. Fünf Jahre deutscher Handelspolitik 1890 — 1894, 1898.
K. Kautsky, Das Erfurter Programm, 1892.
12 Jahre Sozialistengesetz, Berlin 1890.
III. J. Croner, Die Geschichte der agrarischen Bewegung in Deutschland, 1909.
Schriften der Zentralstelle für Vorbereitung der Handelsverträge seit 1898.
Deutscher Außenhandel, Zeitschrift des Handelsvertrags Vereins bis 19 17.
Zolltarifgesetz vom 25. Dezember 1902 mit zugehörigem Zolltarif, 1902.
Robert Weber, System der deutschen Handelsverträge, 191 2.
Die Handelsverträge des Deutschen Reichs, herausg. im Reichsamt des Innern, 1906.
J. Grunzel, System der Handelspolitik, 1906.
Literatur. 633
L. Glier, Die Meistbegünstigungsklausel, 1905.
H. Horstmann, Handeisverträge und Meistbegünstigung, 19 16.
F. Lünenbürger, Der deutsch-schweizerische Handelsvertrag 1901.
G. Eysoldt, Der Zollkrieg zwischen Frankreich und der Schweiz 1893 — 1895.
Weltw. Arch. 1914.
F. K. Neumann Spallart, Die Verlegung des wirtschaftlichen Schwerpunktes. Deutsche
Rundschau, 1885.
E. Nasse, Em Blick auf die kommerzielle und industrielle Lage Englands. Jhb. für
Nat. und Stat. 1897.
C. B a 1 1 o d , Die deutsch-russischen Handelsbeziehungen. Schrf . d. Vereins für Sozial-
politik, 1900.
A. List, Die Interessen der deutschen Landwirtschaft im deutsch-russischen Handels-
vertrag, 1900.
A. Hermann, Der deutsch-russische Handelsvertrag, Staats- und sozw. Forschungen,
1900.
D. Gravenhoff, Rußlands auswärtiger Handel, 1892.
Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1890 — 1914.
P. Arndt, Neue Beiträge zur Frage der Kapitalanlage im Auslande. Zeitschr. für
Sozialw. 191 5.
E. Hasse, Das Gesetz über das Auswanderungswesen. Jhb. für Nat. u. Stat., 1897.
F. Zahn, Die Deutschen im Auslande. Vierteljh. z. Stat. d. D. R., Erg.-Hf., 1895. I.
A. Sartorius v. Waltershausen, Das deutsche Einfuhrverbot amerikanischen
Schweinefleisches, 1884,
Derselbe, Deutschland und die Handelspolitik der Ver. Staaten, 1898.
Derselbe, Ein Deutsch-niederländischer Zollverein. Zeitsch. für Sozialwiss. 1900.
Derselbe, Die Handelsbilanz der Ver. Staaten, 1901.
Derselbe, Das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Auslände, 1907.
Derselbe, Die Wanderung ins Ausland als nationales Problem. Zeitschr. f. Sozial-
wiss. N. F. III, 1910.
Derselbe, Die Wanderarbeit als weltwirtschaftliches Problem. Ebenda III, 191 1.
Derselbe, Die Entwicklung der deutschen und englischen Volkswirtschaft im 19. Jahr-
hundert. Zeitschr. d. Pol. 19 15.
Derselbe, Begriff und Entwicklungsmöglichkeit der heutigen Weltwirtschaft, 1913.
Derselbe, Die Weltwirtschaftslehre. Zeitschr. f. Sozialwiss. 19 14.
Neue Literatur: Über die deutsch-österreichische Zollunion:
bei F. Eulenburg, Weltw. Arch. 1916. S. Schilder, Arch. für Sozialwiss.
u. Sozialpol. Bd. 44, K. Landauer, Kriegsw. Unters, aus dem Institut für
Seev. u. Ww., 19 16.
Altere auch bei R. v. Battaglia, Ein Zoll- und Wirtschaftsbündnis zwischen Öster-
reich-Ungarn und Deutschland, 191 7.
IV. Fleischer, Die Versorgung Deutschlands mit Fleisch und die Entwicklung unserer
Moor- und Heideböden, 19 10.
Die deutsche Landwirtschaft, Hauptergebnisse der Reichsstatistik (Dr. Seibt), 1913.
L. Pohle, Deutschland am Scheidewege, 1902.
Katalog der 26. Wanderversammlung der Deutseben Landwirtschafts-Gesellschaft zu
Straßburg, 1913.
*K. Helfferich, Deutschlands Volkswohlstand, 1 9 1 3 .
LandwirtschaftUches Genossenschaftsblatt bis 191 5.
F. Wohltmann, Landwirtschaftliches Unterrichtswesen. Hw. d. Stw., Bd. VI.
B. Stadelmann, Das landw. Vereinswesen in Preußen, 1874.
R. Folien jus, Der Zucker im Kriege. Beiträge zur Kriegswirtschaft, 191 7.
634 ^^' Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
A. Buchenberger, Agrarwesen und Agrarpolitik, 1892.
V. Rümker, Die deutsciie Landwirtschaft, 1914.
G. Hansen, Die drei Bevölkerungsstufen, 1889.
G. V. Below, Die Frage der Vermehrung der Fideikommisse in Preußen, 1905.
H. Höpker, Die Fideilcommisse in Preußen im Lichte der Statistik, 1914.
H. Rehm, Fideikommiß, Hausgut, Nachlaßsteuer, 1908.
M. Sering, Die Vererbung ländlichen Grundbesitzes im Königreich Preußen 1897
bis 1907.
J, Conrad, Die Wirkung der Getreidezölle. Jhb. f. Nat. u. Stat., 1891. Andere
Schriften desselben, Hdw. d. Stw., Art. Conrad,
K. D i e h 1 , Zur Frage der Getreidezölle, 1 9 1 1 .
F. Pagenkopf, Die innere Kolonisation, 1909.
V. Schnitze, Ansiedlungsgesetzgebung. Hwb. d. Stw. Bd. I.
M. Krause, Innere Kolonisation, ebenda Bd. V.
L. Bernhard, Die Polenfrage, 19 10.
"W. Mitscherlich, Die Ausbreitung der Polen in Preußen, 19 13.
G. Cleinow, Die Zukunft Polens, 19 14.
Die deutsche Ostmark, herausg. v. d. Ostmarkenverein 191 3.
V. K. Oldenberg, Deutschland als Industriestaat, 1897.
L. Brentano, Der Schrecken des überwiegenden Industriestaats, 1 90 1 .
A. Wagner, Agrar- imd Industriestaat, 1902, 2. Aufl.
M. Mendelson, Die Entwicklungsrichtungen der d. Volkswirtschaft nach den Er-
gebnissen der neuesten Statistik. Zeitschr. für Sozialwiss, 1912.
H. Koch, d. J. Die deutsche Hausindustrie, 1905.
K. Bücher, Das Verlagssystem. Wörterb. der Vw. L, 1918.
W. Sombart, Verlagssystem. Hw. f. Stw., VIII.
K. Bittmann, Hausindustrie und Heimarbeit in Baden, 1907.
P. Arndt, Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der Heimarbeit, 1922.
W. Troeltsch, Über die neuesten Veränderungen im deutschen Wirtschaftsleben,
1899.
W. Stieda, Innungen. Hw, d. Stw., Bd. V.
K. Meister, Die Innungen der Stadt Dortmund seit der Novelle d. Gewerbeordnung,
1900.
P. Voigt, Die deutschen Innungen. Schmollers Jahrb. für Gesg. 22,
F. Hoffmann, Die Organisation des Handwerks, 1897.
H. Rauchberg, Die Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reich, 1901.
J. Pierstorff, Weibliche Arbeit und Frauenfrage. Hw. d. Stw., Bd. VIII.
Derselbe, Die Frau in der Wirtschaft des 20. Jahrhunderts. Handbuch der Politik II,
1912,
J. Grunzel, Die Industrie, ebenda.
Felix Auerbach, Das Zeisswerk und die Carl-Zeiss-Stiftung in Jena, 1903.
Handbuch der Wirtschaftskunde Deutschlands Bd. III.
Die wirtschaftlichen Kräfte Deutschlands, herausg. von der Dresdener Bank 1913 — 191 7
Das Interesse der deutschen Industrie an den Handelsverträgen. Einzeldarstellungen,
herausg. vom Handelsvertragsverein, 191 1.
Volkswirtschaft Bayerns und Staatswirtschaft während der letzten 25 Jahre, 19 12.
F. V. Kleinwächter, Kartelle, Hwb, d. Stw., Bd. V,
R. Lief mann, Kartelle und Trusts und die Weiterbildung der volkswirtschaftlichen
Organisation, 19 10,
Derselbe, Syndikate. Hw. d. Stw., Bd. VII.
Literatur.
635
A. Sartorius v. Waltershausen, Der moderne Sozialismus in den Ver. Staaten,
Kp. 12, 1890.
W. Troeltsch, Die deutschen Industriekartelle vor und seit dem Krieg, Kriegs-
hefte aus dem Industriebezirk, 19 16.
B. V. d. Borght, Unternehmervereine. Hwb. d. Stw., Bd. VIII.
H. Herkner, Arbeitszeit. Hwb. d. Stw., Bd. I.
W. Sombart, Dennoch! Aus Theorie und Geschichte der gewerkschaftlichen Arbeiter-
bewegung, 1900.
Ad. Weber, Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit, 192 1.
H. Pesch d. J., Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. II, 1909.
W. J. Ashley, Das Aufsteigen der arbeitenden Klassen in Deutschland während des
letzten Vierteljahrhunderts, übers. 1909.
VI. R. V. d. Borght, Handel und Handelspolitik, 1900.
W. Lexis, Das Handelswesen. Samml. Göschen, 1906.
E. V, W a s s o w , Geschichte und Entwicklung der Warenhäuser, nach Mitteilungen
von O. Tietz, 1906.
K. Bücher, Die Arbeiterfrage im Kaufmannsstande, 1883.
M. Quarck, Die soziale Lage der Handlungsgehilfen, 1891.
Die wirtschaftliche Lage der deutschen Handlungsgehilfen, 19 10.
W. Borgius, Mannheim und die Entwicklung des südwestdeutschen Getreidehandels,
1899.
M. Grab ein, Die deutschen Getreidezölle der Zukunft, 1900.
O. Jöhlinger, Die Technik des rheinisch- westfälischen Gctreidehandels, Zeitschr. für
handelswiss. Forschung, 1906.
Die Börsenquetekommission, Stenogr. Berichte, Anlagen, 1892/93.
R. Ehrenberg, Die Fondsspekulation und die Gesetzgebung, 1883.
O. Stillich, Die Börse und ihre Geschäfte, 1909.
G. Bernhard, Die Börse, ihre Geschichte, ihr Wesen und ihre Bedeutung, 1906.
G. Wermert, Zur Würdigung der volksw. Bedeutung des Terminhandels. Ann. d.
D. R., 1902.
O. Frh. v. Mering, Die Liquidität der deutschen Kreditbanken, 1916.
P. Model, Die großen Berliner Effektenbanken, 1896.
O. Jeidels, Das Verhältnis der deutschen Großbanken zur Industrie, 1905.
Rießer, Die deutschen Großbanken und ihre Konzentration, 19 10.
G. Obst, Das Bankgeschäft, 1914.
J. Ichenhäuser, Die Berliner Großbanken. Ann. d. D. R., 1915.
J. Conrad, Grundriß zum Studium der politischen Ökonomie, Bd. II, Abschn. III, 2, 1902.
Kurs, Schiffahrtsstraßen im Deutschen Reich. Jahrb. f. Nat. u. Stat., 1895.
W. Lotz, Verkehrsentwicklung in Deutschland 1800 — 1900, 1900.
v. Völker, Entwicklung des deutschen Verkehrswesens. Ann. d. D. R., 191 5-
Nauticus, Jahrbuch 1900, Die Entwicklung und Bedeutung der deutschen Reederei.
D. Haek, Hamburg- Amerikaiinie und Norddeutscher Lloyd, 1906.
Tjard Schwarz, Fünfzig Jahre deutschen Schiffsbaus, 1909.
R. Schachner, Das Schiffbaugewerbe, 1903. Schrft. des Ver. f. Sp.
A. Salz, Auswanderung und Schiffahrt mit besonderer Berücksichtigung der österreichi-
schen Verhältnisse, Arch. f. Sw. u. Spl., Bd. 39 u. 42.
E. Guckemuß, Die Unterstützung der französischen Handelsmarine durch Prämien, 1 9 1 4.
R. Hennig, Welttelegraphie und Krieg. Weltw. Arch., 19 16.
Weltwirtschaftliches Archiv, Internationale Verkehrschronik seit 191 1.
A. Soetbeer, Materialien zur Erläuterung und Beurteilung der Währungsverhältnisse,
1895-
636 VI. Abschnitt. Die Zeit von 1890 — 1914.
L. Glier, Die Preiskurve und das Teuerungsproblem. Zeitschr. f, Sozialwiss., 1913
u. 19 14.
Gerhard Hildebrand, Die Erschütterung der Industrieherrschaft und des Industrie-
sozialismus, 1910.
VII. J. Wolf, Der Geburtenrückgang, die Rationalisierung des Sexuallebens in unserer
Zeit, 19 12.
Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik 1916, 191 7.
Die Großstadt, Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Jahrbuch der Gehe-
stiftung IX.
Statistisches Jahrbuch deutscher Städte bis 1913.
C. J. Fuchs, Wohnungsfrage. Hwb. d. Stw. III. Aufl., mit großem Literaturnachweis.
Fr. Hörn, Die Entwicklung der Wohnverhältnisse und ihre Ursachen der Stadt
Straßburg, 19 15.
A. Damasch ke, Geschichte der Nationalökonomie, Kap. X. Bodenreform, 1912.
Im Hwb. d. Stw., III. Aufl. die Artikel Bodenbesitzreform, Gemeinden, Kommunal-
finanzen, Stadterweiterungen.
J. Wolf, Die Volkswirtschaft der Gegenwart und Zukunft, Anhang II, Der Boden-
wert von Berlin, 19 12.
P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage in Berlin und seinen Vororten, 1901.
A. Voigt und P. Geldner, Kleinhaus und Mietkaserne, 1908.
G. Simons, Die deutsche Gartenstadt, 19 12,
H. Rehm, Die Reichsfinanzreform, 1903.
K. T. V. Eheberg, Finanzen und Steuern in „Deutschland unter Kaiser Wilhelm II.",
1914.
J. Wolf, Die Reichsfinanzreform, 1909.
Derselbe, Die Steuern in Deutschland, 1915.
Die Reichsfinanzreform, ein Führer, herausgeg. von der Vereinigung zur Förderung
der Reichsfinanzreform 1909.
E. V. Jagemann, Zur Reichsfinanzreform, 1905.
P. L a b a n d , Direkte Reichssteuern, 1 908.
Die deutsche Finanzreform der Zukunft von einem Auslandsdeutschen, 1906,
v. Zedlitz-Neukirch, Neuaufbau der Finanzen nach Friedensschluß und qualitative
Sparsamkeit, 1 9 1 7 .
A. Steinmann-Bucher, Das reiche Deutschland, 19 14.
Derselbe, Deutschlands Volksvermögen im Kriege, 1916.
C. Ballod, Wie groß ist das deutsche Volksvermögen? Verw. u. Stat., 1914.
A. Hesse, Das deutsche Volksvermögen, Jahrb. f. Nat. u. Stat. Bd. 105.
H, Albert, Die geschichtliche Entwicklung des Zinsfußes 1895 — 1908, 191 2.
H. Bichmann, Der Zinsfuß seit 1895, 191 2.
A. Feiler, Die Konjunkturperiode 1907 — 191 3, 19 14.
0
Druck Yon Ant. Kämpfe, Jena.
"W^^WSt"-^»»^
0) cy>
Xi rH
•H »
a> »A
,^ H
Vh tO
vO H
■>;|- +> •>
•> ü
a (0
0) 0)
03 bO
fe-g
O Ol
> xi o
09 (Q
CQ
(Sl
O)
cv
0)
H
VTv
(x] CO
tu
University of Toronto
Library
i{|ftfSifitiUfipHH